

SWR Kultur lesenswert - Literatur
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Sep 3, 2025 • 4min
Otto Waalkes – Kunst in Sicht
Otto Waalkes, Ostfriese von Herkunft und Berufung, ist gut aufgelegt an diesem Vormittag – ist sein aktuelles Buch doch soeben aus der Druckerei angeliefert worden. „Kunst in Sicht“ heißt der Band, ein köstlich respektloses Werk, in dem Otto, sagen wir, in Dialog mit den Großen der abendländischen Kunst tritt. Die Arbeit mit Leinwand und Pinsel, so der auch mit 77 noch hyperaktive Ostfriese, sei eine der großen Passionen seines Lebens.
Otto Waalkes erzählt: „Es nimmt zur Zeit den größten Teil meines Lebens ein. Ich hab ein Atelier, in Hamburg, oben in der Dachkammer. Ich wohne an der Elbe, da ist ein tolles Licht, da kann ich schön malen, da arbeite ich viel, denk viel drüber nach. Schon sehr befreiend, muss ich sagen.“
100 ikonische Werke der Kunstgeschichte parodistisch verfremdet
Otto Waalkes pflegt seine Bilder mit Ostfriesentee zu grundieren. Darüber malt er vorwiegend in Öl und Acryl. Ottos Gemälde sind auf durchaus altmeisterliche Art und Weise gearbeitet – handwerklich perfekt. Welche Motive gibt es da zu sehen?
Der Humorkünstler verfremdet etwa 100 ikonische Werke der Kunstgeschichte – mit kleinen Otto-spezifischen Interventionen.
Leonardos „Dame mit dem Hermelin“ birgt in Ottos Interpretation kein edles Pelztier an ihrer Brust, sondern ein blöde lächelndes Faultier; der Brueghelsche „Turm zu Babel“ wird bei Otto zur Sandburg, und in der ostfriesischen Version des Klimtschen „Kusses“ ist es niemand anderes als ein goldumschmeichelter Otto Waalkes persönlich, der einem dahinschmelzenden „Ottifanten“ einen herzhaften Schmatz auf die Wange drückt.
Wie würde Otto seine kunstphilosophischen Prinzipien beschreiben? Soll Kunst seiner Meinung nach „erheben“?
Otto: „Soll was?” Reporter: „Erheben!” Otto: „Kunst soll erheben. Aber woraus? Aus der Zweidimensionalität in die Dreidimensionalität? Ich weiß es nicht. Kunst soll weiterführen, soll mich überraschen. Für mich ist es die Befreiung vom Automatismus des Alltags oder so was. Und deswegen liebe ich es. Das hab ich ganz gut gesagt, glaub ich.“
Erfrischend respektlos gegenüber den Alten Meistern
Otto zeigt erfrischend wenig Ehrfurcht in seinen bildschöpferischen Arbeiten. Dürer, Hodler, Liebermann – jeder kommt bei ihm mal dran. Ottos Form der Verehrung, gesteht der Künstler, sei die Parodie.
Den Umgang mit Farbe und Pinsel hat der Komiker bereits in frühestem Knabenalter erlernt. Der heute 77-jährige wuchs in einem streng religiösen Milieu in der Ostfriesen-Metropole Emden auf. Ottos Elternhaus war freikirchlich-baptistisch geprägt.
„Meine Mutter war sehr gläubig, sehr religiös", verrät der Künstler. „Mein Vater war weltlich eingestellt – und Malermeister, also Tapezierer. Daher stamme ich. Und ich hatte die Möglichkeit, weil er diese Tapetenbücher hatte – also diese Tapetenbücher, die hatten vorne das Muster drauf und hinten waren sie blank. Die gab er mir dann zum Bemalen.“
Das hatte Folgen: 1970 begann Otto Waalkes – inzwischen längst vom Glauben abgefallen – ein Studium der Kunstpädagogik in Hamburg. Dass er in der Hansestadt malen gelernt hat, demonstriert der Komiker in seinem aktuellen Buch aufs anschaulichste.
Otto: selbst ein großer Künstler
Einen großen Traum hegt Otto – einer der prominentesten ADHS-Verdachtsfälle Deutschlands – auch mit Ende siebzig noch: Allzu gern würde er einmal in der „Albertina“ in Wien ausstellen, zur Not auch in der „Pinakothek der Moderne“ in München. Handwerklich hätte Otto das Zeug dazu. „Kunst in Sicht“, sein neues Buch, beweist es, wenn auch natürlich mit Augenzwinkern.

Sep 2, 2025 • 4min
Ann Schlee – Die Rheinreise | Buchkritik
Romane, die von einer Reise erzählen, tun dies meist auf doppelte Weise. Denn fast immer ist die äußere Reise der Figuren nur das Gegenstück zu einer inneren, psychischen.
Das trifft auch auf Ann Schlees vergessenes Meisterwerk „Die Rheinreise“ zu. Vor mehr als 40 Jahren erstmals erschienen, erzählt dieser bemerkenswerte Roman von vier Touristen aus dem viktorianischen England.
Im Sommer 1851 ist das Quartett auf einem Dampfschiff von Koblenz nach Köln unterwegs: der missionarische Reverend Charles, seine passiv-aggressive Frau Marion, ihre von diffusen Erwartungen erfüllte Teenagertochter Ellie – und Charles’ Schwester Charlotte, Schlees Hauptfigur.
Fremdbestimmte „alte Jungfer“
Charlotte ist Mitte fünfzig und das, was man damals als „alte Jungfer“ bezeichnete. Ihre ganze Existenz steht im Dienst an anderen; auf der Reise fungiert sie für die Familie ihres Bruders als Gouvernante, Gesellschafterin und Kammerzofe in einem.
