SWR Kultur lesenswert - Literatur

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Oct 7, 2025 • 4min

Es knistert, es knackt: „Auf ganz dünnem Eis“

Bei Peter Stamm kann jeder Unort zum literarischen Gelände werden. Sogar eine heruntergekommene Pension im Ruhrgebiet, in der sonst nur Monteure die Nacht verbringen. Oder eben der Ich-Erzähler der Auftakterzählung in Stamms neuem Buch. Ein Mann, der aus seinem alten Leben hinausgeschleudert wurde und irgendwo gestrandet ist. Präziser gesagt: Ein Skilehrer aus der Schweiz, der nun in einer deprimierenden Skihalle auf künstlichem Schnee Schüler unterrichtet. Morgens, wenn die Halle noch leer ist, macht er seine erste Abfahrt allein, schließt die Augen und vermeint, die Morgensonne in den Alpen auf seinem Gesicht zu spüren. Jedes Wort sitzt in dieser Geschichte, jedes Detail hat eine Bedeutung. Peter Stamm wertschätzt die Erzählung als Gattung. Doch was kann die Erzählung, was der Roman nicht kann? „Ich vergleichs gerne mit der Kammermusik. Wenn der Roman die Sinfonie ist, ist die Erzählung die Kammermusik. Das ist eine sehr konzentrierte Form. Man hört jeden Ton, jede Stimme ganz genau. Romane brauchen ein bisschen Schmutz; die müssen auch ein wenig ausufernd sein und nicht perfekt, aber Erzählungen sind wirklich Kleinode, die perfekt sein müssen und perfekt bis ins letzte Wort gearbeitet sind.“ Neun Erzählungen beinhaltet „Auf ganz dünnem Eis“ Parallelwelten, Ausbruchsfantasien, Gedankenfluchten. Stamms Sprache ist scheinbar einfach, manchmal sogar karg an der Leseoberfläche. Doch darunter tun sich ganze ungelebte Leben auf. Neun Erzählungen beinhaltet „Auf ganz dünnem Eis“; jede von ihnen hat ihren Augenblick; kommt an jenen Punkt, an den sie sich von der Wirklichkeit abhebt und zu schweben beginnt. In der zweiteiligen Titelgeschichte beispielsweise verschmilzt das Leben einer Schauspielerin zunehmend mit ihren noch dazu skurrilen Rollen. In einer anderen Erzählung baut sich ein junger Mann im Keller seines Elternhauses eine Raumstation auf, in der er unter Realbedingungen einen Flug zum Mars simuliert. Peter Stamm sagt über seine haarscharf am Rand der Wirklichkeit situierten Paralleluniversen: „Zum einen ist das meine Art, wie ich die Welt auch erlebe. Ich bin selbst jemand der in Fantasien... nicht gerade untergeht, aber der oft sich Dinge vorstellt, die nicht real sind. Von daher ist das ein ganz normaler menschlicher Prozess, dass man nicht immer in einer Realität lebt. Zum anderen macht das einen Text ja auch vielschichtiger.“ Peter Stamm zu lesen heißt, sich auf ganz dünnes Eis zu begeben Eine schwer fassbare Unheimlichkeit durchzieht Stamms Texte. So ruhig laufen sie dahin, so unspektakulär. Doch auf einer außersprachlichen Ebene lösen sie ein beinahe unmerkliches Vibrieren aus, ein Unbehagen. Peter Stamm zu lesen heißt tatsächlich, sich auf ganz dünnes Eis zu begeben. Es knistert und knackt. Auch darum, weil jede Geschichte jederzeit eine sanfte Wendung ins Ungute nehmen könnte. Seine eigenen Figuren, so Stamm, überraschen ihn selbst auch immer wieder: „Ich habe die überhaupt nicht im Griff", sagt Stamm. „Und ja, die sind zum Teil schon unheimlich. Oder ich denke: Was tut der wieder? Oder: Warum tut er oder sie das jetzt? Gerade im neuen Buch, da gibt es so Stellen, wo ich denke: Oh nein, bitte nicht. Mach das nicht. Und dann tun sie es doch.“ Markante Ereignisse im Lebensfluss Wie das Leben selbst auch haben auch die neun Erzählungen in diesem Band keinen versöhnlichen Abschluss, fügt die Erzählung sich ein in einen Lebensfluss, hakt sich jedoch an markanten Ereignissen fest, denn Peter Stamm meint: „Es ist ja nicht so, dass die völlig im Zufall enden, sondern sie enden ja zumeist an einer Stelle, wo sich für die Figuren etwas entschieden hat. Oder auch wo sie sich selbst entschieden haben. Ich würde schon sagen: Am Schluss einer Erzählung ist ihnen immer etwas klarer als am Anfang.“ Das Unausgesprochene lauert Die Glückserfahrungen in Peter Stamms Erzählungen liegen in der Unmittelbarkeit des Augenblicks. Ihnen stehen die äußeren Zwänge – Beruf, Familie, Justiz, soziale Normen – entgegen. Dazwischen, zwischen persönlicher Erfüllung und gesellschaftlicher Reglementierung, lauert etwas. Geheimnisse. Sehnsüchte. Etwas Unausgesprochenes. Dabei belässt es Peter Stamm. Und trotzdem hat man nach der Lektüre von „Auf ganz dünnem Eis“ eine Ahnung davon bekommen. Und das vermag nur ein Autor, der seine Form in Perfektion beherrscht und vor allem weiß, worüber er zu schweigen hat.
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Oct 7, 2025 • 5min

