

SWR Kultur lesenswert - Literatur
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Dec 7, 2025 • 1h 10min
SWR Bestenliste Dezember bei den Stuttgarter Buchwochen im Haus der Wirtschaft
Eine Feier der Übersetzungen, aber Kritik am Lektorat – Shirin Sojitrawalla, Helmut Böttiger und Klaus Nüchtern diskutieren auf den Stuttgarter Buchwochen vier auf der SWR Bestenliste im Dezember verzeichnete Werke:
Peter Schneiders Roman „Die Frau an der Bushaltestelle“, Sabrina Orah Marks eigenwilliges Memoir „Happily“ in der kongenialen Übersetzung von Esther Kinsky und Hanif Kureishis sehr persönliches Krankentagebuch „Als meine Welt zerbrach“ in der deutschen Fassung von Cornelius Reiber.
Hinzu kommt die Wiederentdeckung eines skandalösen Klassikers: Sidonie-Gabrielle Colettes „Chéri“, angemessen modern übersetzt von Renate Haen und Patricia Klobusiczky und mit einem Nachwort von Dana Grigorcea.
Schon beim ersten Roman des Abends ist sich die Jury uneins: Helmut Böttiger (Literaturkritiker u.a. für den „Deutschlandfunk“) und Shirin Sojitrawalla (Literaturkritikerin u.a. für die „taz“) lobten insbesondere die deutsch-deutschen Szenen in „Die Frau an der Bushaltestelle“ (Platz 5 der Dezember-Bestenliste).
Dahingegen hält Klaus Nüchtern den Text sowohl in sprachlicher als auch in inhaltlicher Hinsicht für misslungen. Insbesondere die vielen historischen Fehler stoßen ihm übel auf. „Wo war denn hier das Lektorat?“, beschwert er sich.
Durchweg positiv besprochen wird Sabrina Orah Marks Familienaufstellung mit Märchen, was zum einen an ihrem kunstfertigen Umgang mit Märchen in „Happily“ (Platz 3) und laut der Jury nicht zuletzt an Übersetzerin Esther Kinsky liegt.
Bei Hanif Kureishis Versuch, in „Als meine Welt zerbrach“ (Platz 2) die fatalen Folgen eines schweren Unfalls sprachlich zu fixieren, wird die humoristische Tonlage des nunmehr gelähmten Schriftstellers und Drehbuchautors gelobt.
Eine Wiederentdeckung zum Schluss: Colettes 1920 erstmals veröffentlichter Roman „Chéri“ (Platz 1), der die damals skandalöse Geschichte einer alternden Kurtisane mit ihrem deutlich jüngeren Liebhaber erzählt, begeistert die Jury durchweg.
Die höflich-galligen Dialoge der Figuren, eine turbulente Anti-Ehe-Liebesgeschichte, aber auch der Einblick in die nahezu aristokratische Halbwelt machen die Lektüre lohnend.
Aus den vier Büchern lesen Isabelle Demey und Dominik Eisele. Durch den Abend führt Carsten Otte.

Dec 2, 2025 • 4min
Der elfte Finger der Hand
Bedingt echtes Schreibgerät
Auch Schreibgeräte haben unterschiedliche Temperamente, verfügen über besondere Charaktereigenschaften, ausgewählte Fähigkeiten und eigensinnige Nutzer. Sie können auftrumpfen oder sich zurücknehmen. Das vielleicht unterschätzteste, aber vielseitigste aller Schreibutensilien gibt es seit Mitte des 16. Jahrhunderts. Und es ist – in seiner Einfachheit – einfach zeitlos.
Der Bleistift bleibt (und tut) bescheiden, anders als die spratzende Tinte, der krakeelende Kugelschreiber und der wichtigtuerische Filzstift. Er ist aus unserem Alltag nicht wegzudenken, und gerade weil er nur bedingt echt, d.h. zeitfest, dokumentenecht und autoritativ ist, bleibt er doch immer auf Linie: für den Einfall, den Abstrich eines Gedankens, ein verräterisches Zeichen, eine Randnotiz, eine Korrektur, eine Durchstreichung, eine Überschreibung; er ist ein universelles Medium, weich und hart, spitz und stumpf, immer zu gebrauchen, sich selbst genügend und verzehrend, billig und nützlich.