Ein eigenes Leben hat Charlotte nicht – könnte sie aber, da sie kürzlich ein kleines Vermögen geerbt hat. Erwartet wird von ihr jedoch etwas anderes, nämlich ein pflichtbewusstes Leben im Haushalt ihres Bruders und ihrer Schwägerin. Eine Vorstellung, gegen die sie immer mehr Widerstände verspürt, nachdem sie auf der Reise einem Landsmann begegnet, der sie an die einzige Liebe ihres Lebens erinnert.
Wer sie sein und wo sie wohnen würde, musste noch beschlossen werden. Sie war nicht sie selbst. Der Anblick dieses Gesichtes auf dem Anleger hatte sie tief erschüttert, denn was war sie für ihn und was war er, ein völlig Fremder, für sie?
Quelle: Ann Schlee – Die Rheinreise
„Opfer einer unanständigen Phantasie“
So sehr Charlotte auch den Kontakt zu vermeiden sucht, der dubiose Mr. Newman taucht wie ein Springteufel überall auf. Selbst in Charlottes Träumen, wo er provozierende Fragen stellt, mit denen er Schlees Protagonistin zum „Opfer einer unanständigen Phantasie“ macht. Und alte Wunden aufreißt.
Schließlich war es seinerzeit ihr bevormundender Bruder gewesen, der ihren damaligen Verehrer als nicht standesgemäß abgewiesen hatte. Womit er seine sich fügende Schwester ihrer einzigen Chance auf ein erfülltes Leben beraubte. Gegen Romanende entladen sich die Spannungen zwischen Schlees Figuren in einer Aussprache, die man kaum anders denn als zutiefst befriedigend empfinden kann.
„Oh, das ist so erschütternd“, rief ihr Bruder. „Alles, was ich getan habe, war immer nur für dein Bestes. Weil du selbst nicht wusstest, was du wolltest, und jemand für dich entscheiden musste.“ „Ich glaube, Charlotte weiß gerade auch nicht, was sie will“, sagte seine Frau. „Damals wusste ich es besser.“
Quelle: Ann Schlee – Die Rheinreise
Roman einer weiblichen Selbstermächtigung
Charlottes Widerstand wächst auch, weil sich ihr eigenes Schicksal an ihrer Nichte zu wiederholen droht, die noch voller jugendlichem Enthusiasmus ist. Schließlich könne der fesche preußische Offizier, der in Köln um sie wirbt, laut Charles nur ein „Mitgiftjäger“ sein.
Dass Schlees Figuren, auch Charlotte selbst, sich als Engländer den Deutschen gegenüber überlegen fühlen, macht sie blind gegenüber den politischen Verhältnissen vor Ort. Denn in diesem Sommer 1851, wenige Jahre nach der Märzrevolution, herrschen im rheinischen Preußen überall Misstrauen und Zensur. Gerade Charlotte, die Mr. Newman zeitweilig regelrecht stalkt, wird, wie sich herausstellt, dessen Handlungen auf peinliche Weise missverstehen.
So arm an äußeren Ereignissen Ann Schlees Roman ist, so sehr fesselt er durch seine präzise Prosa, die Charakterisierung seines viktorianischen Personals und die subtile Spannung zwischen den Zeilen. Mit einer sich mühsam aus den Fesseln einer toxischen Familiendynamik und den Konventionen der Zeit befreienden Protagonistin, die an Sylvia Townsend Warners „Lolly Willows“ erinnert.
Großartig übersetzt von Werner Löcher-Lawrence, ist dieser Roman einer weiblichen Selbstermächtigung nun endlich auch auf Deutsch zu entdecken!

Sep 1, 2025 • 4min
So schön bedrohlich: Am Kipppunkt
Das Buch kommt einer Offenbarung gleicht, denn Benjamin von Brackel und Toralf Staud zeigen an zahlreichen Beispielen aus jüngsten wissenschaftlichen Studien, dass es keineswegs leicht ist, Kipppunkte zu benennen. Es ist oftmals ein kompliziertes Geflecht sich teilweise sogar gegenseitig aufhebender Faktoren, die entscheiden, wann und wo das Klima tatsächlich kippen wird.
Persönliche Erfahrungsreise
Das Buch ist eine persönliche Erfahrungsreise der beiden Autoren rund um die Welt zu den wichtigsten Stätten der Klimaforschung. Ihre Faszination für die Leistungen der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ist ansteckend und macht die Lektüre zu einer aufregenden Entdeckungsreise.
Beruhigend sind ihre Erkenntnisse nicht, denn sie betonen immer wieder, dass wir uns binnen weniger Jahrzehnte den gefürchteten Kipppunkten nähern, falls wir nicht endlich konsequent die CO² Emissionen reduzieren.
Veränderungen in Luft, Wasser und Natur
Entscheidend ist, welche Veränderungen in Luft, Wasser und Natur bis zur Mitte und bis zum Ende dieses Jahrhunderts stattfinden. Benjamin von Brackel und Toralf Staud listen im zweiten Kapitel detailliert und mit vielen leicht verständlichen Beispielen und Vergleichen auf, wie sie das Klima beeinflussen und ab wann sie unumkehrbar sind.
An erster Stelle steht das in den Medien gerne zitierte Abschmelzen des Eisschildes an beiden Polen. Es ist ein extrem langsamer Prozess, der weit über dieses Jahrhundert hinaus reichen wird, selbst wenn das 1,5 Grad Ziel der Pariser Klimakonferenz nach den derzeitigen Bemühungen verfehlt wird.
