SWR Kultur lesenswert - Literatur

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Oct 21, 2025 • 4min

Kaska Bryla – Mein Vater, der Gulag, die Krähe und ich

Der Vater, ein polnischer Widerstandskämpfer, überlebte von 1945 bis 1948 drei Jahre in einem stalinistischen Gulag. Die Tochter überlebte im Jahr 2020 ihre Corona-Infektion, zusammen mit einer jungen Krähe, die sie großzog. Die Tochter ist die zwischen Wien und Warschau aufgewachsene Schriftstellerin Kaśka Bryla. Ihr Vater Zygmunt Bryla starb 2009. Ihm und sich selbst hat sie ihr Buch „Mein Vater, der Gulag, die Krähe und ich“ gewidmet, nachdem sie in den Jahren vor seinem Tod längere Gespräche mit ihm geführt hatte, die nun als seine Erzählungen den interessanteren Teil dieser merkwürdigen Zusammenstellung ausmachen.   Verdämmernde Gedanken  Alles an diesem Buch ist autobiographisch, auch die Freundschaft mit der Krähe Karl. Sie dient der Autorin mehrfach als Spiegel ihrer eigenen Situation. Beide sind krank. Die Krähe ist am Flügel verletzt, kann nicht fliegen und muss gefüttert werden. Kaśka Bryla ist lesbisch, litt zu dieser Zeit an Long Covid und lebte auf einem Wagenplatz in Leipzig, wo sie im Liegenstuhl vor sich hindämmerte. Vielleicht macht diese Lage die Gedanken so unscharf.   Eigentlich sind queere Menschen in dieser Gesellschaft so wenig vorgesehen wie kranke Tiere in der Wildnis, wir sind der Auswurf eines momentanen Lapsus, wahrscheinlich möchte ich deshalb so sehr, dass es Karl schafft, um der Welt etwas zu beweisen. Quelle: Kaśka Bryla – Mein Vater, der Gulag, die Krähe und ich Auch in der Tatsache, dass das Geschlecht einer Krähe nur schwer zu bestimmen ist und Karl durchaus auch ein Weibchen sein könnte, erkennt die Autorin sich selbst:   Als würden alle Lebewesen mit Flügeln denselben Gesetzmäßigkeiten folgen, als wäre ich, seitdem mir Brüste gewachsen sind und monatlich Blut aus mir fließt, automatisch eine Frau.  Quelle: Kaśka Bryla – Mein Vater, der Gulag, die Krähe und ich Derlei Kurzschlüsse mögen noch erträglich sein. Unangemessen und geschmacklos wird es, wenn auch das Schicksal des Vaters im Gulag der Tochter als Spiegelbild der eigenen Befindlichkeit dient. Nicht nur ihre Erkrankung schließt sie mit dessen Überlebenskampf kurz, sie sieht sich so wie ihn als Widerstandskämpferin. Doch während er als Patriot zuerst gegen die Nazis und dann gegen die Kommunisten für ein unabhängiges, demokratisches Polen kämpfte, geht es ihr um eine „offene Gesellschaft“, in der sie als queere Person „so sein kann wie ich will“. Das ist schon deshalb nicht dasselbe, weil der Vater tatsächlich bereit war, sein Leben „für Polen“ zu opfern, während es der Tochter um sich selbst und ihre Minderheitenrechte geht.   Schreiben als Aufblasen eines Luftballons  Auch wenn sie dazwischen kein Gleichheitszeichen setzt, ist ihr Montage-Verfahren so angelegt, dass Krankheit, Lesbentum, Genderfragen, Widerstand, Gulag und ein Herz für Tiere miteinander eine literarische Verbindung eingehen, die durch nichts gedeckt ist. So kommt es auch sprachlich zu peinlichen Ausfällen, wenn es etwa heißt, dass Stalin seine „Gulags über ganz Russland verstreute wie Puderzucker über einen Gugelhupf.“ Da wundert es dann auch nicht mehr, dass die Tochter dem Vater widerspricht, wenn er ihr Schreiben mit einem Puzzlespiel vergleicht.  Die Herstellung dieses Manuskripts gleicht eher dem Aufblasen eines Ballons, antworte ich, immer wieder muss ich Pausen machen, um Luft zu holen, dann puste ich weiter, manchmal entweicht Luft, manchmal blase ich und es tut sich nichts, meine Lunge ist schwach. Quelle: Kaśka Bryla – Mein Vater, der Gulag, die Krähe und ich Das Ergebnis dieser Herstellungstechnik ist eine stilistische Aufgeblasenheit, die sich im Vermeiden von Punkten manifestiert. Die ersten Kapitel bestehen aus einem einzigen Satz oder vielmehr aus der Aneinanderreihung von Sätzen, die durch Kommata anstelle von Punkten voneinander getrennt sind. Mit der Sache hat das nichts zu tun. Zur Kurzatmigkeit einer an den Coronafolgen Leidenden würden kurze Sätze mit längeren Atempausen viel besser passen. Aber das ist noch das kleinste Problem an dieser zusammengeschusterten Arbeit.
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Oct 20, 2025 • 4min

