

SWR Kultur lesenswert - Literatur
SWR
Die Sendungen SWR Kultur lesenswert können Sie als Podcast abonnieren.
Episodes
Mentioned books

Oct 28, 2025 • 4min
Sten Nadolny – Herbstgeschichte
Zugabteile sind bevorzugte Handlungsorte für den Erzähler Sten Nadolny. Das galt für sein Debüt „Netzkarte“ von 1981 ebenso wie zehn Jahre später für „Selim oder die Gabe der Rede“. Auch der neue Roman des inzwischen 83-jährigen beginnt mit einer Zugfahrt.
Zwei alte Schulfreunde – der zögerliche, sich für „hochsensibel“ haltende Schriftsteller Michael und der polternde, bajuwarisch unerschrockene Theaterregisseur Bruno – reisen im Jahr 1998 von Düsseldorf nach Zürich. Unterwegs lernen sie eine wunderschöne junge Frau kennen, so klug wie geheimnisvoll.
Als Michael saß, konnte er sie betrachten. Stockhübsch, dachte er – das war sein Ausdruck für Frauen, die er schön fand. Aber da war noch etwas anderes. Diese Art Gesicht meinte er von einem alten Porträt her zu kennen und suchte im Gedächtnis vergeblich nach dem Maler. Einer der Cranachs vielleicht, aber hatten die jemals eine dunkelhaarige Frau gemalt?
Quelle: Sten Nadolny – Herbstgeschichte
Damit ist ein zentrales Motiv eingeführt: Gesichter und das genaue Hinsehen. Während der Schriftsteller Michael darunter leidet, sich keine Gesichter merken zu können, besitzt die junge Frau, die sich Marietta Robusti nennt, ein außerordentliches visuelles Gedächtnis.
Sie erkennt auch die beiden semiprominenten Mitreisenden sofort. Sie hat kein Geld, wird verfolgt oder überwacht, so dass die beiden Männer beschließen, ihr zu helfen.
Gibt es selbstlose Hilfe?
Erzählt wird dieser Auftakt von einem dritten Schulfreund, Titus, einem Drehbuchautor. Er begegnet – und davon erzählt er im zweiten Kapitel – Michael auf einer Kreuzfahrt im Sommer 2024. Michael zieht ihn in seine Geschichte mit Marietta hinein, die er vier Jahre nach der ersten Begegnung im Zug auf einer Lesereise wiedertraf, ohne sie sofort zu erkennen.
Denn sie saß nun im Rollstuhl. Von sexuellen Übergriffen in ihrer Jugend schwer traumatisiert und von einer rätselhaften Krankheit gelähmt, brauchte sie nun Hilfe ganz anderer Art. Doch auch Marietta selbst versteht sich als Helferin, weil sie mit ihren scharfen Augen alles wahrnimmt, was um sie herum passiert.
Ich helfe, weil ich, wenn ich hingesehen habe, nicht wieder wegsehen kann. Und weil ich dann das tun muss, was sich richtig anfühlt. Und weil Nichtstun sich meistens falsch anfühlt.
Quelle: Sten Nadolny – Herbstgeschichte
Michael wird zu ihrem Vertrauten, Begleiter, väterlichen Freund. Doch scheitert er daran, den Stoff „Frau im Rollstuhl“ zum Roman zu verdichten. Was wäre auch das Thema? Etwa die Frage, ob es reine, selbstlose Hilfe überhaupt gibt?
Also bittet er Titus darum, sich der Sache anzunehmen, auch wenn am Ende kein Drehbuch daraus wird, sondern ein Roman – ganz so, wie es einst bei Nadolnys Debüt „Netzkarte“ gewesen ist.
Erzählen als Teppichknüpfen
Auch das Operieren mit Herausgeber- oder wie in diesem Fall einer Schriftstellerfiktion ist bei Nadolny nicht neu, wie er überhaupt für seine „Herbstgeschichte“ viele Fäden seines Werkes wieder aufgenommen und neu verwoben hat.
Fäden der Fiktion
„Herbstgeschichte“ lebt vor allem von der sorgfältig ausgetüftelten Konstruktion, vielleicht auch von der Spannung, weil man wissen will, was mit Marietta geschehen ist und ob es für sie eine Rettung gibt. Darauf darf man hoffen, weil Nadolny als Erzähler gerne verschiedene Möglichkeiten anbietet und es seinen Lesern überlässt, aus den Fäden der Fiktion ihre eigene Wahrheit zu weben.
Weniger geglückt sind die etwas hölzernen Dialoge, die leicht verschmockten Altherrenfiguren und die allzu geflissentlich eingearbeiteten politischen Gegenwartsbezüge. Aufgewogen wird das aber durch den erzählerischen Charme Nadolnys und seine Menschenfreundlichkeit, die aus jedem noch so tragischen Ereignis das Beste herauszuholen vermag.

Oct 28, 2025 • 4min
Katriona O’Sullivans Lebensgeschichte „Working Class Girl“
Armut hat viele Gesichter. Straßenkinder in fernen Ländern fallen einem ein, unterernährt, schmutzig und in zerlumpter Kleidung.
Katriona O’Sullivan ging in den 1980er Jahren in England ungewaschen und hungrig zur Grundschule. Das Mädchen hatte Nissen in den Haaren, roch penetrant nach Urin und hatte keine Unterwäsche zum Wechseln. Zuhause gab es für sie und die vier Geschwister weder Handtücher noch Seife und keine regelmäßigen Mahlzeiten.
Aufwachsen „ganz unten“
Für Katriona war das normal. Ihre Eltern waren heroinabhängig, Alkoholiker und Kettenraucher. Sie finanzierten ihre Süchte mit Drogenhandel und Prostitution. In der Sozialwohnung hingen ihre Junkie-Freunde ab, setzten sich den nächsten Schuss oder schliefen betrunken ihren Rausch aus. Unter dem Teppich lagen Drogenpäckchen und unterm Sofa blutverschmierte Spritzen.