Selbst bei zwei Grad Erwärmung, weisen Studien nach, bleibt in vielen Bereichen noch Zeit für menschliches Handeln. Es ist - und das ist die optimistische Botschaft des Buches - dafür noch nicht zu spät. Das rechtfertigt natürlich nicht, in den Bemühungen nachzulassen, den CO²-Ausstoß möglichst rasch zu minimieren.
Die bedrohlichsten Kipppunkte
Die Kipppunkte zu bestimmen ist – so die Autoren – ein schwieriges Geschäft, denn es spielen unendlich viele Faktoren eine Rolle, die bisher kein Szenario vollständig berücksichtigen kann.
Wann schmelzen die Gletscher unwiderruflich und wenn ja in welcher Geschwindigkeit, wie beeinflusst das die Meeresströmungen, besonders den Golfstrom, der Europa mit Wärme versorgt. Welche Rolle spielt der wenig erforschte Subpolarwirbel vor der Südspitze Grönlands?
Auch Veränderungen in der Luft können das Klima beträchtlich beeinflussen. Auch in der Natur drohen heftige und bereits jetzt unmittelbar bevorstehende Veränderungen. Es sterben deutlich sichtbar die Korallenriffe, wichtige Heimat zahlreicher Fischarten, der Amazonas-Urwald schwindet dramatisch rasch und die borrealen Nadelwälder rücken beim Auftauen der Permafrostböden in den hohen Norden. Hier sind schon bald Kipppunkte erreicht, die sich nicht mehr rückgängig machen lassen.
Positive Kipppunkte
Die Situation ist ernst, aber nicht zum Verzweifeln, denn – so die Autoren in ihrem letzten Kapitel – es gibt auch positive Kipppunkte beim Klimaschutz.
Dazu zählen sie den unaufhaltsamen Aufstieg der Erneuerbaren Energien, insbesondere der Solarenergie und die E-Auto Revolution, die sich auch nicht mehr stoppen lässt. Ein dritter positiver Kipppunkt: eine Änderung des Essverhaltens. Weniger Fleisch, mehr Gemüse und Obst, möglichst biologisch angebaut.
Ein sehr schwieriger Weg, wie die Autoren unumwunden zugeben, aber durchaus lohnenswert, denn die positiven Entwicklungen könnten uns vor den negativen Kipppunkten bewahren. Fazit des Buches: noch ist nicht alles verloren.

Aug 31, 2025 • 4min
Kaleb Erdmann – Die Ausweichschule
Zwei Schulen standen in der Kindheit des Schriftstellers Kaleb Erdmann für ein schreckliches Ereignis. Am Gutenberg-Gymnasium in Erfurt gehörte er als elfjähriger Schüler zu einer Klasse, deren Lehrerin nach Abschluss der Stunde von dem Amokläufer Robert Steinhäuser erschossen wurde.
Nach der Tat wurden die Schüler des Gymnasiums für mehrere Jahre in einem anderen Gebäude unterrichtet. Das war „Die Ausweichschule", von der Kaleb Erdmanns Roman über die aufsehenerregende Untat seinen Titel hat.
Roman über ein Erzählprojekt
Es hat gedauert, bis der Erzähler begriff, dass das Gemetzel, von dem er damals unmittelbar kaum etwas mitbekam, tiefe Spuren in ihm hinterlassen hat. Und es musste Zeit vergehen, bis Erdmann beschloss, sich die aufwühlende Erfahrung mit über dreißig von der Seele zu schreiben. Im ersten Kapitel erklärt er:
Ich denke sehr gründlich über einen noch nicht existierenden Roman nach, einen Roman über den Erfurter Amoklauf und mein elfjähriges Ich, das ihn erlebt, einen Text über eine kollektiv traumatisierte Schule, über das Gutenberg-Gymnasium in den Jahren nach dem Amoklauf, über Gewalt und Verarbeitung.
Quelle: Kaleb Erdmann – Die Ausweichschule
Nun ist dieses Buch fertig und auf dem Umschlag steht tatsächlich die Gattungsbezeichnung Roman, obwohl es sich genau genommen um den Roman eines Romans handelt. Denn Erdmann schreibt hier Metafiktion, also darüber, wie er bei der Arbeit an diesem Erzählprojekt vorgegangen ist, mit welchen Hemmnissen er zu kämpfen hatte und wie es ihm bei alldem ergangen ist. Das ist konsequent und im Übrigen ganz hervorragend gemacht.
Die Suchbewegungen der Recherche
Schließlich wirft die Annäherung an das traumatisch besetzte Thema viele Fragen auf. Eine davon lautet:
Gibt es überhaupt einen guten Grund, eine Katastrophe in Kunst zu verwandeln?
Quelle: Kaleb Erdmann – Die Ausweichschule
Die Katastrophe: das waren sechzehn ermordete Menschen in maximal zwanzig Minuten, eine tödliche Raserei, die sich mit rationalen Erklärungen kaum fassen lässt. Dass Erdmann daraus kein illusionistisches Erzählkino macht, gehört zu den Qualitäten seines Buches.
Stattdessen beschreibt er die Suchbewegungen der Recherche und trägt damit mehr zur Charakterisierung des Unfassbaren bei als eine vermeintlich allwissende Erzählung, die ohne thesenhafte Behauptungen nicht auskäme. Wie im New Journalism der Amerikaner und inspiriert von dem Franzosen Emmanuel Carrère rückt der Autor seine Überlegungen und Empfindungen als Berichterstatter in den Mittelpunkt.
Gegen die geläufigen Debatten
Durch die pointierte Schilderung banaler Alltagsverrichtungen entsteht dabei immer wieder die Fallhöhe für beklemmende Komik. Vor allem aber verweigert sich Erdmann den geläufigen Debatten in der Öffentlichkeit konsequent, eher hält er ihnen kritisch den Spiegel vor.