Christoph Engemann – Die Zukunft des Lesens

20.000: So viele Bücher könnte ein Mensch im Laufe seines Lebens lesen, wurde einmal errechnet. Nun ja. Vermutlich gab es noch nie viele Leserinnen oder Leser, die auch nur in die Nähe dieser Zahl gekommen sind. Heutzutage mehren sich aber die Anzeichen, dass Bücherliebhaber generell zu einer aussterbenden Spezies gehören. Selbst in den Geisteswissenschaften scheint der Griff zum Buch aus der Mode gekommen zu sein.  Auf die Frage, wer denn die Texte für die heutige Sitzung gelesen hat, heben die üblichen zwei bis drei Studierenden ihre Hand, der Rest guckt betroffen oder indifferent in die Gegend. »Wer von Ihnen hat ein Bücherregal?«, entfuhr es mir vor nicht allzu langer Zeit in einem solchen Moment.  Quelle: Christoph Engemann – Die Zukunft des Lesens Neue Lese-Dienstleister  Eine Frage, die die Hälfte seiner Studierenden nicht einmal verstanden habe, so Christoph Engemann. Dabei gehört der Bochumer Medienwissenschaftler durchaus nicht zur Riege der Alarmisten. In seinem neuen Buch mit dem Titel „Die Zukunft des Lesens“ versucht er vielmehr neugierig-beschreibend die sich abzeichnenden Veränderungen zu verstehen. Und die sind ebenso widersprüchlich wie komplex.   So wird nämlich einerseits heute mehr gelesen und geschrieben als je zuvor. Stichwort Social Media. All das Liken, Posten und Kommentieren verschlingt schließlich tagtäglich zahllose Stunden. Der Lesestreik betreffe laut Engemann vielmehr primär literarische oder vor allem wissenschaftliche Bücher, Texte also, für deren Lektüre man Zeit aufwenden und sich gedanklich anstrengen muss. Was solche Werke angeht, so lassen heute viele lesen, sie delegieren die Lektüre quasi. An wen? Einerseits an die KI, die uns in Sekundenschnelle Zusammenfassungen in jeder gewünschten Länge liefern kann. Andererseits, und das ist der spannendste Teil von Engemanns Analysen, an einen neuen Typ von Vermittlern, gewissermaßen die Erben der Rezensenten und Kritiker. Diese neuen Lese-Dienstleister finden sich auf Plattformen wie YouTube oder Spotify und erklären in Videos oder Podcasts alles, was man wissen will: sei es Kants kategorischer Imperativ, Heisenbergs Unschärferelation oder Luhmanns Systemtheorie.   Podcasthörer:innen und Konsument:innen von Long-form-YouTubeVideos verlassen sich darauf, dass andere für sie lesen und die Konzentrationsleistung übernehmen. Es sind Leser:innen, die selbst Lesen könnten, aber lesen lassen. Quelle: Christoph Engemann – Die Zukunft des Lesens Vom „Schreibzeug“ zum „Sprechzeug“  Solche Formate bezeichnet der Universitätsdozent durchaus anerkennend als „neue Vorlesung“. Schließlich werde hier, oft unter akribischer Angabe von Quellen, in der Regel seriös Wissen vermittelt. Aber eben auf eine Weise, die meist unterhaltsam ist und uns – im Unterschied zum Lesen – erlaubt, nebenbei anderen Tätigkeiten nachzukommen, egal ob im Haushalt oder Sport. Was sich dabei abzeichne, so Engemann, sei eine Verschiebung weg von der Schriftlichkeit hin zu Mündlichkeit. Erst die KI hätte es ermöglicht, mündliche Äußerungen jederzeit bei Bedarf in Schrift umzuwandeln und dadurch wiederauffindbar zu machen. Weshalb Engemann den Begriff „Sprechzeug“ einführt – in Analogie zu „Schreibzeug“. Lohnt die Mühe Jungen Menschen, die ihre Brötchen im Bereich der Wissensvermittlung verdienen wollen – und die früher vielleicht Journalisten oder Buchkritiker geworden wären –, rät der Medienwissenschaftler, durchaus konsequent, ihr Glück heute lieber im Bereich Podcast zu suchen.   Ob Christoph Engemann selbst auf diesen Plattformen Erfolg hätte, sei allerdings dahingestellt. Dazu ist der Duktus seiner medienwissenschaftlichen Reflexionen zu sehr dem akademischen Bereich verhaftet und das Abstraktionsniveau seiner Wissenschaftsprosa zu hoch. Engemanns „Die Zukunft des Lesens“ verlangt seiner Leserschaft also einige Mühe ab. Aber eine, die sich lohnt, so erhellend sind Engemanns Beobachtungen. Wer sich diese Mühe aber nicht antun will, darf immerhin hoffen: darauf nämlich, dass ihm ein findiger YouTuber Engemanns Thesen nacherzählt.
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Oct 19, 2025 • 6min

Historiker Karl Schlögel erhielt den Friedenspreis des deutschen Buchhandels

Karl Schlögel erhielt in diesem Jahr den Friedenspreis des deutschen Buchhandels. Der Osteuropa-Historiker wurde geehrt, weil er „in seinem Werk empirische Geschichtsschreibung mit persönlichen Erfahrungen verbindet“. Eindringlich warnte er in seiner Dankesrede in der Frankfurter Paulskirche vor einem expandierenden Russland. Die Laudatio hielt die aus Kiew stammende Autorin Katja Petrowskaja. Hören Sie eine Einordnung von SWR-Literaturchef Frank Hertweck.
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Oct 19, 2025 • 59min