Wie übersteht ein Kind Armut, Vernachlässigung und alltägliches Chaos?
„Aufstieg einer Frau von ganz unten“ ist der Untertitel des Buches, in dem die Autorin in einer Mischung aus Autobiografie, Selbstanalyse und Gesellschaftskritik ihren ungewöhnlichen Lebensweg reflektiert.
Schule als Lichtblick
Die Einschulung brachte für die kleine Bettnässerin Katriona einen ersten Lichtblick. Eine aufmerksame Lehrerin versorgte das Kind mit Waschsachen und frischer Unterwäsche.
Es war mir damals noch nicht bewusst, aber dieser kleine praktische Akt der Selbstfürsorge … ließ mich tief in meinem Innern begreifen, dass ich mein Schicksal selbst in die Hand nehmen konnte. Ich war selbst in der Lage dazu, mich frisch und sauber zu fühlen. Ich begriff, dass die Menschen gut und freundlich waren und ich die Fürsorge wert.
Quelle: Katriona O’Sullivan – Working Class Girl
Für Katriona war die Schule ein Fluchtpunkt. Hier gab es Bücher, kostenloses Schulessen, Anerkennung für gute Leistung und verlässliche Regeln. Ihr Zuhause war kein Schutzraum. Es wurde zur Hölle: Ein Bekannter vergewaltigte die sechsjährige Katriona brutal. Die Mutter quittierte dies mit der Bemerkung: »Tja …, na ja, mich hat er auch vergewaltigt.«
Katriona O’Sullivans Erinnerungen sind ein Protokoll des Versagens auf vielen Ebenen, aber auch ein Mutmacher, weil es inmitten des frühen Unglücks immer wieder Menschen gab, die an sie glaubten.
Die 16 jährige Schulabbrecherin musste sich als alleinerziehende Mutter um ihr Kind kümmern. Doch ein engagierter Lehrer sah ihr Potential, organisierte Geld für die Kinderbetreuung und überzeugte sie, die Mittlere Reife zu machen.
Katrionas langer Weg bis zum Psychologie-Studium am renommierten Trinity-College in Dublin ist voller Hürden und liest sich spannend, weil die Autorin die junge Frau von damals noch einmal ganz nah heranholt.
Die vielfältigen Folgen von Armut
Großbritannien ist geprägt von einem tief verwurzelten Klassensystem. O‘Sullivan weiß, wie wichtig staatliche Gelder für Förderkurse und Kinderbetreuung waren. Das Buch ist im englischen Original unter dem mehrdeutigen Titel „Poor“, also „Arm“, erschienen. O‘Sullivan schreibt dazu:
Armut bedeutete auch intellektuelle Armut, Armut an Anreizen, Armut an Sicherheit, an Beziehungen. Arm zu sein entscheidet darüber, wie man sich wahrnimmt, wie viel Vertrauen man hat, wie man sich sprachlich ausdrückt, welche Sicht auf die Welt man hat und wie man träumt.
Quelle: Katriona O’Sullivan – Working Class Girl
Warum der Kjona Verlag das sehr empfehlenswerte Buch unter dem irreführenden Titel „Working Class Girl“ auf den deutschen Markt bringt, ist unverständlich, denn O’Sullivans Herkunftsfamilie gehörte nicht zur Arbeiterschicht.
Gefühlsmäßig zählte sich die Autorin als langjährige Sozialhilfeempfängerin zur Unterschicht. Mit ihrer Promotion und der Professur ist ihr ein seltener sozialer Aufstieg im starren britischen Klassensystem gelungen, der wegen Kürzungen im Sozialsystem heute so kaum mehr möglich wäre.
„Mir gewidmet, der Siebenjährigen“, schreibt die Autorin in ihrer Widmung. Und allen, die solche Vorbilder brauchen, möchte man hinzufügen.

Oct 27, 2025 • 4min
Ein beeindruckendes Buch: Peter Wawerzineks „Rom sehen und nicht sterben“
Es beginnt mit einem Höhenflug. Fasziniert beobachtet der Ich-Erzähler, der Peter Wawerzinek wieder zum Verwechseln ähnlich sieht, die Flugkünste der Stare über der Stadt Rom. Eine gute Zeit scheint anzubrechen. Ein Stipendium in der Villa Massimo wurde dem Schriftsteller zugesprochen. Aber auf den letzten Metern dorthin erleidet er einen ersten Schwächeanfall.
Bald gibt es weitere Vorzeichen für kommendes Unheil: den Totalverlust eines Manuskripts und schließlich ein scheußliches Frieren mitten im Sommer. Wawerzinek ruft seinen Arzt in Berlin an, der zu einer schnellen Untersuchung drängt. Die bestürzende Diagnose: Krebs.
Beherberge neuerdings einen Mörder in mir. Hat sich feige in meinem Magen eingenistet. Frisst von meinem Fleisch. Trinkt von meinem Blut.
Quelle: Peter Wawerzinek – Rom sehen und nicht sterben
Hausfriedensbruch im eigenen Körper
Für die Chemotherapie und die Operation kehrt er „inkognito“ nach Berlin zurück, verkriecht sich in einer Einzimmerwohnung, um sich ganz auf sich selbst und den „Hausfriedensbruch“ in seinem Körper zu konzentrieren.
„Rom sehen und nicht sterben“ ist ein literarischer Abwehrzauber gegen den Tod, der nicht zum ersten Mal mit einladender Geste auf Wawerzinek zukommt. Seit Kindertagen gab es immer wieder lebensgefährliche Unfälle und Desaster. Und so hofft er, dem Tod auch diesmal von der Schippe zu springen.