Quelle: Hanns Zischler, Der Bleistift
Der Schauspieler, Schriftsteller, Übersetzer und bibliophile Privatgelehrte Hanns Zischler, der über Orangenpapier ebenso bezaubernd schreibt wie über Kafkas Kinoleidenschaft, skizziert in seinem neuen, schmalen Essay prägnant die Geschichte des Bleistifts.
Selbstverständlich in feinen Strichen. Von der Entdeckung reinen Graphits in den Hügeln des cumbrischen Borrowdale geht es über den Schreiner Kaspar Faber, der 1761 Holzschäfte herstellte, mit denen die Graphitminen ummantelt wurden, bis in unsere nicht mehr ganz so analoge Gegenwart.
Bruchfest und zurechtgespitzt
Zischler zeichnet geradezu schwärmerisch nach, was der Bleistift alles kann, wie er sich mit der Hand verschwistert und fast zum „elften Finger“ wird, wie er für verschiedenste Zwecke gefertigt und zurechtgespitzt in unterschiedlichen Härtegraden bruchfest seine Aufgaben erfüllt. In welcher Vollendetheit dieses Gerät entwickelt wurde …
… das sich aufbraucht und veräußert und seine Schale in bittersüß duftenden, bunten Holzkringeln abwirft …
Quelle: Hanns Zischler, Der Bleistift
… sei geradezu staunenswert. Ja, es verdiene …
… ein kleines Wunderwerk genannt zu werden.
Quelle: Hanns Zischler, Der Bleistift
Bleistift
Dieser poetische Ton ist durchaus angemessen, und er führt hin zu einem anderen Aspekt des Bändchens: Zischler lässt nämlich Autorinnen und Autoren zu Wort kommen, die selbst mit Bleistift schrieben und ihrem Produktionsmittel in Texten Denkmäler setzten. Vladimir Nabokov und Hans Christian Andersen haben ihre Auftritte, Franz Kafka und Warlam Schalamow, Goethe und Beethoven.
Natürlich werden auch Robert Walsers Mikrogramme im wahrsten Sinne des Wortes unter die Lupe genommen: 526 Blätter, die 4500 Seiten Drucktext entsprechen, hatte Walser mit dem Bleistift mit Millimeter kleiner Schrift gefüllt.
Unlesbar dieses „Bleistiftgebiet“, bis Bernhard Echte und Werner Morlang in 17 Jahre währender Arbeit es doch Wort für Wort entzifferten. Kein Füller und kein Kugelschreiber könnte solch zarte Zeichen setzen.
Abnutzungen und Verletzungen
Aber der Bleistift ist nicht nur sanft. Zischler schildert eindrücklich, was eigentlich passiert, wenn er auf Papier trifft.
Die Berührung von Bleistift und Papier – in Schrift und Zeichnung – führt auf beiden Seiten zu Abnutzungen, Verletzungen, die durch den Radiergummi nicht nur nicht wettgemacht, sondern tendenziell vergrößert werden: Das Papier zerreibt und schmirgelt die Bleistiftspitze, so wie umgekehrt der Stift die intakte Oberfläche, die Haut des Papiers, ritzt und tätowiert.
Quelle: Hanns Zischler, Der Bleistift
Ob es auch ein nostalgischer Blick ist, den Zischler auf den Bleistift wirft? Gewiss. Wird er sich gegen elektronische Alltagsgeräte, in die sich eilig alles mögliche einschreiben lässt, behaupten können?
Die Frage ist noch nicht entschieden. Bekanntlich können Neues und Altes auch koexistieren. Ein simpleres, unaufwändigeres, praktischeres Schreibwerkzeug, das weder Strom braucht noch viel Platz, lässt sich ja schwerlich noch einmal erfinden.

