

SWR Kultur lesenswert - Literatur
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Sep 10, 2025 • 12min
„Er hatte eine elektrisierende Wirkung auf die italienische Literatur“ – Pier Vittorio Tondellis Roman „Getrennte Räume“
Er hatte eine durchgeknallte Art zu schreiben: „Pier Vittorio Tondelli war Popliterat, er hat sich auf Musik bezogen, simultan erzählt, sehr zotig erzählt, die Jugendsprache benutzt und trotzdem war er hoch gebildet und in der Literatur sehr bewandert“, so beschreibt die Literaturkritikerin Maike Albath die Texte das italienischen Kultautors.
Zeit, Tondelli wiederzuentdecken
Sein Debütroman wurde von der Staatsanwaltschaft beschlagnahmt, die Kritiker rümpften die Nase – das tat aber seinem Erfolg keinen Abbruch. Tondellis Bücher standen in den 1980er Jahren in jeder italienischen WG, erinnert sich Maike Albath, die selbst in Italien studierte.
Jetzt erscheint sein letzter Roman in einer neuen Ausgabe: „Getrennte Räume“ ist eine Tondelli-typische Mischung aus Liebesgeschichte und Bildungsroman.
Ausweglose Liebe
Im Mittelpunkt steht der Held Leo: Ein Alter Ego Tondellis, der ein bekannter Autor ist und der Abschied nimmt von seinem Freund Thomas, mit dem er einige Jahre lang zusammen war und der wahrscheinlich an Aids erkrankt ist. Tondelli hat diesen Roman 1989 veröffentlicht – zwei Jahre, bevor er mit 36 Jahren an Aids gestorben ist.
Als „schwulen Liebesroman“ wollte Tondelli sein Buch nicht lesen. Für ihn war der universelle Aspekt das Wichtigste, sagt Maike Albath: „Tondelli war damals wichtig, dass es um die Liebe in ihrer Totalität und Ausweglosigkeit und enormen Größe geht.“ Das mache den Roman auch so zeitlos.

Sep 9, 2025 • 2min
Leon Engler – Botanik des Wahnsinns | Buchkritik
Sind wir frei? Oder Gefangene unserer genetischen und seelischen Prägung? Oder irgendwas dazwischen? Leon, der Ich-Erzähler, stellt sich diese Frage täglich. Er will auf keinen Fall werden wie seine Vorfahren: Tagelöhner, Träumer und Trinker. So nennt er sie milde.
Im harten Diagnosejargon der Psychiater sind sie: Schizophrene, Bipolare, Depressive mit Hang zur Sucht. Leon, den wir nur mit Vornamen kennen, stemmt sich mit aller Kraft gegen den, wie er es nennt, Fluch seiner Ahnen und auch gegen die Anziehungskraft des Irreseins.
Sich fallen lassen, nichts mehr müssen und der Mutter, die das auch getan hat, wenigstens auf diese Weise nah sein. Der Mutter, die sich geschworen hatte, nicht so verrückt zu werden wie ihre Mutter und es auch viele Jahre geschafft hatte, sie erliegt schließlich doch dem Fluch der Ahnen.
Sie war so kraftlos, so hoffnungslos, so lebenslos, lag herum wie die Wäsche, die sie nicht mehr wusch und die Briefe, die sie nicht mehr öffnete.
Quelle: Leon Engler – Botanik des Wahnsinns
Der Fluch der Ahnen
Leon findet einen Ausweg aus dem Dilemma, in der Nähe seiner Eltern zu bleiben, aber nicht wie sie sein zu müssen. Er studiert Psychologie. Als die getrennt lebenden Eltern jedoch den Kontakt zu ihm aufgeben und seine Besuche abwehren, schreibt er in sein Tagebuch:
Ich muss mich geschlagen geben. Es ist nicht mein Kampf, den ich verliere. Aber ich verliere dennoch. Ich verliere meine Eltern. Endlich gebe ich die Hoffnung auf. Ich bin nicht imstande, sie zu trösten. Nicht so gut wie der Wein und die Einsamkeit.
Quelle: Leon Engler – Botanik des Wahnsinns
Der Schauspieler Johannes Nussbaum liest den ganzen Roman für das Hörbuch im Ton illusionsloser Sachlichkeit.
Die „Botanik des Wahnsinns“ ist eine literarische Reise- und Fallgeschichte auf mindestens drei Ebenen. Da ist einmal die Gegenwart des Ich-Erzählers, der Tagebuch schreibt und als Therapeut in der Psychiatrie in Wien arbeitet. Weiterhin die Ebene vieler Rückblenden in die Vergangenheit seiner Vorfahren und darin eingewoben die essayistischen Passagen, etwa über die Geschichte der Psychiatrie.
Zitate von Kristeva, Musil, Nietzsche und vielen anderen laden Englers Text mit Impulsen auf, die den Blick der Leser noch einmal in eine andere Richtung lenken. Der Roman bezieht seine Spannung jedoch vor allem aus einem nur untergründig spürbaren Konflikt mit der aktuellen Realität.
Gefühle der Desorientierung, Hoffnungslosigkeit und Isolation haben nämlich zur Folge, dass derzeit viele Menschen den Anforderungen der Leistungsgesellschaft nicht mehr standhalten können. „Die Botanik des Wahnsinns“ erinnert daran, dass es das Los des Menschen ist zu scheitern. Und Engler kann für jeden verständlich beschreiben, welche Formen das mitunter annimmt.
Die Mutter meiner Mutter war wie Wasser. Heute Dampf, morgen Eis.
Quelle: Leon Engler – Botanik des Wahnsinns
Das Los des Menschen: Scheitern
So setzt Leon Engler das, was die Psychiater eine bipolare Störung nennen, treffsicher ins Bild. Der Autor, der im letzten Jahr seiner Ausbildung zum Psychotherapeuten ist, sagt, sein Debüt sei kein Memoir. Er fühle sich eher wie der Zwilling des Ich-Erzählers Leon, 30 Prozent gleich, 70 Prozent anders.
