Düstere Pandemie
Mein Weihnachtstipp hat einen düsteren Hintergrund. In ihm wird von einer Pandemie erzählt, davon dass eine Seuche über eine Welt hereinbricht, die man nicht versteht. Plötzlich ist sie da, sie rafft die Menschen hinweg ohne Ansehen der Klassen.
Es trifft die Reichen und die Armen, die Leichenberge türmen sich, die Verwaltungen versuchen, einen Überblick zu bewahren, aber sie scheitern. Dann werden die Sitten lose, der Anstand verschwindet, die tradierten Verkehrsformen, man brüllt, schreit, glaubt an nichts mehr, oder gleich an irgendwelche Scharlatane.
Klingt vertraut? Nein, ich spreche nicht über die Covid-Pandemie, die uns gerade mal vor fünf Jahren den Atem geraubt hat. Es geht um die Pest im Jahr 1348. Und es geht um Florenz. Erzählt wird dieses düstere und tragische Zeit- und Sittengemälde von Giovanni Boccaccio, denn es ist der Auftakt seines berühmten Novellenzyklus „Decameron“.
100 Geschichten
Aber die apokalyptischen Bilder sind nur der Anfang, dann verschieben sich die Gewichte. Eine Gruppe von 10 jungen Menschen, sieben Frauen, drei Männer, flüchten aus der sterbenden Stadt aufs Land, wo sie sich Geschichten erzählen, hundert an der Zahl, die vom Leben in den italienischen Städten berichten, humoristische, vergnüglich, aber auch derb-anzüglich, mal pädagogisch orientiert, mal einfach pointiert-parodistische-effektvoll, ein wunderbarer Kranz von Novellen, aber so hat man sie erst später benannt.
Kirchenkritisch sind sie alle, und das liegt nicht nur am korrupten Klerus, nein, mit der Pest ist auch der Glaube abhanden gekommen. Gott ist tot, könnte man sagen, von der Seuche dahin gerafft.
Keine Ordnung, nirgends. Es scheint, als müssten die Menschen neu ansetzen, auf sich selbst zurückgeworfen. Ihre Geschichten testen aus, wie ein Zusammenleben ohne den tradierten geistigen und weltlichen Überbau möglich ist, kein Gott, kein Herrscher.
Mensch und Mitgefühl
Als Orientierung, als Material bleibt nur der einzelne Mensch und das, was ihn vor allem auszeichnet, seine Fähigkeit zum Mitgefühl. Darum sind die Geschichten auch so individuell, voller Mehrdeutigkeiten, Unsicherheiten, gleichsam ein großes Experimentierfeld der condition humaine. Und sie sind eine Feier der Literatur selbst, denn genau sie, die Dichtung, die Fiktion, ermöglicht das Probehandeln, das Durchspielen menschlicher Verhaltensweisen, ohne dass sie gleich wirklich werden müssten.
Im Manesse Verlag, der uns immer wieder mit prächtigen Klassikerausgaben beglückt, ist jetzt eine neue Übersetzung des „Decameron“ erschienen. Übersetzt hat das Meisterwerk Luis Ruby und kommentiert hat es der Verleger Horst Lauinger selbst zusammen mit dem Übersetzer. Ein wirkliches Geschenk für uns und für jeden Leser, für jede Leserin! Ein MUSS für den Gabentisch.