Dec 1, 2025 • 4min
Requiem für Harlem
Harlem, 1961. Der Drogendealer Clyde „Viper“ Morton hat zum dritten Mal in seinem Leben einen Menschen ermordet. Er ist überzeugt: Dieses Mal kommt er nicht damit davon. Also wartet er in einer privaten Jazz-Bar auf die Polizei. Dort stellt ihm die Besitzerin Nika eine Frage:
‚Also, Viper‘, sagte die Baroness, ‚was sind deine drei Wünsche?‘
Quelle: Jake Lamar – Viper’s Dream
Vom Marihuana zum Heroin
Schon mit diesem Einstieg ist klar: Jake Lamars „Viper’s Dream“ ist in der Noir-Tradition verankert. Ein erfolgreicher Gangster, kurz vor dem Fall, erinnert sich an seinen Aufstieg, seine Träume.
Wie viele Schwarzen Menschen macht sich Viper 1936 inmitten der Großen Depression auf den Weg von Alabama nach New York City. Er hofft auf eine Karriere als Trompeter. Doch sein Talent liegt woanders: Er ist ein begnadeter Verkäufer. Für Marihuana.
„Jazz ist 1936 von den Big Bands bestimmt – Swing Orchester von Duke Ellington und Count Basie. In dieser Zeit war Marihuana bei Schwarzen Jazz-Musiker vor allem als harmlose Freizeitdroge oder kreatives Mittel bekannt.“
Erzählt Jake Lamar. Doch der Bebop veränderte die Musik – und die Szene.
„Jazz wurde dann von einer Musik, zu der man tanzen kann, zu einer Musik, die man wirklich hören muss. Fortan wurde Jazz als Kunstform ernst genommen. Aber zur selben Zeit verbreitet sich Heroin. Insbesondere mit Charlie Parker. Er war süchtig nach Heroin. Viele der Beboper dachten, Heroin würde sie inspirieren. Aber natürlich ist Heroin tödlich. Und viele Musiker liebten die Droge mehr als die Musik.“
Schwarze Lebensrealitäten im 20. Jahrhundert
Jazz und Drogen, dazu eine Jazz-Diva als prototypische Femme fatale - „Viper’s Dream“ erzählt gelegentlich etwas zu melancholisch-nostalgisch von prägenden Jahrzehnten in Harlem. Dazu gibt es in diesem Roman viele gut gesetzte Verweise auf Schwarze Geschichte.
Alleine, dass Vipers Bruder – eine Nebenfigur – als Pullman Porter arbeitet, referenziert eine andere Schwarze Lebensrealität jener Jahre und schafft einen reizvollen Gegensatz zum Gangsterleben.
„Viele von ihnen waren wirklich gebildet, aber sie verbrachten ihr Leben damit, sich um die Bedürfnisse von weißen Zugpassagieren zu kümmern. Aber es war ein sicherer, ein respektabler Job.“
Griechische Tragödie – made in Harlem
Jake Lamar spielt zudem nicht nur mit Elementen des Noir. Zwar sind die drei Wünsche am Anfang historisch belegt. Die legendäre Jazzmäzenin Pannonica de Koenigswarter hat Musiker nach ihren Wünschen gefragt, deren Antworten wurden erst lange nach ihrem Tod in einem Buch publiziert.
Aber im Zusammenspiel mit dem überdramatischen Schlusspunkt des Romans und den gottgleichen Cameos von Miles Davis, Thelonius Monk oder auch Dizzy Gillespie liest sich „Viper’s Dream“ dadurch wie die Harlem-Version einer griechischen Tragödie.