Sein Roman ist das Überlebensbuch eines Menschen, der aus vielem Kraft schöpft – dem Jazz, der Natur und vor allem aus der Sprache, der Poesie und einer Fabulierlust, mit der sich die bittere Realität entschärfen lässt.
Setze den unerwünschten Begriff vor die Tür. Spreche ihm die Allmacht ab. Breche ihm die Klauen. Beschert mir weniger beängstigende Gedanken, sage ich Krätz zum Krebsgeschwür in mir. (…) Erweitere die Verniedlichungsform. Sage gar Min Schietkrätz, um das Übel somit, dreifach am Schopf genommen, zu zerstückeln.
Quelle: Peter Wawerzinek – Rom sehen und nicht sterben
Sich selbst singen
Flugs wird auch der Stadtteil Trastevere, in dem der Schriftsteller inzwischen lebt, in „Trostwerdemir“ umgetauft. So zelebriert Wawerzinek Lautmalereien, Wortwitze und Kalauer wie die „panische Treppe“, spielt mit Märchenmotiven und Gedichtzeilen. Spannkraft bekommt seine Suada durch die vielen Ellipsen, also die Verknappung der Sätze durch das Weglassen von Wörtern.
Oft fällt dabei jenes Wort unter den Tisch, das bei Wawerzinek doch über allen anderen steht: das „Ich“. Nicht zufällig zitiert er Walt Whitmans „Song of Myself“, wo es heißt: „Ich feiere mich selbst und singe mich selbst.“
Zu guter Letzt Liebe
Auch Wawerzinek „singt sich selbst“, auch er ist ein literarischer Selbsterforscher, der in den eigenen Schmerz- und Glückserfahrungen die Welt erschließt. Allerdings fehlen dem Roman über die monomane Selbstdarstellung hinaus andere interessante Figuren. Es gibt drei wichtige Bezugspersonen, die aber alle etwas Gesichtsloses haben:
Da ist der ominöse Briefpartner, an den sich der Text in direkter Ansprache richtet; da ist – wie ein guter Geist – die längst verstorbene Großmutter mit ihren Sprüchen und Lebensweisheiten.
Und da ist zu guter Letzt die neue Partnerin, die dem Finale des Romans euphorische Momente beschert: nicht nur den Krebs überstanden, sondern an einer Bushaltestelle die Liebe auf den ersten Blick gefunden, die sich auch noch ohne Komplikationen in einen glücksdurchleuchteten Alltag überführen lässt. Aber auch diese Frau wird mehr beschworen als beschrieben, als wäre sie eine Emanation des überschwänglichen Wawerzinek-Ichs.
Dennoch ist „Rom sehen und nicht sterben“ ein beeindruckendes Buch: anrührend in seiner schonungslosen Ehrlichkeit und existentiellen Tiefe, erheiternd durch den Witz und die quecksilbrige Sprachkunst. Hinzu kommen die Reize eines Rom-Reiseberichts, dessen Erzähler als „Stadtläufer“ die Zuckerstücke des Tourismus komplett ignoriert, um seinen ganz eigenen süßsauren „Romolog“ zu formulieren.

Oct 26, 2025 • 4min
Wütend, aber wiederholend: Tara-Louise Wittwers „Nemesis’ Töchter" bleibt an der Oberfläche
„Was Tara sagt“ – 700.000 Follower auf Instagram
Tara-Louise Wittwer erklärt und bespricht feministische Perspektiven auf ihrem Instagram-Account „Was Tara sagt“, sie kontert auf TikTok sexistischen Männern, die Dating-Tipps geben und postet humorvolle Clips, in denen sie einen Arzt spielt, der nicht weiß, was Endometriose bedeutet.
Sie versteht ihre Inhalte als Einstieg in das Thema Feminismus und will andere Frauen darin bestärken, strukturelle Ungleichheiten zu erkennen. Tara-Louise Wittwer beschreibt in ihrem Buch „Nemesis‘ Töchter“ nun auch ihren eigenen Weg, der sie von einer einverstandenen Mitläuferin des Patriarchats zu einer, wie sie sagt, wachen und wütenden Frau gemacht habe.
Deshalb der Titel Nemesis – die ursprünglich antike Göttin der ausgleichenden Gerechtigkeit wurde im Laufe der Zeit zu einer Rachegöttin umgedeutet und damit zum abschreckenden Frauenbeispiel.
Nemesis ist das passiert, was vielen Frauen früher oder später im Leben passiert: Ihr Handeln wurde fehlinterpretiert, sie wurde missverstanden, Opfer falscher Narrative, die sich verselbstständigt haben. Und so wurde aus ihr, deren Name wortwörtlich eigentlich "Zuteilung des Gebührenden" bedeutet, eine rachsüchtige und unkontrollierbare Göttin, die alles niedermäht, was ihr in den Weg kommt. Dieses Narrativ ist so faul, wie es alt ist. Es geht schneller, es ist eine Abkürzung, um vor allem weibliche Wut in irgendeiner Weise abzustrafen
Quelle: Tara-Louise Wittwer – Nemesis' Töchter. 3000 Jahre zwischen Female Rage und Zusammenhalt
Eine weibliche Wut, die tief sitzt
Nun soll die Wut aber wiederkehren und damit auch Gerechtigkeit für die Frauen – Gründe dafür gibt es genug und Wittwer zählt sie auf: Opfer von Gewalt zu sein, belächelt zu werden, den Mental Load als Ehefrau und Mutter zu tragen, Körper- und Schönheitsidealen unterworfen zu sein, doppelt so viel leisten zu müssen, um Karriere zu machen wie ein Mann – die Liste ist endlos:
Das alles ist female rage, das alles führt zu female rage. Zu einer Wut, die so tief in uns sitzt, dass sie seit Generationen vergraben ist. Es ist ein grundlegendes Gefühl von Einsamkeit, von sich-missverstanden-fühlen, von "Ich weiß eh, es wird wieder so sein."
