SWR Kultur lesenswert - Literatur

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Oct 1, 2025 • 4min

David Graeber – Die ultimative heimliche Wahrheit der Welt

David Graeber war ein Vordenker, ein Utopist, ein Anarchist – und ein Träumer, auch das, belesen und denkfreudig. „Ein mit feministischer Theorie gut vertrauter Akademiker“, wie er selbst schrieb. Graebers Nachlassverwalterin und Witwe, Nika Dubrovsky, hat diese Textsammlung von David Graeber zusammengestellt und ihr den Titel gegeben: „Die ultimative heimliche Wahrheit der Welt…“. Graebers Ideen leben.  Unsere Gesellschaft ist so organisiert, dass der Zugang zu Macht mit dem Zugang zu Gewalt verbunden ist. Menschen, die für andere sorgen, dürfen kaum wichtige Entscheidungen treffen. Es sind die Armeechefs, die Bosse von großen Konzernen und so weiter, die bestimmen, wie wir alle unser Leben leben. Wollen wir wirklich in einer Gesellschaft leben, die nach den Idealen dieser Leute organisiert ist? Quelle: David Graeber – Die ultimative heimliche Wahrheit der Welt... Anarchismus: weder gewaltsam noch zerstörerisch  In einem Essay aus dem Jahre 2000 räumt der 39-Jährige Graeber grundsätzlich mit Vorurteilen auf. „Sind Sie ein Anarchist?“, lautet der Titel und er listet zunächst Ängste und Befürchtungen auf. Anarchisten seien „Befürworter von Gewalt, Chaos und Zerstörung“? Falsch, sagt Graeber, purer Unsinn. Und er stellt seine Sichtweise und sein Verständnis von Anarchismus vor:  Anarchisten sind einfach nur Menschen, die glauben, menschliche Wesen seien zu einem vernünftigen Verhalten fähig, ohne dass man sie dazu zwingt. Es ist wirklich eine sehr einfache Vorstellung. Aber es ist eine Vorstellung, die die Reichen und Mächtigen schon immer für extrem gefährlich gehalten haben. Quelle: David Graeber – Die ultimative heimliche Wahrheit der Welt... Einfache Grundsätze des allgemeinen Anstands  Macht korrumpiere, schreibt Graeber, das gehöre zu den Grundüberzeugungen von Anarchisten. Und es sei „eine Frage des Mutes“, fährt er fort, „sich an die einfachen Grundsätze des allgemeinen Anstands zu halten“. Dazu zählt Graeber Würde und Respekt, Gewaltfreiheit, Empathie. Und er, der Akademiker, der aus der Arbeiterklasse stammte, verweist auf Studien der Psychologie.  Und weil die Menschen nun einmal empathische Lebewesen sind, führt das Wissen zu Mitleid und Mitgefühl. Die Reichen können unterdessen weiterhin unaufmerksam und gleichgültig bleiben, weil sie sich das leisten können. Zahlreiche psychologische Studien haben das in den letzten Jahren bestätigt. Menschen, die in Arbeiterfamilien aufgewachsen sind, erzielen bei Tests zur Einschätzung von Gefühlen anderer Menschen konstant bessere Ergebnisse als Sprösslinge aus den wohlhabenden Bevölkerungsschichten oder von Angehörigen freier akademischer Berufe. Quelle: David Graeber – Die ultimative heimliche Wahrheit der Welt... Freiheit  David Graeber, in New York geboren, war kein Besserwisser, er wollte nicht recht haben. Doch er spekulierte und kombinierte gern, um neue Einsichten zu ermöglichen, um langweilige Vorurteile aus dem Kopf zu bekommen. Graeber ging den Tabus im Denken und Handeln und in seiner eigenen Disziplin, der Anthropologie, nach; er schilderte persönliche Erfahrungen aus seiner Schulzeit mit Formen von Gewalt oder Erlebnisse mit seiner kranken Mutter und lähmender, schikanierender Bürokratie; er geißelte wiederholt überflüssige Bullshit-Jobs in Verwaltung, Finanz- und Werbewirtschaft, Manager- und Beratungstätigkeiten. Schließlich umriss er seine Idee von Freiheit.  Handeln als Selbstzweck könnte als eine Definition von Freiheit betrachtet werden, ist aber auch eine gängige Definition des Spiels. Das Spielprinzip kann mithelfen zu erklären, warum Sex Spaß macht, es kann aber außerdem erklären, warum Grausamkeit Spaß macht. (Wie jeder Mensch bestätigen kann, der schon einmal beobachtet hat, wie eine Katze mit einer Maus spielt, sind viele Spiele von Tieren nicht besonders nett anzusehen.) Aber es bietet uns eine Basis, von der aus wir über die Welt, die uns umgibt, hinausdenken können. Quelle: David Graeber – Die ultimative heimliche Wahrheit der Welt... Solidarische und gewaltfreie Überzeugungen scheinen heute weitgehend aus dem Blickwinkel in der Öffentlichkeit verschwunden zu sein. Graebers Schriften können dazu beitragen, andere Möglichkeiten als Krieg, Ungerechtigkeit, Fremdbestimmung wieder zu bedenken und kraftvoll zu propagieren.
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Sep 30, 2025 • 4min

