SWR Kultur lesenswert - Literatur

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Dec 22, 2025 • 4min

Liebe, Ehr‘ und „water closet“ – Der Anglist Manfred Pfister erforscht die Englische Renaissance

„Renaissance“ meint wörtlich „Wiedergeburt“. Damit ist die Rückwendung auf die Antike und deren Neubewertung gemeint. Aber Renaissance bedeutet viel mehr: Neue Techniken in der Malerei, in der Architektur, neue Strömungen in der Musik und Literatur. Die Reformation gehört hierher wie auch der Buchdruck und die Pestepidemien. Die Renaissance erstreckte sich von Italien aus über das ganze Festlandeuropa – und erreichte auch England.   Englands kulturelle Blüte unter Königin Elisabeth I.  Die englische Renaissance wird auch „Elisabethanisches Zeitalter“ genannt, da unter der Königin Elisabeth I. das Reich erstarkte und künstlerische Hochblüte erreichte.   Doch wenn es Sünde ist, nach Ehr zu lechzen, / Bin ich das sündigste Geschöpf der Welt. Quelle: Manfred Pfister – Englische Renaissance Diese Aussage lässt William Shakespeare zwar König Heinrich V. machen, aber sie könnte genauso gut von Elisabeth stammen. Unter „Ehr“ verstand sie nicht nur wirtschaftliche, politische und militärische Prosperität, sondern auch die der Welt des Geistes. Der Anglist Manfred Pfister lässt in seiner Publikation „Englische Renaissance“ diese Geisteswelt in allen Facetten aufleuchten. Auf über 450 Seiten des großformatigen und reich bebilderten Buchs findet man Ausschnitte aus Dichtung, Prosa, Drama und Philosophie – meist in neuer Übersetzung. Auch Praxisnahes ist vorhanden – etwa die Erfindung des „water closet“ durch Sir John Harington. Oder das erste Handbuch für Hebammen von Jane Hape, in der sie ganz offen über die Klitoris schreibt. Denn in ihrer Präsenz (…)  (…) liegt das Hauptvergnügen der lustvollen Kopulation, und in der Tat, risse uns die Lust nicht so überwältigend hin, würde kein Mann und keine Frau je aus Liebe sterben. Quelle: Manfred Pfister – Englische Renaissance Shakespeares Werke im Zentrum  Erstaunlich auch das Buch „On Dreams“ des Universalgelehrten Sir Thomas Browne: Er nahm einiges von Sigmund Freuds „Traumdeutung“ und von den Traum-Texten der Surrealisten vorweg. Dass Musik und Malerei in Pfisters Buch einen eher kleinen Raum einnehmen, hat nichts mit Ignoranz zu tun. Die englische Renaissance fokussierte sich tatsächlich auf die Textebene. Natürlich stehen die Werke Shakespeares im Zentrum, auch seine „Sonetts“, in denen die Liebe zu einem jungen Mann und zur „dark lady“ verhandelt werden – bis heute ein Hort der Spekulation. Und ein besonderer Ort der Übersetzungskunst: Ganze 53 Gesamtübersetzungen der Shakespeare-Sonette gibt es auf Deutsch! In Pfisters Buch kommen die Klassiker der englischen Renaissance gebührend zu Wort – etwa John Miltons „Paradise Lost“, Christopher Marlows „Doctor Faustus“, Thomas Hobbes‘ „Leviathan“ und „Utopia“ von Thomas Morus.   Schreibende Ladies  Es gab aber auch eine kleine Anzahl von schreibenden Damen: Lady Mary Wroth schuf mit der Romanze „Urania“ das erste Prosawerk, das von einer Frau auf Englisch verfasst wurde. Romantische Liebesabenteuer sind auch in Lady Wroth‘ Sonetten zu finden.    In diesem fremden Labyrinth, wohin mich wenden? / Überall Wege – doch wo liegt mein Weg? / Geh ich nach rechts, muss ich in Liebe brennen, / Geh ich nach vorn, so droht Gefahr und schreckt. Quelle: Manfred Pfister – Englische Renaissance Margaret Cavendish, Duchess of Newcastle, trat als Philosophin und Schriftstellerin hervor – und publizierte unter ihrem vollen Namen und nicht anonym. Ihr Prosawerk „The Blazing World“ gilt als Vorläufer der Science-Fiction.   Ob schreibende Lady, schreibender Sir oder einfacher Autor – sie alle haben der englischen Renaissance ihren unverkennbaren Stempel gegeben. Manfred Pfister hat ihnen allen ein Denkmal gesetzt – eines, das im Lesen sehr lebendig wirkt. Sein spannend geschriebenes und wundervoll gestaltetes Buch „Englische Renaissance“ hat das Zeug zu einem Standardwerk.
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Dec 21, 2025 • 4min

