

SWR Kultur lesenswert - Literatur
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Sep 17, 2025 • 4min
Können Tiere den Tod verstehen? Susana Monsós „Das Schweigen der Schimpansen"
2018 brachte ein Orca-Weibchen nach 17-monatiger Schwangerschaft ein Jungtier zur Welt. Leider überlebte es keine halbe Stunde lang. Was dann folgte, war aus Sicht von Forschern höchst ungewöhnlich: Die Mutter trug ihr totes Kalb nämlich einfach weiter huckepack durchs Meer, über zwei Wochen lang, mehr als 1000 Meilen weit.
Viele verfolgten die Tragödie in den Medien, und die spanische Philosophin Susana Monsó glaubt auch zu wissen, warum:
Wir glaubten, genau zu verstehen, was die Walmutter durchmachte; in ihrem Verhalten spiegelten sich unsere eigenen schmerzlichen Erfahrungen angesichts des Verlusts eines geliebten Menschen.
Quelle: Susana Monsó – Das Schweigen der Schimpansen
Empfinden Tiere Trauer?
Können Tiere den Tod verstehen? Können sie wie wir Trauer und Verlust empfinden? Lange wurde Trauer für ein Alleinstellungsmerkmal des Menschen gehalten. Inzwischen werden immer mehr Fälle bekannt, die diese Ansicht in Frage stellen: Schimpansen in einem Gehege, die sich, wie um Abschied zu nehmen, nach dem Tod eines Gruppenmitglieds still am Zaun aufreihen.
Elefanten, die beharrlich die Stoßzähne toter Artgenossen mit sich herumtragen. Delfine, die für ein sterbendes Gruppenmitglied eine Art Floß bilden, um ihm das Atmen zu erleichtern.
Für Susana Monsó stellen sich angesichts solcher Beispiele jedoch viele Fragen. „Das Schweigen der Schimpansen. Wie Tiere den Tod verstehen“ ist ihr kluges, nachdenkliches, vorzüglich lesbares Buch betitelt. In ihm erinnert die Philosophin daran, dass solche Fälle praktisch immer anekdotisch und daher von begrenzter Aussagekraft sind.
Zum anderen aber findet die Philosophin es bezeichnend, dass wir uns vor allem für Berichte interessieren, in denen wir uns und unsere Reaktionen auf den Tod wiederzuerkennen glauben – für Monsó ein Beispiel für „emotionalen Anthropozentrismus“. Als wäre der Mensch der Maßstab für den richtigen Umgang mit dem Tod.
Zerstörte, irreparable Körper
Dabei glaubt die Autorin durchaus, dass zahlreiche Tierarten über ein „Konzept vom Tod“ verfügen. Nur tue man gut daran, sich daran zu erinnern, dass Tiere beim Anblick eines toten Lebewesens alles Mögliche verspüren können, so Monsó – inklusive Hunger oder Freude. Und vor allem: dass der Tod in der Natur etwas völlig anderes sei als für uns, also kein klinisch-abstraktes Ausnahmeereignis, im Gegenteil.
Der Tod ist etwas sehr Konkretes und Greifbares, etwas, was man riechen, anfassen und schmecken kann. Die Toten sind keine abwesenden Individuen, sondern vor allem zerstörte und irreparable Körper.
Quelle: Susana Monsó – Das Schweigen der Schimpansen
Damit ein Tier überhaupt verstehen könne, dass ein anderes Tier, ob nun ein Artgenosse oder nicht, tot sei, müsse es laut Susana Monsó zwei Dinge erkennen: dass das tote Tier sich nicht mehr so verhält, wie es normalerweise zu erwarten sei. Und dass dieser Zustand unumkehrbar ist. Ameisen zum Beispiel erkennen dies nicht; wenn sie eine tote Arbeiterin aus dem Nest tragen, dann deshalb, weil sie instinktiv auf einen bestimmten Verwesungsgeruch reagieren.
Listiges Opossum, überraschte Räuber
Wer beweisen wolle, dass es im Tierreich tatsächlich zumindest eine Art „Minimalkonzept vom Tod“ gebe, sollte sich laut Monsó am besten an Beutegreifer halten: an Tiere also, die genau darauf achten müssen, ob ihre Beute alt, verletzt oder krank ist.
Und die sichtbar überrascht sind, wenn ein vermeintlich totes Tier plötzlich wieder quicklebendig ist – wie das Opossum, das das Sich-tot-Stellen regelrecht zur Kunst erhoben hat, inklusive heraushängender Zunge und der Absonderung von Fäulnisgeruch.
Ein Verteidigungsmechanismus, der für die Philosophin zumindest eines belegt: dass die Gegenseite, also die Fressfeinde der putzigen Nager, den Unterschied zwischen lebendig und tot nur zu gut kennen. Also ja, Tiere verstehen wohl wirklich den Tod – nur eben anders als wir.

Sep 16, 2025 • 4min
Weike Wang – Die Ferien | Buchkritik
Keru und Nate sind seit fünf Jahren verheiratet. Sie machen Urlaub am Cape Cod – jene Halbinsel an der Ostküste der USA, in deren Licht Eduard Hopper über dreißig Jahre lang malte und die bei US-Präsidenten seit den Kennedys beliebt ist. Dass das Paar am Cape Cod nur bedingt zur Ruhe kommt, liegt daran, dass sie nacheinander ihre Eltern zu sich eingeladen haben.
Und die beäugen ihre Beziehung zum Teil kritisch: Kerus Eltern sind aus China in die USA eingewandert, als sie sechs Jahre alt war. Nates Eltern stammen aus North Carolina. Dass ihr Sohn mit einer Einwanderin zusammen ist, führt zu vielen Fragen, in denen stets Vorurteile mitzuschwingen scheinen. So interessiert sich Nates Mutter mit großer Ausdauer für das Thema Staatsbürgerschaft:
Er erklärte ihr den Prozess in allen Einzelheiten. Um die US-Staatsbürgerschaft zu erhalten, hatten Keru und ihre Eltern ihre roten chinesischen Pässe abgegeben, und zwar bevor Keru das Teenageralter erreicht hatte. Sie hatten sich einer schriftlichen und mündlichen Prüfung unterzogen, den Treueschwur auf die Fahne geleistet, sich fest die Hände schütteln und gratulieren lassen, Sie befinden sich nun im Land der Freiheit, also das, was Ihre frühere Heimat nicht ist.