Mit neuen Büchern von Friedrich Ani und Annette Hug und aktuellen Berichten von der Frankfurter Buchmesse

Was war wichtig auf der Frankfurter Buchmesse? Wir besprechen Themen und Trends. Außerdem haben wir Krimiautor Friedrich Ani zu Gast. Und die Tagalog-Übersetzerin Annette Hug.
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Oct 19, 2025 • 14min

Die einzige Filipino-Übersetzerin auf der Buchmesse: Annette Hug öffnet neue Perspektiven

Wie ist das, wenn sich die Philippinen auf der größten Buchmesse der Welt präsentieren? Und ihre Bücher mitbringen? Wenn es aber nur eine einzige deutschsprachige Übersetzerin aus dem Tagalog gibt? Tagalog ist die Sprache des Großraums Manila und wurde 1987 auf dem vielsprachigen Archipel zur zweiten Nationalsprache gemacht und heißt seither auch offiziell Filipino. Annette Hug heißt die Frau, die momentan als einzige aus dem Tagalog ins Deutsche übersetzt. „Es ist wichtig, dass wir Gruppen bilden!“ Hat Annette Hug auf der Messe viel zu tun? „Viel ist ein Euphemismus!“, lacht die Zürcherin. Sie hofft dringend auf neue Kolleg*innen. Auf der Messe wurde sie schon angesprochen und gefragt, wie man Tagalog-Übersetzerin wird. Annette Hug mag das: „Es ist so aufregend, diese neuen Netzwerke zu knüpfen!“ Auf ein Alleinstellungsmerkmal legt sie keinen Wert: „Es ist wichtig, dass wir Gruppen bilden!“ Plastikfolie gegen Ameisen und Termiten Der Gastland-Pavillon auf der Messe besitzt zwei Podien, auf denen Programm stattfindet, aus mehreren Leseinseln aus Holz und Bambus sowie aus vielen Stühlen aus Rattan. Lokale Materialien. In jeder Leseinsel kann man sich niederlassen und in den ausgestellten Büchern stöbern. Als sie den Pavillon zu Beginn der Buchmesse erstmals betrat, fand Hug ihn ein bisschen zu leer. „Doch dann setzte ich mich in so eine Insel, die wie ein kleines Häuschen ist. Da fühlte ich mich plötzlich ganz geboren“, erzählt sie. „Da liegen neue, aber auch schon ältere Bücher aus, die teils in Plastikfolie eingeschlagen wurden. Das ist wegen der Luftfeuchtigkeit auf den Philippinen und auch wegen der Ameisen und der Termiten. Das hat mich so angerührt!“ „Auch in meinem eigenen Schreiben denke ich inzwischen mehrsprachig.“ Annette Hug lebte schon in den 1990er Jahren für einige Jahre auf den Philippinen. Zum Übersetzen kam sie aber erst sehr viel später. Eigentlich ist sie Autorin. Vier Romane hat sie bereits geschrieben, darunter den Roman „Wilhelm Tell in Manila“. Das ist ein Roman, der davon erzählt, wie Nationalheld José Rizal Ende des 19. Jahrhunderts Schillers „Wilhelm Tell“ ins Tagalog übertrug. „Mittlerweile bin ich so richtig auf den Geschmack gekommen und kann das Schreiben und das Übersetzen gar nicht mehr auseinanderhalten.“ Für ihre Übersetzungsarbeiten hat sie ein eigenes Romanprojekt unterbrochen, das sie nach der Buchmesse aber wieder aufgreifen möchte. „Ich merke übrigens, dass ich auch im eigenen Schreiben inzwischen mehrsprachig denke. Das Übersetzen beeinflusst mein Schreiben.“ Schon ein paar neue Autor*innen im Köcher Doch auch neue Übersetzungen möchte sie anfertigen. Die Buchmesse wirkt auf sie sehr inspirierend, vor allem die vielen Begegnungen. Oft denkt sie: „Wow, was man noch alles machen kann!“ Ein Problem aber ist: „In Europa ist der Buchmarkt stark auf Romane fixiert. Auf den Philippinen aber schreiben viele Autoren niemals einen Roman, sondern sehr oft Gedichte und Kurzprosa.“ Zuletzt hat sie die Autor*innen Merlie M. Alunan, Paring Bert und Rowena P. Festin entdeckt. Noch nie von ihnen gehört? Das könnte sich vielleicht ändern, wenn die Messe vorbei ist und Annette Hug wieder Zeit hat.
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Oct 19, 2025 • 12min

