
SWR Kultur lesenswert - Literatur Samanta Schweblin – Das gute Übel
Sep 30, 2025
04:09
Als 2010 der erste Erzählband von Samanta Schweblin erschien, galt die 1978 geborene Argentinierin als große literarische Entdeckung. Sie hat sich ihre schriftstellerischen Qualitäten bewahrt. Das beweist sie erneut mit dem Erzählband „Das gute Übel“. Er enthält sechs Kurzgeschichten, und sie überzeugen alle. Durch fein ziselierte Beschreibung menschlicher Schwächen und sauber aufgebaute Spannungsbögen, sowie durch sprachliche Präzision.
Vor allem aber erweist sich Schweblin als Meisterin der Überraschung. Wie schon in ihren früheren Erzählungen, wählt sie wieder durchgängig die Ich-Form: In „Das Auge in der Kehle“ erzählt sie aus der Perspektive eines zunächst zweijährigen Jungen:
Ein langes Schweigen genügt, dass mein Vater sich umdreht. Ich sitze inmitten verstreuter Gegenstände vor dem Fernseher auf dem Boden und merke, dass er erschrickt. Er steht auf, ist mit einem Satz bei mir, denn das, was gerade passiert, ist kein Wutanfall, das versteht er sofort. Es ist nicht dieses Schweigen, das dem Weinen vorausgeht. Er hat mein Gesicht gesehen, wie ich die Wangen aufblase, bis sie sich färben, irgendwas passiert da gerade. Er braucht ein paar Sekunden, bis er versteht, dass ich am Ersticken bin, dass ich keine Luft mehr kriege. Ich schließe eines meiner Händchen zur Faust und haue mir ungeschickt auf den Mund. »Was hast du gemacht?«, fragt er. Er versucht, meine Faust, meinen Mund aufzubekommen. Ich entwische ihm, er fängt mich ein. Gewaltsam öffnet er meine Hände. Da schlucke ich auf einmal, schlucke etwas...Es ist eine Lithium-Batterie. Sie verätzt dem kleinen Ich-Erzähler die Kehle.Quelle: Samanta Schweblin – Das gute Übel
Parabel auf die Sprachlosigkeit
Während die Kinder in meinem Alter anfangen, mit komplexeren Wörtern zu spielen und die Kraft des Klangs und den Luxus des vorsätzlichen Schweigens entdecken, verliere ich für immer die wenigen Wörter, die ich gelernt habe.In der berührenden Erzählung beleuchtet Samanta Schweblin, wie der namenlose Junge, seine Mutter und vor allem sein Vater über die Jahre mit ihrer Schuld umgehen: Nur für einen Moment hat der Vater nicht hingeschaut. Man kann die Geschichte aber auch als eine Parabel auf die Sprachlosigkeit innerhalb einer Familie lesen. Für Momente hebt Schweblin dabei ins Unwirkliche ab, wie es für sie typisch ist:Quelle: Samanta Schweblin – Das gute Übel
Auf Höhe meines Kehlkopfs ist eine Art schwarzes Amulett, so groß und unförmig wie ein gigantisches Auge.Schweblin knüpft an die Tradition der fantastischen Erzählung an, wie sie in Argentinien seit mehr als hundert Jahren gepflegt wird. Auf feine Untertöne versteht sich die Autorin ebenfalls. So klingt an, dass in der patagonischen Kleinstadt, in der die Familie lebt, die Gesundheitsversorgung den Namen nicht verdient. Dass Staat und Gesellschaft hilfsbedürftige Menschen allein lassen, schwingt auch in „Die Frau von Atlántida“ mit. Eine Frau erzählt von ihren Kindheitserlebnissen in einem Atlantikbadeort. Gerade mal zehn Jahre alt, ist sie dort mit ihrer Schwester zum Spaß allnächtlich in das Haus einer Dichterin eingedrungen. Die Mädchen räumten deren Müll weg und badeten die alkoholabhängige Frau:Quelle: Samanta Schweblin – Das gute Übel
Sie war etwas, das wir gefunden hatten, ein Schatz, der uns gehörte. Tot oder lebendig, sie war unsere Frau, und wenn wir sie frühmorgens in ihrem Haus zurückließen, wollten wir sie nachts, wenn wir wiederkamen, dort auch wieder vorfinden. Die Begegnungen mit der Dichterin waren für uns ein unerhörtes Privileg, so kaputt sie auch war.Quelle: Samanta Schweblin – Das gute Übel