Samanta Schweblin – Das gute Übel

Als 2010 der erste Erzählband von Samanta Schweblin erschien, galt die 1978 geborene Argentinierin als große literarische Entdeckung. Sie hat sich ihre schriftstellerischen Qualitäten bewahrt. Das beweist sie erneut mit dem Erzählband „Das gute Übel“. Er enthält sechs Kurzgeschichten, und sie überzeugen alle. Durch fein ziselierte Beschreibung menschlicher Schwächen und sauber aufgebaute Spannungsbögen, sowie durch sprachliche Präzision. Vor allem aber erweist sich Schweblin als Meisterin der Überraschung. Wie schon in ihren früheren Erzählungen, wählt sie wieder durchgängig die Ich-Form: In „Das Auge in der Kehle“ erzählt sie aus der Perspektive eines zunächst zweijährigen Jungen:  Ein langes Schweigen genügt, dass mein Vater sich umdreht. Ich sitze inmitten verstreuter Gegenstände vor dem Fernseher auf dem Boden und merke, dass er erschrickt. Er steht auf, ist mit einem Satz bei mir, denn das, was gerade passiert, ist kein Wutanfall, das versteht er sofort. Es ist nicht dieses Schweigen, das dem Weinen vorausgeht. Er hat mein Gesicht gesehen, wie ich die Wangen aufblase, bis sie sich färben, irgendwas passiert da gerade. Er braucht ein paar Sekunden, bis er versteht, dass ich am Ersticken bin, dass ich keine Luft mehr kriege. Ich schließe eines meiner Händchen zur Faust und haue mir ungeschickt auf den Mund. »Was hast du gemacht?«, fragt er. Er versucht, meine Faust, meinen Mund aufzubekommen. Ich entwische ihm, er fängt mich ein. Gewaltsam öffnet er meine Hände. Da schlucke ich auf einmal, schlucke etwas... Quelle: Samanta Schweblin – Das gute Übel Es ist eine Lithium-Batterie. Sie verätzt dem kleinen Ich-Erzähler die Kehle.   Parabel auf die Sprachlosigkeit  Während die Kinder in meinem Alter anfangen, mit komplexeren Wörtern zu spielen und die Kraft des Klangs und den Luxus des vorsätzlichen Schweigens entdecken, verliere ich für immer die wenigen Wörter, die ich gelernt habe. Quelle: Samanta Schweblin – Das gute Übel In der berührenden Erzählung beleuchtet Samanta Schweblin, wie der namenlose Junge, seine Mutter und vor allem sein Vater über die Jahre mit ihrer Schuld umgehen: Nur für einen Moment hat der Vater nicht hingeschaut. Man kann die Geschichte aber auch als eine Parabel auf die Sprachlosigkeit innerhalb einer Familie lesen. Für Momente hebt Schweblin dabei ins Unwirkliche ab, wie es für sie typisch ist:  Auf Höhe meines Kehlkopfs ist eine Art schwarzes Amulett, so groß und unförmig wie ein gigantisches Auge. Quelle: Samanta Schweblin – Das gute Übel Schweblin knüpft an die Tradition der fantastischen Erzählung an, wie sie in Argentinien seit mehr als hundert Jahren gepflegt wird. Auf feine Untertöne versteht sich die Autorin ebenfalls. So klingt an, dass in der patagonischen Kleinstadt, in der die Familie lebt, die Gesundheitsversorgung den Namen nicht verdient. Dass Staat und Gesellschaft hilfsbedürftige Menschen allein lassen, schwingt auch in „Die Frau von Atlántida“ mit. Eine Frau erzählt von ihren Kindheitserlebnissen in einem Atlantikbadeort. Gerade mal zehn Jahre alt, ist sie dort mit ihrer Schwester zum Spaß allnächtlich in das Haus einer Dichterin eingedrungen. Die Mädchen räumten deren Müll weg und badeten die alkoholabhängige Frau:   Sie war etwas, das wir gefunden hatten, ein Schatz, der uns gehörte. Tot oder lebendig, sie war unsere Frau, und wenn wir sie frühmorgens in ihrem Haus zurückließen, wollten wir sie nachts, wenn wir wiederkamen, dort auch wieder vorfinden. Die Begegnungen mit der Dichterin waren für uns ein unerhörtes Privileg, so kaputt sie auch war.  Quelle: Samanta Schweblin – Das gute Übel Themen von universellem Interesse  Natürlich nimmt die Geschichte eine höchst dramatische Wende. Es schwingt mit, dass sich mit Ausnahme zweier Kinder niemand um eine kranke, einsame Frau kümmert. Samanta Schweblin siedelt ihre Erzählungen zwar in Argentinien an, doch sie könnten überall spielen. Ihre Themen sind von universellem Interesse. Auch das macht sie so großartig.
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Sep 29, 2025 • 4min

