SWR Kultur lesenswert - Literatur

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Sep 24, 2025 • 4min

Kathrin Hartmann – Die Welt gewinnen

Kathrin Hartmann ist keine Kriegsreporterin. Ihre Reportagen beschäftigten sich dennoch mit Frontlinien – etwa dort, wo soziale Bedürfnisse und eine intakte Natur im Widerspruch zu den Interessen des Kapitals stehen und es deswegen mitunter zu tödlichen Auseinandersetzungen kommt: Indonesische Palmölplantagen, wo für westliche Kosmetikprodukte die Existenzen von tausenden Kleinbauern ruiniert werden. Oder das griechische Gesundheitswesen, in dem Menschen mit heilbaren Krankheiten wegen aufgezwungenen Sparprogrammen dem Tode geweiht sind. Es sind nicht nur unmittelbar Betroffene, die sich gegen solche Missstände wehren. Kathrin Hartmann porträtiert diejenigen, die sich in den neu entstandenen solidarischen Kliniken engagieren.   Ärztinnen und Ärzte, die diese Bewegung unterstützen, behandeln neben ihrem Dienst in öffentlichen Krankenhäusern kostenlos und freiwillig Patientinnen und Patienten, denen der Zugang zum Gesundheitssystem verweigert wird, weil sie nicht mehr versichert sind. Quelle: Kathrin Hartmann – Die Welt gewinnen Solidarität verbindet  Was diese Ärztinnen und Ärzte eint, ist die Empathie und Solidarität mit denen, die unter dem Spardiktat zu leiden haben. Das gilt auch für die Menschen aus der Geflüchtetenhilfe, von denen Kathrin Hartmann mehrere porträtiert. Dass Solidarität nicht nur altruistisch motiviert ist, beschreibt ihr Beispiel aus El Salvador. Bei ihren Recherchen zu den Stickerinnen, die ihre Arbeit für einen Hungerlohn von zu Hause aus erledigen und versuchen, sich gewerkschaftlich zu organisieren, muss Kathrin Hartmann vorsichtig sein.   Die Stickerinnen zu Hause zu treffen, das wäre für sie viel zu gefährlich gewesen. Alle halten ihre Arbeit geheim, weil sie Angst vor Schutzgelderpressung seitens der Banden in den Barrios haben. Und das spielt den Bossen natürlich in die Hände: So kommt gar nicht erst heraus, wie viele Frauen stickende Sklavinnen sind.  Quelle: Kathrin Hartmann – Die Welt gewinnen Nicht nur Altruismus  Die Kämpfe der Frauen haben kleine Erfolge hervorgebracht: Immerhin müssen die Heimstickerinnen jetzt in einem Register erfasst sein und können den staatlichen Mindestlohn einklagen. Doch Kathrin Hartmann ist nicht naiv. Gegen gewerkschaftliche Organisierung braucht es jetzt keine Banden mehr: die neue Regierung in El Salvador sei die neue Schutzmacht der Textilbosse und lasse Gewerkschafter inhaftieren. Der kritische Blick der Autorin trifft auch hierzulande überaus populäre Ansätze, etwa Nachhaltigkeitszertifikate, Mikrokredite und Tafelsysteme, deren behauptete Wirksamkeit sie faktenreich widerlegt.  Ich bezeichne solche Ideen als das „falsche Gute”. Es ignoriert die strukturellen Ursachen von Armut, Ungleichheit und Naturzerstörung nicht nur, es legitimiert und erhält sie. Es will beruhigen, indem es suggeriert, es gebe keine Schuldigen und alles könne so bleiben, wie es ist. Das falsche Gute ist deshalb der größte Bremsklotz für Veränderung.  Quelle: Kathrin Hartmann – Die Welt gewinnen Gegen den rechten Zeitgeist  Als positives Beispiel hierzulande steht das Porträt von Tobi Rosswog. Er hatte sich für zwei Jahre nach Wolfsburg begeben, um dort gemeinsam mit anderen Umweltaktivisten ausgerechnet die VW-Stadt zu einer „Verkehrswendestadt “ zu machen. Zwar laufen heute in Wolfsburg immer noch Autos vom Band, aber die Aktivist*innen haben tatsächlich einige Kontakte zu gleichgesinnten VW-Arbeitern aufbauen können – bis hin zu Betriebsräten. Und sie haben mit ihren spektakulären Aktionen dutzende Schlagzeilen erzeugt – als sie etwa für mehrere Stunden einen Werkszug blockierten und darüber ein riesiges Transparent mit einer Straßenbahn hängten. Die erste Straßenbahn verlässt das VW-Werk in Wolfsburg, hieß es in der Pressemitteilung.  Mit den Fotos der symbolischen Straßenbahn brachten sie nicht nur ein Bild und eine Nachricht in Umlauf, sondern sie machten eine Möglichkeit sichtbar. Quelle: Kathrin Hartmann – Die Welt gewinnen  „Die Welt gewinnen” liefert keine Patentrezepte zur Veränderung der Welt. Aber das spannend geschriebene Sachbuch macht mit seinen vielen Geschichten Mut. Es ist ein Plädoyer gegen den rechten Zeitgeist, getragen von einer zutiefst solidarischen Haltung mit den Ausgebeuteten dieser Welt.
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Sep 23, 2025 • 4min

