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Aug 28, 2025 • 4min

Robert Macfarlane – Sind Flüsse Lebewesen? | Buchkritik

Flüsse in drei unterschiedlichen Klimazonen hat der britische Autor Robert Macfarlane für sein neues Buch „Sind Flüsse Lebewesen?“ besucht: in Südamerika, in Indien, in Nordamerika. Anhand ihres Schicksals weist er auf die vielfältigen Schwierigkeiten hin, hin, die fließendes Wasser auf seinem Weg zur Küste zu bewältigen hat. Bedroht ist ihre jeweils besondere Schönheit, durch den Menschen, seine Industrie, seine Chemie, seine Landwirtschaft, seine ungehemmte Wassergier.  Drei Flüsse – drei Kontinente – drei Klimazonen  In Ecuador ist Macfarlane in das Quellgebiet des Río Los Cedros, in den Nebelwald aufgebrochen, um dessen wilde, ungezähmte Natur zu entdecken. Dank mutiger Richter ist es inzwischen unter strengen Naturschutz gestellt.   In Indien hat er sich in die Hafenstadt Chenai begeben, um dort die Misshandlung – anders kann man es wohl kaum nennen – dreier Flüsse zu dokumentieren. Sie dümpeln nur noch als Schatten ihrer selbst in den Golf von Bengalen, als schmutzige Rinnsale, ungenießbares Wasser, giftig für Mensch wie Natur, von korrupten Politikern an die Chemieindustrie verkauft.   Der dritte Fluss ist der Mutehekau Shipu in Kanada, bedroht durch Staudämme zur Stromgewinnung. Nach Ansicht des Autors „ertränken“ diese einen Fluss, denn das gestaute Wasser nimmt ihm seine Kraft, seine Lebendigkeit, seine Sedimente.  Die indigene Bevölkerung sieht den Fluss als eine heilige Gottheit an. Mit dem Segen einer Heilerin und der von ihr versprochenen Aussicht auf innere Erkenntnis, paddelt Robert Macfarlane mit ortskundigen Gefährten im Kajak flussabwärts. Ein Höllenritt, denn sie müssen sehr gefährliche Stromschnellen, reißende Strudel, enge Felsschluchten bewältigen.   Engagierte Naturschützer vor Ort  Macfarlanes Vorgehensweise ist immer dieselbe. Er sucht sich engagierte Naturschützer vor Ort, die ihn führen, aufklären, unterstützen. Mit ihnen spürt er der Einzigartigkeit der Flüsse nach. Er beschreibt wortmalerisch ihr Wasser, das organische Leben in ihnen, die sie umgebende Natur. So erweckt er sie für uns Leser zum Leben – eine erstaunliche Leistung.  Immer wieder fügt er Zitate von Dichtern und Philosophen sowie wissenschaftliche Erkenntnisse in seinen Text ein.  Vor allem aber beschreibt er seine persönlichen Empfindungen und Gefühle angesichts des Zustands der Flüsse: Er macht aus seiner Wut, Verzweiflung, Begeisterung, Erschöpfung keinen Hehl. Das bringt uns Macfarlane nahe und macht ihn uns sympathisch.  Ansteckende Begeisterung  Ihm gelingt es zudem, uns mit seiner Begeisterung anzustecken. Wir folgen ihm gerne, auch wenn seine Beschreibungen bisweilen arg lang geraten. Der erzählende Teil des Buches ist immerhin 341 Seiten lang. Es enthält aufschlussreiche Schwarz-Weiß-Fotos der Landschaften und Kartenausschnitte sowie am Ende ein umfangreiches Quellenverzeichnis. Dabei verliert Macfarlane nie seine große Frage aus dem Auge, ob Flüsse als Lebewesen anzusehen sind. Dass seine Schilderungen sie lebendig machen, ihnen einen eigenen Charakter zusprechen, ist eine Antwort. Man versteht sie sofort. Aber wichtiger ist die Frage, wer sie eigentlich vertritt, ihnen eine Stimme gibt, ihre Sprache versteht. “Was sagt uns der Fluss” formuliert es Robert Macfarlane, der sich als ihr Fürsprecher sieht, aber ihre Sprache eben auch nur interpretieren kann.   Jeder hört etwas anderes, je nachdem, ob er zu den indigenen Völkern gehört, die an den Flussufern wohnen, ein Umwelt- oder Naturschutzaktivist, ein Naturphilosoph, ein Wissenschaftler ist. Selbst wenn sie alle die Frage mit einem Ja beantworten, so sieht jeder im Fluss etwas anderes. Und genau das ist die Crux mit der Antwort, so Macfarlane, denn jeder antwortet aus seiner Sicht, aus seiner Perspektive. Der Fluss spricht, aber wir Menschen verstehen ihn nicht.
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Aug 27, 2025 • 6min