„Griechische Mythologie hat mich hier wirklich inspiriert. Griechische Tragödie – aufgelöst wie in einem Roman. In griechischen Tragödien gibt es Mars und Apollo. Ich habe Miles und Monk. Und wie in einer griechischen Tragödie sind die Schicksale der Figuren von den Göttern vorherbestimmt.“
Dadurch sind der Zorn und die Galligkeit, die Lamars früheren Roman „Das schwarze Chamäleon“ prägten, heruntergedimmt. Vielmehr erzählt er auf knapp 200 Seiten von der Great Migration, der Aufbruchsstimmung in Harlem in den 1930er Jahren, den Wandel durch Rassismus, Heroin und organisiertem Verbrechen.
„Viper’s Dream“ ist Kultur- und Stadtgeschichte, heruntergebrochen auf das Leben eines Gangsters. Lesenswert.

Nov 30, 2025 • 4min
Fluch und Segen – die Geschichte des World Wide Web
Tim Berners-Lee, Erfinder des World Wide Web und ehemaligen Forscher am CERN, teilt seine faszinierende Geschichte über die Entstehung des Internets. Er kritisiert die heutige Kommerzialisierung durch Big Tech und warnt vor den Risiken von Überwachung und Missbrauch der Technologien. Besonders brisant sind die Gefahren von KI und Deepfakes für demokratische Prozesse. Trotz seiner Frustration bleibt Berners-Lee optimistisch und glaubt an Lösungen für die Herausforderungen des Webs. Seine Erzählung ist geprägt von Anekdoten und einer tiefen Sehnsucht nach Offenheit.

Nov 27, 2025 • 60min
50 Jahre SWR Bestenliste – Was sagen die Autorinnen und Autoren?
50 Jahre Bestenliste – Autorinnen und Autoren feiern die Literaturkritik

Nov 26, 2025 • 4min
Pistolenschüsse, Petticoats und Philosophie – Alessandro Baricco hat einen metaphysischen Wild-West-Roman verfasst
Der neue Roman „Abel“ von Alessandro Baricco trägt den Untertitel: „Ein metaphysischer Western“. Baricco verbindet das klassische Wild-West-Genre mit philosophischen, aber auch mythischen Elementen.
Sein Held heißt Abel Crow. Mit dem biblischen Abel hat er an sich wenig zu tun. Abel Crow ist nämlich von Beruf „Pistolero“, Revolverheld und Sheriff in Personalunion.
Die Philosophie des Pistoleros
Wenn du beide Pistolen ziehst, um zwei Ziele gleichzeitig zu treffen, dann heißt dieser Schuss der Mystiker. Ich weiß nicht warum, aber ich liebe den Mystiker. Ich führe ihn als überkreuzten Schuss aus.
Quelle: Alessandro Baricco – Abel
Diese Form von schusstechnischer Mystik führt Abel allerdings in den Bereich der Mathematik.
Im Übrigen war Gott, so behauptete Kepler, Geometrie in Reinform, bevor die Dinge zu Dingen wurden.
Quelle: Alessandro Baricco – Abel
Der Naturwissenschaftler und Naturphilosoph Johannes Kepler wird auch als pythagoreischer Mystiker bezeichnet. Dies deswegen, weil er mathematische Beziehungen als Grundlage für das Verständnis von Schöpfergott und Schöpfung ansah.
Abel Crow hat auch einen „Meister“, der ihm nicht nur Schusstechnik, sondern Existentielles beibringt. Beide studieren gemeinsam Platons „Symposion“ – ein Muss für jeden denkenden Pistolero. Eines Tages fragt der Meister Abel Crow, ob er bei Pistolenduellen Angst verspüre. Da Abel zögert, lässt ihn der Meister wissen.
Wer schießt, ohne Angst zu haben, ist entweder dumm, oder er konnte seine Angst von der Oberfläche seiner Welt verscheuchen, um sie in einem Verließ zu begraben, wo sie auf unsichtbare und grausame Weise wachsen wird. Darum gibt es in Wirklichkeit niemanden, der die Angst so kennt wie die Pistoleros, die keine Angst haben.