Sergej Lebedew – Die Beschützerin

Vor zwei Jahren erschien Sergej Lebedews „Titan oder Die Gespenster der Vergangenheit“. Die alte psychoanalytische Erkenntnis, dass Verdrängtes irgendwann an die Oberfläche zurückkehrt, ist in dem Band in Geschichten verpackt: Verbrechen lassen sich möglicherweise für eine Weile vertuschen, aber wie Gespenster spuken die Opfer der Geschichte auch in der Gegenwart herum. Lebedew, einer der profiliertesten Vertreter der jüngeren russischen Literatur, beschäftigt das Erbe der Sowjetunion, und er beschäftigt sich in seinen Büchern mit den Auswirkungen, die ihre Gewaltgeschichte auf das Leben heute hat. In seinem jüngsten Roman „Die Beschützerin“ findet er dafür ein eindrückliches Bild. Die Bergbausiedlung mit Namen Marat, deren reales Vorbild im Städtchen Tores in der Ostukraine zu suchen sein dürfte. Es ist das Jahr 2014, kurz nach dem Euromaidan, den Protesten in Kiew, kurz nach Putins Annexion der Krim und dem Beginn der von Russland gesteuerten sezessionistischen Bewegung, die bald kriegerisch eskalierte.  Ein Untoter spricht  Am verlassenen Schacht 3/4 fließen Vergangenes und Gegenwärtiges zusammen, scheint sich das Unheilvolle der Zeiten zu kristallisieren: Hier hat man sowohl die Opfer des Stalinismus als auch jene der Nazis „entsorgt“. Ein Ingenieur, selbst dort verscharrt, spricht als Untoter, als Geist, über das, was er geschaffen hat.  Donkosaken erschossen Mitglieder der Bergarbeiterräte. Rote Partisanen – Kosaken. Weiße Garden – Rote. Die deutschen Besatzungstruppen – Partisanen. Anhänger von Nestor Machno – Anhänger von Anton Denikin. Die Roten – Deutsche und Machno-Anhänger. Sie folterten. Stachen ihnen die Augen aus. Schnitten ihnen die Kehle durch. Perpetuum mobile, die Tautologie der Gewalt.  Quelle: Sergej Lebedew – Die Beschützerin Der Totenschacht liegt an jenem Ort, an dem im Juli 2014 von russischen Agenten ein malaysisches Flugzeug abgeschossen wird – wir erinnern uns daran. So setzt sich die Geschichte der Gewalt fort. Sergej Lebedew erzählt sie als ein Kontinuum. Vier Figuren lässt er auftreten, vier Tage lang sehen wir durch ihre Augen, wie aus einem kalten Krieg gegen die Menschlichkeit wieder ein heißer wird, sich die unüberwundene Gewalt in alle Beziehungen und Biographien frisst.  Das unerschöpflich Böse  Da ist der schon erwähnte Ingenieur, ein Zombie, der keine Ruhe finden kann. Da ist der General, dessen Karriere mit dem Abschuss des Flugzeugs auf finstere Weise verknüpft ist. Da ist der junge Valet, der vor einiger Zeit Marat verlassen musste, der von seinem Onkel in einem Moskauer Sonderregiment der Polizei untergebracht wurde. Als er nach Marat zurückkehrt, ist er ein zur Härte erzogener Mann, der auf Seiten der Sezessionisten steht und auf Rache sinnt. Seine Rachegelüste beziehen sich auf Marianna, die einst den heimlichen Mittelpunkt der Zechenwelt bildete. Sie hatte die Wäscherei geleitet. Und ihr Wort hatte Gewicht. Sie war auch dafür verantwortlich, dass Valet verbannt wurde. Marianna ist die titelgebende „Beschützerin“, die ihre Macht allerdings verloren hat. Sie ist todkrank und wird von ihrer Tochter Shanna bis zum Ende gepflegt.   Und [Shanna] spürt – zum ersten Mal – das unerschöpfliche Böse dieses Ortes. Sie erkennt es in ihm, in diesem Ort, wie man verborgene Fäulnis oder Verderbnis erkennt, jenes schreckliche, niederträchtige, erdige Etwas, das Marianna ihr Leben lang wegzuwaschen versucht hatte, um seine Ausbreitung, Ansammlung, Verdickung, Verknöcherung zu verhindern.  Quelle: Sergej Lebedew – Die Beschützerin Archaisches Raunen  Es ist ein archaischer, dunkler, bedeutungsschwerer Ton, in dem Lebedew dieses komplexe Ineinander von Schuld und Verdrängung, Verlorenheit und Wut, Geschichtsbesessen- und Geschichtsvergessenheit erzählt. Zuweilen hat das etwas Raunendes, und nicht immer lassen sich die psychologisch verworrenen Antipathien und Aggressionen ganz nachvollziehen, aber auch das Uneindeutige und Irrationale gehört wohl zum Bild einer Welt am Rande des Abgrunds. Die Leichen sind am Ende nicht mehr nur in Schacht 3/4 versteckt. Sie liegen – vom Himmel geschossen – auf der Erde herum. 2014 schon begann der Krieg, der in all seiner Brutalität bis heute anhält.
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Sep 22, 2025 • 4min