Eva Baltasar – Mammut | Buchkritik

Planung und Frust Der Tag, an dem ich schwanger werden wollte, war mein vierundzwanzigster Geburtstag. Quelle: Eva Baltasar – Mammut Sie hat alles genau geplant, die junge Frau aus Eva Baltasars Roman „Mammut": Zu ihrer Geburtstagsparty lädt sie viele fremde Männer ein. Einen von ihnen verführt sie, obwohl sie eigentlich lesbisch ist. Doch der One-Night-Stand führt nicht zur ersehnten Schwangerschaft. Und auch sonst hat die Ich-Erzählerin aus Barcelona so einige Gründe, frustriert zu sein. Sie hadert mit ihrer Arbeit an der Uni im Fachbereich Soziologie und beginnt zu jobben: in einer Bäckerei, dann in der Küche eines Hotels, dann als Schuhverkäuferin. Jede der prekären Tätigkeiten: ein gefühlter Angriff auf ihre Würde.   Aus dem verhassten Metropolen-Leben aufs Land  Und dann kommt auch schon ein harter Cut im Roman – die Protagonistin setzt sich mit Sack und Pack ins Auto und flüchtet aus ihrem verhassten Metropolen-Leben aufs Land. Für einen Spottpreis mietet sie ein heruntergekommenes Bauernhaus ohne Bad und Heizung.   Ich habe weder Geld noch Arbeit, aber ich habe ein halbes Dutzend Hühner und einen Sack Maisschrot. Ich esse jeden Tag Eier. Der Schäfer ist mein einziger Nachbar. Er plaudert gern. Ab und zu kommt er mit seiner Herde von fünfhundert Schafen herauf und lässt sie vor dem Haus und im hohen Gras dahinter weiden. Sie fressen und kacken. Tatsächlich ist mein Haus ständig umgeben von Schafskötteln, kein einziges Plätzchen, um sich mal in die Sonne zu legen. In den Bergen gehört das Land dem Leben, und das Leben ist das Vieh. Quelle: Eva Baltasar – Mammut In ihrer lakonisch-direkten Sprache schildert Eva Baltasar, wie die Städterin lernt, Feuer zu machen, Brot zu backen und neugeborenen Lämmern die Flasche zu geben. Zu den Herausforderungen, die die Romanfigur meistern muss, gehört es etwa auch, sich auf brutale Weise einer Katzenplage zu entledigen. Die Bewältigung der Widrigkeiten des Landlebens bringt Verrohung mit sich, aber die junge Aussteigerin wirkt plötzlich glücklich und erlebt ihre Freiheit und Unabhängigkeit wie einen Triumph.    Sehnsucht nach einer Schwangerschaft  Das Bedürfnis der Protagonistin, fern der Gesellschaft zu leben, scheint nun viel stärker als ihr Kinderwunsch, der anfangs übermächtig und verzweifelt wirkte. Aber der Kinderwunsch ist noch da – oder ist es vielmehr die Sehnsucht, eine Schwangerschaft zu durchleben?   Eva Baltasars Romanfigur ist eine Frau mit großen inneren Widersprüchen. Wie in Baltasars vorherigem Roman „Boulder“ geht es auch in Mammut um queere Frauen und ihr Verhältnis zur Mutterschaft, um die komplexe Suche nach sich selbst. Dabei macht die Protagonistin Grenz-Erfahrungen:   Der Schäfer akzeptierte meinen Rückzug nicht. Er machte Anstalten, mich zu umklammern und nach meiner Brust zu grabschen. „Jetzt, wo dir dickere Titten wachsen, verlässt du mich?“ Ich knallte ihm die Pfanne auf den Kopf. Instinktiv, ohne nachzudenken. Ein Volltreffer, der ihn taumeln ließ. Wir starrten uns eine Sekunde lang an wie zwei Tiere, die einander noch nie zuvor gesehen hatten und sich trotzdem gegenseitig umbringen wollten. Ich fühlte mich wie eine Wilde und hatte unbändige Lust, noch einmal zuzuschlagen.  Quelle: Eva Baltasar – Mammut Ungewöhnliche Aussteigerinnen-Geschichte mit starkem Ende  „Mammut“ ist mal drastisch und schonungslos, mal amüsant und nie langweilig. Eva Baltasar ist auch Lyrikerin, ihre Romansprache ist zwar knapp und prägnant, aber auch bildreich. Die katalanische Autorin erzählt die ungewöhnliche Aussteigerinnen-Geschichte auf knapp über 100 Seiten – wahrlich kein „Mammutroman“ – mit viel Tempo und einem starken Ende. Die widerstreitenden Gefühle, die Zerrissenheit der Protagonistin werden da noch einmal ganz deutlich: „Ich habe ein großes Fragezeichen in den Armen gehalten“, heißt es auf der letzten Seite.
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Dec 19, 2025 • 1min