Quelle: Weike Wang – Die Ferien
Migrationserfahrung und sozialer Aufstieg als Themen
So wie ihre Protagonistin hat auch Weike Wang als junges Mädchen China mit ihren Eltern verlassen. Dass sie in Harvard Chemie studiert und promoviert hat, merkt man ihrem Roman deutlich an. Mit wissenschaftlicher Präzision hält sie Situationen fest, in denen die chinesische und die amerikanische Kultur aufeinanderprallen.
Gerade Keru, die in einer Beraterfirma Karriere macht, sitzt zwischen den Stühlen. Ihr ist der soziale Aufstieg zwar gelungen, ihre Herkunft kann sie aber ebenso wenig abschütteln wie die Bilder der einfachen, amerikanischen Familie, die sie im Kopf hat:
Kerus Eltern konnten sich nicht mehr assimilieren, aber ihre Tochter vielleicht schon. Keru fühlte sich zweierlei Kräften ausgesetzt, dem Druck ihrer Eltern, die sie zur Assimilation drängten, und der Anziehungskraft der sagenumwobenen weißen Familie, in der man als schlimmste Strafe ohne Hackbraten ins Bett geschickt wurde und unter eingespieltem Gelächter hinauf ins Zimmer stapfte, in das wenig später dann doch noch die Mutter kam, mit Schokolade, und einem zur Nacht einen Kuss auf die Stirn drückte.
Quelle: Weike Wang – Die Ferien
Trockener Humor und genauer Blick auf die USA von heute
Weike Wangs Roman überzeugt nicht nur mit plastisch gezeichneten Figuren, sondern auch mit seinem trocknen Humor und einem genauen Blick auf die gespaltene US-Gesellschaft von heute: So leben Nate und Keru in New York, ihre Eltern aber in ländlichen Gegenden in North Carolina und Minnesota.
Dass sich Nate, der als Biologe ausgerechnet zum Verhalten von Fruchtfliegen forscht, von seinen Eltern entfremdet hat, liegt aber nicht nur an den unterschiedlichen Lebenswelten, sondern hängt auch mit der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten im Jahr 2016 zusammen:
Dummerweise hatte Keru auch ihre Mutter um Rat gebeten, die Nates Entfremdung von seiner Mutter sofort als impulsiv abgetan hatte. Jungen Menschen fehlt die Perspektive«, sagte sie. Die haben noch nicht gelernt zu leiden. Im schlimmsten Fall ist derjenige, den sie gewählt haben, acht Jahre im Amt. Was ist das schon im Vergleich zu einer ganzen Kindheit unter dem Vorsitzenden Mao? – Irgendwann kam immer die Mao-Karte ins Spiel. Genau wie die Trump-Karte.
Quelle: Weike Wang – Die Ferien
„Die Ferien“ berührt als Buch, das davon handelt, wie Herkunft den weiteren Lebensweg beeinflusst. Der Roman unterläuft auf geschickte Weise die US-amerikanische Erzählung, dass jeder es allein mit harter Arbeit zu etwas bringen kann. Das wird vor allem in Nates trostlosem Alltag als Juniorprofessor deutlich, der sich mit Beschwerden von Studierenden und endlosen Sitzungen in Ausschüssen herumschlagen muss.
Weike Wang hat mit „Die Ferien“ einen Roman vorgelegt, der sich einerseits als unterhaltsame Ferienlektüre anbietet, der andererseits aber auch als lakonisch geschriebenes und schonungsloses Porträt der US-Gesellschaft überzeugt.

Sep 15, 2025 • 4min
Gertraud Klemm – Abschied vom Phallozän. Eine Streitschrift
„Es ist das Patriarchat, stupid“: In ihrem 140 Seiten starken Essay stellt Gertraud Klemm die These auf, dass wir nicht im „Anthropozän“, sondern im „Phallozän“ lebten. Umweltzerstörung, Kriege, Rassismus und globale Ungerechtigkeit: All diese Miseren seien das Produkt einer Männerherrschaft, die vor etwa 5000 Jahren begonnen habe. Die Menschheit wäre besser dran, so Klemm, wenn die Frauen das Sagen hätten.
„Eine matriarchalische Gesellschaft wäre auf jeden Fall gerechter, sowohl, was die Geschlechtergerechtigkeit betrifft, als auch, was die Ökonomie betrifft: Es gäbe keine Klassenunterschiede, und es gäbe auch keinen Rassismus oder keine ausbeuterischen Systeme“, meint die Autorin.
„Das bezieht sich auch auf die Natur, die respektvoll behandelt wird und nicht benutzt. Und last but not least: Die Spiritualität wäre eine vollkommen andere; die würde keinen transzendenten Gott kennen, es ginge eher um die Einbeziehung der Natur und des Prinzips des Lebens in alltägliche Handlungen.“
Nötige Reformen, um das Leben von Frauen zu verbessern
Die Patriarchats-Kritik, wie Gertraud Klemm sie in ihrem erfrischend kämpferischen Buch formuliert, haben andere Autorinnen – Kate Millet und Simone de Beauvoir etwa – auch früher schon artikuliert. In der öffentlichen Diskussion spielt dieser Ansatz dennoch eine marginalisierte Rolle.
Das will Klemm mit ihrer Streitschrift ändern. Natürlich weiß die Autorin, dass die Einführung eines Matriarchats im westlichen Konkurrenz-Kapitalismus bis auf weiteres Utopie bleiben muss. Deshalb plädiert sie zugleich für handfeste politische und soziale Reformen – für Reformen, die das Leben von Frauen und anderen benachteiligten Gruppen nachhaltig verbessern.
Ist der heutige Feminismus zu verkopft?
