

SWR Kultur lesenswert - Literatur
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Nov 12, 2025 • 4min
Fake News, die die Welt verändern
Ist jemals in der Weltgeschichte die Menschheit derart schamlos belogen worden? Waren je zuvor Verschwörungsbehauptungen so erfolgreich wie in diesen Tagen? Haben Staatenlenker früherer Zeiten ebenso wirkungsvoll Fake News verbreitet wie die Trickbetrüger im Kreml und im Weißen Haus? Aber sicher.
Wie ein roter Faden durchziehen Fälschungen die Geschichte. In jeder Epoche haben die Gesellschaften sich der jeweils zeitgenössischen Mittel und Technologien bedient, um Desinformation zu erzeugen. Und dies zu vielfältigen und einander komplementären Zwecken – propagandistischen, politischen, militärischen ökonomischen –, um eine alternative und zugleich plausible Realität herzustellen.
Quelle: Emanuela Lucchetti – Historische Fälschungen
„Historische Fälschungen“ heißt Emanuela Lucchettis schmales Traktat, das nirgends den Anspruch einer umfassenden Darstellung erhebt. Der jungen italienischen Historikerin und Journalistin, Jahrgang 1993, geht es um ein Wirkungsmuster.
„In jeder Epoche hat die menschliche Gesellschaft Fake News erzeugt und in Umlauf gebracht, deren Effizienz erst dann offenbar wird, wenn – und unter der Bedingung, dass – sie aufgedeckt werden.“
Dieses Muster macht Lucchetti anschaulich anhand von „vier Fällen, die die Welt verändert haben“.
Hat der Kaiser der Kirche wirklich sein halbes Reich geschenkt?
Der älteste dieser Fälle ist die vorgebliche Konstantinische Schenkung: Der Vatikan behauptete jahrhundertelang, der römische Kaiser Konstantin I. habe im Jahr 315 zum Dank für eine Wunderheilung durch Papst Silvester I. große Teile des Reichs der Kirche vermacht.
Beglaubigen sollte dies eine Urkunde, von der päpstlichen Staatskanzlei im achten Jahrhundert angefertigt und auf das vierte Jahrhundert zurückdatiert. Erst durch die Humanisten der Renaissance wurde sie als Fälschung entlarvt.
Lucchetti benennt die historischen Parallelen wie die Unterschiede. Das Mittelalter, erklärt sie mit Umberto Eco, habe Wahrheit nicht so sehr an der Richtigkeit von Fakten festgemacht, sondern vor allem an der Glaubwürdigkeit der Botschaft:
Das, was wir heute als Manipulation verstehen, war damals eine gängige Praxis, um das Vertrauen in eine anerkannte Ordnung zu stärken. Heute dagegen wird dieselbe Praxis – mittlerweile hochentwickelt, aber immer noch auf uralten Impulsen basierend – eher dazu verwendet, Misstrauen und Unordnung herzustellen.
Quelle: Emanuela Lucchetti – Historische Fälschungen
Die große jüdische Weltverschwörung
Besonders wirkmächtig waren im zwanzigsten Jahrhundert die sogenannten Protokolle der Weisen von Zion, angeblich Dokumente einer jüdischen Weltverschwörung.
Entstanden 1903 im Auftrag der russischen Geheimpolizei, kombinierten sie alte antijüdische Stereotype mit dem neuen Narrativ einer Gruppe jüdischer Strippenzieher und ihrer Strategie zur Erringung der Weltherrschaft.
Die Autorin schildert, wie das Machwerk, ursprünglich ein Katalysator für die Pogrome des bröckelnden Zarenreichs, auch im Westen verbreitet und zum Manifest des weltweiten Antisemitismus wurde.
Obwohl bereits seit 1921 als Fälschung entlarvt, wirkt sein Gift immer weiter. Die Verschwörungslüge munitionierte nicht nur die deutschen Nazis, sondern wird auch von arabischen Nationalisten und muslimischen Fundamentalisten munter gegen Israel angeführt.
Wie man Völker dazu bringt, in den Krieg zu ziehen
In abwechslungsreicher Darstellung, die ganz ohne akademischen Jargon auskommt und sich erkennbar an eine junge Leserschaft richtet, behandelt Lucchetti auch zwei weitere propagandistische Fälschungen aus der jüngsten Geschichte, die ihren Ursprung in den USA haben.