Die Frankfurter Buchmesse 2025: „Kein größeres Messe-Podium ohne KI-Debatte“

Die Buchmesse ist zufrieden. Mit ca. 230.000 Lesefans und 118.500 Fachbesuche*innen kamen mehr Menschen zur Messe als im vergangenen Jahr. Das ist klasse, darf aber auch nicht darüber hinwegtäuschen, dass Standgebühren steigen und es in den Ecken einiger Hallen nach wie vor Leerstand gibt. „Der Buchmarkt steckt in einer Krise“, findet SWR-Literaturredakteur Carsten Otte. Und in Hinblick auf allgegenwärtige Essstände, Tombolas und Instagram-taugliche Fotowände: „Da hilft es auch nicht, dass die Frankfurter Buchmesse eine Eventisierung erlebt.“ Lieferschwierigkeiten bei wichtigen Büchern Auf der Buchmesse wurde viel und wohlwollend über den diesjährigen Deutschen Buchpreis an Dorothee Elmiger gesprochen. Und auch darüber, dass es bei den neuen Büchern etwa von Dorothee Elmiger, Götz Aly oder Thomas Pynchon gerade Lieferschwierigkeiten gibt. Das liegt daran, dass in den letzten Jahren viele Druckereien geschlossen haben und es zudem an Fachkräften im Druckgewerbe mangelt. Das Thema KI treibt die Messe um „Das alles bestimmende Thema auf der Buchmesse aber ist das Thema KI“, findet Carsten Otte. „Kein größeres Podium auf der Messe kommt ohne eine KI-Debatte aus.“ Literaturästhetische, aber auch juristische Fragen wurden auf etlichen Podien besprochen, sagt er: „Wie kann Europa reagieren, wenn hier das Urheberrecht verletzt wird, die verantwortlichen Tech-Firmen aber in den USA sitzen?“ Israelische und arabische Verlage auf der Buchmesse Besonders anregend ist jedes Jahr ein Spaziergang durch die Hallen der Internationalen Aussteller. Ursprünglich war ein gemeinsamer Pavillon von Deutschland und Israel geplant, um das 60-jährige Jubiläum der diplomatischen Beziehungen zu feiern. Dieser wurde aber im Dezember 2024 von deutscher Seite abgesagt, was zu diplomatischen Verstimmungen führte. Trotzdem waren israelische Verlage auf der Buchmesse vertreten. „Ich fand es sehr beruhigend, dass sowohl arabische als auch israelische Verlage auf der Buchmesse präsent waren“, sagt Carsten Otte. „Denn gerade in dieser angespannten Weltlage ist es wichtig, dass die Verlage anwesend sind, um ein Gespräch auf der Ebene von Literatur und Buchkultur zu ermöglichen.“ Vor den Toren der Buchmesse fand zeitgleich eine kleine palästinensische Gegenmesse als Protestaktion statt. Ukraine: Buchpräsentation in Uniform Besondere Aufmerksamkeit bekommt seit Beginn des Ukraine-Kriegs auch der ukrainische Gemeinschaftsstand auf der Messe. „Seit einigen Jahren besuche ich auch den Stand der Ukraine“, erzählt Carsten Otte. „Dieses Jahr hatte ich da ein sehr berührendes Erlebnis, weil ich mit Vladyslav Holovin einen Journalisten und Sachbuchautor kennengelernt habe, der sein Buch in Uniform vorstellte.“ Holovin wurde von den ukrainischen „Cultural Forces“ präsentiert. Er stellte seinen Erfahrungsbericht von der Front vor. Die nächste Frankfurter Buchmesse findet vom 7.-11. Oktober 2026 statt.
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Oct 19, 2025 • 7min

Unpolitisch, aber stark: Die Gewinner des Deutschen Jugendliteraturpreises 2025 in Frankfurt