Der heutige Feminismus sei vielfach zu verkopft, kritisiert die Schriftstellerin, akademische Diskussionen über die richtige Platzierung von Gendersternchen sagten der Mehrzahl der Frauen nichts – und brächten ihnen auch nichts in der Tretmühle der täglichen Drei- und Vierfachbelastung.
„Ich glaube wirklich, dass wir uns wieder die Gummistiefel anziehen müssen und die Drecksarbeit angehen müssen. Wir sollten uns auf praktikable Lösungen konzentrieren in der Politik. Da nenne ich als Beispiel gerne, dass wir Verhütungsmittel auf Kasse fordern, dass man dem Schwangerschaftsabbruch endlich aus dem Strafgesetz rausbekommt, dass man sich wirklich endlich anschaut, wie das mit dem gleichen Geld für gleiche Arbeit ist.“
Feministinnen sollten sich nicht spalten lassen
Vor einigen Wochen stand Gertraud Klemm wegen angeblich transfeindlicher Texte im Zentrum einer Cancel-Culture-Affäre, die ihr nicht nur Ärger, sondern auch viel Solidarität – und ein dreiseitiges „Spiegel“-Interview – eingebracht hat. Klemm dazu:
„Man kann nicht abstreiten, dass mir das auch genutzt hat. Das gebe ich zu. Aber ich möchte trotzdem dazu sagen, dass es mich sehr gekränkt und geärgert hat.“
Geärgert hat sich Gertraud Klemm nicht nur aus persönlichen, sondern auch aus politischen Gründen: Babyboomer-Feministinnen wie sie und jüngere Aktivist:innen des Queerfeminismus sollten sich nicht gegeneinander ausspielen lassen, fordert die Autorin:
„Das Abbild, das wir da jetzt quasi symbolisch hergestellt haben, ist fatal. Ich frage mich, was war der Preis? Und was hat es eigentlich zu gewinnen gegeben in der ganzen Sache? Und da gibt’s eigentlich nur Verliererinnen – und eine Menge Gewinner. Das sind dann halt die alten Patriarchen, die sich die Hände reiben und sagen können: Schaut, wir haben es euch ja gesagt: Die halten nicht zusammen, die lassen sich relativ schnell spalten.“
Und Spaltung, findet Gertraud Klemm, ist das Letzte, was feministische Bewegungen brauchen können – zumal in einer Zeit, in der nach Meinung vieler ein neuer männerbündlerischer Faschismus, ein Faschismus 2.0, vor der Tür stehen könnte.

Sep 14, 2025 • 4min
Gefangen in den Schrecken der Zeitgeschichte
Zwei Dinge spielen im Familienleben von Karl und Rita eine ganz besondere Rolle: der Keller und ihr VW-Bus. Im Keller suchen sie mit ihren Töchtern Martha und Olivia Schutz vor dem Angriff von Feinden, namentlich den Russen. Im VW-Bulli dagegen suchen sie das Weite, er gestattet ihnen die Flucht aus der von Angst erfüllten Enge ans Meer.
In den Köpfen ist der Krieg noch nicht zuende
Zwar ist der Zweite Weltkrieg längst vorbei, man schreibt die sechziger Jahre, aber die Ängste, die Karl aus dem Krieg mitgebracht hat, sind noch lebendig und er hat Frau und Töchter damit angesteckt. Als transgenerationale Traumata sind solche „Gefühlserbschaften", wie Sigmund Freud das nannte, zunehmend ins öffentliche Bewusstsein getreten.
Von einem solchen Fall handelt Lina Schwenks Debütroman „Blinde Geister". Wenn die Großmutter namens Fritzchen zu Besuch kommt, wird auch die Enkelin Olivia von den Schrecken der Vergangenheit in Bann geschlagen.
Mir bleibt nichts anderes übrig, als zuzuhören. Sie erzählt von früher, vom Krieg, von etwas so Grausamem, das ihr wirklich passiert ist. Als Familie etwas war, das verging. Ich greife ihre Hand und halte mich fest.
Quelle: Lina Schwenk – Blinde Geister
Familiäre Nähe hautnah beschrieben
Das kleine Ensemble von Romanfiguren ist eine Familie im fortwährenden Ausnahmezustand. Umso näher rücken sie zusammen, halten sich aneinander fest, streicheln sich, suchen die körperliche Nähe und es ist diese Nähe, die den Erzählstil bestimmt.
Wie in mikroskopischer Vergrößerung arbeitet die Autorin die Berührungen, Gesten, das ganze Feingewebe des familiären Miteinanders heraus.
Paramilitärische Übungen im Turnunterricht
Eingerahmt von Prolog und Epilog, die den zwischen Todesangst und Lebenslust schwankenden Befindlichkeiten der Eltern gewidmet sind, blickt die Tochter Olivia zurück auf die Stationen ihres eigenen Lebenslaufs:
Von den Stunden im Keller während politischer Krisenzeiten, von dem Lehrer, der den Turnunterricht in paramilitärische Übungen verwandelte, über ihre Zeit in der Psychiatrie bis hin zur Ehe mit Paul, aus der die Tochter Ava hervorging, die durch den russischen Überfall auf die Ukraine ihrerseits mit den aktuellsten Kriegsängsten konfrontiert wird.
In ihrem Beruf als Krankenschwester sind für Olivia die alten Zwangsvorstellungen fast schon zu einer alltäglichen Phantasie geworden.
In letzter Zeit macht es mir am meisten Spaß, im Krankenhaus über die Gänge zu streichen, als wäre ich in einem Lazarett. Ich stelle mir vor, ich sei die letzte verbliebene Schwester, die Alliierten nahten, und ich müsste meine Patienten in einen versteckten Keller bringen.
Quelle: Lina Schwenk – Blinde Geister
Was der Stress von Krieg und Krisen anrichtet
Die subjektive Erzählperspektive der psychisch labilen Olivia, die erst langsam im Leben Tritt findet, bestimmt den größten Teil des Romans. Der damit verbundene Verzicht auf auktoriale oder begriffliche Deutungen des Geschehens erzeugt eine intensive, beklemmende Atmosphäre, wirkt aber nicht immer leicht durchschaubar.