„Meine Zuflucht und mein Sturm": Die bewegende Lebensgeschichte von Arundhati Roy

Als Arundhati Roys Mutter Mary Roy im September 2022 stirbt, ist die Autorin „am Boden zerstört“, ihr „Herz gebrochen“. Und gleichzeitig wundert sie sich über die Heftigkeit ihrer Gefühle. Schließlich hatte sie ihre Mutter mit achtzehn verlassen, war regelrecht geflohen aus der konservativen, engen südindischen Kleinstadt – aber auch vor ihrer Mutter, die ebenso inspirierend wie toxisch sein konnte. Ich verließ meine Mutter nicht, weil ich sie nicht liebte, sondern um sie weiterhin lieben zu können. Wäre ich geblieben, wäre das unmöglich geworden. Quelle: Arundhati Roy – Meine Zuflucht und mein Sturm Eine Mutter – zwei Gesichter „Meine Zuflucht und mein Sturm“ heißt Arundhati Roys Memoir auf Deutsch – keine sentimentale Mutter-Tochter Geschichte, sondern das ehrliche Portrait einer extrem ambivalenten Beziehung. Mary Roy hat ihre Tochter geprägt, aber auch verletzt und gedemütigt – immer wieder.   Sie war eine Naturgewalt. Sie verließ ihren trinkenden Mann, zog ihre Kinder alleine auf. Und gründete in Kerala eine bis heute renommierte Schule und kämpfte für die Rechte von Frauen in Indien. Ihr größter Sieg: Sie gewann einen Prozess vor dem obersten Gerichtshof, der syrisch-christlichen Frauen in Indien die gleichen Erbrechte wie Männern verschaffte – ein bahnbrechendes Urteil. Doch Arundhati Roy beschreibt schonungslos auch die Kehrseite dieser Stärke: Mary Roy war gleichzeitig eine Mutter, die zu ihren eigenen Kindern grausam sein konnte. Sie ließ die junge Arundhati allein am Straßenrand zurück, als Strafe, weil sie in einem Gespräch nicht brilliert hatte. Noch prägender ist die Erinnerung an die Gewalt gegen ihren älteren Bruder, als die Mutter einmal mit seinem Zeugnis unzufrieden war. Ich tat so, als würde ich schlafen in der Nacht, als sie meinen Bruder holte und ihn – den schlafwandelnden kleinen Jungen – in ihr Zimmer führte. Ich folgte ihnen leise und beobachtete durch das Schlüsselloch, wie sie ihn schlug, bis das dicke, hölzerne Lineal zerbrach. „Mein Sohn kommt nicht mit einem Zeugnis nach Hause, in dem „durchschnittlicher Schüler“ steht. Am Morgen nahm sie mich in den Arm und sagte: „Du hast ein ausgezeichnetes Zeugnis“. Ich schämte mich. Seit damals werden alle meine persönlichen Erfolge von einer unguten Vorahnung begleitet. Wenn auf mich angestoßen oder mir applaudiert wird, habe ich immer das Gefühl, dass jemand anderes, jemand, der still ist, im Zimmer nebenan geschlagen wird. Quelle: Arundhati Roy – Meine Zuflucht und mein Sturm Die Zerrissenheit steckt schon im Titel Diese Ambivalenz spiegelt sich auch im Titel. Der Originaltitel „Mother Mary Comes to Me“ zitiert zwar die berühmte Beatles-Zeile