Heike Geißler – Arbeiten

Die Autorin Heike Geißler nimmt uns mit an ihren Schreibtisch in Leipzig. Wohin sie schaut, sieht sie Arbeit. Auf dem Tisch die Schreibarbeit, in der Wohnung die Hausarbeit, draußen vor dem Fenster die Menschen, die zur Arbeit eilen, von ihr zurückkehren oder sie gerade jetzt verrichten; als Briefträger, Handwerker, Denkmalpfleger. Und auch der alte Mann am Fenster gegenüber erzählt mit seinem müden Blick eine Geschichte von der Arbeit. Vom Leben in einem längst vergangenen, selbsternannten „Arbeiterstaat“.  Nach einer Weile der Beschäftigung mit dem Thema Arbeit sehe ich kaum noch etwas anderes. Als fiele es mir jetzt erst auf, dass doch alles, alles aus Arbeit entsteht, dass also in alles, alles Arbeit geflossen ist und fließt.  Quelle: Heike Geißler – Arbeiten Die Allgegenwärtigkeit von Arbeit  In ihrem Essay „Arbeiten“ geht Heike Geißler einer einfachen, aber weitreichenden Beobachtung nach: Der Arbeit entkommt man nicht. Was zunächst übertrieben klingen mag, entfaltet in diesem Buch schnell eine beklemmende Plausibilität. Arbeit strukturiert unser Zeitempfinden. Sie ist anwesend auch dort, wo sie scheinbar nichts zu suchen hat: In der Freizeit, der Rente, im Urlaub – als Zeit ohne Arbeit, nach der Arbeit, als Zeit, um sich von der Arbeit für die Arbeit zu erholen.   Geißler veranschaulicht diese Allgegenwärtigkeit von Arbeit – die sich nicht nur auf die Zeit erstreckt – in eindrücklichen, sinnlichen Szenen:  Bedenke ich, was ich trage, fühle ich mich von tausenden Händen berührt, von eiligen Händen, von mal mehr, mal weniger sorgsamen Händen, von allen möglichen Händen. Händen, die sich mit Bandagen schützen, um den Arbeitsalltag durchzustehen, ob nun beim Schieben langer Stoffbahnen zur Nähnadel hin, ob beim Durchtrennen von Fäden, ob beim Verpacken der Ware, beim Zukleben der Kisten, beim Reparieren von Maschinen, beim Beladen von Paletten, beim Einschweißen von Palettenladungen.  Quelle: Heike Geißler – Arbeiten Zwischen persönlichem Erfahrungsbericht und wissenschaftlicher Analyse  Bei aller Abstraktion und Anonymität, die Geißlers Vermessung der Arbeitswelt zutage fördert – verrichtet wird die Arbeit am Ende des Tages noch immer von Einzelnen. Der Wechsel vom Besonderen ins Allgemeine gelingt in diesem Essay fließend. Die Autorin versteht sich auf ein beobachtendes Sammeln von Alltagssituationen, die sie in den kurzen, assoziativen Abschnitten des Buches mit literarischen und wissenschaftlichen Stimmen zusammenführt.   In seiner Verbindung von eigener Betroffenheit und fremden, ganz verschiedenartigen Perspektiven entspricht Geißlers Text beispielhaft den Tugenden des Essays und bietet zugleich ein gutes Rüstzeug für all jene, die fundiert über den Wert, die Grenzen und die Zukunft von Arbeit nachdenken und diskutieren möchten. Merken sollten wir uns z. B. ihre Dekonstruktion abwertender Ausdrücke wie „Blaumachen“, oder ihre Überlegungen zum Status unbezahlter Arbeitsformen wie Care- oder Trauerarbeit.   Der poetologische Status von Arbeit  Dass es ihr zum Thema nicht an Anschauungsmaterial mangelt, davon zeugte bereits Geißlers dokumentarischer Roman „Saisonarbeit“, 2014 erschienen, in dem sie ihre Zeit als Lagerarbeiterin bei Amazon beschreibt. Dass aus dieser, ihrer prekären finanziellen Lage geschuldeten Arbeitserfahrung ein Roman folgen musste, scheint eine der poetologischen Pointen von Geißlers jetzt erschienenem Essay zu sein. Ohne sich dafür des Labels der „Autofiktion“ bedienen zu müssen, führt sie uns eindringlich vor Augen, wie für die Autorin alles, jede Begegnung und Beobachtung zum potenziellen Text und damit zur Arbeit werden kann.   Es ist Arbeit, die zu sehen, die nicht den Grundtakt vorgeben, die aber mitschwingen müssen, weil sie keine Wahl haben. Es ist Arbeit, sich zu beruhigen, innezuhalten, auf konstruktive Gedanken zu kommen, die zu suchen, die sie haben: die tröstenden Ablenkungen und die guten Ideen.  Quelle: Heike Geißler – Arbeiten Heike Geißlers Essay „Arbeiten“ ist damit nicht zuletzt auch ein Text über das Schreiben geworden. Das prekäre Privileg der Schriftstellerin, die Beobachtung der Welt zur Arbeit zu haben, verstehen wir nach diesen knapp 115 Seiten besser. Und in einer Welt voller Arbeit ist es vielleicht gerade ihre Aufgabe, auf das hinzuweisen, was sich der Arbeit – noch – entzieht.
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Sep 21, 2025 • 4min