Als individuelle Fallgeschichte einer traumatischen Belastungsstörung funktioniert das sehr gut. Mit einem kollektiven Stimmungsbild der Nachkriegsjahrzehnte darf man das allerdings nicht verwechseln.
Ganz gewiss aber erinnert „Blinde Geister" eindringlich daran, was der zeithistorische Stress von Krieg und Krisen in den Seelen der Menschen anrichten kann, damals wie heute.

Sep 12, 2025 • 7min
Wahnsinn und Trieb
Schon in den ersten Zeilen, in den ersten Sätzen ist sie da: Die Stimmung, die diesen erstaunlichen Roman trägt. Der Tonfall, der in einer Mischung aus Märchenhaftigkeit und einprägsamen Bildern seine ganz eigene Welt erschafft; ein Szenario, das etwas Unheimliches entfaltet, minimal über der Wirklichkeit zu schweben scheint und trotzdem fest eingebettet ist in den historischen Kontext:
Am Rand des dunklen Waldes lag noch der Schnee des verendeten Jahrhunderts, als Lajos von Lázár, das durchsichtige Kind mit den wasserblauen Augen, zum ersten Mal den Mann erblickt, den er bis über seinen Tod hinaus für seinen Vater halten wird. Es war der Tag der drei Könige – der Wald schluckte das letzte trübblaue Licht. Das Zimmer, in dem der Junge geboren wurde, lag im Westflügel des Waldschlosses, gleich neben dem blaugestrichenen, das nie jemand betrat.
Quelle: Nelio Biedermann - Lázár
Roman mit autobiografischem Hintergrund
Es ist der 6. Januar 1900. Der Beginn eines von Ideologien beherrschten Jahrhunderts, das auch das Adelsgeschlecht der ungarischen Familie Lázár in den Griff nehmen und zersprengen wird. Davon, unter anderem, erzählt Nelio Biedermann über vier Generationen bis ins Jahr 1956.
Der Stammsitz der Lázárs, ein abgelegenes Schloss rund 200 Kilometer von Budapest entfernt, wird von der Weltgeschichte immer einen Tick später erfasst als die großen Zentren. Das liegt auch daran, das Baron Sándor, Lajos‘ Vater, in seinem Snobismus die Zeitungen aus der Hauptstadt kommen lässt und den Nachrichten immer einen Tag hinterherhängt. Ein kleines, sprechendes Detail, wie so viele in diesem Roman.
„Lázár“ ist ein Buch mit autobiografischem Hintergrund. Nelio Biedermann entstammt der österreich-ungarischen Adelsfamilie Biedermann von Turon. Seine Großeltern haben, wie Lajos‘ Sohn Pista und seine Frau Eva im Roman, nach dem gescheiterten Aufstand 1956 die Flucht ergriffen.
Biedermann hat für seinen Roman Zeitzeugen befragen können, wie er erzählt:
„Ich hatte das Glück, meinen Großonkel in Budapest über die Zeit, in der der Roman spielt, ausfragen zu können. Er ist selbst noch in einem Schloss aufgewachsen und hat die Enteignung am eigenen Leib miterlebt. Durch ihn konnte ich das Gefühl für diese Zeit erlangen und wusste, was die Figuren damals gegessen, wie sie sich gekleidet und gesprochen und worüber sie sich Sorgen gemacht haben.“
Anklängen an die großen Romanciers des 20. Jahrhunderts
Diese Authentizität ist eine der großen Stärken des Romans. Die andere ist seine geschmeidige Sprache, die gesättigt ist mit Anklängen an die großen Romanciers des 20. Jahrhunderts, an Thomas Mann, an Marcel Proust oder auch an Joseph Roth, der in seinen Romanen das habsburgische Reich in aller Pracht noch einmal hat auferstehen lassen, um es dann lustvoll in den Untergang zu führen.
„Lázár“ hat nichts Anbiederndes und auch nichts Großspuriges. Biedermann ist kein Autor, der sein Können ausstellen will. Vielmehr dienen ihm die Vorbilder als produktive Elemente, um einen eigenen Stil zu entwickeln:
„Ich bewundere Proust und Thomas Mann für ihren makellosen, fließenden Ton und habe versucht, das irgendwie auch zu erreichen. Ich habe mir meine Texte, bevor ich sie abgetippt habe, - ich schreibe alles von Hand - , immer laut vorgelesen, um möglichst nahe an diesen Ton heranzukommen. Gleichzeitig war es mir aber wichtig, dass die Perspektive, aus der ich auf diese Zeit blicke, eine moderne ist. Dass also der Ton zwar klassisch sein kann, die Perspektive aber eine heutige bleibt.“
Ein Roman, der Spaß macht
„Lázár“ ist ein Roman, der großen Spaß macht. Sauber konstruiert, den großen erzählerischen Bogen schlagend, aber im Detail voll von Szenen, die lange nachwirken. Da ist Mária, Lajos‘ unglückliche Mutter, die sich bereits früh das Leben nimmt. Da ist Sándor, das Familienoberhaupt, erstarrt in der Vergangenheit, das sich allmählich zu Tode trinkt.
Da sind vor allem aber die Zeitläufte, von denen die Familie Lázár mitgerissen wird – der Zusammenbruch der Habsburger Monarchie, der Nationalsozialismus, der Kommunismus, die Zwangsenteignung, die Demütigungen.
Mal ist man Täter, mal Opfer, oft auch beides zugleich.
Imre: die Lieblingsfigur des Autors
Opportunismus, Dünkel, Trieb und Dekadenz ziehen sich als Leitmotive durch den Roman. Die schillerndste Figur ist Lajos‘ als verrückt geltender Onkel Imre, der im Waldschloss in einem abgeschlossenen Zimmer vor sich hinlebt.
Der Wald, die Unheimlichkeit, das Gespenstische haben Imre in sich eingesogen. Imre hat seine schauerromantischen Lektüren ernst, allzu ernst genommen und ist über die Literatur in den Wahnsinn abgeglitten:
Das erste Nachtstück war eine Erzählung, die den Titel Der Sandmann trug. Imre las sie im Schein der Lampe, die auf dem Tischchen neben seinem Bett stand, in einem Zug durch. Als er das Buch neben die Lampe legte, fiel ihm auf, dass seine Hand zitterte, dann, dass auch sein Arm sich unruhig hin und her bewegte, und schließlich, dass sein ganzer Körper bebte. Den Blick auf den schwarzen Einband des Buchs geheftet, wartete er darauf, dass der Anfall verebbte.