aus „Let It Be“, in der Paul McCartney über seine verstorbene Mutter singt, die ihm Trost spendet. Doch Roys Mutter ist keine reine Trösterin. Der deutsche Titel „Meine Zuflucht und mein Sturm“ fängt diese Zerrissenheit weitaus treffender ein. Und diese Zerrissenheit ist auch Leserinnen und Lesern von Roys Weltbestseller „Der Gott der kleinen Dinge“ vertraut. Dort war es Ammu, die alleinerziehende Mutter der Zwillinge, die zärtlich und hart zugleich sein konnte. Auch Ammu ist eine Mutter, die kämpft und rebelliert. In ihrem Memoir wird deutlich: Arundhati Roy hat zumindest einige Charakterzüge ihrer Mutter in ihrer Ammufigur literarisch verarbeitet. Und beide Bücher kreisen auch um die Frage, wie Liebe und Gewalt, Schutz und Zerstörung in derselben Person existieren können. Was mich betraf, so lehrte mich Mrs Roy zu denken und wütete dann gegen meine Gedanken. Sie lehrte mich, frei zu sein, und wütete gegen meine Freiheit. Sie lehrte mich zu schreiben und grollte der Autorin, zu der ich wurde. Quelle: Arundhati Roy – Meine Zuflucht und mein Sturm Vom Gott der kleinen Dinge zur Göttin der großen Wut Geschickt verbindet Arundhati Roy die Geschichte ihrer Mutter, ihre eigene Biografie und die politische Geschichte Indiens. Sie beschreibt, wie sie zur Schriftstellerin wurde und mit dem Booker Prize über Nacht weltberühmt. Wie sie beginnt, ihre Popularität zu nutzen, um den aufkommenden Hindunationalismus anzuprangern, das Kastenwesen und die Behandlung der sogenannten „Unberührbaren“, wie sie gegen ein Staudammprojekt protestiert und die Kaschmirpolitik Indiens kritisiert. In diesen Kapiteln ist Mary Roy nicht sehr präsent, und doch war sie als Vorbild der unnachgiebigen Kämpferin eine stete Kraftquelle. Jahrelang wanderte ich danach durch Wälder und Flusstäler, durch Dörfer und Grenzstädte in dem Versuch, mein Land besser zu verstehen. Unterwegs schrieb ich. Es war der Anfang meines ruhelosen, renitenten Lebens als aufrührerische Verräterin und Schriftstellerin. Eine freie Frau. Freies Schreiben. Wie es mir Mother Mary beigebracht hatte. Quelle: Arundhati Roy – Meine Zuflucht und mein Sturm Wie nah Schutz und Zerstörung beieinander liegen „Meine Zuflucht und mein Sturm“ ist somit weit mehr als ein Memoir. Es ist die Sezierung einer komplexen Beziehung und zugleich ein Schlüssel zum Verständnis für das gesamte literarische und politische Werk von Arundhati Roy. Mit brutaler Ehrlichkeit und in poetischer Sprache demontiert sie den Mythos der bedingungslos liebenden Mutter. Statt einer einfachen Versöhnung oder Anklage wählt sie den Weg der literarischen Analyse, um zu zeigen, wie nah Schutz und Zerstörung beieinander liegen können.
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Oct 7, 2025 • 4min