David Szalay – Was nicht gesagt werden kann

Ein Buch verschenken, das Verwirrung stiftet? Ich jedenfalls war verwirrt von David Szalays Roman „Was nicht gesagt werden kann“, der soeben mit dem Booker Prize ausgezeichnet wurde. Mein Name ist Christoph Schröder, und dieses Buch und sein Protagonist haben mir meine Sicherheiten genommen. Soll ich mit diesem István, so heißt Szalays Anti-Held, Mitleid haben? Soll ich ihn verachten? Es steckt eine Menge Drama in diesem Roman: István wächst in einer Plattenbausiedlung in Ungarn auf. Er wandert für drei Jahre in den Jugendknast. Er heuert als Soldat an und kämpft im Irak. Er geht nach London, erlebt dort erst einen Auf- und dann wieder einen Abstieg. Und was sagt er selbst dazu? „OK.“ Das sagt er ständig. Das Besondere ist Szalays Tonfall, den der Schriftsteller Henning Ahrens treffend ins Deutsche transportiert hat. Eine scheinbar unbewegte Sprache, die von einem leicht formbaren Mann ohne Eigenschaften erzählt. Von einer modernen Gruselgestalt, definiert von Körperlichkeit, geprägt von Gewalt. Und manchmal blitzt dann doch noch etwas anderes auf – eine Ahnung von der Dramatik eines globalisierten Schicksals.
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Dec 19, 2025 • 1min

Diego Rodriguez-Robredo — Legendäre Tiere

Tierische Zeitreise Hier kommt ein Weihnachtsgeschenktipp für alle, die neugierig sind auf die wahren Helden der Weltgeschichte! Im Kindersachbuch „Legendäre Tiere“ von Diego Rodriguez-Robredo hab auch ich, Theresa Hübner, noch eine Menge gelernt. Mit dem Buch kann man eine Zeitreise machen aber nicht entlang der üblichen großen Schlachten, Kaiser oder Könige - sondern zu den Tieren der Weltgeschichte. Leider muss man ja sagen, wurden Tiere schon immer als Kriegswaffe eingesetzt, als exotisches Geschenk übergeben oder zur Belustigung als Haustier gehalten. Von manch anderen tierischen Berühmtheiten haben Sie bestimmt schon gehört: vom weißen Wal Moby Dick oder der Kosmonautenhündin Laika zum Beispiel. Aber auch eine mumifizierte Gazelle, oder Surus, den Lieblingselefanten von General Hannibal, lernt man kennen, oderJenny, den Orang-Utan, dessen Intelligenz selbst Charles Darwin verblüffte.   Der Autor liefert dazu viel Hintergrundwissen zu jedem „legendären Tier. Auf 48 reich illustrierten Seiten nimmt uns Autor Diego Rodríguez Robredo mit auf diese oft vergessenen Pfade der Weltgeschichte — spannend aufbereitet, lehrreich, und für Kinder ab etwa 8 Jahren geeignet.
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Dec 19, 2025 • 1min