Quelle: Nelio Biedermann - Lázár
Klarsicht trotz Wahnsinn
Der wahnsinnige Imre, der nur selten auftaucht, ist im Grunde der unbestechliche und klare Beobachter des Jahrhunderts. Biedermann rückt das tobende Jahrhundert durch den Filter des vermeintlich Wahnsinnigen immer wieder dezent in ein neues Licht. Der Autor selbst sagt über Imre:
„Imre ist auch meine Lieblingsfigur, was sicher daran liegt, dass er trotz seiner Verrücktheit und seiner Sensibilität die meisten anderen Figuren überdauert und eigentlich immer das Richtige zu tun versucht und sich den Verstrickungen, in die sich die anderen Figuren begeben, entzieht und trotz seinem Wahn eine sehr starke Klarsicht erlangt.“
„Lázár“ ist eine große literarische Leistung
Ja, „Lázár“ ist ein in sich perfektes kleines Wunderwerk. Das enorm frühreife Buch eines jungen Schriftstellers, der nie eine Schreibschule besucht und stattdessen viel gelesen und viel verstanden hat.
Man wird die Uhr danach stellen können, wann die ersten Kritiken den Roman als triviale Adels-Soap-Opera abkanzeln werden. Das ist schlicht Unsinn: „Lázár“ ist eine große literarische Leistung.

Sep 12, 2025 • 10min
Was Zähneknirschen über Kriegstraumata erzählt – Jehona Kicaj über ihren Roman „ë“
Im Albanischen wird der Buchstabe „ë“ nicht ausgesprochen, aber er verändert die Betonung des Wortes. Das hat die Autorin Jehona Kicaj zu der Idee für den Titel ihres Debütromans „ë“ gebracht:
„Wenn ich an kriegsversehrte Menschen denke oder an eine kriegsversehrte Gesellschaft, dann ist es oftmals so, dass da etwas ist, was die Menschen beschäftigt, worüber aber nicht gesprochen wird. Aber trotzdem ist ja etwas da und macht etwas mit den Menschen, auch wenn sozusagen die Worte dafür fehlen“, so die Autorin.
Knirschende Sprache
Ihr Debütroman steht auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis. Darin folgen wir einer namenlosen Ich-Erzählerin. Eine junge Frau, die im Kosovo geboren ist, mit ihren Eltern aber vor Kriegsausbruch 1998 nach Deutschland fliehen konnte. Das Buch beginnt damit, dass diese Erzählerin eines Morgens ein abgebrochenes Stück Zahn im Mund hat.
Sie mahlt nachts mit dem Kiefer. Jehona Kicaj habe es schon immer interessiert, wie man mit Mitteln der Literatur Sprachlosigkeit ausdrücken kann. Am meisten geprägt habe sie der Schriftsteller Heinrich von Kleist. In seinen Texten spricht der Körper, wenn Figuren in Ohnmacht fallen, erröten oder erblassen.
Sprachlosigkeit führt zu körperlichen Schmerzen
Ihre Hauptfigur hat den Kosovokrieg nicht am eigenen Leib erfahren, dennoch arbeiten die Traumata ihrer Eltern und eigene Erfahrungen mit Rassismus so stark in ihr, dass sie sich nachts die Zähne kaputt mahlt, weil sie für all diese Erfahrungen in ihrem jungen Alter noch keine Sprache habe.
„Sie kann das noch nicht in Worte fassen. Und all das schreibt sich in ihren Körper ein und findet irgendwann seinen Weg, bricht sich Bahn im Grunde durch das nächtliche Zähneknirschen“, sagt Kicaj.
Alleingelassen in der Diaspora
Der Kosovokrieg dauert von 1998 bis 1999. Er ist nicht lange her, und trotzdem scheint dieser Krieg aus dem europäischen Gedächtnis verschwunden zu sein, das beobachtet auch Jehona Kicaj. Für die Betroffenen vor Ort aber auch für die, die in der Diaspora leben, führe das zu großem Schmerz. Jehona Kicaj ist 1991 im Kosovo geboren und in Deutschland aufgewachsen.
Dass der Kosovokrieg in der deutschen Erinnerungskultur keine Rolle spiele, sei für sie unerträglich. Besonders schlimm sei es gewesen, als 2022 Russland die Ukraine angriff:
„Die deutschen Tageszeitungen titelten damals oft, das sei der erste Krieg auf europäischem Boden seit Ende des Zweiten Weltkrieges.Und ja, das ist unerträglich, weil ich nicht verstehen kann, wie man all diese Kriege, die auf europäischem Boden und die nur zwei Flugstunden entfernt stattgefunden haben, wie man die vergessen kann“, so Kicaj.
Kriege dürfen nicht vergessen werden
Jehona Kicaj erinnert an ein Zitat des Schriftstellers Lukas Bärfuss. Als er mit dem Georg Büchner-Preis ausgezeichnet wurde, sagte er: „Wer den letzten Krieg vergisst, bereitet schon den nächsten vor.“ Dieser Satz sei Jehona Kicaj unter die Haut gegangen: „Kurz darauf startete eben Russland seinen Angriffskrieg auf die Ukraine. Und heute denke ich rückblickend, das war irgendwie prophetisch und gespenstisch.“

Sep 12, 2025 • 9min
Erkenntnisreich und voller Überraschungen – Der Band „Rilke zeichnet“
Mäuse, Häuser und Soldaten – die frühen Kinderzeichnungen Rilkes
Das ist die erste Überraschung: gleich auf mehreren Tischen ausgebreitet, liegen etliche Kinderzeichnungen Rilkes. Ein Bild zeigt eine Maus auf hohen Stelzenbeinen, ein Haus im Hintergrund und an der Seite eine Art Brunnen. Darunter ein Kommentar, den Rilkes Mutter, Phia Rilke, vermerkt hat und den die Literaturwissenschaftlerin und Mitautorin Gunilla Eschenbach vom Deutschen Literaturarchiv Marbach so entziffert:
„Also hier schreibt die Mutter selbst: 'gezeichnet von meinem theuersten Renetschi mit 4Jahren – 1879.`Und sie schreibt sogar noch `Dezember', um zu betonen, dass er da knapp gerade erst vier Jahre alt geworden war und schon zeichnen konnte.“
Eine freundliche Kindergärtnerin hilft mit
Für vier Jahre – ein Alter, in dem Kinder in der Regel erst an Kopffüßlern herumkrakeln - eine höchst bemerkenswerte Leistung. Noch erstaunlicher eine Zeichnung, die ein halbes Jahr später entstanden ist: Sie zeigt einen marschierenden Tambourmajor von der Seite mit einem Stab in der Hand.