Der frei erfundene Tonkin-Zwischenfall von 1964 diente der Begründung des Vietnamkriegs, und die Geschichte angeblicher Massenvernichtungswaffen im Irak von 2003 rechtfertigte den Angriff auf das Regime von Saddam Hussein.
Solche Dinge haben Folgen. Denn, wie Hannah Arendt sinngemäß schrieb: ein Gemeinwesen, das so lange belogen wird, bis es nicht mehr unterscheiden kann zwischen Wahrheit und Lüge, verliert jegliche Stabilität.

Nov 11, 2025 • 4min
Peter Schneider – Die Frau an der Bushaltestelle | Buchkritik
Von einer begehrenswerten Frau, die nichts als gute Gespräche und Freundschaft in Aussicht stellt, sollte ein liebender Mann sich fernhalten. Allerdings muss auch der leidenschaftlich Geliebte mit Schwierigkeiten aller Art rechnen:
Wer von der größten Liebe seines Lebens spricht, meint damit eine, die neben den euphorischen Augenblicken auch das größte Unglück und die schlimmsten Verletzungen hervorgebracht hat.
Quelle: Peter Schneider – Die Frau an der Bushaltestelle
Von so einer schicksalhaften Begegnung handelt Peter Schneiders neuer Roman „Die Frau an der Bushaltestelle“. Es ist die im Westberlin der 1960er Jahre angesiedelte Geschichte des eher unscheinbaren Studenten Nick, der widerstandslos der wunderschönen, alle Männer betörenden Isabel verfällt, die kurz vor dem Mauerbau aus der DDR in den Westen kam.
Einer fürs Bett und einer für die Seele
Die Geschichte wird – im Abstand von mehr als fünfzig Jahren – aus der Perspektive des liebenden Freundes erzählt, dem damals nur die Rolle des Beobachters und Beraters zukam, oder, wie er das formuliert: Nick war fürs Bett und er für die Seele zuständig.
Dieser Ich-Erzähler, als millionenschwerer Erbe eines Textilunternehmens mit Sportwagen und sehr viel Selbstbewusstsein, erinnert sich der Epoche des jugendlichen Aufbegehrens und der beginnenden Studentenrevolte. Es ist die Zeit politischer Leidenschaften und ideologischer Verblendung, die für Peter Schneider zu einem Lebensthema geworden ist.
Vielleicht waren diese Monate des Umherschweifens die beste Zeit – dieses Mitschwimmen, Sichbegeistern, und Sich-auch-wieder-Abstoßen von einem Aufbruch, der noch keinen Namen und kein Programm hatte. Wenn es ein Motiv gab, das all diese jungen Leute einte, so war es die Suche nach einer anderen, einer besseren Art zu leben.
Quelle: Peter Schneider – Die Frau an der Bushaltestelle
Schneiders Erzähler ist aber auch in Sachen Politik mehr Beobachter als Mitspieler. Am Beispiel der beiden so heftig wie unglücklich Verliebten zeigt er, wie das Scheitern der Beziehung zur politischen Radikalisierung führte – jedenfalls auf Seiten Isabels.
Anfang der 1970er Jahre gleitet sie in eine linksterroristische Gruppierung ab, ohne dass Nick oder der allzu vernünftige Erzähler sie davon abhalten könnten. Das tragische Ende ist vorgezeichnet.
Aus Liebesnot wird Terrorismus
Das Private ist politisch, hieß es damals. Bei Peter Schneider wird das verfehlt Politische zur Konsequenz privater Liebesunfähigkeit und persönlicher Verwundungen. Diese eher schlichte These wäre akzeptabler, wenn sie mit etwas weniger Zwangsläufigkeit und Bescheidwissertum vorgetragen würde.
Tatsächlich aber ist Schneiders altherrenhaft abgeklärter Erzähler mit der 68er-Epoche längst fertig; da gibt es keine Überraschungen mehr und nichts in seinen Erinnerungen, was man nicht schon wüsste – vom berechtigten Zorn auf das Schweigen der Väter über ihre NS-Vergangenheit bis hin zur eskapistischen K-Grüppchenhaftigkeit all der ideologischen Spezial-Rechthaber am Ende der Epoche.
Ein wenig mehr Verunsicherung hätte dem zurückblickenden Erzähler da gut gestanden. Stattdessen füllt er all die zahlreichen Leerstellen der Liebesgeschichte mit seiner literarischen Fiktion, ohne auch nur ansatzweise zu zögern, wenn er intime Streits oder Bettszenen von Nick und Isabel ausmalt, von denen er doch gar nichts wissen kann.