Quelle: Tara-Louise Wittwer – Nemesis' Töchter. 3000 Jahre zwischen Female Rage und Zusammenhalt
Insta-Wutmonolog in Buchform
Mit allem, was Tara-Louise Wittwer in diesem zweihundert Seiten langen Insta-Wutmonolog in Buchform aufführt, hat sie vollkommen Recht. Nur leider bleibt der Eindruck von Erkenntnislosigkeit. Denn Frauen wissen, dass sie nachts alleine nicht durch den Park gehen können – Mütter wissen, dass sie überlastet sind – und wir wissen, dass Hexenverfolgungen im Mittelalter Massenmorde an Frauen waren.
Die vielen Aufzählungen, die oft wie eine Sammlung ihrer bisherigen Instagram-Beiträge anmuten, und die den frauenfeindlichen Phänomenen nur oberflächlich auf den Grund gehen, nehmen großen Raum ein. Da bleibt wenig Reflexion über Wege aus der vorhandenen Ungerechtigkeit. Hier kommt die Autorin über ein allgemeines Gefühl von Schwesterlichkeit und gegenseitiger weiblicher Unterstützung nicht hinaus.
Solidarität allein reicht nicht
Solidarität unter Frauen und Schwesterlichkeit ist kein Konsens, sondern ein Kompass, nach dem ich leben will. Frauen, die sich nicht gegenseitig unterstützen, werden geschwächt - nicht unbedingt als Individuum, aber strukturell, gesellschaftlich und politisch. Sobald ich auf der Straße unterwegs bin und eine Frau sehe, lächele ich sie an. Weil ich weiß, sie wurde auch schon belogen oder betrogen.
Quelle: Tara-Louise Wittwer – Nemesis' Töchter. 3000 Jahre zwischen Female Rage und Zusammenhalt
Deshalb bleibt am Ende die Frage offen, wie Female Rage genutzt werden kann, um Veränderungen herbeizuführen – Frauen, die sich auf der Straße zulächeln, werden die Gewalt des Patriarchats jedenfalls nicht stoppen können.

Oct 24, 2025 • 55min
Neue Bücher von Joy Williams, Thomas Pynchon, Jegana Dschabbarowa, Yavuz Ekinci, ein Paul Auster Comic und ukrainische Klassiker
Eigentlich längst überfällig: Ukrainische Klassiker in moderner deutscher Übersetzung. Die erscheinen nun als „Ukrainische Bibliothek“ im Wallstein Verlag. Neu entdecken kann man auch Paul Austers „New-York-Trilogie“ – jetzt als Comic.

Oct 24, 2025 • 14min
„Die Abwesenheit ukrainischer Kultur passt gut in die russische Propaganda“
Die Autorin Tanja Maljartschuk kennt die Gedichte von Lesja Ukrajinka seit ihrer Kindheit. Umso empörter ist sie, dass niemand in Deutschland das Werk von Ukrajinka kenne: „Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine dachte ich mir, das muss endlich geändert werden. Denn diese Abwesenheit der ukrainischen Kultur passt sehr gut in die russische Propaganda, dass die Ukraine keine Kultur habe.“
Tanja Maljartschuk, die in Iwano-Frankiwsk in der Ukraine geboren ist und in Wien lebt, kann seit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine nicht mehr selbst schreiben. So kam ihr die Idee für die „Ukrainische Bibliothek“.
Verbotene ukrainische Sprache
Zwei Bände sind bisher in der „Ukrainischen Bibliothek“ erschienen: Gedichte von Juri Andruchowytsch und Prosa von Lesja Ukrajinka.
Tanja Maljartschuk hat einen Band mit Erzählungen von Lesja Ukrajinka herausgegeben. Ukrajinka, die 1883 in Wolhynien geboren ist und im Alter von 42 Jahren gestorben ist, gehört für sie zu den lesenswertesten Autorinnen der literarischen Frühmoderne. Sie ist eine Frau, die sich schon mit ihrem Künstlernamen, der auf Deutsch „Lesja, die Ukrainerin“ bedeutet, vom russischen Imperium distanziert hat.
Ihre Botschaft, sagt Tanja Maljartschuk: „Ihr werdet mich nicht haben.“ Ganz bewusst habe sie damit in Kauf genommen, dass sie so keine bekannte russische Autorin wird. Noch deutlicher wird ihre Ablehnung dadurch, dass sie auf Ukrainisch schrieb, zu einer Zeit, als die Sprache verboten war.
Psyche der Frau in der Literatur
Lesja Ukrajinka war eine sehr belesene Frau, die neun Sprachen sprach und durch Europa reiste. In ihren Theaterstücken, Gedichten und Erzählungen kommen fast nur Frauenfiguren vor. Und das in einer Zeit, in der die Perspektive von Frauen in der Literatur quasi nicht vorhanden war, sagt Tanja Maljartschuk.
So habe Ukrajinka nicht nur aus der Perspektive von Frauen geschrieben, sondern auch über die Gewalt, die Frauen in ihrer Zeit erlebt haben.
Wie etwa in der Erzählung „Stadt der Trauer“. Diese spielt in einer Frauen-Irrenanstalt. Ukrajinka beschreibt ihren Wahnsinn und wie dieser sich äußerlich auswirkt mit großer Empathie:
„Das ist unglaublich neu für ihre Zeit. Sie hat sich auch sehr für Psychoanalyse interessiert und diese Geschichte geschrieben, bevor Sigmund Freud seine Abhandlungen veröffentlichte“; erzählt Tanja Maljartschuk begeistert.
Hoffnungen auf Europa
Insgesamt acht Bände sollen im Wallstein Verlag in der Reihe „Ukrainische Bibliothek“ erscheinen.