Auf die Kardinalfrage des Romans zu kommen, wie ein Mensch es schaffen kann, das Trauma seiner Familie nicht zu wiederholen, antwortet er im Gespräch, dies sei schwer:
„... unbewusst hat sich ja schon eingeschrieben, wie man sich bindet. Also dass man vielleicht eher Bindung vermeidet, weil die anderen sind nicht sicher. Wie man erzogen wurde, wie man kommuniziert, man merkt es ja gar nicht, man macht es ja ganz automatisch. Sich dessen bewusst zu werden ist sehr, sehr schwierig. Manchmal fühlt es sich an, wie die Schwerkraft überwinden zu müssen. Aber es ist bewiesenermaßen möglich.“
„Botanik des Wahnsinns“ ist randvoll mit erstklassigem Gedankenstoff, ein spannender Entwicklungsroman, die Odyssee Leons, die letztlich zu einem Happy End führt, das wir bisher vielleicht nur noch nicht als solches erkannt haben.

Sep 8, 2025 • 4min
Doris Dörrie – Wohnen
Doris Dörrie beginnt ihre Reise in ihrem rosa-grünen Kinderzimmer mit Märchentapete, ihrem „Boudoir", wie sie es nennt, wo sie im zerwühlten Bett in literarische Welten eintaucht. Wir folgen ihr in linke Studentenbuden, in denen aus Rebellion gegen das spießige Kleinbürgertum Türen ausgehängt und Matratzen auf den Boden gelegt werden.
Schließlich erzählt sie von ihrem Umzug aufs Land mit Mann und Kind. Dörrie hat in ihrem Leben intensiv und variantenreich gewohnt, beschreibt sich dabei selbst als keine sonderlich befähigte Wohnende, sofern man an diesem Konzept überhaupt scheitern kann.
Meine Schwestern wohnen ganz anders als ich. Sie interessieren sich für Möbel und Design, in ihren Wohnungen herrscht Schönheit und Ordnung, sie sind neben ihren Berufen fantastische Köchinnen und Gärtnerinnen. Ich dagegen bin nie der Wohntyp gewesen, mich hat mein eigenes Wohnen nie so wirklich interessiert, sondern immer eher das Wohnen der anderen.
Quelle: Doris Dörrie – Wohnen
Dörrie lädt zu ganz persönlichen Wohnabenteuern ein
So wie Dörrie die Wohnkonzepte anderer interessieren, dürfte die Leser vom Wohnen der Doris Dörrie fasziniert sein. Ziehen nicht erleuchtete Fenster in der Nacht unsere Blicke magisch an, weil sie Einblick in fremde Leben gewähren? Dörrie lädt uns ein, Voyeure ihrer ganz persönlichen Wohnabenteuer zu werden.
Dabei bedient sie sich einer kapitelbefreiten, assoziativen Gedankenführung. Sie springt von Hausbesichtigungen in Luxusvillen in Los Angeles zu düsteren Zimmern in Obdachlosenunterkünften und WGs mit drogendealenden, messerschwingenden Mitbewohnern in New York.
Revierkämpfe
Der rote Faden, der alles zusammenhält, scheint weniger eine Angelegenheit des Wohnens und vielmehr eine Frage des Reviers zu sein. Stets geht es Dörrie auch um die Machtdynamiken zwischen Mann und Frau.
Wie verhalten sich die Geschlechter zueinander in den eigenen vier Wänden? Gibt es tatsächlich so etwas wie weibliches und männliches Wohnen? Wurde der Frau nicht seit jeher die Küche zugewiesen, um ihrer Verpflichtung zur Nützlichkeit nachzukommen?
Doris Dörrie verhandelt das Selbstverständnis der wohnenden Frau, auch im Hinblick auf ihre eigene Mutter, deren Verhältnis zu ihr sie behutsam aufarbeitet:
Wir waren zu sechst, vier Kinder, ein Vater, der nur zu den Mahlzeiten auftauchte und sonst arbeitete, eine Mutter, die immer zuhause und dort nützlich war, mir als Kind aber seltsam ortlos erschien, wie nicht ganz existent. Einen eigenen Raum, ein eigenes Zimmer, hatte sie nicht, was keinem von uns jemals auffiel. Aber wozu auch? Sie hatte doch die ganze Wohnung!
Quelle: Doris Dörrie – Wohnen
Virginia Woolfs “Room of one's own” schwebt wie ein Mantra über dem Text. Dörrie reflektiert die Bedeutung eigener Räume für Frauen und die ebenso wichtige Fähigkeit, diese wieder verlassen zu können.
Rebellionen und Realitäten
Während Dörrie gegen anerzogene Wohnmuster rebelliert, indem sie schon als Kind die vorgesehene Ordnung in ihrem Puppenhaus durcheinanderwirft, erklärt sie die Küche zu einem hochpolitischen Ort, entwirft eher beiläufig Konzepte für neue Wohnmodelle und fragt zwischendurch nach dem Verbleib der Wohnrevolution.
Zum Ende schlägt sie die Brücke zu den allgemein verbindlichen Problemen unserer Zeit: unbezahlbare Mieten, der schwindende Traum vom Eigenheim und die ineffiziente Verteilung von Wohnraum. Im Endeffekt überwiegt jedoch die persönliche Anekdote gegenüber der gesellschaftspolitischen Analyse.
Doris Dörrie hat letztlich einen sehr persönlichen, autobiografischen Text verfasst, und keine akademische Abhandlung über das schwer zu greifende Konzept des Wohnens.