Mona Awad – Bunny

Ein Lesetipp für alle, die sich gerne irritieren lassen wollen. Mein Name ist Elisabeth und ich habe „Bunny“ von Mona Awad mitgebracht. Ein echter BookTok-Hit, besonders unter jungen Leserinnen und Lesern boomt der Roman auf der Plattform TikTok. Und ich kann verstehen, warum: Dieses Buch wirkt wie ein düsterer Sog. Außenseiterin Samantha wird zu den geheimnisvollen Treffen ihrer Kommilitoninnen, den selbsternannten „Bunnys“, eingeladen. Was wie der harmlose Beginn einer Freundschaft wirkt, entpuppt sich als Reihe zunehmend kurioser Zusammenkünfte. Die jungen Frauen experimentieren nämlich mit Hasen und Magie und erschaffen aus den Tieren die vermeintlich perfekten männlichen Begleiter. Dass diese Versuchskaninchen einige Probleme verursachen, überrascht wenig, vor allem aber gerät Samanthas Leben aus den Fugen. Wer düstere Atmosphären, magischen Realismus und rätselhafte Ereignisse liebt, kommt hier voll auf seine Kosten. Und ganz aktuell: Die Fortsetzung des Romans erscheint im Januar in deutscher Übersetzung. Ein guter Moment also, in diese merkwürdige Welt einzutauchen.
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Dec 19, 2025 • 3min

Giovanni Boccaccio — Decameron

Düstere Pandemie Mein Weihnachtstipp hat einen düsteren Hintergrund. In ihm wird von einer Pandemie erzählt, davon dass eine Seuche über eine Welt hereinbricht, die man nicht versteht. Plötzlich ist sie da, sie rafft die Menschen hinweg ohne Ansehen der Klassen. Es trifft die Reichen und die Armen, die Leichenberge türmen sich, die Verwaltungen versuchen, einen Überblick zu bewahren, aber sie scheitern. Dann werden die Sitten lose, der Anstand verschwindet, die tradierten Verkehrsformen, man brüllt, schreit, glaubt an nichts mehr, oder gleich an irgendwelche Scharlatane. Klingt vertraut? Nein, ich spreche nicht über die Covid-Pandemie, die uns gerade mal vor fünf Jahren den Atem geraubt hat. Es geht um die Pest im Jahr 1348. Und es geht um Florenz. Erzählt wird dieses düstere und tragische Zeit- und Sittengemälde von Giovanni Boccaccio, denn es ist der Auftakt seines berühmten Novellenzyklus „Decameron“. 100 Geschichten Aber die apokalyptischen Bilder sind nur der Anfang, dann verschieben sich die Gewichte. Eine Gruppe von 10 jungen Menschen, sieben Frauen, drei Männer, flüchten aus der sterbenden Stadt aufs Land, wo sie sich Geschichten erzählen, hundert an der Zahl, die vom Leben in den italienischen Städten berichten, humoristische, vergnüglich, aber auch derb-anzüglich, mal pädagogisch orientiert, mal einfach pointiert-parodistische-effektvoll, ein wunderbarer Kranz von Novellen, aber so hat man sie erst später benannt. Kirchenkritisch sind sie alle, und das liegt nicht nur am korrupten Klerus, nein, mit der Pest ist auch der Glaube abhanden gekommen. Gott ist tot, könnte man sagen, von der Seuche dahin gerafft. Keine Ordnung, nirgends. Es scheint, als müssten die Menschen neu ansetzen, auf sich selbst zurückgeworfen. Ihre Geschichten testen aus, wie ein Zusammenleben ohne den tradierten geistigen und weltlichen Überbau möglich ist, kein Gott, kein Herrscher. Mensch und Mitgefühl Als Orientierung, als Material bleibt nur der einzelne Mensch und das, was ihn vor allem auszeichnet, seine Fähigkeit zum Mitgefühl. Darum sind die Geschichten auch so individuell, voller Mehrdeutigkeiten, Unsicherheiten, gleichsam ein großes Experimentierfeld der condition humaine. Und sie sind eine Feier der Literatur selbst, denn genau sie, die Dichtung, die Fiktion, ermöglicht das Probehandeln, das Durchspielen menschlicher Verhaltensweisen, ohne dass sie gleich wirklich werden müssten. Im Manesse Verlag, der uns immer wieder mit prächtigen Klassikerausgaben beglückt, ist jetzt eine neue Übersetzung des „Decameron“ erschienen. Übersetzt hat das Meisterwerk Luis Ruby und kommentiert hat es der Verleger Horst Lauinger selbst zusammen mit dem Übersetzer. Ein wirkliches Geschenk für uns und für jeden Leser, für jede Leserin! Ein MUSS für den Gabentisch.
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Dec 19, 2025 • 2min

