

SWR Kultur lesenswert - Literatur
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Episodes
Mentioned books

Nov 5, 2025 • 4min
Elisa Hoven – Das Ende der Wahrheit? | Buchkritik
Die Diskussion dreht sich um die Herausforderungen der Wahrheit in Zeiten von Fake News und Lügen. Elisa Hoven kritisiert die politische Landschaft, in der Unwahrheiten das Vertrauen untergraben. Besondere Aufmerksamkeit erhält die Kriegspropaganda, mit einem klaren Blick auf die Krisen in der Ukraine und Gaza. Hoven fordert Zweifel als Werkzeug gegen Manipulation und plädiert für einen pluralen Diskurs. Ihre kritischen Anmerkungen zur Medienabhängigkeit und rechtlichen Rahmenbedingungen runden die Thematik ab.

Nov 4, 2025 • 4min
Ersi Sotiropoulos – Was bleibt von der Nacht
Die faszinierenden und oft turbulenten Tage von Konstantinos Kavafis im Paris der Belle Époque stehen im Mittelpunkt. Ersi Sotiropoulos erkundet, wie der schüchterne Dichter während seines Aufenthalts zwischen inneren Zweifeln und literarischen Suchbewegungen schwankt. Ihre Darstellung des Paris-Aufenthalts als Schlüsselerlebnis verwebt äußere Eindrücke mit Kavafis' erotischen Fantasien und Kindheitserinnerungen. Zudem beleuchtet sie seine unausgelebten Wünsche, die die kreative Energie und Selbstzweifel des Dichters prägen.

Nov 3, 2025 • 4min
Norbert Elias neu gelesen: Einsamkeit der Sterbenden im 21. Jahrhundert
Kann man den Tod austricksen? Jetzt vielleicht noch nicht, aber in naher Zukunft vermutlich schon irgendwie, zumindest eine Zeitlang. Dies glauben inzwischen nicht nur autokratische Machthaber wie Vladimir Putin und Xi Jinping, sondern eine immer größer werdende Bewegung der Schönen und Reichen.
Unter dem Schlagwort „Longevity“, also Langlebigkeit, hoffen heute immer mehr Menschen, dem Tod ein Schnippchen schlagen zu können, im Vertrauen auf Fortschritte in Medizin und Wissenschaft.
Gesichtslose Apparatemedizin
Norbert Elias hätte diese Wiederbelebung des alten Traums von der Unsterblichkeit nicht überrascht. Tatsächlich hat der deutsch-britische Soziologe sie schon Anfang der achtziger Jahre vorhergesehen, in seinem epochalen Essay „Über die Einsamkeit der Sterbenden in unseren Tagen“.
Darin konstatiert Elias mit nüchternem Blick, wie sehr der Tod in der modernen Gesellschaft einer kollektiven Verdrängung anheimfalle. Weshalb alles, was mit Tod und Sterben zu tun habe, von uns tunlichst tabuisiert werde. Und zwar nicht nur vor Kindern. Auch wir selbst täten alles, um nicht an unsere eigene Vergänglichkeit erinnert zu werden, und mieden etwa den Kontakt zu Sterbenden.
War der Tod früher etwas Alltägliches – so alltäglich, dass die Menschen oft zuhause im Kreis ihrer Angehörigen aus dem Leben scheiden konnten –, so würden die Sterbenden in modernen Gesellschaften einer ausufernden, gesichtslosen Apparatemedizin überlassen werden.
Isoliert und geräuschlos
Noch nie starben Menschen so geräuschlos und hygienisch wie heute in diesen entwickelteren Gesellschaften und noch nie unter sozialen Bedingungen, die in so hohem Maße die Einsamkeit befördern.
Quelle: Norbert Elias: Über die Einsamkeit der Sterbenden in unseren Tagen
Wenige Jahre nach Corona, als so viele Infizierte komplett isoliert von ihren Angehörigen in Kliniken oder Pflegeheimen sterben mussten, lesen sich Beobachtungen wie diese zwangsläufig mit ungleich größerer Betroffenheit.
Die nun erschienene Neuausgabe von Norbert Elias’ Essay bietet aber auch unabhängig von den Pandemiejahren eine gute Gelegenheit, über die Haltbarkeit von Elias’ Thesen nachzudenken. Und damit auch über den Umgang mit Tod und Sterben im frühen 21. Jahrhundert.
Allgegenwärtiger Tod in Medien
Dieser scheint sich im Vergleich zum späten 20. doch in vielerlei Hinsicht geändert zu haben, im Guten wie im Schlechten. Stichwort Verdrängung: Wer sich dem Medienkonsum nicht komplett verweigert, wird heutzutage kaum um die Konfrontation mit dem Tod in all seinen Erscheinungsformen herumkommen.
Zudem strotzt, wie Didier Eribon in seinem klugen Nachwort zur Neuausgabe richtig bemerkt, gerade unsere Gegenwartskunst nur so von Darstellungen von Alter und Sterblichkeit: von Filmen wie Michael Hanekes „Liebe“ bis zu literarischen Werken wie Helga Schuberts autobiografischer Erzählung „Der heutige Tag“ über das Leben mit ihrem pflegebedürftigen Mann bis zu seinem Tod.
Vielleicht sollte man doch offener und klarer über den Tod sprechen, sei es auch dadurch, daß man aufhört, ihn als Geheimnis hinzustellen. Der Tod verbirgt kein Geheimnis. Er öffnet keine Tür. Er ist das Ende eines Menschen. Was von ihm überlebt, ist das, was er anderen Menschen gegeben hat, was in ihrer Erinnerung bleibt.
Quelle: Norbert Elias: Über die Einsamkeit der Sterbenden in unseren Tagen
Sterbebegleiter ChatGPT
Es ist nicht zuletzt Elias’ unbarmherziger Gesellschaftsdiagnose von 1982 zu verdanken, dass seit den späten neunziger Jahren die Hospizbewegung aufkam und einen menschenwürdigeren Umgang mit dem Sterben ermöglichte.
Es sage also niemand, dass sich die Dinge nicht auch zum Besseren verändern können. Und wenn, wie Elias schreibt, der moderne Mensch Hemmungen hat, bei Besuchen bei Sterbenden die richtigen Worte zu finden – und deshalb den Besuch lieber gleich unterlässt –, so scheint auch darauf unsere Gegenwart eine Antwort zu wissen.
Schließlich lassen sich schon jetzt immer mehr Menschen von den allgegenwärtigen KIs Liebes- oder Beileidsbriefe schreiben. Wenn man also gar nicht weiß, was man zu einem todkranken Angehörigen oder Freund sagen soll – ChatGPT weiß es bestimmt.