Eher unpolitisch – so kann man die Gewinnerinnen und Gewinner des Deutschen Jugendliteraturpreises zusammenfassen, zumindest dann, wenn die Preise der Kritikerjury im Fokus stehen. Gute Bücher, herausragende sogar, aber eben nicht die politischen und das, obwohl der Anteil an politischen Büchern unter den nominierten Titeln sehr hoch war. Die Kraft der Fantasie, der Wert der Freundschaft und echter Begegnungen, die Möglichkeiten eines Perspektivwechsels und des Humors – das sind die Themen der Gewinnertitel. Es sind die trostspendenden Bücher, die die Kritikerjury auswählte. Und das, obwohl Jan Standke, Vorsitzender des Arbeitskreises für Jugendliteratur, auf der Preisverleihung betonte: „Der Deutsche Jugendliteraturpreis ist nicht nur die wichtigste Auszeichnung für Kinder- und Jugendliteratur in Deutschland, er ist auch ein gesellschaftliches Bekenntnis zu einer Literatur, die jungen Menschen etwas zutraut. Denn Kinder- und Jugendliteratur ist keine pädagogische Beilage, sondern sie ist Weltdeutung in Sprache und Bild.“ Auffällig dabei ist außerdem der immer stärker werdende Trend zu einem größeren und vielfältigeren Bildanteil durch alle Kategorien hinweg: mehr Illustration und Gestaltung im Kinder- und Sachbuch und zum Teil auch im Jugendbuch. Ein Bilderbuch ganz ohne Worte Auch Jan Standke hob die Wichtigkeit von Bildern hervor: „Lesen ist eine Zukunftskompetenz. Mehr noch: Lesen ist eine Überlebenskompetenz in einer Welt, die sich rasant verändert. Politisch, gesellschaftlich, technologisch und in der die Bilder immer wichtiger werden. Die herausragenden Bilderbücher und Illustrationen, die heute unter den Nominierten sind, zeigen: Lesen heißt auch sehen. Wer Bilder versteht, lernt zu unterscheiden zwischen Wirklichkeit und Inszenierung.“ Eine wichtige Kompetenz. Und Bilder lesen lernen, das fängt schon im Kleinkindalter an. So wie bei „Regentag“ vom Illustrator Jens Rassmus, Gewinner in der Kategorie Bilderbuch. „Regentag“ ist ein herausragendes Bilderbuch ab 4 Jahren. Darin langweilen sich zwei Kinder zuhause. Die beiden und ihre Umgebung sind zunächst in schwarzen Linien gezeichnet. Als sie langsam ins Spiel finden, entfalten sich kräftige Acrymalereien auf den Seiten, die die Fantasiewelt der Kinder in satten Farben zeigt. Ein Buch, das die Kraft und Wohltat von Fantasie feiert und Kinder in ihrem Spiel ernst nimmt. Kindern etwas zumuten In der Kategorie Kinderbuch gewinnt der Roman „Himmelwärts“ von Autorin Karen Köhler und Illustratorin Bea Davies. Er richtet sich an Kinder ab 10 Jahren und mutet ihnen die intensive Auseinandersetzung mit dem Tod zu, denn die Mutter des einen Mädchens ist gestorben. Ernste Themen sind wichtig für Kinder, findet Iris Kruse, die Vorsitzende der Kritikerjury: „Der Zumutungsdiskurs ist sehr wichtig beim Nachdenken über die Frage ’Was ist eigentlich gute Kinderliteratur?‘. Entscheiden wir uns dafür, dass Kindern alles zuzumuten ist, was das Leben eben ausmacht, dann werden Gestaltungsfragen und Fragen des ‚Wie‘ des Erzählens sehr groß.“ „Himmelwärts“ mutet Kindern auf einfühlsame und literarische Weise die Auseinandersetzung mit Tod und Trauer zu, die nun einmal auch Lebensrealität für viele Kinder ist. Und tatsächlich nimmt sich der Roman auch den Raum für eine kunstvolle Gestaltung. Illustratorin Bea Davies fügt dem Text größtenteils abstrakte, aber sehr stimmungsvolle Bilder in verschiedenen Drucktechniken hinzu. „Himmelwärts“ erzählt vom Erinnern, vom Forschen als kindlicher Lieblingsbeschäftigung, von Freundschaft und der Verbindung mit dem, was mit dem Verstand nicht zu greifen ist. Denn die beiden Freudinnen versuchen Kontakt zu Tonis verstorbener Mutter aufzunehmen. Neue Perspektiven Torsten Casimir, Sprecher der Frankfurter Buchmesse, stellte heraus, wie wichtig eine Freiheit in Form und Themen in der heutigen Zeit vor allem für die Jungendliteratur ist. „Der Kinder- und Jugendliteratur geht es eigentlich sehr gut und sie wächst. (…) aber es gibt natürlich in autokratischen Systemen den Versuch, selbst darüber entscheiden zu wollen, was Kinder lesen sollen und Jugendliche und was nicht. Und wir haben hier gerade gehört, wie widersinnig das ist. Gerade Jugendliteratur ist nicht Pädagogik und ist nicht betreutes Lesen, sondern es ist eben Literatur und es führt in die Weite und es schlägt uns vor, neue Sichten auf die Welt zu bekommen, alternative Sichten.“ Die Welt anders sehen – das können auch die Preisträgerinnen in der Kategorie Sachbuch: „Läuse – Handbuch zum Überleben auf Menschen“ ist ein humorvolles Buch von Berta Páramo. Ein Buch, das sich als Survival-Guide explizit an lesende Läuse wendet. Kinder, die dieses Buch trotzdem lesen, sind sozusagen selbst Schuld, lernen aber eine ganze Menge dabei. Wissensvermittlung mit einem ganz besonderen Perspektivwechsel – das schafft dieses Buch auf sehr witzige Weise. Freundschaft erzählt als Chat Eine Überraschung ist übrigens der Gewinnertitel „Und die Welt, sie fliegt hoch“ von Sarah Jäger in der Kategorie Jugendbuch. Darin geht es um die entstehende Freundschaft zwischen zwei Jugendlichen in Chat-Form. Neben anderen herausragenden literarischen und politischen Jugendromanen, hat hier ein Buch gewonnen, das mit seinem ungewöhnlichen gestalterischen Konzept Neues wagt und Lesende gleichzeitig etwas ratlos zurücklässt. Denn die Illustratorin Sarah Maus hat das Jugendbuch illustriert. In schwarzen Linienzeichnungen stellt sie die beiden Schreibenden in einer Art Parallelwelt als komischen Vogel und Astronauten dar und verdeutlicht so die Ambivalenz zwischen Maskierung und Echtheit. Nominiert war das Buch auch von der Jugendjury. Werden vier der Preise von einer erwachsenen Kritikerjury vergeben, gibt es auch eine Jugendjury, die einen zweiten Jugendroman auszeichnet. Die Jugendjury, bestehend aus sechs Leseclubs, entschied sich für einen Roman mit ganz klarem politischem Thema, nämlich dem Klimaaktivismus. „No Alternative“ von Dirk Reinhardt erhielt den Preis der Zielgruppe selbst und widmete ihn den Klimaaktivist:innen, mit denen er in der Vorbereitung auf sein Buch gesprochen hat. „Empathisch und gewissenhaft" Die Jugendjury begründete ihre Wahl so: „Wir verleihen den Preis der Jugendjury an Dirk Reinhardt, weil er es versteht, sich mit den Stimmen einer jungen Generation und dessen Einsicht auseinanderzusetzen. Empathisch und gewissenhaft durchleuchtet er die verschiedenen Perspektiven im Umgang mit dem Klimawandel und bietet einen ganz neuen und wichtigen Blick auf Klimaaktivismus, der Veränderung nicht nur fordert, sondern auch erwartet.“ Insgesamt war dieser Jahrgang ein starker, ausgezeichnet durch hohe literarische und gestalterische Qualität, starke Stimmen und Mut zu neuen Formen.
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Oct 19, 2025 • 16min