Hans Joachim Schädlich – Bruchstücke

Hans Joachim Schädlich und Günter Grass unterhielten ein besonderes Verhältnis. Als die DDR dem Ostberliner Schädlich aus politischen Gründen alle Verdienstmöglichkeiten entzog, unterstützte ihn Grass mit einer rettenden Summe. Und mit großem Engagement setzte er sich nach der Ausreise des ostdeutschen Kollegen für dessen Bücher ein. Doch dann, nach der Wiedervereinigung, folgte das Zerwürfnis. Dass Grass in seinem Roman „Ein weites Feld“ die DDR als „kommode Diktatur"“ charakterisierte, wollte ihm Schädlich nicht durchgehen lassen. In einem Brief warf er Grass vor:  Es ist kein Wunder, dass Du das gesamte Stasi-System regelrecht verharmlost. Wie ‚angenehm‘ diese Diktatur war, hättest Du von Leuten wissen können, die Erfahrungen mit der Stasi gemacht haben  Quelle: Hans Joachim Schädlich – Bruchstücke Anekdoten, Begegnungen, Schlüsselmomente  Der Rückblick auf die Freundschaft mit Grass und ihr harsches Ende gehört zu den brisantesten Texten in Hans Joachim Schädlichs Erinnerungsbuch mit dem bescheidenen Titel „Bruchstücke“. Darin versammelt der nun neunzigjährige Schriftsteller Anekdoten, Begegnungen, Schlüsselmomente und Merkwürdigkeiten aus seinem Leben. Er lässt Kollegen wie Uwe Johnson, Nicolas Born, Adolf Endler oder Max Frisch in Momentaufnahmen und Porträtskizzen auftreten. Sarah Kirsch, die Dichterin und enge Freundin, überraschte ihn mit ihrer Fürsorglichkeit, später hob sie sarkastisch hervor, es sei ihm das „Meisterstück“ gelungen, in der DDR kein einziges Buch herauszubringen. Von SED-Funktionären dagegen wurde er aufgrund unveröffentlichter Texte der „psychologischen Kriegsführung gegen die DDR“ beschuldigt.   Literatur und Staatssicherheit  Schädlich erlebte, so lässt sich sagen,  die Wiederkehr des deutschen Untertanen in Gestalt realsozialistischer Mitläufer, Karrieristen und Spitzel. Das ist ein zentrales Thema in seiner stets präzise gearbeiteten Erzählprosa und es bildet auch den roten Faden in diesen Erinnerungsfragmenten, die mal sachlich, mal mit leiser Ironie und oftmals spürbar nachzitternder Bewegung formuliert sind.  Etliche Reminiszenzen sind Schädlichs häufigen Aufenthalten an US-Universitäten gewidmet. Dabei sticht besonders sein Auftritt bei einem Symposium in Washington 1988 hervor. Da bezeichnete Schädlich die These, es habe sich in der DDR eine „sozialistische Nationalliteratur" entfaltet, als „propagandistischen Hokuspokus“. Er stellte fest:  In der DDR verfügen die Herrschenden über ein umfassendes Zensursystem. Eine erhebliche Arbeit an der Sache der Literatur leistet der Staatssicherheitsdienst durch Hilfe bei der Beseitigung oder bei der Zusammenstellung von Manuskripten. Quelle: Hans Joachim Schädlich – Bruchstücke Eine exemplarische deutsch-deutsche Geschichte  Sicher ist jedenfalls: das entsprach Schädlichs persönlicher Erfahrung und dadurch wurde sein Selbstverständnis, wie hier immer wieder spürbar wird, unwiderruflich geprägt: als das eines Schriftstellers, dem im Land seiner Herkunft das Wort verboten wurde, und der erst in den Westen gehen musste, um seiner Berufung folgen zu können. Dass sich sogar Schädlichs Bruder als Stasi-Spitzel entpuppte, taugt zum schmerzhaften Sinnbild dieses deutsch-deutschen Schriftstellerlebens. Kurzum: Hans Joachim Schädlichs „Bruchstücke“ messen in anekdotischer Form literaturgeschichtliche Höhen und Abgründe aus, von denen nur noch wenige so zuverlässig Zeugnis ablegen können wie er.
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Oct 6, 2025 • 4min