Tanja Maljartschuk hofft, dass die Klassiker, die größtenteils zum ersten Mal ins Deutsche übersetzt werden, nicht nur der ukrainische Literatur und ihre Autor*innen einen angemessenen Platz in der europäischen Literaturgeschichte verschaffen. Sondern auch, dass die Ukraine selbst zukünftig Teil der Europäischen Union werden könnte.

Oct 24, 2025 • 9min
„Meine Verteidigung ist ein Akt des Widerstandes“ – Autor Yavuz Ekinci vor Gericht
Druck- und Verkaufsverbot
In seinem Roman erzählt Ekinci von dem Konflikt zwischen dem türkischen Staat und der kurdischen PKK am Beispiel zweier Brüder: Ismail und Yusuf. Für die türkische Staatsanwaltschaft ist das Terrorpropaganda.
Der Roman ist schon 2014 in der Türkei erschienen, 2023, also fast 10 Jahre später, erließ ein Gericht dann ein Druck- und Verkaufsverbot, sogar Ekincis Wohnung wurde durchsucht. Dagegen läuft eine Beschwerde vor dem Verfassungsgericht und außerdem ein Verfahren gegen Ekinci selbst wegen „Propaganda für eine Organisation“.
Damit sei in aller Regel Terrorpropaganda gemeint, „meist benutzt für Äußerungen, die angeblich die PKK unterstützen. Die ist in der Türkei wie in Deutschland als Terrororganisation eingestuft“, sagt Pia Masurczak aus dem ARD Studio Istanbul.
Auf der Suche nach dem Bruder in den irakischen Bergen
Der Roman folgt Ismail, dem älteren Bruder, der in Deutschland lebt. Als sein Vater im Sterben liegt, beschließt er, nach Hause, in den Südosten der Türkei zu fliegen und nach seinem jüngeren Bruder, Yusuf zu suchen. Der ist „in die Berge gegangen“, ein üblicher Ausdruck für „sich der Guerilla anschließen“.
Ismail macht sich von Batman aus auf die Suche nach dem Bruder in den irakischen Kandil-Bergen, dort liegt das Rückzugsgebiet der PKK und anderer Gruppen. Sein Ziel: Für den Vater ein Lebenszeichen von Yusuf zu finden. In den Bergen trifft Ismail auf kurdische Guerilla-Kämpfer und andere Familien auf der Suche nach ihren Kindern.
Kein politischer Roman
Auf den nur 150 Seiten „steckt ganz viel drin“, sagt Pia Masurczak: „Ismails Angst vor Gewalt, Erinnerungen an Folter, Sehnsucht nach einem normalen Leben. Er verflucht den ganzen Konflikt und das Leid der Familien, deren Kinder in die Berge gehen, gleichzeitig hegt er Bewunderung für kurdische Kämpfer.“
Gleichzeitig sei das auch kein im engeren Sinne politischer Roman, so Pia Masurczak: „Ekinci agitiert nicht, er will sich nicht dezidiert auf eine Seite stellen.“ Der Roman bleibe ganz bei Ismail. Der Konflikt spiele sich auf der familiären, menschlichen Ebene ab. Dort werde er greifbar.

Oct 24, 2025 • 7min
Magische Bilder - Paul Austers New-York-Trilogie als Comic-Adaption
Elternsprechstunde mit Paul Auster
Manchmal kann die Wirklichkeit ganz schön unheimlich sein. Oder um es mit Daniel Quinn, dem Krimiautor und Helden aus Paul Austers erstem Roman „Stadt aus Glas“ zu sagen: „Nichts ist wirklich außer dem Zufall“. Ein Zufall – oder vielleicht doch die Vorhersehung – hat am Ende eines der herausforderndsten Comic-Projekte auf den Weg gebracht.
Und es beginnt damit, dass der Cartoonist Paul Karasik in den 1980er Jahren an einer Schule in Brooklyn Kunst unterrichtet. Einer seiner Studenten ist der Sohn von Schriftsteller Paul Auster:
Er habe gewusst, dass Auster Schriftsteller war und daraufhin die New York Trilogie gelesen – als Vorbereitung für die Elternsprechstunde, um Auster ein wenig zu schmeicheln. Nach dem Motto: „oh, ich habe ihr Buch gelesen, Ihr Sohn ist großartig. So was in der Art.“
Aber am Ende hätten sie überhaupt nicht über den Roman gesprochen, erzählt Paul Karasik, der sich zu diesem Zeitpunkt allerdings schon ein paar erste Skizzen zum Roman notiert hatte.
Von wegen Zufall - Ein chancenloser Paul Karasik
10 Jahre sollten diese Notizen in der Schublade liegen, bis sich plötzlich ein anderer berühmter Comic-Autor und befreundeter Kollege, nämlich Art Spiegelman, bei Paul Karasik meldet:
„Wir unterhielten uns, und er sagte: Ich helfe einem New Yorker Verlag, zeitgenössische Noir-Literatur in Comics zu adaptieren. Und das erste Buch, das wir ausgewählt haben, ist sehr schwierig. Mehrere Künstler haben es versucht, aber es sieht nicht so aus, als ob es machbar wäre. Aber es hat gewisse formale Aspekte und ich weiß, dass Dich so etwas interessiert. Und ich sagte: Okay, was ist das für ein Buch?
Und er sagte: City of Glass von Paul Auster. Und ich sagte: Oh, ich habe schon vor zehn Jahren damit angefangen. So ist es passiert. Es ist ein Projekt, bei dem ich keine Wahl hatte. Der Zufall, die Umstände haben mich ausgewählt. Genau wie bei einer Figur in Paul Austers Roman.“
Und mit einem ebenso schicksalshaften Anruf beginnt auch die Graphic Novel „Stadt aus Glas“. Mitten in der Nacht wird der Krimi-Autor Daniel Quinn aus dem Bett geklingelt. Der Anrufer hält Quinn fälschlicherweise für den Privatdetektiv Paul Auster und bittet ihn um Hilfe. Quinn, der nach dem Tod von Frau und Kind selbst in einer schweren Existenzkrise steckt, lässt sich darauf ein und trifft am nächsten Tag auf einen offensichtlich verwirrten jungen Mann, der Opfer eines brutalen Experiments wurde.