Francesca Melandri – Eva schläft

Den Roman „Eva schläft“ empfehle ich nicht, weil ich als Eeva mit der Titelfigur namensverwandt bin. Und auch nicht, weil ich aus Südtirol komme, wo dieser Roman spielt. Dabei ist das zentrale Ereignis, dass der Roman in Südtirol spielt. Die Autorin Francesca Melandri erzählt die Geschichte einer deutschsprachigen Provinz, die als Spielball der Geschichte 1918 italienisch wurde. Warum ich den Roman wirklich empfehle? Weil Melandri es schafft, höchste historische Komplexität in zwei Erzählsträngen lebendig werden zu lassen. Die vierzigjährige Eva reist aus der nördlichsten italienischen Provinz in die südlichste. Dort liegt Vito im Sterben, er war die große Liebe ihrer Mutter, Gerda, deren Lebensgeschichte, eng verwoben mit jener Südtirols, im anderen Strang erzählt wird. Gerda wird in den italienischen Faschismus hineingeboren, der Südtirolern ihre Sprache und Kultur verbot. Wie sich das auf die Normalität der Bevölkerung ausgewirkt hat, figuriert Melandri vor allem in zwei starken Frauen, Mutter und Tochter. Dabei dröselt sie nicht nur historische Traumata auf, sondern entzaubert auch Idyllen: Mit der Köchin Gerda blicken wir hinter die kulinarischen Kulissen in Hotelküchen und wie nebenbei werden damit auch die politischen Hintergründe des Autonomiekampfes enggeführt. Das alles ist erzählerisch so klug und packend konstruiert, dass man den Roman gar nicht mehr aus der Hand legen will. Pflichtlektüre für alle Südtirol-Fans, ach was, für alle, die lebendige Geschichte lieben!
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Dec 19, 2025 • 2min

Berit Glanz – Unter weitem Himmel

Manche Lektüren eignen sich hervorragend dafür, sich wegzuträumen. Weit weg dissoziieren, den Weihnachtstrubel ruhen und Geschenke und Familienchaos mal sich selbst überlassen. Träumen, weit weg, ja, nach Island vielleicht? Ich bin Nina Wolf und empfehle dafür Berit Glanzs Roman „Unter weitem Himmel“. Dieses Buch ist ein wunderbares Geschenk für alle, die sich in Geschichten verlieren möchten, und für Reiselustige, die Daheim geblieben sind. Berit Glanz verknüpft in „Unter weitem Himmel“ die Vergangenheit und Gegenwart Islands kunstvoll miteinander. 118 Jahre liegen zwischen zwei Erzählebenen, deren Verbindung sich nach und nach entfaltet. Ein bretonischer Fischer und eine isländische Krankenschwester begegnen sich im rauen Island Anfang des 20. Jahrhunderts. Auf der anderen Seite, im Jetzt, begleiten wir die Genetikerin Maris. Ihre Arbeit führt sie auf einen Bauernhof in den Ostfjorden, wo sie Adam begegnet. Maris ist außerdem auf der Suche nach ihrem leiblichen Vater. Berit Glanz stammt aus Kiel und lebt in Reykjavik. Die Autorin behandelt Fragen der Herkunft, der Zugehörigkeit, der Heimatsuche in ihrem genau recherchierten Roman. Die Lektüre lädt dank der Naturbeschreibungen der isländischen Landschaft zum Träumen ein. Glanz zeigt auch – in beinahe  Actionfilm-haften Szenen - die Unbarmherzigkeit der Natur, wenn die Fischer in die ruppige See stechen. Und sie wird auch poetisch: Wenn der Eishai, unberührt von den Gewalten der Welt, weise durch die Geschichte streift…
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Dec 19, 2025 • 7min