Harriet Rix – Geniale Bäume

Dass Bäume für uns wichtig sind, ist eine Binsenweisheit. Sie liefern uns Bauholz, dienen als Energielieferant. Das Obst der Fruchtbäume ernährt uns seit Ewigkeiten. Sie versorgen uns mit Sauerstoff und schlucken Unmengen an Kohlendioxid. Wie Bäume die Umwelt prägen   Das ist alles richtig, meint Harriet Rix, aber eben nur die halbe Wahrheit. Bäume können erheblich mehr und genau das zeigt sie in ihrem Buch „Geniale Bäume“. Der Titel ist nicht übertrieben, wie sie auf 300 Seiten sehr detailliert beweist. In acht Kapiteln dekliniert sie durch, wie Bäume das Leben auf der Erde prägen. Über zwei Dutzend Farbfotos veranschaulichen einige der vorgestellten Bäume. Sechzig Seiten Anmerkungen und ein Register zeigen, auf welchen wissenschaftlichen Erkenntnissen ihr Buch basiert. Die Übersetzung ist makellos souverän.   Harriet Rix geht weit in der Erdgeschichte zurück, um zu erläutern, wie vor Millionen Jahren aus kleinen Blattpflanzen große Bäume entstanden. Heute gibt es weltweit 73 000 Arten. Sie alle beeinflussen den Wasserhaushalt der Erde, verändern den Boden unter ihren Wurzeln, wehren sich gegen Feuer, beeinflussen Luft und Klima. Sie gehen mit Pilzen und Pflanzen symbiotische Verbindungen ein, locken Insekten, Vögel und Tiere an und spannen auch den Menschen als Helfer ein. So bestimmen sie ganze Ökosysteme.  Der Geruch der Bäume  Man kann die Bäume sogar riechen. So erinnert Harriet Rix der Lorbeerbaumgeruch an „intensive Noten von Bittermandel und Kampfer und Zimt“. Der Duft besteht aus flüchtigen chemischen Verbindungen. Die steigen in den Himmel und dabei lagern sich unaufhaltsam Wassermoleküle an sie an, bis daraus Tropfen werden und abregnen. So verdunstet der Baum Wasser und regt gleichzeitig die Bildung von Regenwolken an. Das Wasser braucht er wieder zur Photosynthese. Ein ewiger Kreislauf, der das Klima ganzer Kontinente bestimmt.  Die Biochemikerin entschlüsselt uns die chemischen Verbindungen, aus denen die Duftstoffe bestehen und die zur Photosynthese führen. Die Bäume nutzen chemische Stoffe aber auch zur Abwehr von Fressfeinden, locken damit Nützlinge an. Die versorgen sie mit Nahrung wie Blütenpollen, süßem Nektar oder Fruchtfleisch. Jede Baumart hat ihren eigenen Duftcocktail aus hochkomplizierten chemischen Strukturen. Das ist zwar faszinierend zu lesen, aber als Chemielaie kann man sie sich kaum merken.   Ungewöhnliches Vokabular  Das gilt überhaupt immer wieder für Teile Textes, bei dem sie wissenschaftliches Fachvokabular mit persönlichen Eindrücken mischt. Sie schildert, wie sie seltene Bäume rund um die Welt selbst an weit abgelegenen Orten aufgesucht hat. Dank ihrer lebendigen Beschreibungen sehen wir sie vor uns.  Ihre Sprache ist oft salopp. So nennt sie Samenkerne, in denen tödliche Gifte stecken, die jeden umbringen, der sie aufbeißt: „Der Samthandschuh und die eiserne Faust – giftige Samen in weichem, köstlichem Fruchtfleisch – diese Methode hat sich gehalten, um Vögel dazu zu bringen, Samen über die ganze Welt zu verteilen.“ Oder Rix Harriet findet zum Beispiel bestimmte Zellen „durchaus unsympathisch ... Sie machen die Bakterien bewegungsunfähig und versklaven sie.“   Immer wieder stellt sie uns Rix Forscher und Forscherinnen vor, die besondere Baumeigenschaften entdeckt haben. Das reicht von der erstmaligen Beschreibung eines ungewöhnlichen Baumexemplars im Mittelalter bis zu seiner genetischen Analyse heute.   Bäume, so lernen wir, sind keineswegs die passiven Gestalten, die wir normalerweise in ihnen sehen. Harriet Rix beweist es uns vielfach: Bäume sind tatsächlich genial. Ein aufregender Erkenntnisgewinn.
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Sep 28, 2025 • 4min

Eine Biologin auf einer abgelegenen Forschungsstation: Sophia Klinks „Kurilensee“

Nature Writing, das literarische Schreiben über Phänomene der natürlichen Lebenswelt, hat längst auch hierzulande sein Habitat erobert, davon zeugt etwa der seit 2017 verliehene Deutsche Preis für Nature Writing. Aber was ist es, das eine wachsende Leserschaft für diese Art von Literatur, seien es Gedichte, Essays oder erzählende Prosa, derart einnimmt?  Das Naturschöne und die Naturwissenschaft  Jedenfalls zeigt das Romandebüt der Münchner Autorin Sophia Klink beispielhaft einiges davon. So, wenn die Ich-Erzählerin, die dreißigjährige Biologin Anna, den Abend auf dem Pier der Forschungsstation am titelgebenden Kurilensee verbringt, dessen ökologischen Zustand sie zusammen mit einer Handvoll anderer Forscher untersucht:  So spät abends wird der Staub in der Luft sichtbar. Wenn die Sonne hinter dem Fluss steht und jedes Körnchen auf einer Seite leuchtet, während die lichtabgewandte Seite immer dunkler wird. Ich glaube, goldene Moleküle aus der Luft rieseln zu sehen. Als rieselte die ganze Atmosphäre von einem Stundenglas ins andere, bis es dunkel wird.  Quelle: Sophia Klink – Kurilensee Hier gehen Ebenen ineinander über, die jenseits der Literatur streng geschieden sind – die poetische Huldigung an das Naturschöne und der Blick der Naturwissenschaft:  Dann kommen die winzigen Lachse nach oben, die neue Generation, die kaum länger als mein Zeigefinger ist. Viele Millionen müssen es sein, die genau jetzt fressen und überleben müssen, damit wir sie in drei Jahren zählen und erforschen können. Ich sehe sie nicht. Aber ich weiß, dass sie da draußen nach den Planktonkrebsen schnappen, die wiederum die Kieselalgen abweiden. Quelle: Sophia Klink – Kurilensee So war es seit eh und je: Jeden Sommer schwimmen die Lachse vom Ochotskischen Meer flussaufwärts in den See zum Laichen, jeden Sommer fressen sich die Bären mit ihnen genügend Winterschlafvorräte an, jeden Sommer sinken die Kadaver der entkräftet sterbenden Fische auf den Seegrund und werden Dünger für die Algen – das Futter der jungen Lachse.  Rettung des Ökosystems – oder Zerstörung?  Aber dieser Regelkreis ist durch die Fischerei am Fluss aus dem Gleichgewicht geraten. Die Forscher, abhängig von staatlicher Förderung, sollen ein Gutachten abgeben, ob künstliche Düngung dem Algenwachstum im See guttäte. Anna befürchtet fatale Folgen, denn der See könnte kippen. Dabei gäbe es eine einfache, aber unrealistische Lösung: die Senkung der Fangquoten.   Dass menschliches Gewinnstreben die ausführlich gefeierten Wunder der Natur gefährdet, ist ebenfalls ein Merkmal des Nature Writing unserer Tage. Sophia Klink arbeitet derzeit an ihrer Doktorarbeit in Biologie und hat ein Forschungsstipendium in Russland absolviert, wenn auch nicht auf der Halbinsel Kamtschatka, sondern ganz im Westen, am Weißen Meer, verfügt also über Kenntnis ihrer Gegenstände. So groß sind die Unterschiede gar nicht  Die verwandelt sie in Perioden voller mikroskopischer Details und große naturgeschichtliche Panoramen der vulkanischen Landschaft. Doch zum Nature Writing gehört auch der Weg ins Innere. Die Ich-Erzählerin Anna erlebt sich ebenso sehr als Gegenpart der Natur wie als deren Hüterin – und immer mehr als Teil von ihr.  Ich habe dieselben Ionenkanäle wie die Fische, dieselben Membranen, ATPasen, Transportmoleküle und Ribosomen. Es hätte nicht viel gefehlt, und ich hätte ein Fisch werden können, eine Bachstelze oder Maus.  Quelle: Sophia Klink – Kurilensee Zum Glück interessiert sich Sophia Klink ebenso sehr für ihre Figuren wie für die nichtmenschliche Natur. Anna selbst, ihr Freund, der Wildhüter Vova, der alle Bären mit Namen kennt, die erfahrene Kollegin Yulia, die zwischen Volksmärchen und Wissenschaft nicht unterscheiden mag, der unduldsame Stationschef Fejodor und die traurige Köchin Maria, sie alle gewinnen eigene Statur, prägen sich als unverwechselbare Charaktere ein. So wird „Kurilensee“ – nicht nur für Fans des Nature Writing – zum bewegenden Leseerlebnis.
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Sep 26, 2025 • 5min