Nov 2, 2025 • 18min
Anja Kampmann: Die Wut ist ein heller Stern
Hedda ist Seiltänzerin im Alkazar auf der Reeperbahn. Als die Nazis die Macht im Staate übernehmen, verändert sich der Kiez gravierend. Kampmann verbindet die Not ihrer Figuren eng mit den politischen Verhältnissen.

Nov 2, 2025 • 18min
Ian McEwan: Was wir wissen können
England im Jahr 2119. Kriege und Flutkatastrophen haben die Welt verändert. Ein Literaturwissenschaftler macht sich auf die Suche nach einem verschollenen Gedicht. Ein Gegenwartsroman, der aus der Zukunft kommt.

Nov 2, 2025 • 19min
Martina Clavadetscher: Die Schrecken der anderen
Es beginnt wie ein klassischer Krimi: Eine Leiche auf einem zugefrorenen See in der Innerschweiz. Daraus wird ein Panorama, das 100 Jahre zurückreicht; eine Geschichte um Nazi-Verstrickungen und die Ausbreitung des Populismus.

4 snips
Nov 2, 2025 • 17min
Thomas Pynchon: Schattennummer
Da ist er wieder, der große Unbekannte, mittlerweile 88 Jahre alt. Mit einer Hommage an die schwarzen Krimis. Milwaukee, 1932: Ein Privatdetektiv sucht die Erbin einer Käsefabrik und landet in Europa zwischen Nazis und Agenten. Pynchon eben.