Ein Manifest, ein Bekennerschreiben als „Gebrauchsanweisung" zur Tat hat es, so betont er, im Fall dieses Amokläufers nicht gegeben. Daran schließt er eine Frage an, auf die jede allzu griffige Antwort verfehlt wäre:
Wie geht man mit dieser Sinnlosigkeit um, diesem irren Nihilismus, den Steinhäuser gehabt hat?
Quelle: Kaleb Erdmann – Die Ausweichschule
Obwohl Kaleb Erdmann seine Darstellung nicht als Kunst konstruiert und damit im Ästhetischen befriedet hat, ist ihm dennoch etwas sehr Kunstvolles gelungen. Nämlich ein fesselnder Reportageroman, der Widersprüche und Rätsel nicht einebnet, sondern vielschichtig bewahrt, empfindsam und nüchtern, erhellend und ohne falschen Trost.

Aug 29, 2025 • 7min
„Da wird nichts von außen behauptet, sondern aus dem Erleben heraus erzählt“
Ein Tag, viele Perspektiven
Im Zentrum des Romans steht ein einziger Sommertag im Jahr 1942, der in acht Kapiteln immer wieder neu erzählt wird. Aus wechselnden Perspektiven entsteht so kein enzyklopädisches Geschichtswerk, sondern eine erzählerische Collage: eine Sammlung von Gesichtern, Erinnerungen und Brüchen.
Die Hauptfigur Isak – vorgestellt zunächst als Kind im Jahr 1916 – gilt als „letzter Jude Belgrads“. Er versucht seine Herkunft abzulegen, um zu überleben, während die Gewalt des Antisemitismus um ihn kreist.
Die Geschichte seiner Mutter Olga, die 1921 spurlos verschwindet und zuvor ihre Haggada unter den Dielen versteckt, bleibt als ungelöstes Rätsel präsent und treibt Isak Jahrzehnte später an.
Figuren zwischen Erinnerung und Erfindung
Neben Isak begegnen wir vielen anderen Stimmen: dem Jungen Petar, der sich den Partisanen anschließt, und Rosa und Milan, einem Anarchistenpaar, das Isak adoptiert. Besonders ungewöhnlich ist die Figur der Hündin Malka – ihr Name bedeutet „Königin“.
Aus ihrer hundehaften, sinnesgesteuerten Wahrnehmung entsteht ein ganz besonderes Kapitel. Sie wird zum Gedächtnis des Romans, ein Lebewesen, das Spuren von Vergangenheit und Herkunft in sich trägt.
Ein poetischer Titel
Der Titel „Buch der Gesichter“ verweist doppelt: auf die vielen einzelnen Menschen und ihre Schicksale sowie auf Erinnerungen und Visionen. Traum und Realität fließen ineinander, Geschichte entsteht aus Bewusstsein und Unbewusstem zugleich.
Dinić ordnet sich damit deutlich in die literarische Tradition der Erinnerungs‑Literatur ein. Zitate von Danilo Kiš, Soma Morgenstern, Wislawa Szymborska oder Ruth Klüger markieren die Kapitel. Der Roman sucht zu Beginn manchmal den großen Ton, doch findet nach und nach eine eindringliche Sprache: persönlich, vielstimmig, berührend.

Aug 29, 2025 • 55min
lesenswert Magazin mit neuen Büchern von Caroline Wahl, Antonia Baum, Marko Dinić und Katerina Poladjan
Neue Romane über Macht, Erinnerung und entzauberte Welten

Aug 29, 2025 • 6min
Menschlichkeit in Zeiten der Simulation: Marius Goldhorns neuer transhumanistischer Roman „Die Prozesse“ | Buchkritik
Wir sind deutsche Einzelkinder. Wir leben in Brüssel. Ezra ist älter als ich, über sieben Jahre. Ich bin 29. Ezra ist tausend Jahre alt.
Quelle: Marius Goldhorn – Die Prozesse
Das steht in Marius Goldhorns zweitem Roman „Die Prozesse“ ziemlich am Anfang. Ein irritierendes Zitat. Der Ich-Erzähler wirkt furchtbar überreflektiert, wer stellt sich schon als Einzelkind vor? Er ist irgendwie entwurzelt zwischen Belgien und Deutschland, und zwischen ihm und seinem Freund klafft eine gewaltige Lücke von gefühlt 1000 – 29, also 979 Jahren. Außer einem erheblichen Gefühl der Verlorenheit erfährt man wenig über den Erzähler.
Digitale Welt und literarische Strategien
Der heute 30jährige Schriftsteller Marius Goldhorn ist in der durchdigitalisierten Welt großgeworden. Und das ist eine Welt, in der soziales Leben mehr simuliert als gelebt wird. Das erfordert neue literarische Strategien des Verbergens und Entblößens: Was gebe ich preis, und was erzähle ich besser nicht – das ist eine lebenswichtige Frage.
Der Titel des Romans wie gesagt: „Die Prozesse“, und dieser Titel hat es in sich. Ein Prozess, das ist ein feststehendes Verfahren, das gilt bei Gericht wie bei naturwissenschaftlichen und gesellschaftlichen Prozessen. Man kann sich hinter Prozessen verstecken – denn es gibt da Regeln, und die tragen dann die Verantwortung.
Marius Goldhorns Roman ist eine Reaktion darauf, und das macht ihn wertvoll. Goldhorn entwirft ein Vexierspiel zwischen handelnden Personen und einer Welt, die mit sich nicht klarkommt. Worum geht es eigentlich in diesem Buch?