Paolo Herras & Jerico Marte: Strange Natives

An dieser Graphic Novel bleibt vieles vieldeutig. Schon der Titel der Comic-Reihe „Strange Natives“, also ‚Fremde Einheimische‘, lässt im Unklaren, von wem eigentlich erzählt wird. Ureinwohner, Einwanderer, Invasoren? Sie alle gehören zur Geschichte der Philippinen. Das Schillernde setzt sich fort in der Hauptfigur Grasya, einer gleichzeitig jungen und alten Frau. Auch ihr Name ist vieldeutig, erinnert an das spanische Wort für Gnade, aber auch für Anmut. Fast schwebend bewegt sie sich durch die Bilder in Paolo Herras‘ und Jerico Martes’ Comic mit dem langen Titel ‚Die vergessenen Erinnerungen einer vergesslichen alten Dame‘. Grasyas dürrer Körper und der überlange Hals ragen aus einem üppig wallenden Kleid. Ein Zwitterwesen zwischen Mensch und Gespenst. Da überrascht es kaum, dass sie übernatürliche Fähigkeiten hat. Sie kann in ihre Kindheit um 1900 zurückblicken, aber auch darüber hinaus Jahrhunderte in die Vergangenheit. Dazu reicht es, dass ein Schmetterling sie streift. Und Schmetterlinge durchfliegen diese Graphic Novel zu Hunderten. Sie durchdringen Ritzen und sprengen sogar die Rahmen der Comic-Bilder. Schwärme von Schmetterlingen durchflattern die Comicseiten Die vergessenen Erinnerungen einer vergesslichen alten Dame‘ tauchen ein in Grasyas Familiengeschichte, in der sich die Geschichte ihres Landes widerspiegelt. Ein Vielvölkerstaat, geprägt durch Invasionen aus Spanien, den USA und Japan. Wir alle sind Fremdlinge…Gleich, ob wir nun aus der Fremde kommen oder entfremdet worden sind. Gleich, ob wir nun weiss sind, braun oder grau: Wir sind alle Einheimische. (…) Einige gewinnen und erobern, andere verlieren und werden vergessen. Quelle: Paolo Herras & Jerico Marte - Strange Natives So sieht es Grasyas Tante, eine Priesterin mit Verbindung zur vorchristlichen Geisterwelt der Philippinen. Sie ermuntert ihre Nichte, sich den Weißen anzupassen und verleiht ihr trotzdem die Gabe, die Erinnerungen anderer Menschen sehen zu können. Die bahnen sich mit den überall herumflatternden Schmetterlingen immer wieder einen Weg in Grasyas Bewusstsein, wenn sich auf den Insekten-Flügeln die Bilder der Vergangenheit abzeichnen. Und so tauchen wir mit ihr ein in ihre Kindheit und Jugend auf dem großzügigen Landsitz ihrer Familie, wo der Katholizismus der spanischen Kolonisatoren das Leben prägt. Die Figuren tragen selbstverständlich Rosenkranz und Kreuz mit sich. Als Grasya ungewollt schwanger wird, kann sie ihr Baby nur durch die Täuschung behalten, sie nehme ein Findelkind auf. Zu stark ist der Druck durch mögliche gesellschaftliche Ächtung. Für sie eine glückliche Wendung. Aber dann lassen die Comic-Erzähler Soldaten aufmarschieren. Die Invasion der Japaner im Zweiten Weltkrieg bedeutet für den Comic einen großen Zeitsprung. Er reißt auch ein Loch in die Logik. Obwohl Grasyas Sohn nun erwachsen und sie Mitte 40 sein müsste, ist er Anfang der 40er noch ein Kleinkind, sie eine junge Frau. Vielleicht gerät darum die gesamte Comic-Welt aus den Fugen. Das Bildgerüst wird asymmetrisch und scheint einzustürzen, die Schmetterlinge wachsen fast auf Seitengröße, Gesichter verzerren sich zu Fratzen. Zeichner Jerico Marte entfesselt wahre Bilderstürme. Sie überfordern zuweilen das Auge. Bilderstürme erzählen vom Trauma der japanischen Besatzung Und er erspart uns wie seiner Hauptfigur nicht die Bilder der Kriegsgewalt. Das Trauma der Besatzung wird zu Grasyas eigener Tragödie. Die Soldaten bringen ihre Familie um. Erinnerungen sind überall. Die ganze Welt ist angefüllt mit ihnen. Sie sind es, die die Welt alt machen. Die Welt besteht aus ihnen. Die Welt ist von Erinnerungen befleckt. Wenn wir die Welt nur sauberwischen könnten. Quelle: Paolo Herras & Jerico Marte – Strange Natives Ein Glück, dass Paolo Herras und Jerico Marte Grasyas Wunsch nicht erfüllen. So hart die Bilder der Gewalt und so überbordend die Detailfülle auch im kleinsten Einzelbild sind – sie machen das Verstehen der Gegenwart erst möglich. Grasya muss lernen, dass das Nichtwissen um die eigene Geschichte in Oberflächlichkeit und mangelnder Empathie endet: Die jungen Touristen, die in den Philippinen der Jetzt-Zeit in ihrem Haus nach Antiquitäten suchen, greifen, ohne zu fragen, auch nach den persönlichsten Dingen. Ihre Hauptfigur lassen Herras und Marte das Leid als Teil ihrer Erinnerungen akzeptieren. Das wirkt arg belehrend, wenn sie Grasya einer geisterhaften und amorph wabernden Männerfigur begegnen lassen. Die entpuppt sich nämlich als die Erinnerung selbst und vermag Grasya zu trösten. Trotzdem sind die ‚Vergessenen Erinnerungen einer vergesslichen alten Dame‘ eine lohnende Lektüre, weil Erzähler und Zeichner die Auseinandersetzung mit den fremden Kulturen im Comic selbst realisieren. Die Bilddramaturgie des japanischen Manga fließt mit Elementen des US-Action-Comics ganz selbstverständlich in Jerico Martes Bildern zusammen. Die Zeitsprünge durch mehrere Jahrhunderte liefern nebenbei eine Landeskunde in Bildern. Die als europäische Lesende zu entschlüsseln, hilft das Glossar des Übersetzers Jens R. Nielsen. Wer mehr über Vergangenheit und Gegenwart der Philippinen lernen will, muss übrigens nicht lange warten. Paolo Herras‘ nächste „Strange Natives“-Bände sind schon in Arbeit.
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Sep 26, 2025 • 59min