Annette Pehnt – Einen Vulkan besteigen

Welcher Gewinn kann im Verzicht liegen? Welche Möglichkeiten eröffnen sich durch radikale Beschränkung? Das erkundet Annette Pehnt in ihren neuen Erzählungen. Sie verzichtet darin auf vieles, was Literatur gemeinhin ausmacht: Metaphern, Vergleiche, Mehrdeutigkeiten und Sprachspiele. Ihre Geschichten bestehen aus einfachen, kurzen Sätzen, die in der Regel in eine Zeile passen und nur eine Information enthalten. Es gibt keine Perspektivwechsel und keine Zeitsprünge. Annette Pehnt hat genau das gereizt.  „Die Sprache kann sich überhaupt nicht ausbreiten und eigentlich alles Pompöse oder alles Raumgreifende ist einfach in der Sprache nicht möglich. Und das hieß dann schon für mich, dass ich mir dann auch Szenen und Figuren überlegt habe, die so ein bisschen was Geringfügiges haben, das sonst nicht so gesehen wird“, erläutert die Autorin. „Also in das Kleine zu gehen, in Szenen zu gehen, die vielleicht eigentlich sonst nicht literaturwürdig sind oder in Momentaufnahmen zu gehen, die vielleicht sonst eher in der Lyrik irgendwie erfasst würden. Und damit auch zu würdigen, was klein und was still ist.“  Es sind oft unspektakuläre, aber auch rätselhafte Alltagsszenen, die Annette Pehnt in den Blick nimmt: Eine Mutter sehnt sich danach, dass die erwachsenen Kinder noch einmal klein sind und holt alte Spielsachen hervor. Ein Paar will endlich aufhören zu streiten und gerät doch wieder in gewohnte Routinen. Ein Arzt wird zu einer Frau gerufen, doch der fehlt nichts. Ein Familienvater baut das Haus zu einer Festung um, weil er überall Gefahren wittert. Ein Geschwisterpaar büxt aus und übernachtet in einer Höhle, die Eltern aber nehmen davon keine Notiz.  Eingerichtet in Lebenslügen  Annette Pehnt erzählt von verlorenen und unsicheren Menschen, von gestörten Beziehungen und misslingender Kommunikation. Ihre Charaktere sind gebeutelt vom Leben und versuchen, irgendwie zurecht zu kommen. Einige haben sich eingerichtet in Lebenslügen, manche flüchten in Fantasien, wieder andere haben längst resigniert. Eine Frau hat genug von ihrem tristen Leben. Sie zieht in den Wald und richtet sich auf einem Hochsitz ein.  Mir wird nicht langweilig. Ich schlafe viel. Dann esse ich ein paar Nüsse oder eine Scheibe Toastbrot. In einem Joghurtbecher sammle ich Regenwasser. Denn es regnet jetzt manchmal. Das Dach über mir hält mich trocken. Meistens. Einmal kam der Regen schräg und erwischte mich. Ich musste die Kleider ausziehen und mich nackt ins Laub legen. Gut, dass ich so viel Laub hochgetragen habe. Die Kleider trockneten langsam. Bis sie trocken waren, fror ich. Aber im Schlaf merkt man die Kälte nicht.  Quelle: Annette Pehnt – Einen Vulkan besteigen Es spricht einiges dafür, dass die Ich-Erzählerin auf dem Hochsitz stirbt. In der Titelgeschichte bricht eine andere Frau zu einer gefährlichen Bergwanderung auf. Auch in ihrem Fall ist nicht klar, ob es einen Rückweg gibt. Die Protagonistinnen dieser Geschichten, meist sind es Frauen, manövrieren sich häufig in Sackgassen, aber es gibt auch Momente des Trostes.   Rätselhafte Figuren   Annette Pehnt interessiert sich für das Eigentümliche und Sonderbare. Beginnend mit ihrem bezaubernden Debütroman „Ich muss los“ hat sie versucht, ihren oft rätselhaften Figuren näherzukommen, ihnen jedoch zugleich ihr Geheimnis zu belassen. In den 35 minimalistischen Geschichten des neuen Bandes geht sie auf diesem Weg weiter.   Annette Pehnt meint: „Man kann noch weniger auserzählen, das heißt, es bleibt noch mehr offen. Ich kann und will nicht alles über die Figuren erzählen und ich will ihr Geheimnis nicht lüften und ich kann ihr Rätsel vielleicht nicht auflösen. Und die Sprache kommt dem entgegen. Also die Sprache, hoffe ich, öffnet diese Fantasien für die Leserin, das zu ergänzen, das aufzufüllen, dazu weiter zu fabulieren vielleicht. Denn die Sprache selber fabuliert ja nicht.“  Der Reiz dieser nur scheinbar einfachen Erzählungen besteht in den Lücken und Räumen, die sie lassen. Manche enden überraschend, noch häufiger aber verzichtet Annette Pehnt auf einen effektvollen Schluss. Die Pointe liegt im Beiläufigen.
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Sep 19, 2025 • 55min

Mit neuen Büchern von T. C. Boyle, Götz Aly, Édouard Louis und Tanja Paar

Neue Romane und ein Gespräch über Literatur als Wettbewerb mit Arnold Maxwill. Und: Schreiben nach dem 7. Oktober als Thema beim Internationalen Literaturfestival Berlin.
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Sep 19, 2025 • 6min

Von der Veranstaltung: Schreiben nach dem 7. Oktober beim internationalen Literaturfestival Berlin