Für Dörrie-Fans ist das Buch ein wahres Fest der Indiskretion: Am Ende hat man so viel mit ihr durchlebt, dass man beinahe vergisst, dass nebenbei auch gewohnt wurde.

Sep 7, 2025 • 4min
Julia Engelmann – Himmel ohne Ende
Verpasse nicht dein Leben, sondern lebe es. An dieser Botschaft aus Julia Engelmanns berühmten Poetry-Slam-Text „Eines Tages, Baby“ von 2013 hat sich nichts geändert. Auch in ihrem Debütroman „Himmel ohne Ende“ stellt die 1992 geborene Autorin die Frage nach dem Sinn des Lebens in den Mittelpunkt.
Sinnsuchende ist die 15-Jährige Charlie, deren von Ängsten und Einsamkeit geprägtes Teenie-Leben wir über ein Jahr lang begleiten. Quell vieler Unsicherheiten ist Charlies Klasse – ein Mikrokosmos, dessen unausgesprochenen sozialen Codes Engelmann mit aufmerksamem Blick begegnet.
Viele Leserinnen und Leser dürften in diesen Schilderungen endlos-zäher Sommerferien – und im anschließenden Klassen-Kampf um den besten Sitznachbarn – Momente ihrer eigenen Schulzeit wiedererkennen.
Charlie macht im Laufe dieses Schuljahres eine wesentliche Entwicklung durch: Sie wird von einem fast-Kind zu einer fast-Erwachsenen, von einem introvertierten Mädchen, das mit seinem Meerschweinchen Liebesschnulzen schaut, zu einer jungen Frau, die allein nach Paris reist, ihre Haare färbt und von ihren Mitschülern nicht länger ignoriert oder geärgert, sondern für ihre – vermeintliche – Lässigkeit bewundert wird.
Vorauseilende Melancholie
Bei aller Veränderung bleibt Charlies Hauptbeschäftigung aber das Fragen. Verlässlich bilden Frage, Fragende und Adressatin dabei eine Einheit, denn Charlies Gedanken drehen sich in erster Linie um sich selbst.
Ich frage mich schon manchmal, wer ich bin und das alles.
Quelle: Julia Engelmann – Himmel ohne Ende
Wie ein Mantra kehrt diese, teils wortgleich formulierte Frage alle paar Kapitel wieder. Sie ist Ausdruck von Charlies Grundstimmung – einer Art vorauseilender Melancholie, die sich auch darin zeigt, dass Charlie ihr Leben stets rückwärts denkt: vom imaginierten Ende her und, je nach Tagesform, als Scheitern oder als Gelingen.
Ich musste weinen, aber nicht, weil ich traurig war, sondern weil alles so schön war und so flüchtig, und ich fand es unfair, dass die Momente, in denen mir mein Leben am kostbarsten vorkam, auch immer die Momente waren, in denen mir bewusst wurde, wie fragil das alles war und dass es höchstens noch einen Wimpernschlag lang hielt.
Quelle: Julia Engelmann – Himmel ohne Ende
Redundante Sinnfrage
Die Angst, etwas oder gleich alles zu verpassen – das, was man heute FOMO, bzw. „Fear of Missing Out“, nennt – ist die größte Sorge dieser beeindruckend selbstbezogenen Protagonistin. Als Beschreibung jugendlichen Selbstverständnisses mag Engelmanns Charakterzeichnung interessant und auch alarmierend sein.
Allerdings pendelt ihr Roman über 336 sehr langen Seiten so erwartbar zwischen Euphorie und Resignation hin und her, dass man bereits nach zehn der 39 Kapitel rufen will: „Ich habe verstanden!“.
Es war eine seltsame Erkenntnis, dass man auch in glücklichen Momenten traurig sein konnte, dass auch die schönsten Abende endeten. Und ich dachte mit einem leisen Abschiedsschmerz an jeden Tag, der verloren war, weil ich ihn schon gelebt, oder noch schlimmer, hatte verstreichen lassen.
Quelle: Julia Engelmann – Himmel ohne Ende
Verlässlich ist die Handlung von „Himmel ohne Ende“ auf jugendliches Drama abonniert – geht es Charlie einmal ein paar Seiten lang gut, knutscht prompt ihre – ehemals – beste Freundin mit ihrem heimlichen Schwarm.
Ähnlich durchschaubar wird mit der Zeit auch Engelmanns Timing für Kalendersprüche, für deren hochfrequente Produktion neben Charlie und ihrem besten Freund Kornelius vor allem ihre Oma zuständig ist:
Rom wurde auch nicht an einem Tag erbaut. Und alles, was wir mit Liebe machen, machen wir richtig.
Quelle: Julia Engelmann – Himmel ohne Ende
Auf Effekt angelegt
Im Poetry Slam, Julia Engelmanns ureigener Domäne, ist die Performance mindestens so wichtig wie der Text. Raue Stimmen, tiefe Blicke und kunstvoll gesetzte Pausen sind probate Mittel, um Zuhörer einzulullen oder sie staunend innehalten zu lassen.
In „Himmel ohne Ende“ bemüht sich Engelmann sichtlich, etwas von dieser Wirkung in ihren Text zu übertragen. Dramatische Ein-Wort-Absätze und Feelgood-Aphorismen wie „Man muss seine Träume immer ernster nehmen als seine Zweifel“ bilden das stilistische Repertoire dieses Textes – und verdeutlichen unfreiwillig, wie schmal der Grat sein kann zwischen tiefem Sinn und Teebeutelspruch.