Mit neuen Büchern von Ian McEwan, Dorothee Elmiger, Nirit Sommerfeld, Usama Al Shahmani, Paolo Herras und Jerico Marte

Heute ist Usama Al Shahmani zu Gast. In seinem neuen Roman erzählt er die Geschichte der Juden im Irak. Außerdem besuchen wir ein Café und schauen mit Ian McEwan in die Zukunft.
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Sep 26, 2025 • 15min

Der Angst einen Rahmen geben – Dorothee Elmigers Roman „Die Holländerinnen“

Über den Fall der beiden Niederländerinnen, die 2014 im Dschungel von Panama verschwanden, ist viel geschrieben worden. Die beiden Studentinnen hinterließen eine Fülle an Spuren, die von der Polizei ausführlich untersucht und im Netz breit diskutiert wurden. Wie die beiden jungen Frauen zu Tode kamen, ist trotzdem nicht bekannt. Klar ist nur, dass sie starben, denn man fand später Knochenteile, außerdem einen Rucksack, Handys und eine Kamera mit letzten Fotos im nachtdunklen Dschungel. Eine unheimliche Geschichte. Theatergruppe im Dschungel von Panama Auch Dorothee Elmiger kennt die Geschichte und hat sie ihrem neuen Roman zugrunde gelegt. In „Die Holländerinnen“ erzählt sie den historischen Fall aber nicht nach, sondern schickt eine Theatergruppe in den Dschungel von Panama, um den Weg der verschwundenen Holländerinnen nachzugehen. Mimetik durch Reenactment. Teil der Gruppe ist auch eine Autorin – eine Figur im Buch –, die protokolliert, was die Gruppe im Dschungel sagt und erlebt. Ihre Protokolle gibt diese fiktive Autorin wiederum später im Auditorium einer Universität wieder. Die Erzählung dieser Autorin ist Dorothee Elmigers Roman. Ein Erlebnis in mehrfacher erzählerischer Schichtung. Das Erzählen gibt der Angst einen Rahmen Elmigers Roman ist weniger eine Geschichte über Furcht denn über Angst, sagt Hanna Engelmeier auf SWR Kultur, „weil Furcht ein konkretes Ziel oder Thema hat, aber Angst formlos ist. Angst hat keine Umrisse, keinen Anfang und kein Ende.“ Elmigers Theatermacher fordert seine Gruppe immer wieder auf, unheimliche Geschichten zu erzählen. „Das Erzählen einer Geschichte ist natürlich eine Art, der Angst einen Rahmen zu geben“, erklärt Engelmeier. „Es ist ein narratives Zurückgewinnen von Kontrolle. Damit verschwindet nicht der Grund für die Angst, aber das Gefühl wird zumindest geformt.“ Sprachkrise in der Tradition des Chandos-Briefs Zugleich sieht Hanna Engelmeier den neuen Roman von Dorothee Elmiger in der Tradition von Hugo von Hofmannsthals Chandos-Brief (1902), da auch Elmigers fiktive Autorin von einer fundamentalen Sprachkrise und dem Verlust aller Zusammenhänge berichtet. In ihrem Vortrag kann sie ihren Erfahrungen daher nur noch in indirekter Rede, also in der Möglichkeitsform des Konjunktivs nähern. In diesem Sinne liest Engelmeier „Die Holländerinnen“ auch als einen Roman darüber, wie von einer krisenhaften und medial überfordernden Gegenwart – Kriege, Klimawandel, Autoritarismus – überhaupt noch erzählt werden kann: „Dies ist auch deswegen ein so extrem guter Roman über die Gegenwart, weil er immer wieder daran scheitert, in eine literarische Sprache zu bringen, was jetzt gerade überhaupt passiert.“ Dorothee Elmigers „Die Holländerinnen“ wurde mit dem Deutschen Buchpreis 2025 ausgezeichnet.
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Sep 26, 2025 • 8min