Friedrich Ani schreibt in „Schlupfwinkel“ über seine Kindheit

„Ich hatte dieses Buch gar nicht geplant“, sagt Friedrich Ani. „Ich habe einfach angefangen zu schreiben, als meine Mutter dement wurde. Und dann schrieb sich das Buch geradezu von selbst.“ Die Rede ist von „Schlupfwinkel“, einem autobiographischen Text. „Manche Szenen habe ich fiktional aufgefüllt“, sagt Ani. Und überlegt. „Na ja, so ganz fiktional sind die Szenen dann vielleicht doch nicht.“ In seinem Buch beschreibt er seine Kindheit im bayerischen Kochel am See – mit einem syrischen Vater, einer schlesischen Mutter. Ein Syrer und eine Schlesierin Der Vater war Ende der 1950er Jahre zum Deutschlernen nach Kochel gekommen, studierte später Medizin und wurde Arzt. Trotzdem wurde er von der schlesischen Vertriebenenfamilie manchmal ein „Kameltreiber“ geschimpft. Manchmal ließ man ihn auch einfach vor der verschlossenen Türe stehen. Nachdem der Vater 2012 verstarb, schrieb Friedrich Ani bereits den Gedichtband „Im Zimmer meines Vaters“. „Zwischen meinem Vater und mir gab es immer eine gewisse Distanz“, sagt Ani im Gespräch mit SWR Kultur. „Das hatte sicher mit der Dominanz meiner Mutter zu tun.“ „Schreiben ist meine Art, in der Welt anwesend zu sein.“ Friedrich Ani ist ein sehr vielseitiger Autor. Besonders bekannt sind seine fast zwei Dutzend Kriminalromane um den Ermittler Tabor Süden. Aber Friedrich Ani hat auch andere Ermittler erfunden und ihnen auch je mehrere Romane gewidmet. Außerdem hat er Drehbücher geschrieben, Dramen und Hörspiele. Und Lyrik. „Ich habe immer gern geschrieben“, sagt er, „denn Schreiben ist meine Art, in der Welt anwesend zu sein.“ Ermittlerin Fariza Nasri und andere syrische Figuren In den letzten Jahren tauchen vermehrt Figuren mit syrisch-arabischer Herkunft in Anis Texten auf. Vermehrt seit dem Tod des Vaters. Unter anderem hat Ani die Ermittlerin Fariza Nasri erfunden, die 2021 im Roman „Letzte Ehre“ auftauchte – und die 2024 in „Lichtjahre im Dunkel“ den berühmten Ermittler Tabor Süden ablöste. „Ich schreib nicht über Syrien, denn ich würde mir nicht anmaßen, über dieses Land zu schreiben, das ich selbst zu wenig kenne.“ Dennoch: „In den letzten Jahren sind syrische Identitäten in meine Figuren geschlüpft. Das ist ja auch mein eigener Hintergrund, obwohl ich kein Arabisch spreche.“ Die Wut, das Schweigen und das Schreiben Leicht haben es diese Figuren nicht. Auch der Vater wird lebenslang immer ein wenig abgelehnt. Warum ist er trotzdem geblieben? Das Buch weiß keine Antwort. Es ist viel Wut im Spiel in „Schlupfwinkel“, denn das Kind versteht vieles nicht. Es wird nie in etwas eingeweiht. Selbst bei der nachgeholten Hochzeit seiner Eltern musste es zuhause bleiben. „Vor allem bin ich wütend auf mich selbst“, sagt Ani, „denn ich hätte damals rigoroser auftreten müssen, mich mehr wehren, nicht in meinem Zimmer sitzen, meinem Schlupfwinkel.“ Er übernahm das Schweigen seiner Eltern. „Aber ich habe das Schweigen gefüllt mit Schreiben. Ich erfinde mich selbst, indem ich still in meinem Zimmer bin und da etwas schreibe.“ „Ich dachte, ich wäre cooler damit. Aber ich bin’s nicht.“ In Anis Kriminalromanen geht es oft um verschwundene Personen. Vermisste treiben ihn um. Vielleicht weil auch seine Eltern aus ihren jeweiligen Heimaten verschwunden sind? Oder weil der Sohn sie nicht zu fassen kriegte? Vielleicht. Friedrich Ani überlegt: „Ich bin vielleicht auch jemand, der verschwunden ist und der sich selbst sucht.“ Sein Buch geht tiefer als erwartet: „Bis zu dieser Buchmesse habe ich nicht viel darüber nachgedacht. Jetzt aber ist das Buch da, und ich spreche darüber, und ich merke, dass mir das Buch sehr nahe geht. Ich dachte, ich wäre cooler damit. Aber ich bin’s nicht.“ Mehr noch: „Ich muss das Buch jetzt ein zweites Mal bewältigen – in der Öffentlichkeit. So eine starke Erfahrung mit einem gedruckten Buch habe ich noch nicht gemacht.“ Mehr Autobiographie? – Vielleicht ja, vielleicht nein! Wird Friedrich Ani weitere autobiographische Texte schreiben? „Das habe ich nicht geplant. Also möglicherweise nicht. Aber ich würde es auch nicht ausschließen.“ Das Buch „Schlupfwinkel“ hatte er auch nicht geplant. „Vielleicht passiert es nochmal, dass ich ein Buch nicht geplant habe, aber dann doch schreibe.“
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Oct 19, 2025 • 4min