Nov 2, 2025 • 1h 11min
SWR Bestenliste November mit Büchern von Ian McEwans, Anja Kampmann u.a.
Dissens auf hohem Niveau - Martina Läubli, Martin Ebel und Dirk Knipphals diskutierten im ausverkauften Heilbronner Schießhaus vier auf der SWR Bestenliste im November verzeichneten Romane:
Martina Clavadetschers „Die Schrecken der anderen“ (C.H. Beck), Thomas Pynchons „Schattennummer“ (Rowohlt), Ian McEwans „Was wir wissen können (Diogenes Verlag) und Anja Kampmanns „Die Wut ist ein heller Stern“ (Hanser Verlag).
„Die Schrecken der anderen“: Platz 7 der November-Bestenliste
Schon beim ersten Roman, der besprochen wurde, war sich die Jury uneins. Während Martina Läubli (NZZ) die Genrevielfalt und den Einfallsreichtum von Clavadetschers Roman lobte, kritisierte Dirk Knipphals (taz) nicht nur die skurrilen Figuren, sondern vor allem die betont unernste Tonlage der Prosa, die nicht zum Thema passen würde:
vergangene und gegenwärtige NS-Verstrickungen in der Schweiz.
„Schattennummer“: Platz 3 der November-Bestenliste
Martin Ebel (Tages-Anzeiger) gestand, mit „Schattennummer“ den ersten Roman von Thomas Pynchon gelesen zu haben. Er sei so befremdet wie beeindruckt von dem unberechenbaren Text, der sich psychologischen Lesarten verweigere. Knipphals sah in der Doppelbödigkeit die eigentliche Qualität dieser Literatur:
Pynchons Romane seien immer beides, Pulp und hohe Sprachkunst, die sich nicht zuletzt im Spiel mit musikalischen Themen und auch in politischen Spitzen zeige. Für Martina Läubli, die sich zwar über viele Ideen des Autors amüsieren konnte, war Pynchons Roman (Platz 3) aber schlichtweg 200 Seiten zu lang.
„Was wir wissen können": Platz 2 der November-Bestenliste
Bei Ian McEwan (Platz 2) wurde es nahezu religiös. Dirk Knipphals nannte den Autor einen „Hohepriester“, Martin Ebel sogar einen „gnädigen Literaturgott“, der Nachsicht mit seinen fehlgeleiteten Figuren habe.
Was Martina Läubli nicht davon abhielt, das ihrer Meinung nach etwas zu routinierte Konstruieren und Erzählen zu hinterfragen. Vor allem der zweite Teil des Romans, der sich in einer erwartbaren Kriminal- und Liebesgeschichte verläppere, habe sie weniger überzeugt.
„Die Wut ist ein heller Stern": Platz 1 der November-Bestenliste
Große Einigkeit zum Abschluss bei Anja Kampmann. In poetischer Prosa erzähle die Autorin, wie die Nazis auch das proletarische Milieu der Hamburger Reeperbahn ab 1933 zu kontrollieren beginnen. Der in kurzen Szenen „hingetupfte“ Roman sei zwar eindeutig historisch verortet, gleichwohl gehe die Autorin auch der aktuellen Frage nach, warum eine Diktatur mit aller Gewalt auch die Herrschaft über den weiblichen Körper durchsetze.
„Die Wut ist ein heller Stern“ (Platz 1) gehörte zu den herausragenden Romanen dieser Saison, befand die Jury.
Aus den vier Büchern lasen Antje Keil und Dominik Eisele. Durch den Abend – eine Kooperation mit dem Literaturhaus Heilbronn – führte Carsten Otte.