Sep 6, 2025 • 55min
Mit neuen Büchern von Abdulrazak Gurnah, Jina Khayyer, Leif Randt. und Allan N. Derain
Von Verbrechern, Katzen und Krokodilen. Neue Romane aus aller Welt und ein Verlagsgeburtstag

Sep 5, 2025 • 7min
Allan N. Derain – Das Meer der Aswang
Die Philippinen zu Beginn des 18. Jahrhunderts. Wir zoomen uns heran. Hinein in die Mitte des Archipels. Dort liegen die Visayas. Und dann noch näher heran: an die Insel Panay. Und dort hinein in ein kleines Dorf in der Region Antique, also an der West-Küste. Dort war ich dieses Jahr. Aber nicht im Dorf Bariwbariw, denn das ist fiktiv. Hier spielt „Das Meer der Aswang“, der neue Roman von Allan N. Derain.
Die Nacht ist still in Bariwbariw. So heißt der Ort. Er ist nach dem Schilfgras benannt, aus dem die Schlafmatten gewoben sind, und klingt wie Balabala und Bürenbüren in einem Wort. Jetzt liegt er so ruhig wie das Meer. Alles schläft, außer den Männern auf dem Wachturm. Auch der Vater von Luklak ist bei ihnen. Sie halten nach verdächtigen Bewegungen Ausschau.
Quelle: Allan N. Derain – Das Meer der Aswang
Die Angst vor den Moro-Piraten
Alle haben Angst vor den Moro-Piraten, die die Küstenorte überfallen und Menschen entführen. Der Sklavenhandel blüht. Hier, soweit weg von Manila. Allan Derain erläutert, warum er seinen Roman bewusst nicht an den üblichen Schauplätzen der philippinischen Geschichtsschreibung ansiedelt:
„Ich wollte mit diesem Roman die Geschichte der Philippinen neu erzählen. Aber mal ohne Luzon. In unserer offiziellen Geschichtsschreibung geht es immer um Luzon, vor allem um Manila. Dort wird Geschichte gemacht! In meinem Roman aber möchte ich eine alternative Geschichte der Philippinen anbieten. Die nicht in Manila, sondern in einer ganz anderen Gegend spielt. Deshalb habe ich meinen Roman in den Visayas angesiedelt.“
Luklak pubertiert zum Krokodil
Auch wenn Allan N. Derain selbst im Großraum Manila lebt. Er unterrichtet an der Ateneo de Manila University in Quezon City. Hier traf ich ihn auch zum Interview. Für seinen Roman hat er mehrere Exkursionen auf die Insel unternommen.
Sein Erzähler ist so immersionsbereit und zugleich so modern wie Derain selbst. Das gibt diesem Roman einen unwiderstehlichen Witz. Etwa wenn Luklak auftritt, die 15-jährige Hauptfigur. Sie ist frech. Aber sie kann nicht mehr gut gehen, muss ständig liegen. Ihre Haut ist in Aufruhr. Ein Pubertier. Bloß dass diese Verwandlung ins Animalische weiter geht als üblich. Luklak mutiert zum Krokodil.
Wunden übersähen sie von Kopf bis Fuß. Einiges sieht nur aus wie ein Hautausschlag. Aber da sind auch Klümpchen so groß wie Limabohnen, bereit aufzuspringen, zu atmen, die Luft ein und auszupusten, sich zu erfrischen, den klebrigen Eiter auszuscheiden, Ameisen anzulocken.
Quelle: Allan N. Derain – Das Meer der Aswang
Es gab mal Zeiten, da waren die Übergänge zwischen Göttern und Menschen, Tieren und Pflanzen fließend. Auch bei uns. Ovid beschrieb in seinen „Metamorphosen“, wie Nymphen zu Bäumen und Männer zu Blumen werden. Das war ziemlich genau zu Christi Geburt. Kein Zufall. Denn die christliche Schöpfungsgeschichte räumte auf mit Fluidität.
Auch die spanischen Mönche, die neuen Herren auf den Philippinen, bringen ihre freudlosen Regeln mit. Luklak aber entwischt. Sie wird zum Krokodil. Also: eine Aswang. Was das ist? Ich habe Allan Derain gefragt:
„Ein Aswang repräsentiert stets das Böse. Er ist wie der Teufel, aber der Teufel unter uns. Das unterscheidet Aswang-Geschichten von Geschichten über Feen und Geister. Der eigene Nachbar könnte ein Aswang sein. Aswangs können also aussehen wie echte Menschen, wie jeder normale Filipino. Sie verhalten sich aber anders. Aus Sicht der Kirche ist das der Teufel, aber halt der Teufel, der unter uns ist. Ein Teil der Gemeinschaft, vielleicht sogar der eigenen Familie.“
Die Epen der Visayas
Philippinos lieben Horror. Selbst nach vier Jahrhunderten Katholizismus. Davon zeugen auch die vielen Monstercomics, die dieses Jahr auf Deutsch erscheinen. Es ist schon auffällig, wie viel Gewalt in philippinischen Büchern steckt. Die Moral von der Geschicht‘ muss man oft mit der Lupe suchen. Auch im „Meer der Aswang“.
Luklaks Mutter etwa wurde zum Tode verurteilt. Kurz vorher gebar sie noch einen Aal, den sich Luklak später grillt und aufisst. Groteske Geschichten, die den oral tradierten Epen der Panay Bukidnon entlehnt sind, einer Volksgruppe auf den Visayas. Heute beherrscht nur noch eine einzige Familie diese Gesänge. In Gänze sogar nur noch der Großvater.
Romulo Caballero ist 78 Jahre. Er ist aus seinem Dorf nach Iloilo gekommen. In den Bergen nennt man ihn Amang Baoy. Er kennt die langen Geschichten von Göttern und Menschen, von ihren Abenteuern und Reisen, von Liebe und Verlust. Einen solchen 18-seitigen Gesang findet man auch bei Derain. Hier singt Amang Baoy ein Willkommenslied und lädt zum Reiswein ein. Der heißt Pangasi.