Quelle: Alessandro Baricco – Abel
Das ist eine entwaffnende Existenzphilosophie. Denn „Angst“ ist für den Philosophen Martin Heidegger eine Grundkonstante des menschlichen Seins. Wer sich die eigene Angst bewusst macht, ob im Pistolenduell oder sonst wo, der hat eben keine Angst mehr – vor der Angst.
Der Pistolero und die Bibel
Abel Crow ist Pistolero und damit von biblischen Gestalten weit entfernt.
Doch die Menschen, die ihn umgeben, haben Namen, die genau in diese Richtung weisen: Abels Schwester heißt „Lilith“. Lilith galt in vorhebräischer Zeit als Dämonin und bei späteren Mystikern als Adams erste Frau.
Abel Crows Schwester hingegen ist wenig dämonisch, dafür klug und verbrecherisch veranlagt. Abels Brüder heißen wiederum David, Isaac, Joshua und Samuel. Alles biblisch gewichtige Namen!
Der Pistolero und die Liebe
Und noch jemand zählt zu dieser illustren Runde: Abel Crows Geliebte. Sie trägt einen unwiderstehlichen Namen: „Hallelujah Wood“. Hallelujah ist halb Indianerin. Deshalb ist sie wild wie der Wilde Westen, schön, aber stachelig wie eine Kaktusblüte und schlau wie eine Präriefüchsin.
Hallelujah liebt ihren Abel Crow und er sie. Und doch geht er zuzeiten fremd. Hallelujah schüttelt nur den Kopf: Ihr geliebter Pistolero muss halt nach gewonnenem Schießduell irgendwo seine Angst abladen – und sie ist nicht immer gleich zur Stelle.
Alessandro Baricco ist nicht der Erste, der hinter Western-Sterotypen Tiefsinn festmacht. Doch vielleicht ist er der Erste, der einen metaphysischen Wild-West-Roman verfasst hat.
Pistolenschüsse, Petticoats und feiste Flüche verflüchtigen sich nicht einfach in aneinandergereihten Bildfolgen, sondern werden durch biblische, philosophische und mythische Elemente auf eine andere, höhere, zum Teil auch witzige Ebene gebracht.
Mit seinem Roman „Abel“ liefert Baricco ein Meiserstück unangepasster Wild-West-Romantik. Abel Crows „Schuss der Mystiker“ ist ebenso erdverbunden wie gen Himmel gerichtet.

Nov 25, 2025 • 4min
Runter vom Sofa! Demokratie-Training mit Satirikerin Sarah Bosetti
Ausgangspunkt von Sarah Bosettis Essay ist die Feststellung, dass viele mittlerweile so frustriert sind, dass sie „die Serie, die sich ‚Weltgeschehen‘ nennt“ nur noch kopfschüttelnd beobachten. Aber, so Bosetti:
Die Endgegnerin im Kampf für eine bessere Welt ist die Gewöhnung an das gruselige Jetzt.
Quelle: Sarah Bosetti – Make Democracy Great Again
Kreative Formate machen auch frustrierende Debatten erträglich
Ihr Buch ist deshalb ein Weckruf an alle: An ‚die da oben‘, aber auch an uns ‚hier unten‘ – denn in Demokratien ist die Beteiligung aller gefragt.
An verschiedenen Beispielen zeigt die Autorin, was schiefläuft und wer an welcher Stelle etwas ändern sollte: Sie kommentiert den Ampelbruch, die Debatten um das AfD-Verbotsverfahren, Taurus-Lieferungen und Grenzkontrollen.
Es geht um Mediendiskurse zu sexualisierter Gewalt und Wokeness, aber auch um Bayerns ‚Bierzelt-Monarchie‘. Der Essay ist also thematisch dicht – und oft ziemlich sprunghaft.
Es mag an Struktur fehlen, nicht aber an kreativen Erzählformaten. Bosetti bastelt Fantasie-Dialoge zwischen Politikern, schaltet einen aberwitzigen Nachrichtenblock mit skurrilen – leider nur ausgedachten – Kurzmeldungen und versucht sich als Dolmetscherin.