Machtmissbrauch im Verlag - Caroline Wahls neuer Roman „Die Assistentin“ | Buchkritik

„Es ist quasi eure Bibel“, mit diesen Worten bekommt Charlotte von der alten Assistentin ein Handbuch überreicht. Detailliert ist darin erklärt, wie sich die neue Assistentin um den Verleger zu kümmern hat. Der Verleger, das ist Ugo Maise. In seiner Nudelsuppe dürfen keine Nudeln sein. In seinem Hotelzimmer darf bloß kein Daunenkissen auf dem Bett liegen. Das sind noch die leichteren Regeln, die Charlotte zu beachten hat. Schnell wird ihr klar: Als Assistentin soll sie nicht nur Verlags-Dinge regeln. Sie muss Ugo Maise umsorgen, bewundern, für ihn da sein und für ihn mitdenken – und das täglich und rund um die Uhr. Etwa, wenn er sich abends per Videoanruf aus seinem Hotelzimmer bei ihr meldet. Sie wollte den Verleger nicht im Unterhemd sehen, sie wollte nicht die nackten Arme ihres Chefs sehen. Aber es spielte keine Rolle, was sie wollte. Quelle: Caroline Wahl – Die Assistentin Ständige Grenzüberschreitungen Private Fragen zu ihrem Liebesleben, zufällige Berührungen, Kommentare über ihr Aussehen – immer öfter überschreitet der Verleger Grenzen. Und Charlotte spielt das Spiel mit, entwickelt mehr noch den Ehrgeiz für Ugo Maise die ideale Assistentin zu sein. „Das wollte ich auch erzählen, was das mit einer Person / Figur wie Charlotte macht, wenn sie so einem Machtmissbrauch ausgesetzt ist, dass man gar nicht mehr handelt, wie man es sich von sich selbst erwartet," meint Wahl. „Und dass da auch ganz viele kleine Dinge passieren, die schwierig sind zu erklären oder in Worte zu fassen. Also zum Beispiel, dass sie sich auch fast schon schämt und dass sie sich eben nicht wehrt. Und dass sie mitflirtet, wenn er so komisch mit ihr kommuniziert usw.“ „Hoher Verschleiß“ an Assistentinnen Sagt die Autorin Caroline Wahl. Manipulation und Kontrolle sind die Herrschaftsinstrumente des Verlegers Ugo Maise. Er ist inkompetent, sprunghaft und narzisstisch und alle im Haus wissen, dass sein, Zitat, „Verschleiß an Assistentinnen“, sehr hoch ist. „Es war mir wichtig, dass es in der Verlagswelt passiert, weil ich eben mitbekommen habe, dass es passiert, von anderen Menschen, von eigenen Beobachtungen. Und ich finde, es ist so ein krasser Ort, wo das passiert, weil man eigentlich denkt, dort passiert es am wenigsten. Es ist ein Ort, wo idealistische Menschen zusammenkommen, und Bücher rausbringen. Und es sind Menschen, die an Debatten teilhaben, die offen sind. Und deswegen finde ich das gerade als Ort für so einen Machtmissbrauch passend, weil es eben auch in der Realität passiert.“ Caroline Wahl war selbst Assistentin Caroline Wahl arbeitete selbst als Assistentin beim Diogenes Verlag in Zürich. In einigen Interviews erzählte sie, wie unglücklich sie damals gewesen sei. Als Ausgleich begann sie, an ihrem ersten Roman „22 Bahnen“ zu schreiben. Ihre Hauptfigur Charlotte in „Die Assistentin“ lässt sie abends an ihrem ersten Musik-Album arbeiten. Die Parallelen drängen sich auf, aber dass der Verleger in ihrem Roman Diogenes-Chef Philipp Keel sei, verneint Caroline Wahl entschieden: „Nö. Das ist nicht autobiographisch. Das ist nicht meine Geschichte, die ich erzähle, das ist Charlottes Geschichte. Also, ich kann natürlich total nachvollziehen, dass da jetzt Parallelen gesucht werden. Aber ich glaube, dass das der falsche Schritt ist. Weil ich eben denke, dass das kein Einzelschicksal ist, von dem ich erzähle. Und dass das, was Charlotte passiert, vielen passiert. Und dass dieser Machtmissbrauch ein Thema ist, das passiert. Und ich glaube, vielleicht sollte man den Blick eher ausweiten, als ihn auf diesen einen Verlag dort in der Schweiz zu richten.