Die Suche nach der eigenen Kraft
Auch in Allan Derains Roman gibt es ein Pangasi-Besäufnis, das als Zukunftsschau beginnt und in eine wilde Phantasieschlacht gegen die feindlichen Piraten mündet. Ein sprachakrobatisches Update der oral tradierten Epen. Freudig übersetzt von Annette Hug.
Könnte gut sein, dass Derain diese imaginierte Schlacht in späteren Romanen noch einmal aufgreift. Denn „Das Meer der Aswang“ ist erst der Auftakt einer Trilogie, an der er aktuell arbeitet. Thema: eine durch Mönche und Piraten in Bedrängnis geratene Ureinwohnergemeinschaft auf der Suche nach ihrer ureigenen Kraft. Dafür könnte Luklak stehen. Als Krokodil hat sie eine Mission, auch wenn sie davon aktuell noch nichts wissen will.
„Möchtest du dein Schicksal nicht erfahren? Welche Aufgabe dir in dieser Welt bestimmt ist?“, fragt die Taube Alimokon die störrische Aswang.„Und was, wenn ich keine Aufgabe in dieser Welt übernehmen will?“„Dann wird sich später niemand an dich erinnern.“„Ich möchte gern vergehen, ohne Spuren zu hinterlassen.“
Quelle: Allan N. Derain – Das Meer der Aswang
Eher unrealistisch. Luklak ist bestimmt nicht durch Zufall ein Salzwasserkrokodil geworden und kann also vor der bedrohten Küste kreuzen. Davon werden die folgenden Bücher berichten. Bis dahin können wir Luklaks Metamorphose erleben. Und wie sie ihren Verlobten suspendiert. Und wie sie den Affen mit der roten Hose jagt. Und vieles Andere mehr.

Sep 5, 2025 • 11min
Was bedeutet es, eine iranische Frau zu sein?
Ihr Debütroman steht auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis. Das Herzstück von Jina Khayyers Roman ist eine Reise, die ihre Ich-Erzählerin Jina, zu diesem Zeitpunkt 25 Jahre alt, durch den Iran unternimmt; durch das Land, in dem ihre Eltern geboren wurden und in das ihre ältere Schwester in den 1990er-Jahren zurückgekehrt ist.
Der weibliche Körper unter Kontrolle
Vertraut und zugleich fremd sei ihrer Protagonistin vorgekommen. Vertraut, weil sie auch in Deutschland mit der Kultur und der Sprache des Iran aufgewachsen sei. Doch die Zwänge, die Kontrolle des weiblichen Körpers, seine kalkulierte Unsichtbarmachung, rufen bei der Ich-Erzählerin Jina Empörung hervor.
Solidarität über Generationen hinweg
Zugleich sei, so sagt es die Autorin, „Im Herzen der Katze“ auch ein Buch der Sehnsucht nach einem Land , das einstmals fortschrittlich, modern und liberal war.
Die jüngsten Demonstrationen, so Jina Khayyer, hätten deutlich gezeigt, dass die Iraner dieses Regime nicht mehr wollten. Veränderung könne aber nur von den Menschen aus dem Land selbst kommen. Es brauche eine generationen- und geschlechterübergreifende Solidarität.

Sep 5, 2025 • 11min
Der Verlagskaktus als Symbol für Überlebenswillen
Im Jahr 1995 taten sich zwei junge Literaturbesessene zusammen, um auf möglichst einfache Weise unveröffentlichte Manuskripte lesen zu können. Aus diesem nicht ganz astreinen Nerd-Projekt wurde ein widerständiger Independent-Verlag: der Verbrecher Verlag.
Chaotische Anfänge
Der Verlagsgründer und Verleger Jörg Sundermeier erzählt im Gespräch von chaotischen Anfängen; davon, wie er lernen musste, eine Steuererklärung auszufüllen und von Herzensprojekten, die den Enthusiasmus für die Literatur am Leben halten.
Independent-Verlage unter Druck
Sorgen bereitet Sundermeier die Entwicklung auf dem Buchmarkt: Die Lage für kleine, unabhängige Verlage, so Sundermeier, werde zunehmend kompliziert – Verkaufszahlen sinken, Kosten steigen.
Als Symbol für das Durchhaltevermögen des Verbrecher Verlags betrachtet Sundermeier den Verlagskaktus – auch er hat bis heute allen äußeren Anfechtungen getrotzt.

Sep 5, 2025 • 7min
Alles ist gut, solange du hip bist
Marian Flanders, 41 Jahre alt, betreibt eine Boutique in Berlin-Schöneberg. Seine Mutter Carolina, wichtigste Bezugsperson, stirbt. Sinnkrise? Fehlanzeige. Das Rezept zur Trauerbewältigung steckt schon im Titel von Leif Randts Roman: „Let’s Talk About Feelings“.
Marian fühlte sich normal, weil die offenkundigsten Trauersymptome bereits abgeklungen waren. Er musste nicht mehr weinen, er war nicht antriebslos, er verlor sich nicht ständig in Erinnerungen. Auf Piets Nachfrage, ob Normalität für ihn etwas Gutes oder Schlechtes sei, präzisierte Marian: »Ich glaube, ich fühle mich so normal wie noch nie.«
Quelle: Leif Randt: Let’s Talk About Feelings
Alles normal
Alles normal, auch in Marians Alltag. „Kenting Beach“, wo er ausgewählte Labels und Second-Hand-Stücke verkauft, läuft zwar mäßig, richtig Sorgen macht Marian sich deswegen aber nicht. Normal. Exfreundin Franca ist schwanger vom neuen Partner, Halb-Schwester Teda und Freund Piet verlieben sich, Drogenausflüge nach Rügen oder auf Dates gehören dazu. Normal eben.
Gefühle werden endlos reflektiert, zwischen Freunden, Angestellten – und in Piets Podcast, der heißt, klar: „Let’s Talk About Feelings“.