Wenn Friedrich Merz etwa sage „Was in der Sache richtig ist, wird nicht dadurch falsch, dass die Falschen zustimmen“, meine er eigentlich:
Das Tolle daran, dass die Falschen zugestimmt haben, ist, dass jetzt niemand mehr darüber redet, dass es auch in der Sache falsch war.
Quelle: Sarah Bosetti – Make Democracy Great Again
Die Satirikerin bringt uns damit trotz der oft frustrierenden und ernsten Bestandsaufnahmen oft zum Lachen. Und immer wieder gibt es auch Seitenhiebe der derberen Art:
Eine [Partei] hatte ein sehr seltsames Verständnis davon, wie eine Firewall funktioniert (CDU), eine hatte eine Programmiersprache, die nur aus Metaphern bestand (Grüne), auf einer lief noch das Betriebssystem Windows 33 (AfD), und alle, wirklich alle hielten ihre eigene Prozessorleistung für größer, als sie war.
Quelle: Sarah Bosetti – Make Democracy Great Again
Auf den Punkt gebracht: Grundsatzfragen statt parteipolitischer Befindlichkeiten
Bei Grundsatzfragen positioniert sich Bosetti deutlich: Häusliche Gewalt, Rassismus und Ausländerfeindlichkeit werden klar verurteilt. Auch zu Parteien nimmt sie teilweise Stellung, etwa wenn sie die AfD kategorisch als faschistisch und rechtsextrem bezeichnet.
Der Autorin geht es aber weniger um parteipolitische Fragen, sondern um demokratische Grundsätze: Kritik ist ebenso legitim wie Zustimmung, wenn sie begründet ist. Und man darf Vorschläge ablehnen – aber nur, wenn man eigene, konstruktive Ideen zur Problemlösung einbringt. Denn weg-reden lassen sich Probleme nicht. Und:
Es ist nicht unsere Aufgabe, uns zu überlegen, welche Erzählung uns am besten gefällt, und die durchzuboxen, bis sie als Wahrheit gilt. Es ist unsere Aufgabe, Realitäten anzuerkennen und mit ihnen umzugehen.
Quelle: Sarah Bosetti – Make Democracy Great Again
Die meisten Debatten, die Bosetti aufgreift, sind altbekannt und die Argumente nicht wirklich neu. Aber sie bringt absurde Zustände satirisch zugespitzt auf den Punkt und legt so die eigentlichen Probleme in Gesellschaft und Politik offen.
Demokratietraining statt Bequemlichkeit
Pflichten von Politikerinnen und Politikern werden ebenso klar benannt, wie die von Wählerinnen und Wählern. Doch Dank der gewitzten Formulierungen, Metaphern und Gedankenspiele lässt man sich auf den Dialog mit der Autorin gerne ein. Zumal sie mit mancher Feststellung wohl vielen aus der Seele spricht.
Es ist das 21. Jahrhundert, und der Satz «Die Ausländer sind schuld!» bringt immer noch mehr Wählerstimmen als jeder konstruktive Lösungsansatz für politische Probleme.
Quelle: Sarah Bosetti – Make Democracy Great Again
Drei Mal setzt Bosetti mit einem Schlusskapitel an, bevor sie tatsächlich zum Ende kommt – und nach vielen frustrierenden Erkenntnissen doch noch motivierende Worte für uns bereithält:
Und wenn das Schicksal schon will, dass ich zum Abschluss klinge wie eine übermotivierte Fitnesstrainerin, dann auch richtig: If you don’t use it, you’ll lose it! Wir müssen unsere Demokratiemuskeln benutzen. Also streichelt euer Sofa noch mal kurz, sagt ihm, dass ihr gleich wiederkommt und dann geht raus, redet mit Menschen, die ihr seltsam findet, gründet Vereine, geht wählen, guckt Nachrichten und vor allem: Streitet euch gut.