Nirit Sommerfeld: Beduinenmilch

Ein Café in Chemnitz: Julius im Schocken Die Eingangshalle im Chemnitzer Museum für Archäologie. Geradezu die Kassen und der Zugang zu den Sammlungen, links das Café Julius. Cafébesitzerin Nirit Sommerfeld erkennt man sofort: dunkle Korkenzieherlocken, geblümte Tunika, wacher Blick. Sie ist das Zentrum dieses Ortes, strahlt eine angenehme Präsenz und Lebendigkeit aus. Eine Macherin. Für die Lesung können wir so viel, wie wir wollen. Dann machen wir ja wieder die Tische so hin und so weiter. Quelle: Nirit Sommerfeld - Beduinenmilch Tischerücken. Kaffee holen. Hinsetzen. Und schon ist man mitten in Nirit Sommerfelds Familiengeschichte. An den Wänden hängen Fotos. Fotos ihrer Familie mütterlicherseits, die aus Marokko stammt, Fotos von ihrem Großvater Julius, der in Chemnitz ein Tuchwarengeschäft geführt hat. Neben dem Klavier steht er in Lebensgröße, als Aufsteller. Julius Sommerfeld als Papp-Aufsteller Da steht er am Ostseestrand vor einem Strandkorb und hat diese fantastischen Lederschuhe in weiß und schwarz an und einen Spazierstock... Quelle: Nirit Sommerfeld - Beduinenmilch Und er schaut einen an, egal, wo man steht. Mona-Lisa-Blick nennt Nirit Sommerfeld das. Obwohl er seit fast einem Jahr hier steht, ist es immer wieder so berührend für mich jetzt, also auch wieder, wenn ich das erzähle, weil er einfach wieder hergekommen ist nach Chemnitz. Ja, ich hab ihn wieder hergebracht. Quelle: Nirit Sommerfeld - Beduinenmilch Wenn Nirit Sommerfeld das erzählt, stehen ihr Tränen in den Augen. Sie ist 64 Jahre alt und somit bereits älter als ihr Großvater damals. Sie wurde in Eilat am Roten Meer geboren, wuchs später aber in Deutschland auf. Ihr Großvater Julius war Deutscher und wurde 1939 deportiert. Im März 1940 wurde er im KZ Sachsenhausen ermordet. Die Familiengeschichte im Roman „Beduinenmilch In ihrem Roman „Beduinenmilch“ erzählt Nirit Sommerfeld diese Familiengeschichte. Hauptfigur ist die knapp 18-jährige Talia. In der „Beduinenmilch“ ist der Großvater von Talia, da ist das Vorbild mein Vater.  Also der Saba Sigi, der 1919 geboren ist in Chemnitz, ist eigentlich mein Vater. Quelle: Nirit Sommerfeld - Beduinenmilch Saba Sigis Biographie ist stark angelehnt an die von Nirit Sommerfelds Vater Rolf, den Sohn von Tuchhändler Julius Sommerfeld. Der brachte seinen Sohn 1937 nach Palästina, um ihn vor den Nazis zu schützen – wie auch der fiktive Saba Sigi in dieser Zeit nach Palästina kam. Vor diesem Hintergrund erzählt der Roman die Geschichte von Talia. Die hat gerade in Berlin ihr Abitur gemacht. Es ist das Jahr 2014. Über den Sommer fliegt sie wie immer zu ihrer Familie nach Israel. Aber diesmal will sie bleiben. Weil sie ja mit diesem Plan kommt, für dieses Land sich einzusetzen. Und der einzige Weg, den sie sieht, ist also zum Militär zu gehen. Was macht man denn sonst mit 18 als jüdisches Mädchen? Natürlich das. Das ist die große Verheißung. Quelle: Nirit Sommerfeld - Beduinenmilch Talia will sich einziehen lassen. So wie seinerzeit, Ende der 70er Jahre auch Nirit Sommerfeld – die hat damals allerdings auf ihre Eltern gehört und ist in Deutschland geblieben. Erst 2007 ging sie selbst nach Israel – mit einer tiefen Sehnsucht nach diesem Endlich-zu-Hause-Sein. Und mit einem Narrativ im Kopf, mit dem auch Talia im Buch nach Israel kommt: Ich war so, ja, die Besatzung ist was Schlimmes, aber ich meine, die Palästinenser lassen uns halt auch keine Ruhe. Was will man machen? Und ich meine, ganz ehrlich, wir sind halt auch die Demokraten und das heißt im Grunde genommen, und das habe ich erst Jahre später wirklich tief begriffen, im Grunde genommen war ich aus so einer überhöhten, fast kolonialen Position heraus, habe ich so diese Haltung gehabt, naja, also ihr Araber müsstet euch halt auch ein bisschen benehmen, ne? Quelle: Nirit Sommerfeld - Beduinenmilch Mit diesen Bildern im Kopf bewegt sich Talia im Buch durch Israel, so wie auch Nirit Sommerfeld sich damals, 2007, durch Israel bewegt hat. Und viele der Erfahrungen, die Nirit Sommerfeld dort machte, lässt sie nun ihre Figur Talia machen. So, und dann bin ich da hingezogen und ich bin selbstverständlich in die West Bank gereist und selbstverständlich habe ich arabische Dörfer besucht. Und dann habe ich gedacht, warum fühle ich mich eigentlich in den arabischen Dörfern wohler, also eigentlich so wie früher bei meiner Oma und Uroma, die ja auch arabisch gesprochen haben untereinander. Quelle: Nirit Sommerfeld - Beduinenmilch Frieden statt Krieg – ein Umdenken In Nirit Sommerfeld hat damals ein Umdenken eingesetzt. Sie konnte und kann die kriegerischen Auseinandersetzungen, die Israel führt, seitdem nicht mehr gutheißen, setzt sich stattdessen radikal für Frieden zwischen Israelis und Palästinensern ein. Es ist dieses Umdenken, das sie in ihrem Roman nachzeichnet. Und so begegnet im Roman auch ihre Figur Talia illegal in Israel arbeitenden Palästinensern, deren Menschlichkeit sie erkennen lernt. Sie trifft auf Aktivisten, die vermitteln wollen zwischen Israelis und Palästinensern. Und auf Menschen, die offen über ihre schockierenden Erfahrungen beim israelischen Militär sprechen und die sich damit angreifbar machen. Neben Talias Geschichte gibt es Tagebucheinträge von Talias Großvater Saba Sigi, die von der Zeit der Gründung des Staates Israel erzählen – und davon, dass auch diese Gründung mit massiver Gewalt verbunden war. So verflechten sich die Zeiten, und als Leserin bekommt man ein Gespür dafür, wie sich Gewalt in diesem Land fortgesetzt hat, wie heutige Konflikte mit den früheren eng verknüpft sind. Und man kann die Sehnsucht von Nirit Sommerfelds Figuren verstehen – eine Sehnsucht nach Frieden und Versöhnung. Der Traum von Rückkehr Nirit Sommerfeld hat Israel 2009 wieder verlassen. Als ich weggegangen bin, habe ich gesagt, mein großer Traum ist es zurückzukehren. Eines Tages, wenn ich in Israel, Palästina oder wie auch immer dieser Staat dann heißt, leben kann, wo alle Menschen mit denselben Rechten ausgestattet sind, mit denen ich ausgestattet bin, dann werde ich zurückkehren. Quelle: Nirit Sommerfeld - Beduinenmilch Nirit Sommerfeld glaubt nicht, dass sie das noch erleben wird. Vermutlich nicht einmal ihre Enkelkinder, meint sie. Während wir tief in die Debatten eingetaucht sind, hat sich das Café Julius längst mit Mittagsgästen gefüllt. Zweimal Blätterteigtaschen gemischt, einmal Blätterteigtasche Spinat… In ihrem Café kommen ganz verschiedene Menschen zusammen. Museumsmitarbeiter, Familien, ältere Damen und Herren, die Nirit Sommerfeld ins Herz geschlossen haben. Immer wieder wird sie angesprochen. So auch eine ältere Frau: „Sie sind eine ganz toughe Frau, wie Sie sich da durchsetzen...“ Ein bunt gemischtes Küchenteam Und hinter den Kulissen? Da ist die Kurdin Gülistan von Anfang an dabei – die eigentliche Chefin, wie Nirit Sommerfeld erzählt. Dann ist da Kurt, der seine Doktorarbeit in Mathematik schreibt – ein heimlicher Kommunist. Und Rana, Palästinenserin aus Syrien. Hast du nicht die Messer bekommen? Das ist deins, pass auf, ich bring dir mal die Messer... Quelle: Nirit Sommerfeld - Beduinenmilch Seit einem Jahr gibt es nun das Café Julius im Schocken. Seit einem Jahr schaut Nirit Sommerfeld hier jeden Tag in die Augen ihres Großvaters. Sie ist aus München hergezogen. Ist sie jetzt angekommen, hat sie ihren Platz gefunden? Ich bin da zu Hause, wo ich gerade bin, das habe ich mir jetzt so zurechtgelegt. Weil ich bin da zu Hause, wo man mich annimmt und wo ich irgendwie gerade einen Platz habe. Quelle: Nirit Sommerfeld - Beduinenmilch Jetzt gerade ist das eben Chemnitz. Für immer bleiben wird sie wohl nicht, meint sie. Aber jetzt ist es ihr Ort, das Café Julius im einstigen Kaufhaus Schocken.
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Sep 26, 2025 • 17min