Der hohe Hut, die Knöpfe der Uniform, die Haare – alles sehr detailliert gezeichnet. Daneben – auffällig anders – ein eher gekritzelter Baum.
„Das ist jetzt auch eine Neuentdeckung von uns. Dank der Erinnerungen der Mutter, dass Rilke eine Kindergärtnerin hatte. Das schreibt die Mutter tatsächlich. Der Name Kindergärtnerin fällt. Also eine lustige Kindergärtnerin ist gekommen mehrfach die Woche und hat sich mit Rilke beschäftigt, hat offenbar – das vermuten wir stark – mit ihm zusammen gezeichnet.
Denn in all diesen Zeichnungen aus der frühen Kindheit sieht man, da wird von mehreren Seiten bemalt. Rilke malt irgendeine Form vor, jemand anders macht aus dieser Form etwas. Nämlich hier eine Figur. Oder Rilke will Pferde zeichnen, das scheint ihn früh interessiert zu haben. Und eine Person leitet an und malt den Kopf und Rudimente des Körpers zur Vervollständigung durch das Kind.“
Die Überlieferung der Bilder war nicht vorgesehen
Dass diese frühen Kinderzeichnungen überhaupt erhalten sind, ist der Familie, vor allem seiner Mutter Phia zu verdanken, die damit indirekt auch ihren Anteil an der frühkindlichen, künstlerischen Förderung des Sohnes dokumentiert wissen wollte.
Die Überlieferung des gesamten Bildmaterials ist alles andere als selbstverständlich, betont denn auch Sandra Richter, Leiterin des Deutschen Literaturarchivs Marbach, die ebenfalls an dem Band „Rilke zeichnet“ mitgearbeitet hat:
„Eigentlich war das nicht vorgesehen. Rilke ging davon aus, dass seine Zeichnungen verloren sein sollten. Er wollte ausschließlich in der Erinnerung von einzelnen Persönlichkeiten – Freunden, Bekannten – erhalten sein. Auch optisch. Aber von Bildern war eigentlich gar keine Rede.“
Ein Wortkünstler mit Talent zum Zeichnen
Auch Rilkes Verleger Anton Kippenberg interessierte sich ausschließlich für den Wortkünstler. Der Zeichner Rilke taucht in den im Insel Verlag ab 1955 veröffentlichten Werken nicht auf. Für das „Unfertige, das Misslungene, das Private“ und damit eben auch für die Bilder war kein Platz, heißt es in dem Band „Rilke zeichnet“, der diese eher unbekannte Seite Rilkes in seiner ganzen Vielfalt erstmals öffentlich macht.
Und das ist eine weitere Überraschung: Der junge Rilke war ein durchaus talentierter Zeichner wie ein Selbstporträt zeigt, das er mit 12 Jahren angefertigt hat.
„...das wirklich beeindruckend aussieht. Zum einen sind die Umrisse des eigenen Gesichts ganz klar gezeichnet. Womöglich sogar etwas ästhetisiert – man sehe nur die sehr hohe Stirn. Klar konturiert. Wunderschön der entstehende Bart gezeichnet. Schon mit 12 – ganz beeindruckend. Die Schattierung ist nahezu professionell mit Strichen, die nicht mehr einfach so schraffiert wirken, sondern ganz klar gesetzt. Die Haare sind bloß angedeutet, die Augenbrauen stark.
Also das ist eigentlich ein junger Mann, der eher 18 Jahre alt ist vielleicht. Ein junger Mann, der imponiert und ganz gewiss kein Jugendlicher mehr. Und ein Mann, von dem die Frauen vielleicht nicht gesagt hätten, wie sie es reihenweise getan haben: er war hässlich. Sondern im Gegenteil: René Rilke war ein junger Beau.“
Rilke als Beobachter
Mag Rilke an dieser Stelle seiner Wunschvorstellung etwas nachgeholfen haben, so zeigt er sich an anderer Stelle als penibler Beobachter seiner Umgebung. Er zeichnet Soldaten seiner Heimatstadt Prag, Militärkapellen, die Menschen in der Oper.
Daneben eine ganze Reihe mit Rittern und Drachen, schließlich eine Serie bunter Aquarellbilder: Husaren im Feld, in der Schlacht, mit Pferd, den sterbenden Husaren. Dass die asiatische Kunstwelt im Europa des 19. Jahrhunderts angekommen ist, spiegelt sich in einigen Aquarellen Rilkes wider.
Eines zeigt eine Geisha - in Goldfarbe mit nur wenigen gekonnten Pinselstrichen auf einen Briefumschlag gebannt. Rilke malt auf allem, was sich bemalen lässt. Auf einem Stück Holz oder auch auf den Deckel einer Tabakschachtel. Und mit Blick auf mehrere Landschaftsporträts, meint Sandra Richter:
„Wenn wir diese anschauen, dann sehen wir, dass er keinen eigenen Stil entwickeln wollte im Malen – weder im Aquarellieren noch im Zeichnen - , sondern dass er vielmehr nachgeahmt hat und dass es schön sein sollte im ganz klassischen, einfachen Sinne. Und das hieß eben: Palais malen, das Wasser blau, der Himmel blau.