Anne Rabe – Das M-Wort

Keine Gesellschaft kommt ohne Moral aus. Gemeinsame Werte regeln nicht nur unser Zusammenleben, sondern bestimmen auch unser Selbstbild als Gesellschaft. Sie kommen sowohl in den Gesetzen zum Ausdruck als auch in unserem alltäglichen Verhalten. Die Entscheidung, was wir für richtig und für falsch halten, ist zugleich eine Entscheidung über unser Selbst.  Das ist auch der Grund dafür, warum moralische Auseinandersetzungen besonders emotional geführt werden. Ob man sich nun auf die antike Tugendlehre, die Zehn Gebote oder die Erklärung der Menschenrechte bezieht. Seit es die Annahme verbindlicher Werte gibt, wird auch darüber gestritten, nach welchen Normen wir uns richten sollen.  Die Moral der Gesellschaft  Die heftigen Auseinandersetzungen der letzten Jahre hat die Schriftstellerin Anne Rabe nun zum Anlass genommen, die hohen Ansprüche an unser moralisches Verhalten zu verteidigen. Ihr Essay „Das M-Wort. Gegen die Verachtung der Moral“ richtet sich vor allem gegen die Vorwürfe, unsere Debatten seien von zu viel Moral geprägt:  Die Verachtung der Moral ist nicht neu. Sie ist immer wieder Motor reaktionärer und auch gewalttätiger Bewegungen. Sie ist aber auch Teil der Überlegenheitsbehauptung derjenigen, die mit zynischem Schulterzucken andeuten wollen, dass sie sich keine Illusionen mehr machen: Es ist, wie es ist. Finde dich damit ab Quelle: Anne Rabe – Das M-Wort Eine Welt ohne Aussicht Auch in der Vergangenheit gab es bereits zahlreiche moralische Krisen. Aber die aktuelle Krise, die Rabe diagnostiziert, geht sowohl über die schlechte wirtschaftliche Lage als auch über die Migrationsproblematik hinaus. Sie besteht letztlich in einer Abkehr von den moralischen Grundsätzen der Bundesrepublik.  Hatte sich Westdeutschland in den Jahrzehnten der Nachkriegszeit in moralischer Hinsicht über die Erinnerung an die nationalsozialistischen Verbrechen definiert, wurde diese negative Identität spätestens seit der Wiedervereinigung zunehmend kritisch gesehen. Aus dieser Kritik, so Rabe, sei heute längst eine grundsätzliche Moralverschiebung geworden:  Inzwischen ist es schwer zu sagen, wann es angefangen hat, dass Zukunft nicht mehr gleichbedeutend mit vorne, höher, weiter und besser war. Dass aus Wünschen auf Verbesserung, Ahnungen von Stillstand und schließlich die Angst vor Rückschritt wurde. War die Pandemie der Ausgangspunkt? Der Kriegsausbruch in der Ukraine? Oder doch schon die Finanzkrise? Der 11. September?  Quelle: Anne Rabe – Das M-Wort Der Wunsch nach Zukunft  So gut wie alle gesellschaftlichen Debatten sind derzeit von einer affektiven Polarisierung geprägt, ob es um den Klimawandel, die Flüchtlingspolitik oder die Geschlechtergerechtigkeit geht. Dagegen kämpft Rabe leidenschaftlich an, mal subjektiv, mal mit empirischen Daten, aber immer engagiert. Vor allem appelliert sie an unsere Fähigkeit zur demokratischen Solidarität.   Bei einem wichtigen Punkt bleibt sie allerdings merkwürdig unkritisch gegenüber den Kritikern der Moral. Als wären tatsächlich die einen für Moral und die anderen dagegen. Dabei begründen selbst reaktionäre Haltungen ihre Anliegen letztlich moralisch. Auch sie entwerfen sich im Hinblick auf eine zukünftige Welt, wie Rabe sie zurecht als moralischen Anspruch einfordert:  Die Moral ist keine Last. Sie befreit uns von unseren niederen Instinkten. Sie gibt uns die Freiheit zu hoffen, weil wir wissen, dass eine Welt, die wir denken können, eine Welt ist, die es geben kann. Quelle: Anne Rabe – Das M-Wort Es hätte dem Buch gut getan, nicht der weit verbreiteten Rhetorik von Befürwortern und Gegnern der Moral verhaftet zu bleiben, sondern die gegenläufigen moralischen Horizonte herauszuarbeiten, vor denen argumentiert und gestritten wird. Dennoch lohnt sich die Lektüre und hilft dabei, sich der eigenen moralischen Position zu vergewissern.
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Oct 5, 2025 • 18min