Sein eigener Vater, ein krankhaft besessener Sprachprofessor, hatte den Sohn als kleines Kind jahrelang in einem dunklen Raum weggeschlossen, um Forschungen zur Ursprache der Menschen anstellen zu können.
Großartige, zugleich verstörende Bilder
Für dieses Kasper-Hauser-Motiv, den Verlust der Sprache, der eigenen Identität, haben die beiden Comic-Illustratoren Paul Karasik und David Mazzucchelli ebenso grandiose wie zugleich beklemmende Bilder gefunden. Im Sessel sitzend, erzählt der junge Mann von seinem Martyrium als Kind.
Dabei geht der Hinweisstrich der Sprechblase auf Kamerafahrt: zunächst durch den Mund, dann durch den Schlund, um immer tiefer durch einen Strudel im Nichts zu versinken, neu aufzutauchen als Teil archaisch biblischer Erzählungen. Die babylonische Sprachverwirrung findet ihre Entsprechung in New Yorker Häuserfassaden, die sich immer wieder in sehr dynamische Labyrinthe verwandeln oder ganz auflösen.
Paul Auster habe damals eine klare Ansage gemacht, sagt Comic-Künstler Paul Karasik. Bei den Zeichnungen hatten die Illustratoren freie Hand, den Text, die Wörter, durften sie auf keinen Fall ändern.
„Das war eine sehr nützliche Einschränkung, denn sie brachte mich zum Nachdenken: Okay, ich muss die Worte wie ein Dichter sehr sorgfältig wählen und dann überlegen, was ich zeigen kann, anstatt es auszudrücken. Ich habe das ganze Buch fotokopiert. Dann habe ich zwei Buntstifte genommen – blau und rosa - und mit der einen Farbe habe ich die Wörter unterstrichen, die ich verwenden könnte.
Und dann habe ich mit einer anderen Farbe das unterstrichen, wofür ich keine Worte brauche, was aber Bilder ausdrücken können.“
Und diese Bilder, die übrigens sämtlich in schwarz-weiß gehalten sind, variieren beständig in Größe und Form, in Stil und Anmutung. Details werden herangezoomt, der Strich wechselt von geschwungenen, weichen Linien zu kantigen, harten Strichen, die zeitweise zu Piktogrammen erstarren. Kritzelmännchen tauchen wie Geister auf, ganze Flächen versinken im düsteren Schwarz.
Die innere Verwüstung des Menschen, die seelische Zerrissenheit der Großstadtmenschen finden hier ihren kongenialen Ausdruck.
Mal Bildergeschichte, mal Comic auf anspruchsvollem Niveau
Besonders dramatisch verändert sich die Ästhetik im zweiten Band der New York Trilogie „Schlagschatten“, den Paul Karasik diesmal mit Comic-Autor Lorenzo Mattotti umgesetzt hat. Das Layout erinnert an eine Bildergeschichte/ein Bilderbuch: eine große Zeichnung pro Seite ohne Sprechblasen, darunter sehr viel erzählender Text.
Wieder eine Detektivgeschichte, in der ein Mann namens Blue den Auftrag von White bekommt, Black zu beobachten. Ein recht ereignisloser Job, weil Black die ganze Zeit über unbeweglich an seinem Schreibtisch sitzt und liest. Mehr als ein Jahr lang geht das so, bis Blue der Verdacht beschleicht, das sei alles nur eine undurchsichtige Inszenierung seines Auftraggebers.
Die Illustrationen in dieser Geschichte gleichen erstarrten Momentaufnahmen: großflächig schraffierte Zeichnungen in grau bis dunkelschwarz, auf denen sich Black und Blue teilweise wie überdimensionierte Puppen abheben. Doch dann plötzlich wechselt das Layout: das eine große Bild zerfällt in eine klassische Comic-Streifen-Erzählung.
Die Perspektive verändert sich, es kommt mehr Dynamik ins Spiel. Der Formatwechsel reagiert auf ein wesentliches Motiv des Romans – auf die Natur des Lesens, meint Comic-Künstler Paul Karasik:
„Wir haben das Format geändert. Das Gehirn des Lesers soll ein wenig jonglieren. Die Idee ist: Die Veränderungen im Layout zwingen den Leser, die Art und Weise, wie er ein Buch liest - vielleicht bewusst oder eher unbewusst - neu zu bewerten –. So wie die Figur im Buch lernen muss, wie man einen Text liest, wie man die Bedeutung vom Inhalt erschließt.“
Der Wechsel zwischen verschiedenen Formaten und Größen, zwischen Bildsprache und unterschiedlicher Ästhetik erreicht mit dem dritten Band „Hinter verschlossenen Türen“, den Paul Karasik allein verantwortet, noch einmal ein ganz neues Level: faszinierend, seltsam, ausdrucksstark und anspruchsvoll.
Sehnsucht nach Sicherheit im Leben
Und auch wenn seit der Veröffentlichung der Comic-Adaption des ersten Bandes inzwischen 30 Jahre vergangen sind, sind die Fragen nach Identität, Orientierung und nach dem, was Menschsein ausmacht, heute vielleicht aktueller denn je.
Die Comic-Adaption macht die rätselhaften Verstrickungen, die Paul Auster in seiner New York Trilogie knüpft, auf solche eindrückliche Art sichtbar, dass schmerzhaft klar wird: die Sehnsucht nach Sicherheit im Leben ist vor allem eine trügerische.