Irene Discher rückt „Prinzessin Alice“ in ein helleres Licht

Taubstumm, verliebt in Gott und äußerst leidenschaftlich, so lernt man in Irene Disches schmalem, aber dichtem Roman die Prinzessin Alice von Battenberg kennen. Sie war die Urenkeltochter von Queen Victoria, Schwiegermutter von Queen Elizabeth II. und Großmutter des heutigen Königs Charles III.:  Die Prinzessin erreichte ihren Höhepunkt im Gebet, und dabei ging es laut zu. Einfache Gemüter schlossen daraus, sie müsse sich wohl den nackten Jesus vorstellen, wie er sich erregt an sie drückte und ihr ins Ohr seufzte.  Quelle: Irene Dische – Prinzessin Alice Lust am Leben  Man wird sich zunächst wundern über diese Frau, die hier nicht vermittelt durch eine Erzählstimme, sondern aus der Ich-Perspektive spricht, in einem naiv-frischen, unmittelbaren Ton. Verheiratet mit Andreas, Prinz von Griechenland, mit ihm hat sie fünf Kinder. Am Beginn des Romans schreibt man das Jahr 1922. Die Familie hat die bisherige Heimat Griechenland nach einem Staatsstreich verlassen müssen. Die Mutter kommt mit den Kindern in Paris bei ihrer Schwägerin Marie Bonaparte unter, wo sie die Familie durch den Verkauf von Stickereien, Spitzen und Gemälden über Wasser hält. Die Prinzessin, deren Intelligenz und Schönheit nach der Flucht aus Griechenland wenig gelitten haben, freut sich auch unter widrigen Umständen des Lebens und ihrer Lust und betet sich regelmäßig bis zum Orgasmus in Ekstase, wobei sie göttliche Botschaften zu empfangen glaubt: Falls es ihnen nicht klar sein sollte: Gott hat keine Stimme. Sie können Gott auf zahllose Arten hören, nicht zuletzt in den Geräuschen, die ihr Körper von sich gibt und die sie selbst nicht kontrollieren können. Die sind nämlich keineswegs beliebig. Hören Sie ihnen genau zu und entschlüsseln Sie sie. Quelle: Irene Dische – Prinzessin Alice Perfide Pläne  Währenddessen plant die frigide Marie Bonaparte, verheiratet mit dem schwulen Prinzen Georg und Schülerin von Siegmund Freud, eine Perfidie: Alice soll sterilisiert, in eine psychiatrische Klinik gebracht, von ihren Kindern getrennt werden. Der Plan geht auf.   Jetzt kam mit hastigen Schritten der Doktor herein. Er verströmte Ungeduld. Beäugte mich, sein hilfloses, nacktes Opfer. In der Hand hielt er einen Stift, aus dem rote Tinte floss, damit malte er zwei kleine Kreise auf meinen Unterleib, einen auf jede Seite. Die Tintenflecke, die er dabei überall verteilte, störten ihn nicht. Der lange Hals der Maschine schwang zu mir hin. Quelle: Irene Dische – Prinzessin Alice Unvorstellbar ist das Leid, das die Schwägerin der Prinzessin antut, sei es aus Neid, sei es aus falschem Erkenntnisinteresse. In die Psychiatrie verbracht, wird Alice ruhiggestellt und vegetiert dahin, bis sie sich verliebt. Doch auch diese Verliebtheit steht unter keinem guten Stern. Prinzessin Alice flieht schließlich aus der Klinik. Sie gibt sich als Nonne aus und kehrt nach Athen zurück, wo die Monarchie inzwischen wiederhergestellt ist, um einen Orden zu gründen und eine Suppenküche zu eröffnen.  Ich bezahlte die Jahresmiete für ein heruntergekommenes Ladenlokal in dem verarmten Viertel, auf das ich nur eine Straße vom Palast entfernt gestoßen war. In meiner Küche gab es Töpfe genug, um für eine große Anzahl Unglücklicher zu kochen. Quelle: Irene Dische – Prinzessin Alice Royaler Glamour und Sigmund Freud  Man kann auf irritierende Weise fasziniert sein von der Bewegtheit dieses Lebens und der unverbrüchlichen Kraft, mit der sich Prinzessin Alice allen Widrigkeiten und Schicksalsschlägen widersetzt, sich aufrappelt. Sie wirkt hier ganz und gar nicht verrückt, im Gegensatz zu großen Teilen der königlichen Verwandtschaft, die Irene Dische in weiten Teilen überspannt und lebensuntauglich schildert. Ein wenig mit dem royalen Glamourfaktor kokettierend und Sigmund Freuds Lehre deutlich kritisierend, gelingt dem Roman in kluger, mit Tiefe gepaarter Leichtigkeit etwas Feines: Er rückt Prinzessin Alice in ein anderes, helleres Licht.
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Oct 15, 2025 • 4min