Historische Fehler
Diese erzählerische und historisch nachgetragene Selbstgewissheit führt zu einer konventionellen, geradezu papierenen Sprache.
Sie wird umso mehr zur Schwäche des Buches, als Schneider ein paar grobe historische Fehler unterlaufen: Die Defa-Verfilmung von „Jakob der Lügner“ aus dem Jahr 1974 kann von Isabel unmöglich schon 1965 gesehen worden sein. Und wenn für 1970 auf die Militärdiktatur in Chile verwiesen wird, dann geraten auch da die Zeiten durcheinander.
Das dürfte einem, der alles überblickt und längst eingeordnet hat, wahrlich nicht passieren.

Nov 10, 2025 • 4min
Unbekannte Marilyn – Sam Shaws Fotos zeigen die Monroe in einem neuen Licht
Der in New York geborene Sam Shaw gehört zu den renommiertesten Porträtfotografen des 20. Jahrhunderts. Bei wichtigen Hollywood- Produktionen schoss er zudem die Film-Stills, also die Fotos während der Drehs am Set. Shaw war mit Marylin Monroe eng befreundet, schon zuzeiten, als sie noch ein Starlett war.
Marilyns Wirbelrock
Billy Wilders Film „Das verflixte 7. Jahr“ hat vor allem mit einer Szene der Monroe zu Starruhm verholfen: Ihr schneeweißer Rock wurde durch die Abluft eines U-Bahn-Schachts aufgewirbelt.
Die Fotos kennt man – aber beileibe nicht alle. Denn Sam Shaw schoss die Film-Stills und all seine Fotos sind im Buch „Dear Marylin“ zu sehen – einschließlich des Mannes, der die Windmaschine unter dem Gitterrost betätigte.
Du hast es geschafft. Nicht, dass ich Harper’s Bazaar und Vogue für Gott den Allmächtigen halte – aber es gibt Parallelen.
Quelle: Sam Shaw – Dear Marilyn
Sam Shaws Marilyn-Fotos – im Rampenlicht und ganz privat
Ab den frühen 1950er Jahren war die Monroe ein Superstar. Sie hatte es auf die Titelblätter der führenden Modemagazine geschafft – so wie es Sam Shaw in seinem Brief an Marilyn beschreibt. Diese Korrespondenz ist auch Teil des Buchs.
Shaw verstarb 1999, aber seine Familie hat die Briefe und bislang weitgehend unbekanntes Fotomaterial erst vor kurzem veröffentlicht.
Man sieht die Monroe im Negligé beim Telefonieren, beim Erlernen des Klavierspielens, Marilyn stets lächelnd mit Reportern oder mit Hollywood-Produzenten, dann wieder privat beim Bootsrudern oder unerkannt an einer Burgerbude. Eine besondere Sequenz stellt Marilyn am Schminktisch dar – ein voll konzentrierter Profi.
Shaw inszenierte aber auch Fotoszenen: In einer setzt sich die Monroe im Central Park neben ein junges Paar auf die Bank und tut so, als würde sie intensiv Zeitung lesen.
Sam Shaws Fotografien faszinieren nicht nur durch den steten Wechsel von Aufnahmen der Monroe im Rampenlicht und solchen abseits in privater Umgebung, sondern auch dadurch, dass Shaw sowohl mit Farb- als auch Schwarz/Weiß-Material arbeitet. Das ergibt ganz unterschiedliche Facetten der Diva.
Marilyn – Kunst, Literatur, Religion
Shaw räumt aber auch mit dem Blondinen-Image der Monroe auf. Sie interessierte sich für moderne Kunst – und Shaw half ihr dabei.
Wie gehen wir Deine Kunstsammlung an – gib mir ein Budget und ob Du Gemälde willst oder Zeichnungen – oder Skulpturen. Ich denke, Du solltest bescheiden anfangen, mit Zeichnungen oder Aquarellen und kleinen Ölbildern – dann sehen wir, wie sie auf Dich wirken.
Quelle: Sam Shaw – Dear Marilyn
Sam Shaw stellt auch einen Aspekt von Marilyn Monroe heraus, vom dem wohl nur wenige wissen, dass er sie intensiv beschäftigt hat.