Das Evangelium nach Burgess

In der Literatur gibt es viele Bearbeitungen der Geschichte von Jesus Christus. Mit der Bibel in erzählende Konkurrenz zu treten, war aber immer mit dem Risiko verbunden, hinter ihrer epischen Wucht zurückzubleiben. Die gelungenen Adaptionen verlegen das Geschehen deshalb gern in andere Kontexte und erzeugen gerade dadurch Wirkung – man denke an die Dialoge zwischen Jesus und Pilatus in Bulgakows phantastischem Roman „Der Meister und Margarita“, der den offiziellen Sowjet-Atheismus verspottete. Oder an „Der Narr in Christo Emanuel Quint“, Gerhart Hauptmanns sozial-religiösen Roman einer Christus-Imitatio im Arme-Leute-Schlesien des 19. Jahrhunderts.  Anthony Burgess schreibt das fünfte Evangelium Solchen Ehrgeiz hat Anthony Burgess nicht. Sein Jesus-Roman liest sich eher wie ein fünftes Evangelium, so ausführlich wie die vier kanonischen zusammen. Als Medium der Geschichte dient ein Mann namens Asok, von Beruf Übersetzer, Rechnungsprüfer und Geschichtenschreiber. Religiöses Sendungsbewusstsein ist eher nicht sein Antrieb: Es ist nicht meine Absicht, mich über Gut und Böse und Richtig und Falsch auszulassen, denn in dieser Art des Denkens besitze ich wenig Geschick. Aber vielleicht darf ich unwidersprochen behaupten, dass die Welt eine zwiespältige Schöpfung ist. Quelle: Anthony Burgess – Der Mann aus Nazareth Die Mission dieses merkwürdigen Evangelisten besteht darin, eine der größten Geschichten der Welt noch einmal zu erzählen – so unterhaltsam, dass auch bibelresistente Leser Zugang finden, mit der Treue zu den alten Texten und der Liebe zu neuen, aber plausiblen Details. Das beginnt mit der äußeren Gestalt von Jesus. Er war ein großer, charismatischer Redner auf öffentlichen Plätzen. Also – schlussfolgert Burgess – war er kein hagerer Asket, sondern muss eine mächtige Stimme gehabt haben und einen kräftigen, Resonanz gebenden Körper. Sein Jesus ist eine Art „Tiger“, ein Mann wie ein Baum, der seine Stärke zugunsten der Nächstenliebe zähmt.   Jesus als Ehemann Als junger Mann genießt er, anders als in der Bibel, eine Weile die Freuden der Ehe; allerdings stirbt seine Frau früh. Die berühmte Hochzeit von Kana ist bei Burgess jedenfalls Jesus‘ eigene. Dabei vollbringt er sein erstes Wunder, als er von den Durstigen gedrängt wird, Wasser in Wein zu verwandeln: „Ah, dieser Geschmack. Kommt. Alle. Trinkt. Aber“ – er hielt einen strengen Finger in die Höhe – „zuerst eine Warnung. Es liegt im Wesen dieser Verwandlung, dass der Wein für Sünder – Männer, die Geld schulden, Frauen, die über ihre Nachbarn tratschen, Unzüchtige, Ehebrecher und Gotteslästerer, aussieht wie Wasser, wie Wasser schmeckt und zu Kopfe steigt wie Wasser. (…) Wer will als erster probieren?“   Quelle: Anthony Burgess – Der Mann aus Nazareth Ein cleverer Trick – und eine humoristische Lösung des Unwahrscheinlichkeitsproblems. Denn mit seinen Wundertaten konnte Jesus in der wundersüchtigen Zeit der Antike seine göttliche Abkunft beglaubigen; in der aufgeklärten Gegenwart machen die Wundererzählungen den biblischen Bericht für viele Leser dagegen fragwürdig. Man bemüht sich dann um „symbolische“ Lesarten. Das ist Burgess‘ Sache aber nicht. Auch wenn er mit der Kirche haderte, war er doch wie Heinrich Böll ein gläubiger Katholik. Sein Jesus treibt böse Geister aus und heilt Blinde und Lahme fast im Akkord. Den toten Lazarus ins Leben zurückrufen? Kein Problem. Darstellung der Jünger Um die zur Mission gehörende Verfolgung und Kreuzigung in Gang zu bringen, muss Jesus provozieren, sich mit dem religiösen Establishment anlegen, richtig Ärger machen. Mit seinen Jüngern bildet er – um eine kleine Parallele zu „A Clockwork Orange“ zu ziehen – sozusagen eine schlagkräftige Gang, allerdings eine des Guten. So werden aus manchen eher statischen Motiven der Bibel lebendige, fast filmische Szenen. Während die Jünger die Tische umwarfen und Gold und Silber klimpern und klirren ließen, peitschte Jesus auf die Wechsler und Verleiher ein und brüllte: ‚Mein Haus soll heißen ein Bethaus allen Völkern. Ihr aber habt eine Mördergrube daraus gemacht.