Thomas Melle: Haus zur Sonne

Ein staatlich subventioniertes Projekt, in dem die Probanden ihre Wünsche erfüllt bekommen, um dann unauffällig aus dem Leben zu scheiden. Wieviel Selbstbestimmung hat man, wenn man erst einmal dort gelandet ist?
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Oct 5, 2025 • 19min

Dorothee Elmiger: Die Holländerinnen

Der Anruf eines Theatermachers bei einer Schriftstellerin. Ein Angebot, an einem künstlerischen Projekt im Urwald teilzunehmen. Es wird ein beunruhigender Trip in Zwischenzonen des Daseins, in denen die Sprache zu versagen droht.
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Oct 5, 2025 • 20min

Percival Everett: Dr. No

Ein Professor und Experte für das Nichts. Ein Milliardär, der nur ein Ziel hat: Ein Bösewicht zu werden. Ein Buch, das unter seiner humorigen Oberfläche davon erzählt, was die Welt derzeit massiv ins Wanken bringt.
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Oct 5, 2025 • 17min

Katerina Poladjan: Goldstrand

Auf engem Raum erzählt Katerina Poladjan von der ideologischen Wucht, die das 20. Jahrhundert geprägt hat. Von utopischen Entwürfen, kühnen Versuchen des Aus- und Aufbruchs. Und von den darauffolgenden Entzauberungen.
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Oct 5, 2025 • 1h 13min

SWR Bestenliste Oktober

Eine Premiere im Jubiläumsjahr: Die SWR Bestenliste gastierte zum ersten Mal im Studio Werkhaus des Mannheimer Nationaltheaters. Aus der Jury diskutierten Cornelia Geißler (Berliner Zeitung), Anne-Dore Krohn (Rundfunk Berlin-Brandenburg) und Paul Jandl (Neue Zürcher Zeitung) über vier ausgewählte Titel der SWR Bestenliste im Oktober. Auf dem Programm standen: Thomas Melles Roman „Haus zur Sonne“ (Kiepenheuer & Witsch), Percival Everetts Roman „Dr. No“ in deutscher Übersetzung von Nikolaus Stingl (Hanser), Dorothee Elmigers Roman „Die Holländerinnen“ (Hanser) und Katerina Poladjans Roman „Goldstrand“ (S. Fischer Verlag). Die Jury lobte die vier erstplatzierten Bücher der Oktober-Bestenliste durchgehend, allein bei Everetts James-Bond-Persiflage gab es unterschiedliche Meinungen zur Frage, ob es ein paar Pointen zu viel gebe und die Parodie in manchen Passagen leerlaufe. Die brillante Übersetzung des Werks wurde wiederum von allen Jury-Mitgliedern herausgestellt!
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Oct 5, 2025 • 4min