„Eine anhaltende Rebellion“: Kommunistischer Kampf auf den Philippinen

Er sei es so leid, ständig Joma Sison im Ohr zu haben. Das stöhnte Rodrigo Duterte im Jahr 2018. Damals war Duterte noch Präsident der Philippinen und genervt von einem Kommunisten namens José María Sison, Spitzname Joma. Der hatte die Philippinen schon 1987 verlassen, lebte seither im niederländischen Exil und würde bald 80 werden. Ein alter Stratege, der aber online noch immer seine politischen Kommentare abgab. Damals besuchte ihn auch der philippinische Journalist Michael Beltran. Und hat darüber ein Buch geschrieben. Über Joma Sison und seine Frau.  Michael Beltran erzählt: „Ich wusste nicht, wie Joma und Julie als Menschen waren. Wie ihr Leben im Exil funktionierte. Wie ihr Sozialleben aussah. Die allermeisten Texte, die über sie als philippinische Revolutionäre geschrieben wurden, sind sehr didaktisch. Deswegen wollte ich sie persönlich kennenlernen und mit ihnen sprechen, um auch ein Gefühl für die Zwischenräume und Grauzonen in ihrem Leben zu bekommen.“  Ist die Ära des Kommunismus nicht längst vorbei? An sich mangelt es nicht an Literatur über José María Sison. Sogar auf Deutsch gibt es einige Bücher über ihn, in den 80er und 90er Jahren geschrieben vom Politikwissenschaftler Rainer Werning. Michael Beltrans Buch gibt nun ein Update. Es heißt „Der singende Gefangene und die Bibliothekarin mit nur einem Buch“. Darin zeichnet er ein geradezu privates Porträt des exilierten Paars. Ist die Ära des Kommunismus denn nicht längst vorbei, Michael Beltran?  „Die Philippinen gehören zu den wenigen Orten auf der Welt, an denen es noch immer einen bewaffneten Aufstand gibt. Eine anhaltende bewaffnete Rebellion. Erst kürzlich, während der Pandemie, sagten der Sprecher des Präsidenten und auch Präsident Duterte selbst, dass die Guerillas der Neuen Volksarmee eine viel größere Bedrohung für die Regierung darstellten als das Corona-Virus. In Europa ist der kommunistische Widerstand vielleicht ein Phänomen der Vergangenheit. Aber hier ist das anders.“  Empathisches Porträt eines alten Kommunistenpaars  1969 gründete Sison die Kommunistische Partei der Philippinen (CPP) und ihren bewaffneten Arm, die Neue Volksarmee (NPA). Unter Ferdinand Marcos wurden er und seine Frau Julie gefoltert. Sie saßen jahrelang in Einzelhaft, bevor sie 1987 in die Niederlande gehen konnten. Und von dort weiterwirkten. Wie weit dieses Wirken ging, klärt Beltran nicht genau auf. Fakt ist, dass Sison 2007 in Utrecht für Beteiligung an dreifachem Mord auf den Philippinen festgenommen, ein Jahr später aber aus Mangel an Beweisen wieder freigelassen wurde. Bis zu seinem Tod lebten er und seine Frau in Freiheit, wenn auch gewissermaßen gefangen im Exil.  Michael Beltran hat selbst in philippinischen Slums gearbeitet. Soziale Gerechtigkeit spielt in seiner journalistischen Arbeit eine große Rolle. Joma Sison und seiner Frau Julie de Lima begegnet er sehr empathisch. Das macht sein Buch stark und schwach zugleich. Stark ist dieses Porträt eines alten Kommunistenpaars, weil es dem jungen Beltran offenkundig vertraut. Auch der sozialrevolutionäre Geist des Buches wirkt frisch und inspirierend. Beltrans Identifikation mit seinen Hauptfiguren schwächt sein Buch allerdings auch. Oft wirkt es, als übernähme er ihre Positionen einfach. Joma Sisons teils bewaffneten Widerstand und seinen bis zuletzt hochgehaltenen Maoismus untersucht und diskutiert Beltran nicht genauer. Insofern ist sein Buch durchaus eindrücklich, aber es fehlt ihm auch an kritischer Distanz.

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