‘Das Hinauswerfen der fluchenden Geldleute überließ Jesus den Jüngern, besonders Jakobus, der seine rohe Kraft eines Jahrmarktsringers zum Einsatz brachte. (…)Judas sagte: ‚Ich glaube, Meister, mit größtem Respekt, dass wir die Obrigkeit nicht zu sehr gegen uns aufbringen sollten.‘ Quelle: Anthony Burgess – Der Mann aus Nazareth Zu den Reizen des Romans gehört es, wie Burgess den Jüngern Profil verleiht. Judas etwa zeichnet er als jungen Intellektuellen. In den Evangelien von Lukas und Johannes verrät er Jesus aus eigener Initiative, weil der Teufel von ihm Besitz ergriffen hat. Burgess dagegen schildert psychologisch hintergründig, wie der Hohe Jüdische Rat Judas in eine perfide Falle lockt. Gerade weil seine Liebe zu Jesus so groß ist und er sich nicht mit dessen Tod abfinden will, kann er zum Opfer einer teuflischen Intrige werden. Auch die jüdischen Schriftgelehrten und Pharisäer bekommen im Roman eigene Kapitel, allen voran der Hohepriester Kaiphas, an dessen biblischer Darstellung sich der christliche Antisemitismus entzündete. Man kann nicht sagen, dass Burgess seine Ehrenrettung vornehmen würde. Fern liegt Burgess auch die sadomasochistische Feier von Schmerz und Blut bei der Kreuzigung, wie sie Mel Gibson im Film „Die Passion Christi“ zelebriert. Lieber reflektiert er über technische Details der Kreuzaufrichtung. Sogar Jesus selbst – der Überlieferung gemäß ein gelernter Zimmermann – blickt in der Werkstatt des Kreuzschreiners fachmännisch auf das Gebälk, an dem er sterben wird: ‚Zedernholz‘, sagte Jesus, während er über das Holz strich und daran roch. (…) ‚Ich war auch Schreiner. Ein guter Schreiner müsste die Verbindung nicht so nageln. Die Zapfenverbindungen sind sehr nachlässig.‘‚Nun“, und der Alte rieb sich das Kinn. ‚Fällt nicht vielen auf.‘‚Gott fällt es auf. Gott lobt die gute Arbeit und verachtet die schlechte.‘ Quelle: Anthony Burgess – Der Mann aus Nazareth Konventionell und humoristisch Der Roman erschien 1979, also im gleichen Jahr wie Monty Pythons Jesus-Filmkomödie „Das Leben des Brian“, eine fulminante Satire auf den religiösen Dogmatismus. Dagegen wirkt Burgess‘ Adaption zahm. Er hat keine Entlarvungs- oder Entmythologisierungsambitionen, sondern will eine moderne, zeitgemäße Fassung der großen Geschichte bieten. Die bis heute faszinierenden Gleichnisreden des Neuen Testaments übernimmt er dabei fast wörtlich. Die Erzählweise ist aber konventionell; die Experimentierfreude und den Sprachwitz von Werken wie „A Clockwork Orange“ wird man vergeblich suchen. Das Beste, was man über diesen Roman sagen kann: Jesus predigt die Nächstenliebe bei Burgess nicht nur; er macht sie sich selbst zur Aufgabe und lebt sie auf überzeugende Weise.
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Dec 19, 2025 • 55min

Mit neuen Büchern von Anthony Burgess, László Krasznahorkai, Tarjei Vesaas und Jon Fosse, mit Weihnachtstipps und einem neuen Lexikon

Heute geht es um große Männer: um den Sohn Gottes, einen Möchtegern-König und die Autoritäten des 20. Jahrhunderts. Und zwei Literaturnobelpreisträger sind auch in der Sendung.

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