Quelle: Sarah Bosetti – Make Democracy Great Again

Nov 24, 2025 • 4min
Martin Oesch – Fleischeslust
Fleisch ist im Comic „Fleischeslust" allgegenwärtig. In den Dialogen, auf Werbetafeln und der Menükarte im Lokal. Erst recht in den Bildern. Das strahlende Rosa der Mortadella und das Dunkelrot von Rindersteak und Kalbsleber ziehen sich durch die ganze Graphic Novel.
Sie dominieren die Metzgereitheke und leuchten im Rot der Äpfel, in Häuserfassaden oder dem Karo einer Tischdecke. Nicht zuletzt ist die Haut der Figuren schweinchenrosa – der Mensch ist schließlich auch ein Tier – und den pinken Einband des Comics kann man selbst in einem Bücherstapel sofort finden.
Sogar überzeugte Fleischesser dürften sich nach dieser Lektüre erstmal für ein Gemüsegericht entscheiden.
Jede Menge Fleisch und Aufschnitt in Rot- und Rosatönen
Dabei setzt Zeichner Martin Oesch nicht auf Ekeleffekte. Er zeigt nur in aller Deutlichkeit und in kräftigen Farben, was es heißt, mit Fleisch zu arbeiten.
Seiner Hauptfigur Erwin Merz, einem Metzger in einer fiktiven Schweizer Stadt, folgt er durch dessen Alltag: Aufstehen um sechs, umziehen und sofort in den Laden, um das Fleisch hinter der Theke zu drapieren. Und dann die nervende Kundschaft!
Erwin: Da lesen sie etwas in der Zeitung und denken, sie wissen Bescheid. Die wissen nichts über das Handwerk und die Konservierungsmethoden.(...) Die Leute haben Angst vor dem Pökelsalz, vor dem Rauchharz und dem Fett. Aber ohne das alles kannst du eine schöne Charcuterievitrine vergessen! Das Zeug wäre blass, grau und schmecken würde es auch nicht.
Quelle: Martin Oesch – Fleischeslust
So weit, so vertraut die Argumente von Metzger Erwin. In seinem Nein zu jeder Veränderung könnte er leicht zum Unsympathen werden. Zumal er äußerlich dem Klischee eines Metzgers entspricht: um die 60, grobschlächtig, Glatze, Schnurrbart. Doch Erwin verbirgt hinter seinem Poltern ein empfindsames Gemüt.
Sein Schöpfer Martin Oesch treibt ihn seitenlang durch kunstvoll komponierte Alpträume, getaucht in kühles Blau und Rot. In ihnen offenbaren sich Erwins wachsende Skrupel gegenüber den Tieren, was ihn schleichend, aber deutlich sein Leben in Frage stellen lässt. Erst recht, als er einen Bekannten trifft, der seinen Hof auf Ökolandbau umgestellt hat.
Hier die Bilder von glücklichen Kühen – dort die Realität des Schlachthofs
Leider wirkt das Pro und Contra zum Fleischkonsum an vielen Stellen arg didaktisch. Zu oft lässt Oesch den Metzger in Denkblasen und Monologen Dinge erklären, die für ihn selbstverständlich sein müssen.
Besser gelingt dem Zeichner das Ins-Bild-setzen von Stadtleben und Landwirtschaft: hier kühle Fassaden mit Werbetafeln von glücklichen Kühen - dort die Tierkörpersammelstelle inmitten strahlend gelber Felder.
Überhaupt wirkt der Comic dort am originellsten, wo die Künstlichkeit der grellen Farben, der eher grobe Strich und die Umgangssprache der deutsch-schweizerischen Figuren aufeinandertreffen.
Beziehungsprobleme mal anders
Seine größte Stärke beweist Martin Oesch, wenn er das Zwischenmenschliche in den Blick nimmt. Und damit die zweite Ebene der titelgebenden Fleischeslust. Erwins Frau Margrit lässt er in einem Nebenstrang ebenfalls in eine Sinnkrise abgleiten. Ihr Alltag langweilt sie.