Oct 24, 2025 • 6min
Eine Geschichte des Körpers
In ihrem Roman „Die Hände der Frauen in meiner Familie waren nicht zum Schreiben bestimmt“, erzählt die Autorin in elf Kapiteln ihre eigene Geschichte, die Traditionen ihrer aserbaidschanischen Familie und die Regeln des Patriachats anhand von Körperteilen. Kapitel Eins: Die Augenbrauen, dann - Augen, Haare, Mund, Schultern, Hände, Zunge, Rücken, Bein, Hals und Bauch.
Die Welt, die Jegana Dschabbarowa beschreibt, ist von Körpersprache geprägt und der Art und Weise, wie Körper auszusehen haben.
Böse Blicke machen sich ein Urteil, ungezupfte Augenbrauen signalisieren Jungfräulichkeit, die weibliche Zunge ist verstummt, die Haare der Frauen müssen lang sein und dürfen nicht geschnitten werden und der wichtigste Körperteil einer Frau ist der Bauch, der gebähren kann und ihre Hände, die die Familie versorgen:
Die wichtigsten Körperteile einer Frau waren die Hände: sie bereiteten Essen zu, wiegten Kinder, wuschen Wäsche, bügelten Männerhemden, wischten den Boden oder Staub – Frauenhände mussten immer beschäftigt sein,Sorglosigkeit stand nur Männerhänden zu. Jede Frau in unserer Familie wusste, dass die Hände ihr nicht zum Schreiben gegeben waren. Ihre Worte waren Taten: das tadellos aufgeräumte Haus präsentierte sich wie ein seltenes Manuskript.
Quelle: Jegana Dschabbarowa – Die Hände der Frauen in meiner Familie waren nicht zum Schreiben bestimmt
Frauenhände und Männerhände
Die Erzählerin lernt auch von Kind an, dass die Sprache der Hände einem Geschlecht zugeordnet sind – dass Frauenhände sich kümmern, dass Männerhände sich zu Fäusten ballen.
Wir schauten durch den winzigen Türspalt, und sein Zorn prägte sich in unseren Augen ein, seine Fäuste lehrten uns die wichtigste Regel in diesem Haus: Vater niemals wütend machen. Mit jedem Schlag gegen Mutters rechtlosen Körper prügelte er unsere Freiheit in einen Sarg, hämmerte diese Worte immer tiefer ein, warf Erde über unsere Hoffnungen, stampfte mit seinen großen Füßen unsere kleinen Körper fest in einer Kiste mit der Aufschrift ‚Frau‘.
Quelle: Jegana Dschabbarowa – Die Hände der Frauen in meiner Familie waren nicht zum Schreiben bestimmt
Eine Kulturgeschichte des Körpers
Es ist beeindruckend und faszinierend zu lesen, wie Jegana Dschabbarowa ihre Familiengeschichte als eine Kulturgeschichte des Körpers erzählt. Die Erwartungen, die an ihn gestellt werden; die traditionellen Handlungen und Gesten, die die Körperteile auszuführen haben. Sprache dient nur dazu, die Normen, Regeln und Verbote zu vermitteln:
Uns sagte sie, was wir anziehen sollten, wie wir uns verhalten sollten, was wir tun durften und was nicht, was wir sagen durften und was nicht, liebevolle Worte sagte sie uns nie. Meistens erteilte sie uns Anweisungen, wir wussten natürlich, dass sie uns liebte, aber ausgesprochen wurde es nie. Mama hatte keine Wertschätzung für Worte, und als sie erfuhr, dass ich Gedichte schreibe, war sie sehr verwundert. Es beunruhigte sie, dass ich nicht schweigen konnte, dass ich meinen Standpunkt immer äußern und verteidigen musste.
Quelle: Jegana Dschabbarowa – Die Hände der Frauen in meiner Familie waren nicht zum Schreiben bestimmt
Krankheit als Ausweg
Dieser über Generationen weitergegebene Kreislauf von unhinterfragten Traditionen wird radikal unterbrochen, als die Erzählerin lebensbedrohlich krank wird. Die Symptome der neurologischen Krankheit Dystonie, bei der Muskeln so verkrampfen, dass einfache Bewegungsabläufe wie Gehen, Sitzen, Sprechen und Essen nicht mehr möglich sind – verweigern die Fortsetzung der ihr angedachten Körperrolle:
Alles: meine Vergangenheit, die Vergangenheit der Frauen meiner Familie, die Geschichte eines einzelnen Körpers – das alles lag nun auf dem kalten Boden des Behandlungsraums. Ich wusste, dass ich nie wieder ein Teil der Vergangenheit sein würde, nie mehr so leben würde wie bisher, mir nie mehr lange Zöpfe flechten würde wie meine Großmütter, mir war ein vollkommen anderes Schicksal zugedacht.
Quelle: Jegana Dschabbarowa – Die Hände der Frauen in meiner Familie waren nicht zum Schreiben bestimmt
Die Krankheit sei für sie zur Freiheit geworden, erzählt sie. Sie habe nicht nur verstanden, dass sie einen Körper hat und somit Handlungsmacht, sondern auch, dass eine lebensbedrohliche Krankheit sich ähnlich anfühlt wie Diskrimierung. In beiden Fällen, wird dem Körper sein Dasein nicht zugestanden.
Allein die Anwesenheit eines nicht akzeptierten Körpers, seines Aussehens, wird für die Umgebung zu einer Provokation.
Schreiben bedeutet für Jegana Dschabbarowa deshalb auch Aufbegehren, in ihrem Ausweg aus dem Schweigen will sie Worte finden für das, was Generationen von Frauen vor ihr nicht aussprechen konnten.