Schon beim Einlass merkt man, das ist keine normale Lesung: leicht erhöhte Sicherheitsvorkehrungen, Taschenkontrollen, ein wenig Nervosität liegt in der Luft. Bei den Podiumsgästen reist die Erinnerung an den 7. Oktober gerade immer mit, die Sorge zum Beispiel, nicht mehr zurück zu können, antwortet Ayelet Gundar-Goshen, Mutter von drei Kindern, auf die Frage der Moderatorin, wie es sich diesmal angefühlt hat Israel zu verlassen: „Ich glaube, seit dem Tag ist es einfach so, wie Natalia Ginzburg es einmal nach dem Zweiten Weltkrieg beschrieben hat: Du schaust ein Gebäude an, und es ist nicht mehr nur ein Gebäude, weil du weißt, wie einfach Gebäude einstürzen können, weil du fühlst, das sich einfach alles um dich herum innerhalb von einer Sekunde in etwas anderes verwandeln kann. Und ich glaube, so ähnlich fühlt es sich jetzt beim Reisen an." Gleichzeitig aber fühle sie sich sehr privilegiert, sagt Ayelet Gundar-Goshen, manchmal sogar schuldig: „Weil so viele Menschen in Israel und in Gaza nicht diese Möglichkeit haben, (...), dem ganzen wenigstens mal kurz zu entkommen und durchzuatmen." Ein Roman über Schuld und Angst Ayelet Gundar-Goshen ist gerade mit ihrem Roman „Ungebetene Gäste“ auf Lesetour, elf Tage durch die Schweiz und Deutschland. Beim persönlichen Treffen zwei Stunden vor ihrem Auftritt auf dem Literaturfestival wirkt sie gelöst: lacht über den im Hotel verschlungenen Burger, denkt an den Mitbringsel-Auftrag ihrer Tochter. Doch in ihrem Roman geht es um schwere Themen: um Schuld, Rassismus, tiefsitzende Ängste und Vorurteile in der israelischen Gesellschaft.  Durch einen Unfall stirbt ein junger Mann, ein palästinensischer Arbeiter wird deshalb verhaftet, eine jüdisch-israelische Mutter namens Naomi weiß es besser, schweigt aber – um ihren kleinen Sohn zu schützen. „Man kann Naomi auf jeden Fall als Stellvertreterin für die israelische Gesellschaft sehen, für Fragen nach Gerechtigkeit und danach, wie unser eigenes Trauma uns manchmal blind dafür macht, das Trauma zu sehen, das wir in anderen auslösen. Hier ist der Roman sehr israelisch," erzählt Ayelet Gundar-Goshen. „Aber gleichzeitig ist es ein sehr universeller Roman, diese Frage: In wen verwandele ich mich, wenn ich mich bedroht oder verängstigt fühle? Könnte es sein, dass ich dann zu einer Bedrohung für andere werde, das aber nicht zugeben kann? Ich denke, das ist nicht nur eine israelische Frage." Ayelet Gundar-Goshen ist nicht nur Schriftstellerin, sondern auch Psychotherapeutin. Nach dem 7. Oktober arbeitete sie in einem Traumazentrum für Überlebende des Terroranschlags der Hamas. Sie fühlte sich lange nicht in der Lage dazu, weiterzuschreiben. „Schreiben fühlte sich unmöglich an.“ Literatur als Protest und Verantwortung Es war die Wut, die sie dann doch weiterschreiben ließ. Die Wut über Boykotte, so erzählt sie, darüber, dass die Regierung in Israel wieder mal anfing, Literatur, Kunst und Filme zu verbannen, die sich mit dem palästinensischen Leid beschäftigten. Gleichzeitig fing man außerhalb Israels damit an, israelische Künstler und Kultur zu boykottieren. „Und ich dachte, ok, wenn die Rechten in Israel so viel Angst vor Worten haben, dann machen Worte vielleicht wirklich einen Unterschied. Das hat mich zurück zum Schreiben gebracht." Ayelet Gundar-Goshen gehört zu den Tausenden in Israel, die Woche für Woche gegen die Regierung und gegen den Krieg in Gaza auf die Straße gehen. Gemeinsam mit anderen Israelis hält sie dabei Fotos von getöteten palästinensischen Kindern hoch. „Gleichzeitig verstehe ich Leute, die sagen, glaubst du, irgendjemand in Gaza würde dasselbe tun mit Fotos von den Kindern, die im Kibbuz abgeschlachtet wurden? Ich verstehe, wenn Leute das sagen, aber ich persönlich glaube nicht, dass man einen Massenmord durch ein vorheriges Massaker rechtfertigen kann. Das Hamas-Massaker lässt sich durch nichts rechtfertigen, genauso wenig wie die Anzahl der zivilen Opfer in Gaza. Das muss sofort aufhören!" Die Macht der Worte in Zeiten des Krieges Zurück auf der Bühne beim Internationalen Literaturfestival in Berlin. Das Publikum darf Fragen stellen. Eine Frau vermisst ein klares Bekenntnis, dass das, was in Gaza passiere, ein Genozid sei.  Julia Tzaisler, die mit Ayelet Gundar Goshen und dem Drehbuchautor und Schriftsteller Yaniv Iczkovits auf dem Podium sitzt, wehrt ab. Die Autorin und Leiterin des Jerusalemer Literaturfestivals sagt, sie glaube nicht, dass sie bestimmte Begriffe benutzen müsse, um ihre Haltung deutlich zu machen. Alle drei Podiumsgäste haben zu diesem Zeitpunkt schon mehrfach das Grauen in Gaza verurteilt, sich von der israelischen Regierung distanziert. Ayelet Gundar-Goshen beteuert, sie nehme ihre Verantwortung jede Woche bei den Protesten wahr, und indem sie über das, was passiert, spreche, auch hier: „Ich mache mir manchmal Sorgen, dass Menschen außerhalb von Israel nun fordern könnten, (…) dass der Staat Israel kein Recht mehr habe zu existieren. Für mich ist die Sache klar, es muss einen palästinensischen Staat geben und der israelische Staat hat jedes Recht zu existieren." Die Diskussion in Berlin zeigt: Es geht um mehr als nur um Bücher. Es geht darum, ob Sprache verbinden oder spalten kann. Es ist ein permanentes Ringen, um Begriffe wie „Genozid“ oder „Terror“ und darum, gesehen und gehört zu werden, jenseits von Schwarz und Weiß. Gerade deshalb sind Stimmen wie die von Ayelet Gundar-Goshen in den aktuellen Debatten so wichtig. Und eine Bühne wie die beim Literaturfestival Berlin, wo geredet, aber nicht gebrüllt wurde, intensiv, aber respektvoll.
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Sep 19, 2025 • 7min