Nov 2, 2025 • 4min
Roman über den Klimawandel: Wenn das Land, das niemals schmilzt, sein Eis verliert
Unni wächst in einem Flusstal in Lappland auf, wo ihre Familie seit Hunderten von Jahren lebt. Zu ihren schönsten Erinnerungen gehört der Anblick des dortigen Moors mit seinen Moltebeeren. Eines Tages muss sie mit ihrer Mutter in den Süden ziehen, in ein Dorf bei Helsinki, während der Vater in der Heimat bleibt. Fortan lebt Unni in zwei Welten – in der einen Welt ist sie zuhause, in der anderen Welt eine Außenseiterin.
Während sie mit ihrem Vater glückliche Sommer in Lappland verbringt und ein Rentierkalb aufzieht, wird sie in der Schule wegen ihrer indigenen Wurzeln schikaniert. Später beschließt Unni, Wissenschaftlerin zu werden. Als Expertin für Gletscher forscht sie zu den Folgen des Klimawandels. Die spürt sie längst auch in ihrer Heimat, denn dort taut der Permafrostboden:
Als ich hinkam, glaubte ich zunächst, mich verlaufen zu haben, denn das Moor war nicht mehr dasselbe, es war eben, platt, so wie es die offenen Sümpfe im Süden sind. Die großen Permafrost-Erhebungen, die Palsas heißen, an denen ich mich als Kind orientiert und auf denen Martti und ich unseren Proviant verzehrt hatten, waren eingebrochen, aufs Wasser gesackt wie aufgeschlitzte Tiere.
Quelle: Inkeri Markkula: Wo das Eis niemals schmilzt
Große Themen: Klimawandel, kultureller Genozid – und die Liebe
Bei einer Forschungsexpedition in Kanada lernt Unni Jon kennen. Wie sie hat er indigene Wurzeln und die Unterdrückung der eigenen Kultur erlebt. Jon wurde in Quebéc geboren und kurz darauf zwangsadoptiert. Dass er bei Adoptiveltern aufgewachsen ist, erfährt er erst als junger Mann. Nun ist Jon auf der Suche nach seinem leiblichen Vater. Er verzweifelt aber daran, dass er die Inuit-Sprache nicht beherrscht und sich nicht mit ihm austauschen kann.
Unni dagegen hat sich die nordsamische Sprache mühsam selbst beigebracht. Weil die Sprache in Finnland über Jahre unterdrückt wurde, beherrschte selbst ihr Vater nur wenige Worte, als Unni viel zu früh auf die Welt kam:
Meine Eltern schliefen in den ersten Wochen meines Lebens im Zentralkrankenhaus von Rovaniemi auf dem Fußboden und beobachteten ununterbrochen das dünne, zerknautschte Kind im Brutkasten, danach konnten sie sich keinen anderen Namen als Unni denken, weil das in der nordsamischen Sprache ‚das Kleine‘ bedeutete. Und auch wenn mein Vater die Sprache seiner Eltern vergessen hatte, weil sie ihm in der Schule ausgewaschen worden war, existierte ich für ihn in dieser Sprache.
Quelle: Inkeri Markkula: Wo das Eis niemals schmilzt
Immer wieder springt der Roman von den frühen 2000er-Jahren, als sich Unni und Jon kennen lernen, in die Vergangenheit. Markkula verwebt ihre Geschichten von Verlust und Resilienz kunstvoll miteinander, thematisch mutet sie dem Leser aber etwas zu viel zu: Schließlich muss der Roman gewichtige Themen schultern und von der Klimakrise, von einem kulturellen Genozid und von einer – schlussendlich tragischen – Liebesgeschichte erzählen.
Erzählt bestechend schön von Veränderung und Verlust
Nicht alle Themen erhalten da genügend Raum. Gerade die Zwangsadoptionen in Kanada werden vergleichsweise kurz abgehandelt und an einigen Stellen etwas plakativ beschrieben, etwa wenn Jons Adoptivmutter beschließt, ihrem Sohn vorerst nichts von seiner Geschichte zu erzählen:
Kanada war ein schönes, friedliches, extrem weit in den Norden reichendes Land, in dem glückliche Menschen in gepflegten Häusern lebten und sich auf der Straße fröhlich gegenseitig fragten, was es Neues gab. Hinter den glücklichen Mittelschichtsmenschen gab es ein Land, das seine Minderheiten in Internate sperrte und dem Unrecht, das ihnen widerfuhr, nicht nachging.
Quelle: Inkeri Markkula: Wo das Eis niemals schmilzt
Bestechend ist der Roman vor allem dann, wenn er die Verlusterfahrungen in Folge des Klimawandels anschaulich macht. Inkeri Markkula beschreibt mit großer sprachlicher Schönheit, wie die bekannte Welt allmählich verschwindet.
Unni spürt dies im Norden Kanadas: Sie bemerkt, wie der viel zu frühe Frühling Menschen und Tiere in die Irre führt. Und wie selbst hier – im Land, das dem Inuit-Namen nach niemals schmilzt – die Gletscher brechen und die Geschichte ins Wanken gerät.