Sie interessierte sich ein Leben lang für Religion. Sie war auf der Suche nach Gott, nach Wissen. Als sie Arthur Miller heiratete, widmete sie sich dem Studium und der Akzeptanz des Judentums.
Quelle: Sam Shaw – Dear Marilyn
Im Juni 1956 heirateten Marilyn Monroe und Arthur Miller, der vor allem als Dramatiker Bekanntheit erlangt hatte. Er schrieb auch das Drehbuch zu „Misfits – nicht gesellschaftsfähig“ – Marilyns letzter Film 1961. Die Ehe ging in die Brüche, doch Sam Shaw hat eine atemberaubende Fotoserie der beiden festgehalten.
Marilyn und Miller fahren in seinem Cabriolet Ford Thunderbird durch New York. Er am Steuer, sie an seine Schulter gelehnt, sie lächelnd und den Leuten zuwinkend, er ganz konzentriert. Die Fotos wirken wie Standfotos zu einem Film – nur dass dieser Film kein Happy End hat.
Sam Shaws Buch „Dear Marilyn” ist auch für eingefleischte Monroe-Fans eine klare Bereicherung. Für weniger Kundige ist die Publikation eine ideale Einstiegsdroge. Nicht nur mit Fotos, sondern auch in Worten hat Sam Shaw Marilyns Aura auf den Punkt gebracht
She was love / she was loved / and she loved… you.
Quelle: Sam Shaw – Dear Marilyn

Nov 9, 2025 • 6min
Natascha Wodin – Die späten Tage
Gleich auf den ersten Seiten gibt es eine kleine Episode, die den Zauber dieses Buches zusammenfasst – und dabei ist sie eigentlich nicht wirklich zauberhaft. Natascha Wodin wacht morgens auf und entdeckt auf ihrem Kopfkissen ein kleines, rotes Muster. Es hat die Form einer geöffneten Rosenblüte. Wie hübsch!
Die blutige Rose als Metapher
Ich fragte mich, ob es sich um eine filigrane Stickerei handelte, die ich bisher nicht bemerkt hatte, aber ich konnte keine Erhebungen ertasten. War die kleine Rose kunstfertig in den Stoff hineingewebt? Es dauerte eine Weile, bis ich begriff. Gestern war ich beim Zahnarzt und hatte nach der Parodontosebehandlung meiner letzten fünf eigenen Zähne nachts aus dem Mund geblutet.
Quelle: Natascha Wodin – Die späten Tage
Eine Rose aus Blut – Romantik und Schmerz nur zwei Sätze entfernt – typisch Natascha Wodin ist das.
Die „blutige Rose“ ist mehr als ein alltägliches Detail, sie fasst die besondere Atmosphäre des Buches zusammen: Zärtlichkeit und Leidenschaft mit einem tiefen Bewusstsein für körperlichen und seelischen Schmerz.
Liebe im Alter
Eine passende Metapher für die Liebe, um die es hier geht, eine späte Liebe im Alter, die „späten Tage“ eben.
Die verbringt Natascha Wodin mit ihrem Freund Friedrich. Seit sechs Jahren sind die beiden ein Paar.
Es gab Zeiten, da nannte er mich seine Königin, seine Heilige, seine Jeanne d’Arc. Jetzt liegt er nachts mit seinem Tod im Bett. Mit dem zerzausten Rest seiner silbernen Haare sitzt er im Sessel neben mir und lächelt verloren oder starrt ins Leere. Ein immer noch schöner alter Mann, sehr schmal und zart, mit etwas vogelhaften, wie mit einem feinen Bleistift gezeichneten Zügen.
Quelle: Natascha Wodin – Die späten Tage
Herausforderungen einer späten Beziehung
Die Beziehung hatte leidenschaftliche Momente, Romantik, Sex, vor allem der Anfang war stürmisch. Aber dann kam das Ringen mit Schwächen und Fehlern des Anderen, die Erkenntnis, dass die beiden in vielen Dingen sehr verschieden sind – und sich trotzdem viel zu geben haben.
So weit, so normal, Beziehungsarbeit braucht es auch im Alter – aber dann sind da noch die körperlichen Probleme:
Ich erinnere mich noch gut daran, wie ich alte Menschen in meinen jungen Jahren wahrgenommen habe. Ich fühlte etwas zwischen Grauen, Mitleid, Verständnislosigkeit und Aversion bei ihrem Anblick, und ich hielt es für ausgeschlossen, dass ich irgendwann genauso werden würde, wie sie.