Lieber nicht - Warum Ralf Rothmann den Deutschen Buchpreis ablehnte

„Lieber nicht“ – eine Absage mit Signalwirkung Als Ralf Rothmann 2015 den Deutschen Buchpreis ablehnte, war das mehr als eine persönliche Entscheidung. Mit dem berühmten Bartleby-Zitat „Ich möchte lieber nicht“ entzog er sich einem medialen Wettbewerb, der über Wochen hinweg Romane gegeneinander ausspielt. Für Rothmann hatte das wenig mit Literatur, viel mit Zirkus zu tun. Preis als Marketingmaschine Der Deutsche Buchpreis sorgt für enorme Sichtbarkeit – aber auch für Dauererregung im Feuilleton. Über acht Wochen werden Bücher verglichen, auf- und abgewertet. Autorinnen und Autoren sind diesem Prozess ausgesetzt, ohne eine echte Möglichkeit, Einspruch zu erheben. „Das hat mit dem Schreiben selbst kaum etwas zu tun“, sagt Literaturwissenschaftler Arnold Maxwill. Solidarische Alternativen? Wie könnten Preise aussehen, die weniger Marketing und mehr Förderung sind? Maxwill verweist auf Gesten der Solidarität, etwa Autor:innen, die Preisgelder untereinander teilen. Doch die Lust am Sieger bleibt groß – auch beim Publikum. Der Deutsche Buchpreis habe es trotz Kritik geschafft, sich seit über 20 Jahren als feste Institution zu etablieren.
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Sep 19, 2025 • 6min

Tanja Paar: Am Semmering

Sommerfrische mit Geschichte  Schattige Fichtenwälder und felsige Grate, spektakuläre Bahn-Viadukte, sanfthügelige Almen und beschauliche Villen: das ist die Semmering-Landschaft, in der Zeit um 1900 ein Sehnsuchtsort der vornehmen Wiener Gesellschaft. Heimito von Doderer und Peter Altenberg haben über den Semmering geschrieben, aber auch Stefan Zweig und andere prominente Autoren. „Der Semmering und die Landschaft am Semmering sind speziell. Es ist eine Berglandschaft, die doch sehr wild ist, kaum bewegt man sich weg, wenige Schritte von diesen ehemaligen Grandhotels", erzählt Tanja Paar. „Und es war eben tatsächlich um die Jahrhundertwende, also seit dem Bau der Südbahn und dann bis in die 1920er, 1930er Jahre ein ganz spezieller Ort, weil sich unterschiedliche Klassen, Religionen, Herkünfte dort gemischt haben, in einer Art und Weise, die, wie ich finde, einmalig ist.“ Ein Eisenbahnerpaar im Mittelpunkt Unterschiedliche Klassen und Religionen mischen sich auch in Tanja Paars Roman, wobei die Autorin ihren Fokus auf Klara und Bertl legt, ein Wiener Eisenbahner-Ehepaar aus bescheidenen Verhältnissen, das zu Beginn der 1930er-Jahre auf den Semmering übersiedelt. Bertl, vom Wagenputzer zum Fahrdienstleiter befördert, wacht auf einem Bergbahnhof in 900 Metern Seehöhe über den ordnungsgemäßen Ablauf des Fahrbetriebs. Tanja Paar – das bekennt sie im Nachwort – hat sich von den Erzählungen ihrer Großeltern zu diesem Roman inspirieren lassen. „Es ist insofern die Geschichte meiner Großeltern, als der Großvater tatsächlich bei der Eisenbahn war, sich auch vom Wagenputzer hinaufgearbeitet hat, also aus ganz armen Verhältnissen stammend. Die haben tatsächlich am Semmering gelebt, in den 20er, 30er Jahren. Ich habe gewisse Dinge verdichtet und auch dazuerfunden. Es ist ja literarische Fiktion, das heißt, das ist jetzt nicht eins zu eins die Geschichte meiner Großeltern." Aber doch über weite Strecken. Tanja Paar gewährt in ihrem Roman einen Blick hinter die Kulissen der noblen Sommerfrische. Wir lernen den Hotelverwalter Szabo kennen, einen ausgebildeten Konzertpianisten von filouhaftem Naturell, der mit dem Eisenbahner-Ehepaar befreundet ist, wir machen aber auch Bekanntschaft mit einem Baron namens Fritz, der sich von seiner Herkunft losgesagt hat und als „sozialdemokratischer Aristokrat“ von Fahrdienstleiter Bertl als Genosse ernst genommen wird. Die orthodoxe Jüdin Rahel wiederum, eine enge Freundin Klaras, widmet sich in einem der bescheideneren Semmering-Häuser der Kunst des koscheren Kochens. „Es hat den Mythos vom jüdischen Semmering auch gegeben. Ähnlich wie in anderen Ortschaften in Österreich gab es da Vorurteile und Antisemitismus. Und das wurde auch deutlich in den Erzählungen meiner Großeltern," meint die Autorin. Zwischen Bürgerkrieg und Anschluss Tanja Paar bettet die Handlung ihres Romans in die Irrungen und Wirrungen der österreichischen Zeitgeschichte. Die Bürgerkriegskämpfe zwischen „Roten“ und „Schwarzen“ im Februar 1934 sind im Roman ebenso Thema wie die Umtriebe der illegalen Nazis während der Ständestaat-Diktatur; der sogenannte „Anschluss“ und die Gleichschaltung Österreichs kommen genauso zur Sprache wie die Kämpfe des Jahres 1945, als sich Wehrmacht und Rote Armee opferreiche Gefechte in der Region liefern. „Es ist ein Stück Zeitgeschichte. Der Bertl ist, als Eisenbahner wenig überraschend, ein Linker. Die Klara ist am Anfang vielleicht gar nicht so stark politisiert und wird dann erst in den Zeitläufen und durch ihre jüdische Freundin immer stärker politisiert. Es geht auch um den sogenannten „Anschluss“. Es gibt da eine Szene, wo auch dargestellt wird, dass die Klara durchaus nicht als Heldin agiert. Mir geht es auch nicht darum, meine Großeltern ex post als Heldinnen darzustellen." Tanja Paars Roman ist ein stilles und unaufgeregtes, dafür umso eindringlicheres Stück Literatur. Der Alltag der kleinen Leute wird einfühlsam und ohne imposante Erzählgesten geschildert. Die Autorin bleibt über 250 Seiten hinweg nah an der gesprochenen Sprache. Inspiriert von der Musik: Zwei Stimmen wie eine Fuge Interessant auch die formale Struktur des Werks. Zwei Erzählstränge laufen mit- und gegeneinander: Einerseits wird die Chronologie der Ereignisse aus der Perspektive Klaras geschildert, beginnend 1928 und im Frühjahr 1945 endend; andererseits vernehmen wir die Stimme des Hotelverwalters Szabo, der sich 1989 – kurz vor dem Fall des Eisernen Vorhangs – im Rückblick an die erzählten Ereignisse erinnert. Unaufdringlich aber kunstvoll geht Tanja Paar da vor: „Das funktioniert angelehnt an das musikalische Motiv der Fuge. Das heißt, ähnlich wie in der Musik gibt es zwei Stimmen, die die Motive immer wieder aufbringen, aber durchaus anders interpretieren." „Am Semmering“: Tanja Paar hat einen angenehm zu lesenden Roman geschrieben, einen Roman, der ohne große Gesten auskommt – anspruchsvolle Unterhaltung und fein recherchiertes Historienbild in einem.
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Sep 19, 2025 • 7min