Prophet des Aussterbens in virtuellen Welten
Die Handlung ist ein bisschen komplex nachzuerzählen. Es geht um ein Paar in einer nahen Zukunft, in der postkoloniale Migrationsverwerfungen und Klimakatastrophen Europa instabil gemacht haben, der Ältere des Paars, Ezra, ist Blogger und begleitet mit seinen Posts einen Aufstand in Belgien. Er ist besessen von der Idee, dass die Menschheit aussterben müsse, er gilt als Prophet des Aussterbens.
Ezra hat diese online-Persona, sie heißt Deborn. Er hat mehrere Blogs, er kommentiert alles, er schreibt über alles.
Quelle: Marius Goldhorn – Die Prozesse
Passend dazu: Sein Profilbild. Das ist Paul Klees „Angelus Novus“, der Engel, der rückwärtsfliegend nichts sieht außer den Katastrophen, die die Menschen anrichten, so hat Walter Benjamin, der große Denker, ihn beschrieben.
Deborn war der Aussterbe-Engel. Er hatte diese kultartige Anhängerschaft. Online gab es Foren, die versuchten herauszufinden, was Deborn wollte.
Quelle: Marius Goldhorn – Die Prozesse
Deborn/Ezra/Der Aussterbeengel ist sowas wie ein Heiliger. Er leidet gleichzeitig unter der Schmetterlingskrankheit, das hört sich poetisch an, aber die Krankheit gibt es wirklich, und sie ist wenig poetisch, unheilbar verlieren die Erkrankten ihre Haut – eine zerstörerische Metamorphose.
Das passiert alles in der realen Welt, aber dann gibt es auch noch die Online-Welt. Sein Freund ist der Ich-Erzähler T., 3D-Entwickler, er will einen mystischen Baum schaffen, ein Heiligtum, für ein Computerspiel, das in einem Land namens Egregore spielt, der Begriff kommt aus der Fantasywelt, und bezeichnet eine Art Gedankenkraftfeld.
Egregore ist am Leben“, erklärte sie ruhig, Egregore ist nicht nur ein Spiel, es ist eine Lebenssimulation. Die Pflanzen wachsen, NPCs sterben und ihre Kinder altern.“ …. Hier, in Egregore verehren sie die Natur-Intelligenz als eine Gottheit, die ihnen nicht mehr als künstlich erscheint.
Quelle: Marius Goldhorn – Die Prozesse
Menschlichkeit im Spiel – eine transhumanistische Utopie
Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt, hat Friedrich Schiller gesagt. Marius Goldhorn entwickelt den Gedanken bemerkenswert fort: Es gibt keine Menschlichkeit ohne Spiel – aber es kann ein Spiel geben ohne Menschen. Eine Entwicklerin erklärt irgendwann: „Die menschlichen Spieler leben einfach nur mit“. Das ist nicht mehr und nicht weniger als eine transhumanistische Utopie:
Wir saßen an schwarzen Steinen und verkohlten Ästen, eine Feuerstätte unter einem bewölkten Nachthimmel, sofort ergriff mich die Ingame-Wärme.
Quelle: Marius Goldhorn – Die Prozesse
Die In-Game-Wärme ersetzt die zwischenmenschliche … Man kann Marius Goldhorns Roman so lesen: Es geht darum, was die Welt mit den Menschen macht, nachdem wir sowas wie ein kollektives Bewusstsein entwickelt haben.
Zwischen Apokalypse und Europaroman
Das Spiel wächst und wächst, während die Aufständischen langsam die Macht über Europa übernehmen. Der schwerkranke Ezra und T. suchen Heilung und Ruhe im Süden, bis sie ins klimawandelverbrannte Ligurien kommen, wo Ezra an Denguefieber stirbt. Die Passagen dort gehören zu den ruhigsten und traurig-schönsten des Romans. Ein seltsamer, schwebender, mystischer Grundton durchzieht das Buch, das ist beim Lesen trotz der einfachen Sätze manchmal herausfordernd aber immer spannend.
Ezra ist wie gesagt ein Heiliger der Revolution, T. trägt den halben Roman hindurch eine Djellaba, das ist ein arabisches Männerkleid, man könnte es aber auch als Mönchskutte sehen. Dass er gleichzeitig den Roman schreibt, den wir lesen, macht ihn zum Propheten Ezras. Vieles wirkt geradezu religiös, Das Computerspiel am Anfang wie eine Untergrundkirche, die Aufstände wie ein jüngstes Gericht. Utopie und Apokalypse halten sich die Waage in Marius Goldhorns Roman.
Die Kommunarden wollen irgendwann die Schuld aufarbeiten. Es kommt zu Prozessen, Schauprozessen, bei denen die Kommunarden die historischen Verbrecher benennen, die dann von Fotos getilgt werden und in Büchern nur noch mit einem X vor den Namen erscheinen. Da steht dann weniger Kafkas Prozess als Peter Weiss‘ „Ermittlung“ Pate – und das kann man wirklich so sagen: Marius Goldhorn beruft sich auf ein ganzes Arsenal von Dichtern und Denkern.
Und schreibt dabei einen irritierend zwischen Welten oszillierenden Roman, der Kraft hat, Tiefe und Geschwindigkeit.
Heiligenlegende, Europaroman, Revolutionsdrama, Künstlerroman, postmodernes Kabinettstück Liebesgeschichte und Science-Fiction – „Die Prozesse“ sperrt sich gegen jede Eindeutigkeit – und macht dadurch den Kopf frei, der in den Sturzbächen der digitalen Entwicklung nur noch das überlaute und bedrohliche Grundrauschen wahrnimmt.

Aug 29, 2025 • 8min
Literarische Radwege in Baden-Württemberg: Auf den Spuren von Grimmelshausen, Mörike & Co.