Quelle: Natascha Wodin – Die späten Tage
Der Alltag wird beschwerlich
Und nun ist Natascha Wodin selbst fast 80, Friedrich noch älter. Der Alltag mit ihm wird immer beschwerlicher. Er hat ein schwaches Herz, hört schlecht, vergisst viel, er schläft nachts kaum, geistert herum, redet wirr.
Und auch Natascha Wodin hat jeden Tag Schmerzen, kann kaum noch laufen, komplexe Tätigkeiten, wie einen Kuchen backen, fallen immer schwerer.
Mein Schreibtisch ist der einzige Ort, an dem ich mein Alter, die Schmerzen, die Angst vergesse, obwohl ich darüber schreibe. Ich schreibe darüber, um nicht sang und klanglos zu sterben.
Quelle: Natascha Wodin – Die späten Tage
Erinnerungen an ein anderes Leben
In kurzen, tagebuchartigen Absätzen, erzählt Natascha Wodin von ihren „späten Tagen“ mit Friedrich. Ihren Stil erkennt man sofort wieder: kurze, poetische Sätze, dicht und präzise, oft mit lakonischem Unterton.
In die tägliche Realität des alten Paares, mischen sich immer wieder Erinnerungen an ihr Leben. Es geht um gescheiterte Beziehungen, um Freundschaften, ihre Arbeit als Dolmetscherin in Russland und ihren späten Erfolg als Schriftstellerin.
Aber auch der furchtbare Krieg gegen die Ukraine beschäftigt sie, schon weil ihre Mutter, die an ihrem Schicksal als russisch ukrainische Zwangsarbeiterin in Deutschland zerbrach und sich das Leben nahm, aus Mariupol stammte.
Natascha Wodin schaut dem Verfall direkt ins Gesicht
Kulisse des Buches ist ein See in Mecklenburg-Vorpommern. Dort sitzt das Paar oft und beobachtet die Spiegelungen des Himmels im Wasser, Sonnenuntergänge, Vögel. Ein romantischer Ort, den so völlig kitschfrei wohl nur Natascha Wodin beschreiben kann:
Der Himmel spannt sich wie eine blaue Hochglanzfolie über den See, der Wind hat alle Wolken weggeblasen und treibt die schreienden Möwen, die immer auf Fischjagd sind, aus ihren Flugbahnen. Der Schaum der auslaufenden Wellen hinterlässt für Momente das Muster geklöppelter Spitze im Sand. Abends wenn die Sonne untergeht und unser Ufer längst im Schatten liegt, schauen wir aus dem Dämmer hinüber auf die andere Seite des Sees, die noch im Licht liegt. Dort drüben brennt die Welt.
Quelle: Natascha Wodin – Die späten Tage
Das ist der eigentliche Zauber dieses Buches: dass es nichts beschönigt und trotzdem schön ist.
Natascha Wodin schaut dem Verfall direkt ins Gesicht – manchmal verzweifelt, aber nicht verbittert. Die späten Tage ist ein Buch darüber, wie Nähe und Liebe auch dann noch möglich sind, wenn allles andere brüchig wird. Leicht ist es nicht, aber das sind Leben und Liebe ja nie.
Das Leben hört nicht auf, lebendig zu sein, nur weil es dem Ende zugeht. Es verändert bloß seine Töne – und Natascha Wodin hört sie alle.

Nov 9, 2025 • 56min
Mit neuen Büchern von Ursula K. Le Guin, Hannah Lühmann, Caroline Schmitt, Clara Heinrich, Natascha Wodin und Christoph Wagner
Von Ursula K. Le Guin bis Clara Heinrich: Geschichten über Freiheit, Fürsorge und Erinnerung. Und: Ein Blick auf die Rockjahre im Südwesten.

Nov 9, 2025 • 4min
Forschungsreise in die Unwirklichkeit
Wer sich mit dem englischen Naturforscher und Geografen Clarke auf Hasenjagd in den Weiten Patagoniens begibt, muss sich auf einiges gefasst machen.
Denn César Aira hat in seinem Roman „Der Hase" gleich ein ganzes Bündel von erzählerischen Konzepten zusammen geführt. Er liefert die Geschichte einer Forschungsreise um die Mitte des 19. Jahrhunderts und zugleich deren Parodie.