„Abscheu ist kein Lernziel“ – Götz Alys großes Alterswerk zur Hitlerzeit

Kaum eine Zeit ist so gut erforscht wie die Hitlerjahre. Daher meinen wir die Antworten auf die Frage aller Fragen „Wie konnte das geschehen?“ längst zu kennen. Wir glauben zu wissen, weshalb Hitler an die Macht kam und sich an der Macht hielt. Vernichtungskrieg und Holocaust scheinen in all ihren Dimensionen analysiert zu sein. Götz Aly misstraut dieser Kennerschaft. Gängige Klischees sind ihm ein Gräuel. Aly erzählt: „Ich schreibe ja auch in eine Szene der Gedenkstätten hinein und der Schulbücher. Da ist hauptsächlich immer von den Verbrechen die Rede. Und dann sieht man da unangenehme Figuren mit Schaftstiefeln und komischen Mützen und SS-Pluderhosen. Und dann gehen die Schüler und Schülerinnen raus und sagen, aha, das war der Nationalsozialismus. Der Nationalsozialismus war mehr und sehr viel differenzierter." Verlockende Angebote und Lockmittel Genau das wird in Götz Alys Opus Magnum deutlich. In zwölf glänzend geschriebenen, anschaulichen Kapiteln und auf über 700 Seiten schaut er darauf, wie es gelang, „die stets prekäre Einheit von Volk und Führung“ so lange zu wahren. Dabei kann Aly auf eine Reihe eigener Vorarbeiten zurückgreifen. Er legt dar, dass zur Steuerung der Bevölkerung anfänglich weniger Einschüchterung und Zwang eingesetzt wurden, sondern vielmehr attraktive Angebote und Lockmittel. „Man tut ja immer so, als wäre der Terror von Anfang an gleichmäßig gewesen. Und unsere Eltern haben dann gesagt, also in meiner Generation: Ja, wir standen ja immer mit einem Bein im KZ, wenn wir da was gemacht hätten. Das taten die nicht," weiß der Autor. Der Schwerpunkt des Buches liegt auf der Kriegszeit. Götz Aly rechnet überzeugend vor, dass der Krieg notwendig war, um den Staatsbankrott zu verhindern. Dass sich Hitler 1941 schließlich gegen die Sowjetunion wendete, ist für den Autor nicht Folge eines lang gehegten Plans, sondern vielmehr einer großen „Ratlosigkeit“. „Nachdem alles scheitert und er eigentlich nicht weiß, wie es weitergeht und die Verschuldung immer mehr wächst und auch die Reichsreserven an Getreide und so weiter ganz schnell sinken, ... da entschließt er sich zum Krieg gegen die Sowjetunion. Wohlwissend, wie leicht das schiefgehen kann." Der Antisemitismus war die Grundbedingung für das Morden Der Holocaust erscheint bei Aly weniger als rassistisches Mordprogramm, sondern als wirtschaftlich motiviertes Raubmordunternehmen. Die Besitztümer der deportierten, erschossenen und vergasten Juden gingen an die deutsche „Volksgemeinschaft“. Als Grundbedingung für das Morden betrachtet auch Götz Aly den Antisemitismus. Ausgemacht ist für ihn jedoch, dass sich die Nationalsozialisten nicht von blindem Wahn treiben ließen, sondern vielmehr mit funktionalem Kalkül vorgingen. Den Einwand, dass kühle Berechnung kaum den Furor und fanatischen Eifer erklären kann, mit dem Deutsche im Osten mordeten, lässt Götz Aly nicht gelten. „Was heißt hier Furor? Das geht ja alles gesetzmäßig vor sich – in vielerlei Beziehungen. Begriffe wie Furor – das ist alles nicht analytisch. Ich bin erstmal dafür, dass man möglichst viel mit den normalen historiografischen Methoden erforscht." Brillant zeichnet Aly das enorme Tempo nach, das für die Hitlerzeit typisch war. Von Beginn an sei es darum gegangen, das Volk in Bewegung zu halten, keiner sollte zur Ruhe und zum Nachdenken kommen. Der ins Exil gezwungene, hellsichtige Beobachter Wilhelm Röpke fand dafür das einprägsame Bild eines Kreisels, der immer wieder angestoßen werden muss, um im Gleichgewicht zu bleiben. Im Krieg galt das erst recht. Die Menschen rotierten – nahezu besinnungslos. „Dieser Krieg verengt einfach ungeheuer die moralischen und auch rechtlichen Vorstellungen der