Freitagnachmittag im August. Ich sitze auf dem Rad. Knapp 50 Kilometer liegen vor mir. Zwischen Feldern, Weinbergen und kleinen Ortschaften öffnet sich ein Weg, der mehr ist als eine sportliche Tour: ein literarischer Radweg in Baden-Württemberg.
„Per Pedal zur Poesie" heißt das Projekt vom Literaturarchiv Marbach.
Schirmherr ist Prof. Dr. Thomas Schmidt: „Die Idee für die Literarischen Radwege kam 2008. Sie liegt eigentlich auf der Hand: Wir haben im Südwesten viele schöne Landschaften, die gut mit dem Rad erschlossen sind, und gleichzeitig die reichste Literaturlandschaft Europas – etwa 100 literarische Dauerausstellungen und zahlreiche weitere Orte.
Das wollten wir verbinden: Landschaft und Literatur, auf eine sanfte, den Raum abtastende Weise. Daraus sind die Radwege entstanden. Mittlerweile haben wir elf Routen, drei weitere sind in Planung.“
Auf Spuren barocker Dichter
Radweg Nummer elf führt mich ins Renchtal. Oberkirch, Gaisbach, Renchen, Willstätt – ruhige Weinbaugebiete in der Rheinebene, viel Fachwerk, grüne Felder, reichlich Obstanbau.
Und: Eine reiche Literaturgeschichte. Hier befand sich schließlich, seit kurz nach dem Dreißigjährigen Krieg, die Wahlheimat von Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen, wo er den barocken Abenteuerroman „Simplicissimus Teutsch“ schrieb.
Die Radwege plant das Literaturarchiv eben nicht zufällig, sondern an den wichtigsten historischen Punkten entlang:
„Mindestens zwei, höchstens vier literarische Museen oder Dauerausstellungen sollen an der Route liegen. Mehr wäre für Radler zu viel. Die Länge liegt zwischen 30 und 50 Kilometern. Zunächst orientieren wir uns an den Ausstellungen, dann suchen wir literarische Orte in der Umgebung.“
Bewegungssinnliche Literaturerfahrungen
Damit zurück zu meiner Radtour. Startpunkt: Oberkirch. Im kleinen Stadtmuseum lässt sich mehr über Grimmelshausen und seinen Einfluss auf den regionalen Weinbau erfahren. Schnell weiter geht es aber nach Gaisbach, wo sich im Gasthaus Silberner Stern, das Grimmelshausen einst selbst betrieb, vespern ließe. Vielleicht die bessere Wahl? Denn die nächste Etappe hat es in sich.
Der Anstieg auf die Schauenburg zeigt Zähne. Literaturgeschichte als körperliche Erfahrung. Ich erinnere mich an Schmidts Worte:
„Die Erfahrung prägt sich sinnlich, sogar kinästhetisch – also bewegungssinnlich – ein. Wenn man etwa von Kirchheim/Teck über Ochsenwang nach Bad Boll fährt, dann fährt man auf Mörikes Spuren, aber muss den Albtrauf hoch – das vergisst niemand, auch E-Biker nicht. Die Geschwindigkeit des Rades ist aber beschaulich, man ist mit allen Sinnen dabei. Aber: Ein Radweg muss vor allem schön sein.“
Neue Radwege in Planung
Schön ist die Aussicht auf die Rheinebene. Das macht den Reiz des poetischen Radwegs aus: Natur, Stadtbild und Literatur verbinden sich hier spielerisch miteinander. So lässt sich die Regionalkultur aktiv erleben. Das Projekt wächst bis heute immer weiter, wird modernisiert, meint Schmidt:
„Unter anderem, weil sich in den letzten 17 Jahren Beschilderungsvorschriften und Radwegführungen stark verändert haben. Wir evaluieren die bestehenden Wege, korrigieren die Führungen, beschildern neu, produzieren GPX-Tracks für Komoot und Outdooractive.“
Da Literaturbegeisterte aber bekanntlich auch gerne Viellesende sind, finden sich die Wegbeschreibungen in aufwendig gestalteten Leporellos.
2026 ist Grimmelshausen-Jahr
„Darin gibt es Texte, die – wie Ethnologen sagen würden – eine „dichte Beschreibung“ bieten. Was nicht einfach ist, weil die literarischen Spuren oft nicht kausal zueinander stehen. Daraus entsteht ein Essay, der die Landschaft als Literatur-Landschaft zeigt – nicht nur als Natur- oder Weinlandschaft.“
In Renchen gilt es einige Sehenswürdigkeiten zu besichtigen: Das Simplicissimus-Haus, der Fabeltierbrunnen, das Grimmelshausen-Denkmal. Ein Ausblick aufs Jahr 2026 gibt Prof. Dr. Thomas Schmidt:
„Es ist Grimmelshausen-Jahr. In Renchen und Oberkirch finden Sie zentrale Orte zu seinem „Simplicius Simplicissimus“. In Renchen gibt es eine Ausstellung mit Illustrationen des Romans, in Oberkirch eine ganz neue Ausstellung, die am 20. März eröffnet wird – rechtzeitig vor der Radsaison.
Handlungsorte literarischer Texte im Südwesten
Die letzte Etappe und die Beine sind schwer. Hinter mir liegen viele literarische Stationen, fast 50 Kilometer. In Willstätt warten die Spuren eines weiteren barocken Dichters: Johann Michael Moscherosch. Der Südwesten zeigt sich voller Handlungsorte literarischer Texte und Schauplätzen der Literaturgeschichte.