Also nichts Kritisches oder Dergleichen, sondern im Gegenteil die Affirmation, die Bestätigung dessen, was er vorzufinden hoffte. Und das zieht sich durch viele seiner Zeichnungen hindurch, dass er eben offenbar sah, dass das nichts Neues ist, nichts Eigens ist, was er da macht, sondern etwas, was auch ihm zum Ausdruck verhilft. Aber eben nur unter anderem.“
Auch Rilke konnte Comics
Kein eigener Stil, doch der junge Rilke entwickelt eine bemerkenswerte Kunstfertigkeit. Besonders erstaunlich und sehr unterhaltsam: seine pointierten Karikaturen von der feinen Gesellschaft bis zum Hausierer. Und noch eine Überraschung: Rilke konnte auch Comics.
In einer kleinen, sehr humorvollen Bildgeschichte des Dichters muss ein ergrauter Herr feststellen, dass sich nur noch Damen im fortgeschrittenen Schwiegermutteralter für sein Werben interessieren. Rilke, der Dichter hoher Töne, konnte als Zeichner ganz schön hemdsärmelig sein. Gunilla Eschenbach erzählt:
„Man sieht hier einen also tatsächlich etwas älteren Herrn, der sich für eine Landpartie mit Stock und Botanisiertrommel ausgestattet hat. Und hier muss sich jetzt eine Gedankenblase wie in einem Comic denken, denn die Bildunterschrift lautet: Da man mir nur die Schals und Mantels derer zu tragen gibt, die schon Schwiegermütter, kann ich schon auf Eroberungen verzichten.
Und hier reicht ihm eine ganz bärbeißige und mindestens ebenso alte Dame mit Warze und Dutt und Korpulenz die Hand, um von ihm galant durch die Berge geleitet zu werden. Und wiederum sieht man hier in seinem Kopf: Die muss gerade die einzige sein Punkt Punkt Punkt Punkt , die er jetzt noch abkriegt.“
Ein rundum gelungener Hingucker
„Rilke zeichnet“ – der aufwendig gestaltete Band ist in jeder Beziehung ein grandioser Hingucker. Im Mittelpunkt stehen natürlich die über 150 dokumentierten Bilder Rilkes. Doch die Autorinnen – neben Gunilla Eschenbach und Sandra Richter ist auch unbedingt Mirko Nottscheid ebenfalls vom Deutschen Literaturarchiv Marbach zu nennen - sie leisten viel mehr.
Es gibt eine sorgfältige biografische Einordnung, die durch ergänzende Fotos, Briefe und Zitate abgerundet wird. Die Beziehung zwischen Zeichenkunst und Lyrik beleuchtet ein besonders ausführliches Kapitel über Rilkes Dinggedichte. Sein Verhältnis zur Malerei verändert sich im Laufe der Jahre, bekommt eine andere Bedeutung und dient mehr dazu, sich an bestimmte Eindrücke und Dinge zu erinnern.
So hält er in seinen Notizbüchern fest, was später Eingang in seine Lyrik findet: Im Pariser Atelier Rodins skizziert er in schnellen Strichen eine Panter-Skulptur des Bildhauers, im Jardin des Plantes studiert er den Flamingo und er notiert Kostüme, die er auf einem Gemälde sieht und die später für seinen Roman „Malte Laurids Brigge“ eine Rolle spielen.
Rilke konnte zeichnen, aber er hat zugleich erkannt, dass andere es besser konnten, meint Sandra Richter und stellt zugleich fest:
„Wenn man nun die Funde ernst nimmt, die wir hier sehen anhand dieses Notizbuches, muss man sagen zu den Neuen Gedichten ganz speziell, aber auch zu anderen Texten gehören diese Zeichnungen integral. Sie sind Teil des Werkprozesses, Teil des Schreibens. Und inwiefern sie genau das sind, das ist erst noch zu vermessen und zu überlegen. Welche Rolle spielen diese Zeichnungen gerade für einen Autor wie Rilke, der nicht umsonst immer wieder diesen einen Satz schreibt: ich lerne sehen.“

Sep 12, 2025 • 55min
Mit neuen Büchern von Nelio Biedermann, Jehona Kicaj, Nava Ebrahimi und Pier Vittorio Tondelli
Zwischen Kult und Shitstorm - Rilke offenbart seine künstlerische Seite, zwei Titel von der Longlist zum Deutschen Buchpreis könnten unterschiedlicher nicht sein und um Caroline Wahl tobt ein heftiger Shitstorm.

Sep 12, 2025 • 9min
Die Debatte um Bestseller-Autorin Caroline Wahl
Caroline Wahl erlebt gerade den Höhepunkt ihrer Karriere – und zugleich die Schattenseiten literarischen Ruhms. Ende August erschien ihr dritter Roman „Die Assistentin", der sofort auf Platz eins der Bestsellerliste kletterte. Damit reiht sich das Buch nahtlos in den Erfolg ihrer Vorgänger „22 Bahnen" und „Windstärke 17" ein.
Parallel läuft im Kino die Verfilmung ihres Debüts. An Caroline Wahl kommt derzeit kaum jemand vorbei, weder in Buchhandlungen noch in Feuilletons oder Sozialen Medien.
Zwischen Lob und Shitstorm
Doch wo Erfolg ist, lässt Kritik nicht lange auf sich warten. In den sozialen Netzwerken formierte sich schnell Widerstand: Schlechte Rezensionen auf Amazon, harsche Kommentare und ein wachsender Shitstorm richten sich nicht nur gegen Caroline Wahls Texte, sondern auch gegen ihre Person.
Wahl präsentiert sich selbstbewusst, betont ihren Ehrgeiz („Ich will die Beste sein“) und äußert offen Enttäuschung über verpasste Preise. Genau dieses Auftreten sorgt wohl bei vielen für Ablehnung.
Kritik an Themenwahl und Stil
Inhaltlich werfen Leserinnen und Leser der Autorin vor, einige problematische Passagen in „Die Assistentin" geschrieben zu haben. Etwa, wenn die Protagonistin Charlotte Narben von Selbstverletzungen als „faszinierend“ beschreibt. Fans, die ihre frühen Werke gefeiert hatten, sehen darin eine Romantisierung von selbstverletzendem Verhalten.