Patrick Lacan und Marion Besançon – Grün

Riesige Städte beherrschen die Welt in Patrick Lacans und Marion Besançons Graphic Novel „Grün“. Bilder aus der Satellitenperspektive zeigen, dass sie sich wie ein Nervengeflecht über die Erde ausgebreitet haben. Die Kontinente und Ozeane sind kaum noch erkennbar. Doch die Natur scheint unbeeinflusst von alldem. In den Städten gibt es Gärten und Parks, sogar Wald. Und unterhalb der gigantischen Autobahnen schlängeln sich Unmengen von Wurzeln durch die Erde, umschlingen Rohre und Drähte. Diesen stummen Wettbewerb um Lebensraum kleiden die Comic-Erzähler nicht etwa ins titelgebende Grün.   In zarten Bildern erobert sich die Natur den Raum zurück  Er findet in Schwarzweiß und vor allem unzähligen Stufen von Grau statt und beginnt harmlos. Überall auf der Welt werden Babys geboren, denen Blätter aus der Nase wachsen. Sie sind gesund und niedlich wie alle Babys. Trotzdem verfallen die Medien in Alarmbereitschaft.  Reporterin: Anscheinend wurde zunächst versucht, es zu vertuschen. Aber bei der aktuellen Größenordnung ist das unmöglich.  Ärztin: Wir haben nie versucht, es zu vertuschen. Das ist absurd! Reporterin: Wie dem auch sei, Frau Doktor, die Leute fangen an sich Sorgen zu machen. Handelt es sich um eine Epidemie?  Quelle: Patrick Lacan und Marion Besançon – Grün Misstrauen gegenüber den Familien breitet sich aus. Gleichzeitig wachsen überall die Pflanzen schneller, verbreiten sich durch Pollen. Bemerkenswert ist: Obwohl es eine Invasion ist, wirkt sie an keiner Stelle so. Denn Marion Besançons Strich ist zart und skizzenhaft. Ihre kunstvoll gezeichneten Bäume und Büsche, die immer üppiger werdenden Wälder kommen fast ohne Konturen aus, sind weich und einladend.   Umso erstaunlicher, dass einige Figuren so panisch auf die Schönheit der Natur reagieren. Was umso mehr irritiert, weil ihre kindlich-weichen Gesichter an die Ästhetik des Manga erinnern. Allen voran kapselt der alleinerziehende Vater Merlin sich ab und radikalisiert sich. Sein Sohn Clarence nimmt die Veränderungen als gegeben hin. Daneben führen Lacan und Besançon in Episoden weitere Figuren ein. Sie leben alle in derselben Nachbarschaft: ein Männerpaar, ein Teenager-Mädchen und seine Mutter, eine Reporterin und ihre Großmutter, ein Paar mit Baby, dem immer mehr Blätter und Zweige wachsen. Wie überhaupt so gut wie alle Figuren irgendwann beginnen, Triebe zu bilden. Sogar Skeptiker Merlin entdeckt auf einem Röntgenbild winzige Zweige in seinem Kniegelenk.   Merlin: Was ist mit mir? Befreien Sie mich von diesem ...Alptraum, Doktor! (...) Arzt: Haben Sie Schmerzen? Wenn nicht, würde ich Ihnen raten, es so zu lassen. In letzter Zeit wurden viele Operationen durchgeführt, aber mit schlechtem Ergebnis. Entweder wächst es wilder nach oder es wird eine Behinderung  Quelle: Patrick Lacan und Marion Besançon – Grün Eine Metamorphose vollzieht sich über ein Jahr. Die Jahreszeiten teilen das Buch in seine Kapitel ein: Herbst, Winter, Frühling und Sommer. Die Verwandlung ergreift nach und nach den Figurenreigen, die Städte und schließlich alle Menschen.  Die Metamorphose ist zu schön, um wünschenswert zu sein  Mit feinem Gespür für die Dimensionen von Misstrauen und Neugier entwickelt Patrick Lacan die Haltung seiner Figuren, lässt einige der Kleingruppen aufeinandertreffen und mit ihnen auch ihre widersprüchlichen Gefühle zum wuchernden Grün. Verblüffend ist aber, dass Lacan die spannendste Dimension seines Gedankenspiels gar nicht thematisiert: nämlich wie Politik und Wirtschaft auf die sanfte Invasion reagieren. Zwar lässt er militante Pflanzengegner zum Kampf gegen den vermeintlichen Feind auflaufen. Aber das ist schon alles an sichtbarer Gesellschaft. Wenn schließlich im finalen Kapitel, im Sommer, die Comic-Welt und die Buchseiten komplett grün werden, dann ist die Welt, wie wir sie kennen, etwas zu sang- und klanglos verschwunden. Denn die Zweifel, ob eine Natur, die die Individualität des Menschen zerstört, eine wünschenswerte ist, haben in diesem Comic keinen Raum. Und so bleibt nach dem Lesen ein zwiespältiger Eindruck zurück. Trotz der Schönheit der saftig grünen Bilder.

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