Die jüdische Identität der Stadt Bagdad – Usama Al Shahmani erzählt die Geschichte einer Vertreibung

Als Zakai Mieche 2018 in Jerusalem stirbt, hinterlässt er seinen Kindern ein Testament. Er wünscht sich, dass seine Asche zur Hälfte in Jerusalem begraben, zur Hälfte aber auch in Bagdad in den Tigris gestreut wird. Sohn Gadi, der schon seit vielen Jahren in der Schweiz lebt, übernimmt diese Aufgabe. Mit der Urne im Gepäck fliegt er nach Bagdad. Usama Al Shahmanis vierter Roman auf Deutsch Der Autor Usama Al Shahmani stammt selbst aus dem Irak. Er wurde 1971 in Bagdad geboren, musste 2002 wegen eines Theaterstücks fliehen und lebt seither in der Schweiz. Man kennt ihn als Autor und auch als Kritiker im „Literaturclub“ im Schweizer Fernsehen. „In der Tiefe des Tigris schläft ein Lied“ ist Usama Al Shahmanis vierter Roman. Er schreibt auf Deutsch. Die Vertreibung der irakischen Juden 1950 In seinem neuen Roman erzählt er eine Vater-Sohn-Geschichte. Vor allem aber erzählt er ein Stück Geschichte der Stadt Bagdad. Juden gibt es auf dem Gebiet des heutigen Irak bereits seit rund 3.000 Jahren. Schon das Alte Testament erzählt von Babylonien und Mesopotamien. Noch im Jahr 1950 waren 32% der Menschen in Bagdad Juden. Nach der Gründung des Staates Israel (1948) und dem Palästinakrieg (1947-1949), in dem auch der Irak mitkämpfte, wurden die Juden aus dem Irak vertrieben. Nationalsozialismus im Mittleren Osten Auf SWR Kultur berichtet Usama Al Shahmani von seinen historischen Recherchen zur Geschichte seiner Heimatstadt Bagdad. Dazu gehört es auch, dass in den 1930er und 1940er Jahren deutsche Nazis mit arabischen Nationalisten paktierten und dem Antisemitismus im Mittleren Osten Vorschub leisteten. Außerdem erzählt Usama Al Shahmani, wie der Überfall der Hamas und der sich anschließende Gazakrieg mitten in die Arbeit an seinem Roman platzten.
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Sep 26, 2025 • 5min