Zudem stören sich manche an Wahls Inszenierung auf Instagram: Während sie selbst aus bürgerlichem Umfeld stammt und ihren Erfolg offen zeigt, handeln ihre beiden Bücher „22 Bahnen" und „Windstärke 17" unter anderem von Armut – für manche ein Widerspruch.
Literaturkritik unter Druck
Auch im Feuilleton entzündet sich eine Diskussion. Kritikerinnen wie Iris Radisch werfen der Literaturkritik vor, zu milde mit Wahl umzugehen, während Stimmen auf Plattformen wie Amazon direkter urteilen würden.
Damit wird der Fall Wahl zu einem Beispiel für das Spannungsfeld zwischen Social-Media-Debatten, Vermarktung und klassischer Literaturkritik. Die hitzige Diskussion um Wahl zeigt weniger eine Krise der Literatur als vielmehr die Dynamik von Aufmerksamkeit, Kritik und Erfolg in digitalen Zeiten.

Sep 10, 2025 • 4min
Werner Plumpe – Gefährliche Rivalitäten | Buchkritik
Seit Jahrhunderten schon wechseln Phasen friedlicher ökonomischer Kooperation mit Wirtschaftskriegen, und nicht weniger erbittert liegen die ökonomischen Schulen des Freihandels und des Protektionismus miteinander im Clinch.
Der Wirtschaftshistoriker Werner Plumpe analysiert die wiederkehrenden Muster dahinter, mit denen sich auch unsere Gegenwart besser verstehen lässt. Allgemein gilt:
Die jeweils wirtschaftlich leistungsfähigere Seite plädiert für Handelsfreiheit, von der sie sich klare Vorteile verspricht, und sieht in den Schutzmaßnahmen des unterlegenen Partners illegitime Eingriffe in den Handel und die ökonomische Kooperation.
Quelle: Werner Plumpe – Gefährliche Rivalitäten
In der Epoche des Absolutismus entwickelte sich der Merkantilismus. Zölle und Einfuhrbeschränkungen sollten dafür sorgen, dass sich die eigene Wirtschaft hinter „Schutzmauern“ besser entwickelt.
Heute hat sich eher die Auffassung durchgesetzt, dass die Ökonomie kein Nullsummenspiel ist, bei dem eine Seite gewinnt, was die andere verliert, sondern dass Kooperation und freier Handel allen nützen und Wirtschaftskriege letztlich auch den Unternehmen und Konsumenten des eigenen Landes schaden.
Aggressive Freihandelsideologie
Aber auch der Freihandel kann destruktive Wirkungen haben. Die Briten, die im 19. Jahrhundert die Weltmeere dominierten und Verfechter des Freihandels waren, ruinierten mit ihren Exporten das indische Baumwollgewerbe; die Rolle der Inder beschränkte sich fortan auf die Lieferung von Rohbaumwolle. Und auf Opiumanbau.
In den Opiumkriegen erzwangen die Briten dann die Öffnung der chinesischen Märkte für den massenhaften Export der Droge, wodurch die Kolonie Indien Handelsbilanzüberschüsse erzielte, die dem Mutterland Großbritannien zugutekamen.
Zur Ironie der Geschichte gehört, dass die Briten zuvor ihre Industrie erfolgreich entwickelt hatten, indem sie sich von Importen abschotteten.
In den USA wiederum schirmte sich die aufstrebende Industrie der Nordstaaten durch Protektionismus und Zölle effektiv ab von der britischen Konkurrenz. Die baumwollexportierenden Südstaaten setzten dagegen auf Freihandel – ein Konflikt, der sich schließlich bis zum Bürgerkrieg zuspitzte, bei dem es nicht nur um die Sklavenfrage ging, sondern um divergierende wirtschaftliche Interessen und Konzepte.
Die amerikanische Tradition des Protektionismus
Jedenfalls haben die Vereinigten Staaten immer wieder positive Erfahrungen mit dem Protektionismus gemacht.
Der Aufstieg der USA zu ersten Wirtschaftsnation der Welt wurde hierdurch mit Sicherheit begünstigt, da das Land so groß und dynamisch war, dass sich ausländische Investoren und Unternehmen von den Zöllen nicht an den entsprechenden Engagements hindern ließen. Auch gründeten viele Unternehmen Niederlassungen in den USA, um die dortigen tarifären Hürden umgehen zu können.
Quelle: Werner Plumpe – Gefährliche Rivalitäten
In dieser Tradition sieht sich nun auch Donald Trump mit seiner Zollandrohungspolitik. Er reagiert auf den Umstand, dass die USA seit 1945 mit hohen Kosten eine Welt- und Wirtschaftsordnung stabilisiert haben, deren Nutznießer zunehmend andere Länder wurden, allen voran China.
Allerdings ist die Lage heute anders. Die Weltwirtschaft ist durch die Globalisierung so stark verflochten, dass die inzwischen von Importen abhängigen USA insbesondere durch Gegenmaßnahmen Chinas stark geschädigt würden.
Moralischer Wirtschaftskrieg der Sanktionen
Werner Plumpe befasst sich mit den ökonomischen Rivalitäten des Kolonialzeitalters und dem Scheitern der napoleonischen Kontinentalsperre. Er analysiert den Friedensvertrag von Versailles als Fortsetzung des Ersten Weltkriegs mit wirtschaftlichen Mitteln – selten wurde der ökonomische Verhängniszirkel der Weimarer Republik, der zu Hitlers Machtergreifung führte, so plausibel erklärt wie in diesem Buch, das sich am Ende noch mit einer neuen Art von Wirtschaftskonflikten beschäftigt:
Der Verhängung von Sanktionen, um von Unrechtsregimen Wohlverhalten zu erzwingen. Der Erfolg bleibt meist gering, sofern er nicht bloß in der Illusion besteht, man besäße Handlungsfähigkeit. Auch das ist eine bittere Einsicht dieses überaus erhellenden Buches.