Leif Randts Hipsterrealismus
Vierzehn Kapitel absolute Unaufgeregtheit führen Marian nach Japan, Teneriffa, Wolfsburg, Indien. Randt inszeniert seinen typischen „Hipsterrealismus“: nüchtern, repetitiv, modisch durchcodiert. Mode und Musik sind allgegenwärtig – erfundene Labels, fiktive Bands. Obwohl man sich da nicht sicher sein kann. Vielleicht sind sie eben nur so nischig, dass sie ausgedacht wirken?
Randt kombiniert Gegenwartsbeschreibungen und Fiktion, siedelt seinen Roman in naher Zukunft, 2026, an, in einem Berlin, in dem eine sozial-liberale Partei regiert.
Marian, der mit der 2016 gegründeten Progress-Partei um Fatima Brinkmann und Valentin Izermeyer durchaus sympathisierte, aber bei der Bundestagswahl ‘22 vor allem wegen Gregor Gysi im letzten Moment dann die Linkspartei gewählt hatte, verfolgte regelmäßig die Frontal-Pressekonferenzen der Kanzlerin – auf ihrem YouTube-Channel reagierte sie auf gesammelte Fragen mit pointierten Ansprachen.
Quelle: Leif Randt: Let’s Talk About Feelings
Schon bekannt aus „Allegro Pastell“
Das Erstarken rechter Kräfte bleibt Randts Figuren weitgehend egal. Typisch Randt: eine dezent aufpolierte Gegenwart, in der alles glatt läuft und niemand aus der Bahn geworfen wird. Schon im Vorgänger „Allegro Pastell“ war das so.
Das Personal ist durchgestylt. Auch die Erzählhaltung ist vertraut: personale Perspektive, doch durch das hypertroph reflektierte Innenleben der Figuren fast auktorial. Dramaturgisch einförmig, sprachlich minimalistisch. Oft klingt das so:
„Marian fand, dass Piet mit zweiunddreißig für Schulzeitanekdoten entweder zu alt oder noch eine Ecke zu jung war“ oder „Marian fand, dass der Baumkuchen zu stark nach Butter schmeckte“ oder „Marian fand die Nachricht fair und gönnerhaft zugleich, aber keineswegs völlig unsympathisch“ oder „Marian fand das Wort Entlastung ein bisschen sexy“.
Die Gleichförmigkeit wirft Fragen auf
Was ist spannend an dieser Gleichförmigkeit? Sie provoziert Fragen: Was ist eigentlich aus der Übertreibung geworden? Divenhafte Gesten, das große Pathos? War es nicht mal cool, das Leben zur Bühne zu machen? Coole Literatur kam mit Paukenschlag daher, eine Frage des Übermaßes, des „Zu viel“. Elfriede Jelinek, deren Sprachgewalt mit einem kalkulierten Gestus der Zumutung einhergeht. In der Literaturgeschichte wimmelt es von Hybris, Streit, Mord, Totschlag, Exzentrik.
Bei Randt dagegen zeigt sich Coolness in der demonstrativen Unaufgeregtheit. Keine Explosion, sondern die Kunst der kontrollierten Untertreibung. Gelangweilte Erzähler, wie bei Popliteraten-König Christian Kracht in „Faserland“. Lakonie als eine Pose der distanzierten Teilhabe. Klar, in dieser Tradition bewegt sich Leif Randt.
Eine durchästhetisierte Utopie
Und er verfolgt ein schriftstellerisches Projekt: Utopien entwerfen, in denen Dramen gedämpft sind, der Puls flach bleibt. Schon in „Schimmernder Dunst über CobyCounty“ oder der Sci-Fi-Utopie „Planet Magnon“ schuf er solche Glanz- und Fantasiewelten
Auch in „Let’s Talk About Feelings“ ist alles durchästhetisiert, die Styles sitzen und die Frauen sind klug und schön. Marians geliebte Mutter war nicht weniger als ein erfolgreiches Model mit unfehlbarem Geschmack.
Marian: „Als ich etwa fünfzehn Jahre alt war, habe ich mal zu meiner Mutter gesagt, dass ich keine Lust auf Kommunismus hätte, weil es da bestimmt nur eine eingeschränkte Auswahl an Klamotten geben würde, und dann hat sie gesagt, dass das gar nicht unbedingt stimmen müsse. Ich glaubte, ihr O-Ton war: Eventuell bekämen wir im Kommunismus weniger zu essen, aber dafür schönere Fashion.“ Piet: „Hatte deine Mutter eigentlich immer recht?“
Quelle: Leif Randt: Let’s Talk About Feelings
Frauen sind hübsche Staffage
In dieser Welt sind Frauenfiguren Zierde oder seelische Stütze. Ob Mutter, potenzielle Partnerin, Haushälterin oder Angestellte – sie kreisen sämtlich um Marian, sorgen sich um sein Wohlergehen, flankieren sein Lebensgefühl. Frauen als hübsche Staffage.
So wirkt Randts Roman zwar wie eine männliche Utopie, dafür aber auch wie eine weibliche Dystopie: Berlin als Designer-Schaufenster, die Männer sprechen unendlich über ihre Gefühle, die Frauen halten ihnen dabei die Bühne frei. Eine Ästhetik der Unaufgeregtheit, die eine Welt entwirft, aber eben die alte: männlich dominiert, bequem eingerichtet, glatt wie mit einem Instagram-Filter.
„Let’s Talk About Feelings“: So könnte auch das Manifest für Performative Males heißen. Vielleicht aber ist genau das die unbeabsichtigte Pointe: dass Randts Roman als Parodie einer neuen männlichen Sensibilität lesbar wird.