Ian McEwan: Was wir wissen können

Es gibt literarische Zukunftsvisionen, die sind so irrsinnig, dass man sie zwar gern liest, aber niemals für bare Münze nehmen würde. Und es gibt literarische Zukunftsvisionen, die sind so wahrscheinlich, dass es einem einen Schauer über den Rücken jagt. Mit seinem Roman „Was wir wissen können“ hat sich Ian McEwan für die zweite Variante entschieden. Er entführt uns ins Jahr 2119, in eine Welt, in der man aus heutiger Sicht lieber nicht leben möchte, die aber durchaus vorstellbar ist. Nach dem Krieg und nach der Flut Da ist von begrenzten Atomschlägen die Rede, von einem Amerika im Bürgerkrieg und einer großen Überflutung im Jahr 2042, ausgelöst von einer fehlgeleiteten russischen Wasserstoffbombe. Großbritannien ist seitdem zu einer Archipel-Republik zusammengeschrumpft. In der sitzt nun der englische Literaturprofessor Tom in einer hochgelegenen Bibliothek, erforscht die versunkene Welt und versucht, sie seinen Studenten nahezubringen. Etwa zu der Zeit, als das darniederliegende Deutschland von Großrussland einverleibt wurde, war die Erdbevölkerung in Folge von Tsunamis, Kriegen, Hungersnöten und Krankheiten auf knapp vier Milliarden gesunken. Und inmitten all dieses Unheils schuf die Weltliteratur ihre schönsten Klagegesänge, hinreißend nostalgisch, voll beredter Wut – Meisterwerke, so unser Versprechen, die wir gemeinsam studieren würden. Quelle: Ian McEwan - Was wir wissen können Der verschwundene Sonettenkranz Toms Spezialgebiet ist die Literatur der Jahre 1990-2030, allerdings ist es da besonders ein Mann, der in fasziniert: Francis Blundy. Den hält er für einen der größten Dichter des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts. Allerdings ist sein wohl wichtigstes Werk verschwunden, der „Sonettenkranz für Vivien“, den er seiner Frau gewidmet hat. Nur an einem Abend unter Freunden im Jahr 2014 war der Gedichtzyklus vorgetragen und danach zum Mythos verklärt worden. Aus Briefen, Tagebüchern und über 200.000 SMS versucht Tom, diesen legendären Abend zu rekonstruieren und wäre nur zu gern dabei gewesen. Der Mann der Zukunft ist von einer Sehnsucht erfüllt, die uns Gegenwartsmenschen zu denken geben sollte. Die Blundys und ihre Gäste lebten in einer Welt, die uns wie das Paradies vorkommt. Es gab einen größeren Reichtum an Blumen, Bäumen, Insekten, Vögeln und Säugetieren, wenn auch im Einzelnen immer weniger. Der Wein, den Blundys Gäste tranken, war von besserer Qualität als unser Wein, ihre Nahrung gewiss leckerer und abwechslungsreicher, zudem kam sie aus der ganzen Welt. Die Luft, die sie atmeten, war rein und weniger radioaktiv. Quelle: Ian McEwan - Was wir wissen können Was geschah an jenem Abend im Jahr 2014? Den Gegensatz zwischen unserer Gegenwart und der Gegenwart seines Protagonisten Tom malt Ian McEwan mit großen, dringlichen Pinselstrichen aus. Da wäre an mancher Stelle weniger fast mehr gewesen. Umso interessanter wird es, wenn der Schriftsteller im zweiten Teil seines Romans Francis Blundys Frau Vivien zu Wort kommen lässt. Sie erzählt davon, was an dem legendären Abend im Jahr 2014 wirklich passiert ist. Hier eröffnet sich die weit subtilere und nachdenklichere Seite der Geschichte. Denn die handelt tatsächlich davon, was wir wissen können. Tom mag alle niedergeschriebenen Quellen studiert haben, aber was, wenn die Realität eine ganze andere war? So heißt es in Viviens Aufzeichnungen: Fast unmerklich wurden meine Tagebucheinträge zum Bericht meines besseren Selbst. Ich hätte es abgestritten, aber mit der Zeit hörten die Einträge auf, privat zu sein. Ich hatte einen Leser im Sinn. Quelle: Ian McEwan - Was wir wissen können Was wir wissen können“ ist eine dystopische Erzählung ganz auf der Höhe unserer Zeit. Sie umfasst eine Ode an die Kraft der Literatur, eine Betrachtung über die Grenzen der Erkenntnis und nicht zuletzt auch eine tragische Liebesgeschichte und einen Krimi. Aber darüber an dieser Stelle keine Details. Ian McEwan ist jedenfalls einmal mehr ein großartiger, komplexer und überraschender Roman gelungen. Man kann nur hoffen, dass er sich mit seiner düsteren Zukunftsvision nicht als Hellseher erweist.

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