Beteiligten, in Deutschland auch der Bevölkerung, die halt um ihre Angehörigen bangen, die bald dem Bombenkrieg ausgesetzt sind. Da sagt Goebbels: ‚Bombenkrieg, prima. Die Leute legen sich eine innere Hornhaut zu‘, so betrachtet er das." Götz Aly ist überzeugt, dass die deutsche Führung schon sehr früh erkannte, dass der Krieg kaum zu gewinnen war. Sie habe den Völkermord beständig weiter vorangetrieben, um die Bevölkerung in eine immer größere Mitschuld zu verstricken. So sollten die Deutschen aus Furcht vor Rache dazu gebracht werden, bis zuletzt weiterzukämpfen. Aus „Kraft durch Freude“ wurde „Kraft durch Todesangst“. „‚Die Brücken sind hinter uns abgebrochen, wir haben ohnehin zu viel auf dem Kerbholz‘, das ist Goebbels wörtlich," zitiert Aly. Der Führer-Mythos bleibt außen vor Das voluminöse Goebbels-Tagebuch ist eine der wichtigsten Quellen für Aly. Es sind vor allem die täglichen Einträge des Propagandaministers, die dem Autor als Beleg für das instrumentelle Verhältnis der Naziführung zur Macht dienen. Eine festgefügte Ideologie habe es nicht gegeben; stattdessen passte die Führung nach Alys Einschätzung ihre politischen Programme je nach Situation an, um ihre Herrschaft zu sichern. „Diese ganze Mythologisierung und dass das so etwas ganz Besonderes gewesen wäre und dass das, was die da gemacht haben, uns Heutigen allen so fremd ist, das ist es eben in den Einzel-Elementen nicht. Wenn man sich das anguckt, gibt es das alles weiterhin, bloß nicht in dieser radikalen und kombinierten Form." Dies ist die Quintessenz des Buches. Götz Aly hält nichts von Erklärungen, die seiner Ansicht nach bloß dazu taugen, Distanz herzustellen. Der „Führer-Mythos“, den Historiker wie Ian Kershaw als wichtiges Bindemittel des Regimes beschrieben haben, bleibt bei ihm komplett außen vor. Man kann fragen, ob Götz Aly nicht grundsätzlich die irrationalen Elemente des Hitlerismus zu gering gewichtet. Lernen lässt sich mit seinem großen Buch, das aus einer enormen Materialfülle und Detailkenntnis schöpft, wie durchschnittliche Menschen zum Mitmachen gebracht wurden. Die Nazis, das ist seine Botschaft, waren keine Teufel. Sie stehen uns vielmehr sehr nah. „Dass die böse waren und dass die Böses gemacht haben, das stimmt. Aber es ist kein Lernziel. Man muss fragen, wie dieses Böse zustande gekommen ist. Abscheu zu bewirken, das ist auch kein Lernziel. Man muss gucken, dass man es versteht."
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Sep 19, 2025 • 7min

T.C. Boyles - No Way Home

T.C. Boyle, einer der populärsten US-Autoren im deutschsprachigen Raum, legt mit „No Way Home“ einen neuen Roman vor. Darin landet der Assistenzarzt Terry aus Los Angeles nach dem Tod seiner Mutter in der Wüstenstadt Boulder City. Dort beginnt er eine Affäre mit der jungen Bethany und gerät so in eine leidenschaftliche und toxische Dreiecksgeschichte mit deren Ex-Freund Jesse. Gegensätze in der Wüste Der Roman lebt von den Gegensätzen zwischen dem chaotischen L.A. und der streng kontrollierten Ordnung der Kleinstadt. Boyle erzählt eine Geschichte von Macht und Abhängigkeit. Jedes Kapitel wechselt die Perspektive, sodass die Grenzen zwischen Gut und Böse verschwimmen. Vor allem die männlichen Figuren neigen zu unkontrollierten Gewaltausbrüchen, was für eine ständige Spannung sorgt. Spannend, aber mit Schwächen Literaturkritiker Christoph Schröder findet den Roman spannend, kritisiert aber die fehlende Tiefe der Figuren. Besonders der grobschlächtige Jessie wirke wie eine Pappfigur. Trotzdem sei die Atmosphäre der Wüstenstadt sehr plastisch und die Geschichte unberechenbar. Sein Fazit: ein lesenswertes Buch der „Boyle-Mittelklasse“, das aber nicht an seine besten Werke heranreicht.

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