Doch damit nicht genug: Er reißt alle Grenzen zwischen Wahrscheinlichem und dem phantastisch Herbeifabulierten gründlich ein und zündet ein ebenso einfallsreiches wie sinnverwirrendes Feuerwerk von kuriosen Ereignissen, ethnologischen Spiegelfechtereien und metaphysischen Spekulationen.
Irrläufe zwischen Wirklichkeit und Phantasie
So ist der sogenannte „Legibrerianische Hase", den Clarke in der Pampa aufspüren will, keineswegs ein schlichter Vierbeiner, sondern ein schwer greifbares Mischwesen aus Gerüchten und magischen Eigenschaften. Von Anfang an wird der Forscher von Zweifeln geplagt:
Ich frage mich, ob an dieser Anekdote mit dem Hasen etwas dran ist, ob sie wirklich passiert ist, oder ob es eine Art Aufführung oder Ritual darstellt.
Quelle: César Aira – Der Hase
Trotzdem schwingt sich Clarke in den Sattel und macht sich mit seinem Gaucho-Führer auf die Suche nach dem ominösen Fabeltier. Wie Don Quichotte und Sancho Pansa bekommen sie es dabei mit einem großen Durcheinander von Wirklichkeit, Fantasien und literarischen Anspielungen zu tun.
Viel Betrieb in Patagonien
Die patagonischen Weiten, die sie durchqueren, sind keineswegs leer, sondern überfüllt mit indigenen Völkern, kriegerischen Scharmützeln, redseligen Stammesoberhäuptern, überraschenden Verwandtschaftsbeziehungen, Ober- und Unterwelten. Am Lagerfeuer werden abgefahrene Weisheiten und Weltdeutungen ausgetauscht.
Die Rede des Kaziken besaß eine Ungewissheit, etwas Unbestimmtes, das seinerseits nicht leicht mit Bestimmtheit auszumachen war.
Quelle: César Aira – Der Hase
César Aira erschafft, wie es zu seinem Markenzeichen wurde, auch in diesem frühen Roman fiktionale Gegenwelten. Der Naturforscher Clarke wird als Schwager von Charles Darwin vorgestellt, doch anders als dieser kann er keinerlei Material sammeln, das mit Vernunft und Wissenschaft vereinbar wäre.
Stattdessen durchquert er ein poetisches Territorium voller vielgestaltiger Tableaus und Handlungsstränge.
Ein kunterbuntes Kontinuum
Das ist César Airas Schreibprogramm, als "kunterbuntes Kontinuum" hat er seine Texte einmal bezeichnet. In diesem Fall allerdings übertreibt er es mit der endlosen Anhäufung narrativer Winkelzüge, die das Leseinteresse zwar in Atem halten, aber auch ziemlich strapazieren.
In seinen späteren Kurzromanen ist die Erzählökonomie meist besser austariert. Hier jedoch fühlt sich sogar der Romanheld von all dem Erfindungsreichtum überfordert und rettet sich in eine der vielen Paradoxien, mit denen sein Autor gerne aufwartet.
Ich vermag noch immer nicht klar zu denken. Solche Sachen geschehen nur in Romanen ... Aber Romane geschehen nur in der Wirklichkeit.
Quelle: César Aira – Der Hase
César Airas Roman „Der Hase" gleicht einem vollgestopften Kuriositätenkabinett. Brillant verspielte Geistesblitze finden sich darin ebenso reichlich wie selbstgenügsamer Nonsense.

Nov 8, 2025 • 21min
„Die Macht der Radikalisierung aus dem Zuhause heraus“: Wie zwei Romane zeigen, warum einfache Wahrheiten so gefährlich sind
Zwischen Sinnsuche und Versuchung
„Die Macht der Radikalisierung aus dem Zuhause heraus – das wird uns noch beschäftigen“, sagt Autorin Hannah Lühmann im Gespräch im SWR Kultur „lesenswert Magazin“.
Ihr neuer Roman „Heimat“ und Caroline Schmitts „Monstergott“ erzählen von Figuren, die in Krisen geraten – und darin nach Halt und Bedeutung suchen. Beide Bücher öffnen den Blick auf Welten, die abgeschottet scheinen, aber viel über unsere Gegenwart verraten.