„Beispiel: Wenn Sie mit der Regionalbahn von Stuttgart nach Heilbronn fahren, passieren Sie kurz vor Lauffen, dem Geburtsort Hölderlins, einen Eisenbahntunnel. Dieser ist zentraler Ort eines Romans von Heimito von Doderer, wo der Tunnel für das Unbewusste und Verdrängte steht. Die Museen sind das Korsett, dazu kommen spannende, literarische Orte.“
Jeder gefahrene Kilometer auf dem literarischen Radweg inspiriert zu neuem Lesestoff. Am Schluss steht also kein Endpunkt, sondern ein fortlaufendes Projekt. Es gibt viel zu entdecken.
Immer weiter radeln also.

Aug 29, 2025 • 5min
Ein Kind - ja oder nein? Antonia Baum erzählt von der schwersten Entscheidung | Buchkritik
Laura ist Anfang 30, sie strebt eine geisteswissenschaftliche Unikarriere an und steckt mitten in der Promotion. Für den Lebensunterhalt arbeitet sie in der gynäkologischen Praxis von einem Freund ihres Vaters als Arzthelferin. Von ihrem Lebensgefährten Aram ist sie frisch getrennt - und schwanger: in der titelgebenden „achten Woche“.
Ist man schwanger, nimmt man sein Urteil (…) immer mit, egal, wohin man geht. Die Gewissheit, die darin liegt, hat (…) aber auch was Beruhigendes, jedenfalls für sie. Sie wird die Suppe auslöffeln. (…)
Quelle: Antonia Baum – Achte Woche
Laura hat bereits eine Abtreibung hinter sich, dann bekam sie eine Tochter, Helena, heute fast drei, und jetzt ist sie also wieder schwanger: wieder von ihrem Freund Aram - oder korrekter: von ihrem Ex-Freund. Soll sie das Kind behalten oder nicht? Das ist die große Frage für Laura. Wie für so viele andere Frauen.
Die große Unsicherheit der Frauen bei der Kinderfrage
Die Geburtenrate in Deutschland sinkt. Zurzeit liegt sie bei etwa 1,3 Kindern pro Frau. Warum ist das so? Wer Antworten auf diese Fragen sucht, der kann sie in Antonia Baums kurzem Roman finden, der sich eher als ein langer Gedankenstrom liest, denn als klassisch erzählter Plot.
Antonia Baum umkreist sehr eindringlich und aus verschiedenen weiblichen Perspektiven die fast erdrückend große Unsicherheit, die Frauen heute bei der Kinderfrage umtreibt. Denn sie sind ja diejenigen, die am Ende, wie es Baum es so bitter-ironisch nennt, „die Suppe auslöffeln“:
…wenn Frauen ungewollt schwanger waren und arm, dann gingen sie ins Wasser, auf Gemälden, in der Literatur, sie gingen ins Wasser, wo sie die Suppe auslöffelten, schlammig mit Seerosen drin, verdorben und schön zugleich.
Quelle: Antonia Baum – Achte Woche
Ins Wasser müssen die Frauen heute nicht mehr gehen - aber ihre Nöte, das zeigt Baum in „Achte Woche“ sehr anschaulich, sind nicht unbedingt kleiner geworden. Die Kinderfrage ist für viele immer noch eine schwere Bürde, mit der sie oft ziemlich allein gelassen werden.
Viele Frauen werden mit ihrer Entscheidung alleingelassen
In der Praxis, in der Laura arbeitet, kommen einige von ihnen zusammen. Baum erzählt ein paar Parallelgeschichten, in denen sich Lauras eigenes Schicksal spiegelt: Da gibt es zum Bespiel die Patientin Amelia, die sich - anders als Laura - sehr sicher über ihre Abtreibung zu sein scheint, es gibt Lauras Kollegin Elena, die Kinder bekommen hat, aber jetzt sehr unter ihnen leidet: „eine stille Heldin, die jeder schon mal ausgenutzt hat“ heißt es im Roman über sie.
Es gibt die 16-jährige Maha mit Migrationshintergrund, für die sich noch ganz andere Probleme stellen. Und es gibt Barbara, Lauras Mutter, die vom Vater Lutz lange getrennt ist. Heute lebt sie mit einer Frau zusammen - und an einer Stelle steht da ganz lapidar über sie: „Sie ist total verarscht worden.“
Das Verarscht- und das Alleingelassen werden: Für Laura trifft das in ganz wörtlichem Sinne zu. Eigentlich hatte sie sich ein zweites Kind mit Aram gewünscht. Das ist jetzt unterwegs, aber der Mann ist weg. Und das hier ist Lauras Dilemma:
Wenn sie das Kind nicht bekommt, wird sie ihm das nicht verzeihen, egal, wie sehr sie sich um Fairness bemüht. Aber wenn sie es bekommt, wird sie es ihm auch nicht verzeihen. Er weiß nichts von ihrer Schwangerschaft. Er hat sich nicht gemeldet und sie hat ihm nicht geschrieben, hat nicht angerufen, aus Angst vor seiner Reaktion.
Quelle: Antonia Baum – Achte Woche
„Achte Woche“ ist auch ein Roman über die große Abwesenheit der Männer, die sich schwierigen Situationen gerne mal entziehen: Hier sind sie ständig auf Reisen.
Bekannte Themen wieder neu erzählt
Auch in diesem schmalen Roman fächert Antonia Baum nochmal alle die Themen auf, die wir auch schon aus früheren Büchern von ihr kennen: Es geht, wie schon in „Stillleben“, um Rollenbilder, Mutterschaft und die vielfältigen Überforderungen heutiger Frauen, es geht auch um die Auswirkungen patriarchaler Strukturen und den männlichen Blick, den „male gaze“, um den schon Baums großartiger Roman „Siegfried“ kreiste.