Diskriminierung der aserbaidschanischen Diaspora in Russland
Mit ihrer Geschichte, die sie nicht nur um ihrer selbst willen erzählt, sondern auch um Wort zu ergreifen für alle Frauen in ihrer Familie, die ihre Gefühle nie ausgedrückt hätten, schreibt sie auch gegen die Unterdrückung und Diskriminierung der aserbaidschanischen Diaspora in Russland an.
So ist ihr Buch auch ein Versuch, verloren gegangenes, ausgelöschtes Wissen über die Aserbaidschanische Community, ihre Traditionen und Bräuche wieder herzustellen, nicht zuletzt als literarischer Widerstand gegen russische Unterdrückung. Ein tief poetischer, literarisch außergewöhnlicher und existenzieller Roman, der daran glaubt, dass Sprache eine Zuflucht sein kann.

Oct 22, 2025 • 4min
Linn Stalsberg – Krieg ist Verachtung des Lebens
Die norwegische Journalistin und Soziologin Linn Stalsberg hat ein Buch zum Luftholen verfasst, frischer Wind weht aus ihren Zeilen. Es ist ein zorniges Buch gegen den vorlauten, den vorherrschenden Zeitgeist in kriegsertüchtigten Aufrüstungszeiten.
Ein Buch, das den Blick wendet und an Friedensfreunde und Kriegsverweigerer erinnert. „Ein Essay über den Frieden“ nennt sich die Studie im Untertitel bescheiden, 300 Seiten im Geiste der Abrüstung, der Titel: „Krieg ist Verachtung des Lebens“.
Es ist kaum zu begreifen, dass wir in einer Epoche, in der die Welt durch den alles Leben bedrohenden Klimawandel zu kippen droht, riesige Summen für die Entwicklung von Waffen ausgeben, die Menschen und Umwelt zerstören. Es ist, als wäre die Menschheit unbewusst in eine Art Selbstmordspirale geraten, in der Krieg und Klimakrise sich gegenseitig verstärken und einem Apathie und Ohnmacht grenzenlos vorkommen.
Quelle: Linn Stalsberg – Krieg ist Verachtung des Lebens
Dem Krieg ein Ende bereiten
Es gab, selbst im kriegerischen 20. Jahrhundert, mahnende Stimmen von Spitzenpolitikern. In seiner Abschiedsrede warnte der US-amerikanische Präsident Dwight „Ike“ Eisenhower vor dem „militärisch-industriellen Komplex“. Und er fügte im Januar 1961 hinzu:
Jedes Gewehr, das hergestellt wird, jedes Kriegsschiff, das ins Wasser gelassen wird, jede Rakete, die abgefeuert wird, bedeutet einen Diebstahl an jenen, die hungrig sind und nichts zu essen haben, und an jenen, die frieren und keine Kleidung haben.
Quelle: U.S. President Dwight D. Eisenhower in seiner "Chance for Peace speech"
Gewaltlosigkeit und Wehrdienstverweigerung
Mit welchem Recht maßen sich Staaten und ihre sogenannten Volksvertreter an, die Grenzen zu schließen und jungen Männern den Weggang zu verbieten, weil sie nicht sterben wollen oder andere Männer totschießen möchten? So geschehen in der Ukraine. Und hätten israelische Politiker nach dem Massaker der Hamas vom 7. Oktober 2023 nicht andere Möglichkeiten gehabt, als komplette Zerstörung und verbrannte Erde zu hinterlassen?
Israel zerstört Gaza, um die Hamas zu zerschlagen. Doch gleichzeitig wird so viel mehr zerstört: die Hoffnung auf ein friedliches Zusammenleben im Nahen Osten in der Zukunft, der Glaube an eine Zwei-Staaten-Lösung, das Vertrauen in die Autorität der Vereinten Nationen und das, was wir gern als moderne Idee von Wert und Würde aller Menschen betrachten. Der Stein, der Gaza zerschmettert, wird in der Zukunft Wellen schlagen, deren Ausmaß unsere Vorstellungskraft übersteigt.
Quelle: Linn Stalsberg – Krieg ist Verachtung des Lebens
Krieg gegen den Planeten
Linn Stalsberg gibt einen Überblick über Gewaltlosigkeit in Religionen; sie skizziert die Geschichte von pazifistischen Protesten und Widerstandsformen im 20. Jahrhundert; sie geht der Frage der Gewalt nach; sie trägt Informationen zum Thema Kapitalismus und Krieg zusammen, streift die Themen Kriegspropaganda und Lobbyismus der Waffenproduzenten, und sie spricht sich gegen weibliche Wehrpflicht aus:
Diese führe nicht zur Frauenbefreiung, argumentiert Stalsberg, sondern stärke eher die Vorherrschaft des Mannes. Im vorletzten Kapitel, „Krieg in Zeiten der Klimakrise“, liefert Stalsberg empörende, erschütternde Zahlen.
Im Jahr 2022 wurden die weltweiten Militärausgaben auf 2240 Milliarden Dollar (knapp 2 Billionen Euro) geschätzt und machten rund 2,2 Prozent des weltweiten BNP (Bruttonationalprodukt) aus. Laut Welternährungsprogramm würden 12 Prozent dieses Betrags ausreichen, um den weltweiten Hunger zu beenden.
Quelle: Linn Stalsberg – Krieg ist Verachtung des Lebens
Linn Stalsberg beharrt darauf, dass Kriege nicht im Wesen des Menschen angelegt seien, vielmehr in seiner Kultur. Die Autorin trägt ihre Argumente nüchtern vor und stützt sie mit überbordendem Material; sie erinnert daran, dass es die Vielen seien, die alles in der Hand hätten, würden sie aufstehen und sich lauthals wehren.
Frauen aber bleiben in dieser Bestandsaufnahme einer Frau eher Randfiguren, sie verbergen sich in den weißen Seiten der Geschichtsschreibung. Stalsbergs Essay bietet reichhaltiges Material für gegenwärtige Debatten.