Margrit: In vierzig Jahren Ehe geht halt einiges vergessen... schade eigentlich. (...) Der Erwin hat immer nur die Arbeit im Kopf. Da is er voller Leidenschaft. Manchmal wünsch ich mir...er würde mich mit derselben Leidenschaft wieder einmal anfassen. Er dürfte ruhig mal zupacken.
Quelle: Martin Oesch – Fleischeslust
Margrits Tagträumerei hält Martin Oesch auf einer hinreißend komischen Seite fest: Er zeichnet sie dabei als Rollbraten in Erwins Händen. Was leicht zu Klamauk hätte werden können, ist nur eine Nuance in einer Beziehung, in der wortlose Vertrautheit, Mangel an Empathie und eine Spur Eifersucht einander die Waage halten.
Dass am Ende Hoffnung über der Metzgerei liegt, obwohl offen bleibt, wie es weitergeht – das spricht für die Feinfühligkeit des Comic-Debütanten Martin Oesch. Bei allem Pro und Contra ums Fleisch verliert er seine Figuren nie aus den Augen.

Nov 21, 2025 • 7min
Wenn die KI die Kontrolle übernimmt
Tom Hillenbrand, Autor der Hologrammatica-Reihe, diskutiert die faszinierenden Aspekte superintelligenter KI. Er beschreibt Æther, eine selbstbewusste KI, die eigenständig handelt, um den Klimawandel zu bekämpfen. Hillenbrand warnt vor unvorhersehbaren Folgen dieser Technologie und thematisiert ethische Fragen zu Klonen und Identität. Er verwebt Sci-Fi mit Kriminalelementen und beleuchtet die kulturellen Anker seiner Geschichten. Die Kontrolle über solche Technologien liegt in den Händen weniger – ein beängstigendes Szenario.

Nov 21, 2025 • 11min
„Viel mehr als Liebesgeschichten“: Eva Pramschüfer über Jane Austen
„Verstand und Gefühl“, „Stolz und Vorurteil“, „Emma“, um nur drei Titel zu nennen. Innerhalb von 6 Jahren, zwischen 1811 und 1817, schrieb Jane Austen sechs Romane, allesamt unter dem Pseudonym „by a lady“, das erst nach ihrem frühen Tod im Jahr 1817 gelüftet wurde.
In diesem Jahr, am 16. Dezember, wäre Jane Austen 250 Jahre alt geworden.
Eine Kultfigur auf BookTok
Jane Austens Bücher begeistern bis heute – oder gerade heute – Leserinnen und Leser weltweit. Nicht zuletzt auch dank zahlreicher Adaptionen in Filmen und Fernsehserien. Gerade af BookTok ist Jane Austen eine Kultautorin.
Rund um das Jubiläum erscheinen zahlreiche zum Teil aufwendig gestaltete Neuausgaben, beispielsweise im Reclam Verlag: Eine 2000-seitige Gesamtausgabe mit Farbschnitt und Illustrationen.
Zahlreiche Neuausgaben zum 250. Geburtstag
Das Nachwort zu dieser Ausgabe hat die Journalistin und Autorin Eva Pramschüfer geschrieben. Sie ist Jahrgang 1997, gehört also zur jungen Generation von Austen-Leserinnen. Und Eva Pramschüfer postet auch in den sozialen Netzwerken Videos zu literarischen Klassikern.
Ein weiblicher Blick auf die Klassengesellschaft
Im Gespräch erzählt Eva Pramschüfer, deren literarisches Debüt „Weißer Sommer“ im April 2026 erscheint, wie schwer sie selbst in die Romanwelt der Jane Austen hineingekommen ist, warum die Romane sehr viele unterschiedliche Bedürfnisse von Leserinnen und Lesern bedienen – und vor allem, dass Austens Blick auf die patriarchalisch geprägte Gesellschaft aus weiblicher Sicht bis heute aktuell ist.