Hier, in „Achte Woche“, erscheint das alles noch einmal sehr verdichtet. Die einzige Frau, die in diesem Roman souverän aufbegehrt, ist die Lateinamerikanerin Amelia:
Amelia raucht selbstgedrehte Zigaretten, sie trinkt Bier, sie geht campen, sie will forschen, sie lässt alles wachsen und trägt schnelltrocknende, ultradünne, thermoregulierende Kleidung, bestimmt schwarz. (…) Sie kümmert sich nie darum, wie sie aussieht und was andere wollen, und das verzeiht Laura ihr nicht.
Quelle: Antonia Baum – Achte Woche
Aber auch nur, weil Laura diese Frau insgeheim bewundert, die sich so konsequent dem „male gaze“ und allen gesellschaftlichen Erwartungen entzieht. Amelias Entscheidung gegen ihr Kind steht fest. Wie sich Laura am Ende entscheidet: Das lässt dieser kluge Roman natürlich offen.

Aug 28, 2025 • 4min
Robert Macfarlane – Sind Flüsse Lebewesen? | Buchkritik
Flüsse in drei unterschiedlichen Klimazonen hat der britische Autor Robert Macfarlane für sein neues Buch „Sind Flüsse Lebewesen?“ besucht: in Südamerika, in Indien, in Nordamerika.
Anhand ihres Schicksals weist er auf die vielfältigen Schwierigkeiten hin, hin, die fließendes Wasser auf seinem Weg zur Küste zu bewältigen hat. Bedroht ist ihre jeweils besondere Schönheit, durch den Menschen, seine Industrie, seine Chemie, seine Landwirtschaft, seine ungehemmte Wassergier.
Drei Flüsse – drei Kontinente – drei Klimazonen
In Ecuador ist Macfarlane in das Quellgebiet des Río Los Cedros, in den Nebelwald aufgebrochen, um dessen wilde, ungezähmte Natur zu entdecken. Dank mutiger Richter ist es inzwischen unter strengen Naturschutz gestellt.
In Indien hat er sich in die Hafenstadt Chenai begeben, um dort die Misshandlung – anders kann man es wohl kaum nennen – dreier Flüsse zu dokumentieren. Sie dümpeln nur noch als Schatten ihrer selbst in den Golf von Bengalen, als schmutzige Rinnsale, ungenießbares Wasser, giftig für Mensch wie Natur, von korrupten Politikern an die Chemieindustrie verkauft.
Der dritte Fluss ist der Mutehekau Shipu in Kanada, bedroht durch Staudämme zur Stromgewinnung. Nach Ansicht des Autors „ertränken“ diese einen Fluss, denn das gestaute Wasser nimmt ihm seine Kraft, seine Lebendigkeit, seine Sedimente.
Die indigene Bevölkerung sieht den Fluss als eine heilige Gottheit an. Mit dem Segen einer Heilerin und der von ihr versprochenen Aussicht auf innere Erkenntnis, paddelt Robert Macfarlane mit ortskundigen Gefährten im Kajak flussabwärts. Ein Höllenritt, denn sie müssen sehr gefährliche Stromschnellen, reißende Strudel, enge Felsschluchten bewältigen.
Engagierte Naturschützer vor Ort
Macfarlanes Vorgehensweise ist immer dieselbe. Er sucht sich engagierte Naturschützer vor Ort, die ihn führen, aufklären, unterstützen. Mit ihnen spürt er der Einzigartigkeit der Flüsse nach. Er beschreibt wortmalerisch ihr Wasser, das organische Leben in ihnen, die sie umgebende Natur. So erweckt er sie für uns Leser zum Leben – eine erstaunliche Leistung.
Immer wieder fügt er Zitate von Dichtern und Philosophen sowie wissenschaftliche Erkenntnisse in seinen Text ein.
Vor allem aber beschreibt er seine persönlichen Empfindungen und Gefühle angesichts des Zustands der Flüsse: Er macht aus seiner Wut, Verzweiflung, Begeisterung, Erschöpfung keinen Hehl. Das bringt uns Macfarlane nahe und macht ihn uns sympathisch.
Ansteckende Begeisterung
Ihm gelingt es zudem, uns mit seiner Begeisterung anzustecken. Wir folgen ihm gerne, auch wenn seine Beschreibungen bisweilen arg lang geraten. Der erzählende Teil des Buches ist immerhin 341 Seiten lang. Es enthält aufschlussreiche Schwarz-Weiß-Fotos der Landschaften und Kartenausschnitte sowie am Ende ein umfangreiches Quellenverzeichnis.
Dabei verliert Macfarlane nie seine große Frage aus dem Auge, ob Flüsse als Lebewesen anzusehen sind. Dass seine Schilderungen sie lebendig machen, ihnen einen eigenen Charakter zusprechen, ist eine Antwort. Man versteht sie sofort.
Aber wichtiger ist die Frage, wer sie eigentlich vertritt, ihnen eine Stimme gibt, ihre Sprache versteht. “Was sagt uns der Fluss” formuliert es Robert Macfarlane, der sich als ihr Fürsprecher sieht, aber ihre Sprache eben auch nur interpretieren kann.
Jeder hört etwas anderes, je nachdem, ob er zu den indigenen Völkern gehört, die an den Flussufern wohnen, ein Umwelt- oder Naturschutzaktivist, ein Naturphilosoph, ein Wissenschaftler ist. Selbst wenn sie alle die Frage mit einem Ja beantworten, so sieht jeder im Fluss etwas anderes.
Und genau das ist die Crux mit der Antwort, so Macfarlane, denn jeder antwortet aus seiner Sicht, aus seiner Perspektive. Der Fluss spricht, aber wir Menschen verstehen ihn nicht.