Sep 4, 2025 • 9min
Harte Hühnerbrüste und kalte Menschenherzen
Schauplatz dieses Romans ist ein aufstrebender Geflügelbetrieb im Emsland, wie es ihn wirklich gibt: Auf der Homepage eines mittelständischen Unternehmens am Rande der kleinen nordwestdeutschen Stadt Haren wird jedenfalls stolz verkündet, die Firma „Emsland Frischgeflügel“ sei 2007 um eine „zweite Schlacht- und Zerlegelinie erweitert“ worden:
Wir fertigen hier Hähnchenteile vom Flügel bis zum Filet für den Lebensmitteleinzelhandel und die industrielle Weiterverarbeitung in jeder gewünschten Gewichts- und Verpackungseinheit. Emsland Frischgeflügel beschäftigt rund 2.500 sozialversicherungspflichtige Mitarbeiter im Vollschichtsystem.
Auf den Fotos der echten, aber gleichsam unwirklichen Firmen-Homepage lächeln die Mitarbeiter fröhlich in die Kamera, während sie die Hühnerbrüste auf dem Fließband kontrollieren. Im Roman der deutsch-iranischen Schriftstellerin Nava Ebrahimi werden nun die Schattenseiten der eintönigen Arbeit beschrieben. Der Betrieb im Buch gehört der fiktiven Unternehmerfamilie Möllring, auch den Romanort hat Ebrahimi in Lasseren umbenannt.
Verholzte Hühnerbrüste, Verhärtungen im Brustbereich auch beim Menschen
Hier wohnt und schuftet die alleinerziehende Mutter Sonia, die jeden Morgen mit „Hennen im Kopf“ aufwacht. Widerwillig schleppt sie sich zur Arbeit, die darin besteht, die heranrollenden Hühnerbrüste zu prüfen, ob sie vom sogenannten „Wooden Breast“-Syndrom betroffen und damit ungenießbar sind.
Die Verholzung des eigentlich weichen Filetstücks tritt vor allem in der Massentierhaltung auf, und auch die Schichtarbeiterin Sonia meint, nach all den Jahren bei Möllring an Verhärtungen im Brustbereich zu leiden.
Sie möchte jedenfalls nicht länger am Band stehen und denkt sich ständig neue und immer groteskere Formulierungen für ein mögliches Bewerbungsgespräch aus – um endlich einen Job in der Lohnbuchhaltung zu bekommen.
Guten Tag, mein Name ist Sonia Bose, ich bin ein pflichtbewusster Mensch, eine loyale Mitarbeiterin, ich fühle mich Möllring verbunden und gebe jeden Tag mein Bestes, an Gott glaube ich außerdem, und ich würde beiden, Möllring und Gott, wirklich gerne weiter dienen, aber (…) bitte geben Sie mir den Job in der Verwaltung, Amen, verdammt!
Quelle: Nava Ebrahimi – Und Federn überall
Zerrupfte Gesellschaft
Der Roman „Und Federn überall“ beginnt mit Witz, Tempo und Drama. Die erschöpfte und dementsprechend dünnhäutige Sonia sperrt die nervende Tochter in der Wohnung ein, aber statt den Fehler umgehend zu korrigieren, lässt sie den Teenager zurück und zieht sie ihren Arbeitstag mit mehr oder weniger schlechtem Gewissen durch.
Nun wiederholen sich die Erzählsituationen, eine Figurenentwicklung findet kaum statt. Das fällt zunächst nicht auf, weil Ebrahimi die Perspektive wechselt, wenn es interessant werden könnte.
Neben Sonia tritt in der zerrupften Möllring-Gesellschaft ein dicklicher Manager namens Merkhausen auf. Der ehrgeizige und etwas einsame Mann will nicht nur die Hühnerbrustproduktion weiter steigern, er kümmert sich – auch während der Arbeitszeit – zunehmend um Justyna, eine Frau mit offenbar großem Busen, die ihm in einem deutsch-polnischen Online-Forum auffällt.
Er schätzte Brüste, schon, ja, aber sie mussten ihn nicht gleich auf dem ersten Profilbild anspringen wie ungestüme Hunde.
Quelle: Nava Ebrahimi – Und Federn überall
Leidige Brüste-Busen-Kalauer
Schon auf den ersten Seiten wird Merkhausen zur mitteilungssüchtigen Witzfigur gemacht, was seine durchaus interessante und später als endlose Sprachnachricht nachgereichte Familiengeschichte beschädigt. Die leidigen Brüste-Busen-Kalauer ziehen sich auch durch andere Figurenmonologe.
Die Automatisierungsspezialistin Anna muss sich auf Möllrings Vorstandsetage sexistische Kommentare über ihre angeblich zu geringe Oberweite anhören. Anstatt sich über die anmaßenden Lästereien zu beschweren, versucht sich Anna zunächst mit einem autosuggestiven Klassendünkel sowie einem Arbeitsethos aus der Klischeekiste zu helfen.
Anna, reiß dich zusammen, niemand hat gesagt, dass es leicht werden wird, Kindergärtnerinnen oder Bürokauffrauen haben es leicht.
Quelle: Nava Ebrahimi – Und Federn überall
Satirische Überdeutlichkeit und Charaktere im Figurenkäfig
Wenige Seiten später lautet ihre Losung: „Vorwärts, Anna, vorwärts und Fokus!“ Nava Ebrahimi setzt – anders als in ihren vorangegangenen Romanen – auf satirische Überdeutlichkeit. Die Autorin sperrt ihre Charaktere in einen Figurenkäfig, aus dem sie sich nicht befreien können. Das ist angesichts des Schlachthof-Settings so naheliegend wie ermüdend.
Zeitweise wirkt der Text wie eine aufgeblähte Hühnerbrust, die beim Braten zusammenschrumpelt und reichlich hormongesättigte Flüssigkeit verliert.
