
SWR Kultur lesenswert - Literatur Paolo Herras & Jerico Marte: Strange Natives
Sep 26, 2025
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An dieser Graphic Novel bleibt vieles vieldeutig. Schon der Titel der Comic-Reihe „Strange Natives“, also ‚Fremde Einheimische‘, lässt im Unklaren, von wem eigentlich erzählt wird. Ureinwohner, Einwanderer, Invasoren?
Sie alle gehören zur Geschichte der Philippinen. Das Schillernde setzt sich fort in der Hauptfigur Grasya, einer gleichzeitig jungen und alten Frau. Auch ihr Name ist vieldeutig, erinnert an das spanische Wort für Gnade, aber auch für Anmut. Fast schwebend bewegt sie sich durch die Bilder in Paolo Herras‘ und Jerico Martes’ Comic mit dem langen Titel ‚Die vergessenen Erinnerungen einer vergesslichen alten Dame‘.
Grasyas dürrer Körper und der überlange Hals ragen aus einem üppig wallenden Kleid. Ein Zwitterwesen zwischen Mensch und Gespenst. Da überrascht es kaum, dass sie übernatürliche Fähigkeiten hat.
Sie kann in ihre Kindheit um 1900 zurückblicken, aber auch darüber hinaus Jahrhunderte in die Vergangenheit. Dazu reicht es, dass ein Schmetterling sie streift. Und Schmetterlinge durchfliegen diese Graphic Novel zu Hunderten. Sie durchdringen Ritzen und sprengen sogar die Rahmen der Comic-Bilder.
Schwärme von Schmetterlingen durchflattern die Comicseiten
Die vergessenen Erinnerungen einer vergesslichen alten Dame‘ tauchen ein in Grasyas Familiengeschichte, in der sich die Geschichte ihres Landes widerspiegelt. Ein Vielvölkerstaat, geprägt durch Invasionen aus Spanien, den USA und Japan.Wir alle sind Fremdlinge…Gleich, ob wir nun aus der Fremde kommen oder entfremdet worden sind. Gleich, ob wir nun weiss sind, braun oder grau: Wir sind alle Einheimische. (…) Einige gewinnen und erobern, andere verlieren und werden vergessen.So sieht es Grasyas Tante, eine Priesterin mit Verbindung zur vorchristlichen Geisterwelt der Philippinen. Sie ermuntert ihre Nichte, sich den Weißen anzupassen und verleiht ihr trotzdem die Gabe, die Erinnerungen anderer Menschen sehen zu können. Die bahnen sich mit den überall herumflatternden Schmetterlingen immer wieder einen Weg in Grasyas Bewusstsein, wenn sich auf den Insekten-Flügeln die Bilder der Vergangenheit abzeichnen. Und so tauchen wir mit ihr ein in ihre Kindheit und Jugend auf dem großzügigen Landsitz ihrer Familie, wo der Katholizismus der spanischen Kolonisatoren das Leben prägt. Die Figuren tragen selbstverständlich Rosenkranz und Kreuz mit sich. Als Grasya ungewollt schwanger wird, kann sie ihr Baby nur durch die Täuschung behalten, sie nehme ein Findelkind auf. Zu stark ist der Druck durch mögliche gesellschaftliche Ächtung. Für sie eine glückliche Wendung. Aber dann lassen die Comic-Erzähler Soldaten aufmarschieren. Die Invasion der Japaner im Zweiten Weltkrieg bedeutet für den Comic einen großen Zeitsprung. Er reißt auch ein Loch in die Logik. Obwohl Grasyas Sohn nun erwachsen und sie Mitte 40 sein müsste, ist er Anfang der 40er noch ein Kleinkind, sie eine junge Frau. Vielleicht gerät darum die gesamte Comic-Welt aus den Fugen. Das Bildgerüst wird asymmetrisch und scheint einzustürzen, die Schmetterlinge wachsen fast auf Seitengröße, Gesichter verzerren sich zu Fratzen. Zeichner Jerico Marte entfesselt wahre Bilderstürme. Sie überfordern zuweilen das Auge.Quelle: Paolo Herras & Jerico Marte - Strange Natives
Bilderstürme erzählen vom Trauma der japanischen Besatzung
Und er erspart uns wie seiner Hauptfigur nicht die Bilder der Kriegsgewalt. Das Trauma der Besatzung wird zu Grasyas eigener Tragödie. Die Soldaten bringen ihre Familie um.Erinnerungen sind überall. Die ganze Welt ist angefüllt mit ihnen. Sie sind es, die die Welt alt machen. Die Welt besteht aus ihnen. Die Welt ist von Erinnerungen befleckt. Wenn wir die Welt nur sauberwischen könnten.Ein Glück, dass Paolo Herras und Jerico Marte Grasyas Wunsch nicht erfüllen. So hart die Bilder der Gewalt und so überbordend die Detailfülle auch im kleinsten Einzelbild sind – sie machen das Verstehen der Gegenwart erst möglich. Grasya muss lernen, dass das Nichtwissen um die eigene Geschichte in Oberflächlichkeit und mangelnder Empathie endet: Die jungen Touristen, die in den Philippinen der Jetzt-Zeit in ihrem Haus nach Antiquitäten suchen, greifen, ohne zu fragen, auch nach den persönlichsten Dingen. Ihre Hauptfigur lassen Herras und Marte das Leid als Teil ihrer Erinnerungen akzeptieren. Das wirkt arg belehrend, wenn sie Grasya einer geisterhaften und amorph wabernden Männerfigur begegnen lassen. Die entpuppt sich nämlich als die Erinnerung selbst und vermag Grasya zu trösten. Trotzdem sind die ‚Vergessenen Erinnerungen einer vergesslichen alten Dame‘ eine lohnende Lektüre, weil Erzähler und Zeichner die Auseinandersetzung mit den fremden Kulturen im Comic selbst realisieren. Die Bilddramaturgie des japanischen Manga fließt mit Elementen des US-Action-Comics ganz selbstverständlich in Jerico Martes Bildern zusammen. Die Zeitsprünge durch mehrere Jahrhunderte liefern nebenbei eine Landeskunde in Bildern. Die als europäische Lesende zu entschlüsseln, hilft das Glossar des Übersetzers Jens R. Nielsen. Wer mehr über Vergangenheit und Gegenwart der Philippinen lernen will, muss übrigens nicht lange warten. Paolo Herras‘ nächste „Strange Natives“-Bände sind schon in Arbeit.Quelle: Paolo Herras & Jerico Marte – Strange Natives