Verloren im Vorort
In „Heimat“ beschreibt Lühmann das Leben der jungen Mutter Jana, die in ein Neubaugebiet zieht und dort zunehmend den Halt verliert. Ihre Ehe kriselt, den Job hat sie gekündigt, sie ist schwanger mit dem dritten Kind.
Da taucht Karolin auf: Selbstbewusst, makellos, aktiv auf Instagram. Sie verkörpert das Ideal der sogenannten Tradwife: der traditionellen Hausfrau, die sich ihrem Mann unterordnet und das Heim zur Bühne macht.
Fasziniert von dieser vermeintlichen Geborgenheit gleitet Jana in ein Weltbild, das sich langsam politisch und ideologisch verdichtet. Lühmann erzählt, wie subtil rechte Ideologien im Gewand familiärer Sehnsucht auftreten – als trügerische Antwort auf Einsamkeit und Sinnsuche in einer digitalisierten Welt.
Glauben, Zweifel, Identität
Caroline Schmitt führt in „Monstergott“ in eine andere Parallelwelt – die einer evangelikalen Freikirche. Die Geschwister Esther und Ben wachsen in einer Gemeinschaft auf, die klare Grenzen zieht: Gut und Böse, Mann und Frau, Himmel und Hölle.
Als sie beginnen, diese Dogmen zu hinterfragen, geraten sie in Konflikt mit ihrem Glauben und mit sich selbst. Schmitt, selbst in einer Freikirche groß geworden, erzählt, wie spirituelle Gewissheiten kippen können, wenn Zweifel zugelassen wird.
Zwei Seiten derselben Gegenwart
Ob im Speckgürtel oder in der Glaubensgemeinschaft – beide Autorinnen erkunden, wie Ideologien Sinnversprechen liefern, wo Gesellschaft und Moderne Halt verlieren. „Heimat“ und „Monstergott“ sind Romane über Identität, Sinnsuche in einer digitalisierten Welt und die gefährliche Versuchung klarer Wahrheiten.
„Ich glaube nicht, dass die Leute das trotz der Radikalität faszinierend finden – sondern wegen der Radikalität“, sagt Lühmann.
Ein Satz, der bleibt.

Nov 7, 2025 • 6min
„Von ABBA bis Zappa“: Buch über die Popjahre im wilden Süden
Christoph Wagner, Autor und Zeitzeuge, erzählt von seinen Erinnerungen an turbulente Popkonzerte im Südwesten. Er beschreibt die Krawalle in den 50er und 60er Jahren, ausgelöst durch hohe Eintrittspreise und ein Gefühl der Ausbeutung. Wagner erinnert sich an versuchte „Gate-Crashes“ und schildert das Stuttgarter Pop-Verbot von 1970, das die Szene für zwei Jahre zum Schweigen brachte. Zudem diskutiert er über alternative Konzertorte und die Rolle junger Veranstalter, die eine transparente Kostenkalkulation ermöglichten.

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Nov 7, 2025 • 7min
Dieses Buch ist ein Wunderwerk: „Pusztagold“ von Clara Heinrich
Clara Heinrich, Autorin und Erzählerin aus dem Burgenland, spricht über ihr bemerkenswertes Werk "Pusztagold". Sie thematisiert, wie die Landschaft rund um den Neusiedlersee ihr Schreiben prägt und zeigt die Interdependenz von Kultur und Natur auf. Der Konflikt zwischen literarischer Arbeit und landwirtschaftlichen Erwartungen ist ein zentraler Punkt. Zudem beleuchtet sie die Themen Care und Fürsorge in Verbindung mit persönlichen und politischen Aspekten sowie die spürbaren Auswirkungen des Klimawandels auf ihre Umgebung.

Nov 7, 2025 • 14min
„Geschichten, die den Blick auf die Welt verändern“: Ursula K. Le Guins Erzählband „Der Tag vor der Revolution“
Karen Nölle, Übersetzerin von Ursula K. Le Guins Werken, teilt ihre Einblicke in den Erzählband „Der Tag vor der Revolution“. Sie spricht über die Vielfalt in Le Guins Figuren und deren Fähigkeit, Geschlechterrollen zu hinterfragen. Nölle erklärt die Tragetaschentheorie, die alltägliche Lebensgeschichten statt klassische Heldenerzählungen in den Fokus rückt. Sie betont, wie Le Guins klare, zielgenaue Sprache die Übersetzung zu einer Kunst der Einfachheit macht und warum ihre Texte heute besonders relevant sind.