Viel passiert jedenfalls nicht im drögen Emsland. An einer Stelle heißt es: „Die Zeit verflog, bis irgendwann das Telefon klingelte.“ Weil die Handlungsansätze in die Länge gezogen werden und die schablonenhaften Figuren kaum Raum zur Narration bieten, wird der Roman mit recherchiertem Material über die grässliche Geflügelproduktion und herablassende Figurenrede über die falschen Vorstellungen der doofen Kundschaft angereichert.
Hier stellten sich die Konsumenten vermutlich am liebsten vor, die Hühner wurden von einem Bauern in Karohemd, mit von der harten Arbeit schwieligen, aber zärtlichen Händen totgestreichelt, jedes Huhn einzeln, ohne dass dabei eine einzige Felder flog. Na ja, eine vielleicht.
Quelle: Nava Ebrahimi – Und Federn überall
Keine Ahnung, wer sich diesen Unsinn ernsthaft so vorstellt, aber in Ebrahimis Figurenkabinett des Grauens gibt es auch die wirklich guten, die klugen und hellsichtigen Menschen mit ganz viel Herz. Im Emsland ist auch der afghanische Dichter Nassim gestrandet, der nach der Flucht vor den Taliban in der deutschen Provinz um die Anerkennung als Flüchtling wartet.
Der sehbehinderte Flüchtling als hellsichtiger Dichter
Aufgrund einer Krankheit in Kindertagen ist seine Sehfähigkeit stark eingeschränkt, doch er scheint mehr zu erkennen als die meisten Menschen, denen er in Deutschland begegnet. Seine eher wankelmütige Freundin Justyna, die auch mal bei Möllring gearbeitet hat und die sich aus zweifelhaften Gründen auf ein Treffen mit dem aufdringlichen Merkhausen einlässt, ist nahezu geblendet von Nassims Charakterstärke.
Wie gelang es ihm, trotz allem, was er erlebt hatte, so gütig zu bleiben?
Quelle: Nava Ebrahimi – Und Federn überall
Selbst wenn Nassim inzwischen fließend Deutsch spricht, kontaktiert er die hilfsbereite deutsch-iranische Schriftstellerin Roshanak Rastgoo kurz Roshi, um sich beim Übersetzen seiner Verse helfen zu lassen. Den deutschen Behörden möchte Nassim mit dem bestmöglichen Werkstück zeigen, dass er ein ernstzunehmender Dichter sei. Leider kommt ihm ein verstörender Unfall dazwischen.
Ein „rücksichtsloser Zeitgenosse“ fährt den Blindenstock des Mannes kaputt und begeht Fahrerflucht. Das spricht sich schnell rum in der Provinz: Ein Lokalsender berichtet über den Vorfall, und die Reklameleute bei Möllring wittern neue Möglichkeiten der Vermarktung. Dem Flüchtling soll öffentlichkeitswirksam ein Scheck überreicht werden!
Das passt gerade sehr günstig in unsere Marketingstrategie, die muslimische Zielgruppe stärker ins Visier zu nehmen.
Quelle: Nava Ebrahimi – Und Federn überall
Einfühlsame Helferin mit Neigung zum schrägen Vergleich
Schließlich versammeln sich alle zum gemeinsamen Presse-Foto bei Möllring. Doch bei Nassim will keine Freude aufkommen. Natürlich merkt er, wie sein Schicksal instrumentalisiert wird, aber als Asylbewerber, dem Abschiebung droht, kann er sich schlecht gegen die Vereinnahmung wehren.
Außerdem trifft Nassim zur Scheckübergabe die plötzlich distanzierte Justyna an der Seite eines kleinen und dicken Mannes wieder, der mit pumpen Gesten Besitzansprüche anzeigt. Der ideale Moment für Schriftstellerin und Ich-Erzählerin Roshi, sich endlich als einfühlsame Helferin mit Neigung zum schrägen Vergleich inszenieren.
Nassim liebt diese Frau, und sie liebt ihn, ihre Blicke offenbaren das für einen Moment, doch im nächsten Moment schon offenbart der Blick der Nachbarin, dass das nicht sein darf. Ihre Schultern streben aufeinander zu wie ein Burgtor, das sich schließt. Der fließende Stoff ihrer Bluse verbirgt nicht, wie massiv ihre Schultern sind, sie vermögen gut, sie zu schützen, im Zusammenspiel mit ihrem Brustkorb ihr Herz zu verschließen. (…) Ich muss Nassim in dieser Gesellschaft zur Seite stehen oder Rückendeckung geben, am besten beides, also stelle ich mich halb seitlich neben ihn.
Quelle: Nava Ebrahimi – Und Federn überall
Thematisch überfrachtet, sprachlich redundant
Nava Ebrahimis dritter Roman wartet mit einer Fülle von Themen auf. Es geht in „Und Federn überall“ um Massentierhaltung und Klassenwidersprüche, Arbeitsethik und Leistungswahn, Mutterschaft und abwesende Väter, männliches Dominanzverhalten und weibliche Selbstbehauptung, Flucht und Migration. Auch der Holocaust und die revisionistische Hoffnung auf eine andere Erinnerungskultur in Deutschland werden in dem Buch angesprochen.
Doch die thematische Überfrachtung führt zu einer inhaltlichen Oberflächlichkeit, die sich auch in der Sprache zeigt: Hühnermetaphern und Federnsymbolik überzeugen nicht in der ständigen Wiederholung; die Figuren und Erzählstränge wirken so schematisch angeordnet wie ein Geflügelbetrieb im Emsland.
Die Sprache schwankt zwischen drastischer Parodie in den Schilderungen der Arbeitsverhältnisse und einem unfreiwillig komischen Kitsch, wenn Beziehungskomplikationen beschrieben werden.
„Ich lächle noch immer, obwohl ich nicht weiß, weshalb“, denkt sich Roshi, als das Gruppenbild im Kasten ist, „niemand hat hier einen guten Witz gemacht.“ Da muss man ihr endlich einmal zustimmen.