Oct 29, 2025 • 4min
„Aufrecht“ von Lea Ypi: Eine Biografie so spannend wie ein Thriller
Die Großmutter war die Heldin ihrer Kindheit. Eine resolute, warmherzige, kluge Frau. Lea Ypi hat dieser Großmutter, Leman Ypi, ihre Erinnerungen an das Aufwachsen in der albanischen Diktatur gewidmet. Dass die Enkelin in ihrem neuen Buch nun die Geschichte von Leman erzählt, hat mit einem im Internet aufgetauchten Foto zu tun.
Es zeigt ein junges, glamouröses Paar, das direkt in die Kamera blickt, während es sich auf Sonnenliegen vor einem Luxushotel entspannt. Ich erkannte meine Großeltern Leman und Asllan wieder während ihrer Flitterwochen 1941 in Cortina d’Ampezzo in den italienischen Alpen.
Quelle: Lea Ypi – Aufrecht. Überleben im Zeitalter der Extreme
Es ist nicht allein die Irritation über das glückliche Lächeln der jungen Frau aus der albanischen Oberschicht, die sich mitten im Krieg im faschistischen Italien amüsiert. Es sind die hasserfüllten Kommentare auf Facebook, die unterstellen, Leman Ypi sei erst eine „faschistische Kollaborateurin“ und dann eine „kommunistische Agentin“ gewesen, die ihre Enkelin herausfordern.
Akten der albanischen Geheimpolizei
Ich fühle mich veranlasst, etwas richtigzustellen, die Geschichten, die sie mir anvertraut hat, weiterzugeben, die Wahrheit über ihr Leben auszusprechen. Aber kenne ich diese Wahrheit überhaupt?
Quelle: Lea Ypi – Aufrecht. Überleben im Zeitalter der Extreme
Lea Ypi macht sich auf die Suche nach ihrer Großmutter und geht in die Archive. Die von der berüchtigten albanischen Geheimpolizei Sigurimi angelegten Akten über ihre Großeltern Asslan und Leman sind 660 und 34 Seiten stark. Doch die Berichte der Spitzel helfen nicht weiter. Sie reihen nur Banalitäten aneinander. Aber die Enkelin gibt so schnell nicht auf, sie sucht auch in den Archiven von Saloniki, denn dort ist Leman groß geworden. Umsonst.
Das Schweigen in den Archiven ist lauter als jede Stimme, die sie zu erfassen vermögen.
Quelle: Lea Ypi – Aufrecht. Überleben im Zeitalter der Extreme
Osmanische Elite
Die Autorin findet eine sehr eigene Antwort auf das Schweigen der Archive und auf allerlei Ungereimtheiten, die sich erst am Ende auf absurde Weise aufklären. Gestützt auf die Erzählungen der Großmutter, ihre eigene Imagination und ein enormes erzählerisches Talent füllt Lea Ypi die Lücken und erfindet „eine höhere Wahrheit“. Entstanden ist so eine faszinierende literarische Biografie.
Die Leser tauchen ein in eine untergegangene Welt voller origineller, eigensinniger Figuren und abenteuerlicher Geschichten. Leman entstammt der osmanischen Aristokratie, ihr Großvater war ein Pascha.
Die Familie ist albanisch, obwohl sie nie in Albanien gelebt hat, sie spricht Griechisch – und als Teil der gebildeten Elite selbstverständlich Französisch. Mit 18 Jahren kehrt Leman diesem Leben den Rücken, weil sie unabhängig sein will, und geht nach Tirana – ein krasser Kontrast.
Elend und Reichtum gab es auch in Tirana, aber das Elend war schal, der Reichtum glanzlos und beides gleichermaßen stumpfsinnig. Öde, dachte sie; öde war das richtige Wort.
Quelle: Lea Ypi – Aufrecht. Überleben im Zeitalter der Extreme
Asslan, Sohn des albanischen Staatsoberhauptes
Hier lernt sie Asslan kennen, den Sohn des albanischen Staatsoberhauptes und Freund des jungen Enver Hoxha. In Tirana wird die Lage während des Krieges rasch immer undurchsichtiger und schwieriger. Als ein deutscher Geschäftsmann anbietet, ihr zur Flucht nach Italien zu verhelfen, lehnt sie ab.
Was soll sie von den neuen kommunistischen Machthabern zu befürchten haben? Schließlich waren Asslan und sie keine Kollaborateure. Sie liegt falsch. Später wird sie sich immer wieder an die Warnung erinnern.
Nicht Sie werden entscheiden, auf wessen Seiten Sie waren. Die werden darüber bestimmen.
Quelle: Lea Ypi – Aufrecht. Überleben im Zeitalter der Extreme
Ein literarisches Denkmal
Asslan verschwindet 15 Jahre hinter Gefängnismauern. Leman wird zur Zwangsarbeit aufs Land geschickt. Sie hat mit ihrer Entscheidung gehadert und diese doch immer für richtig gehalten. Die dahinterstehende Haltung drückt sich im deutschen Titel des Buches aus: „Aufrecht“.
Wie nah Lea Ypi ihrer realen Großmutter tatsächlich kommt, muss offen bleiben. Ihrer aus der Vorstellungskraft geborenen Heldin hat sie ein großartiges Denkmal gesetzt.