“ Die Assistentin zerbricht an der Belastung Den Blick weiten – das erreicht Caroline Wahl mit einem erzählerischen Kniff: Als Erzählerin kommentiert sie immer wieder die bisherige Handlung, gibt einen Ausblick auf das, was kommt und vermutet, dass eine Liebegeschichte Charlotte guttun würde. Caroline Wahl verschafft ihren Leser*innen damit nicht nur Verschnaufpausen. Sie schafft Distanz, lenkt unseren Blick auf die Charlotte, die mehr ist als nur „Die Assistentin“. Sie ist eine Frau, der äußere und innere Ansprüche die Beine brechen – und das im wahrsten Sinne des Wortes. Charlotte macht sich kaputt und das schildert Caroline Wahl mit einer Bitterkeit, die weh tut. Sie zeichnet das Bild einer jungen Frau, die stellvertretend für viele steht, die sich in männerdominierten Branchen behaupten wollen. Die nicht die Souveränität und die Sicherheit besitzen, Nein zu sagen. Die den Leistungsgedanken unserer Gesellschaft verinnerlicht haben und dafür Konkurrentinnen eiskalt ausstechen. Denn der Platz an der Spitze ist für Frauen begrenzt. „Ich möchte mit meinen Geschichten nichts bewirken," erzählt Wahl. „Ich will in erster Linie erzählen. Aber wenn es passiert, dass die Leser*innen danach ein bisschen sensibler für sowas sind und eben nicht nur zuschauen, sondern, wenn sie so eine Charlotte sehen, da mal ein bisschen mutig eingreifen, dann wäre das das Geilste, das passieren kann.“ Schonungslose Darstellung von Machtmissbrauch Am Ende geht's Charlotte gut, sagt uns die Erzählerin. Aber kann man dieser Erzählerin trauen, wo sie doch immer wieder eine Pause einlegt, zurücktritt und ihre Geschichte mit viel Skepsis kommentiert. Ihre Musik und eine große Portion Glück machen Charlotte schließlich zu einem „kleinen Star“. Sie kann der Verlagswelt entkommen. Das Ende liest sich bisschen wie: Und wenn sie nicht gestorben ist, macht sie heute noch geile Popmusik. Aber der typische Caroline Wahl-Sound klingt in diesem Buch mehr sarkastisch als humorvoll, der Tonfall ist eher bitter als lakonisch-gewitzt. Caroline Wahl zeichnet keine Utopie, in der Freundschaft oder solidarisches Handeln die Verhältnisse zwischen mächtigen Männern und jungen Frauen ändern. Vielleicht gibt ihr neues Buch genau dadurch einen wichtigen Anstoß, diese Verhältnisse sowohl innerhalb als auch außerhalb der Verlagsbranche so schonungslos zu betrachten, wie sie für junge Frauen tatsächlich sind.
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Aug 26, 2025 • 4min

Eine europäische Odyssee

Nach der Lektüre dieses fabelhaften Romans blickt man ungläubig auf die letzte Seitenzahl. 156 steht da. Auf engem Raum erzählt Katerina Poladjan – nein – nicht ein ganzes Leben oder Zeitalter, doch wehen Spuren davon durch den Text: von der ideologischen Wucht, die das 20. Jahrhundert geprägt hat. Von utopischen Entwürfen, kühnen Versuchen des Aus- und Aufbruchs. Und von den darauf folgenden Entzauberungen. Poladjan findet gleich zu Beginn von „Goldstrand“ intensive Bilder, um die existentiellen Erfahrungen ihrer Figuren in Szene zu setzen. Da ist die berühmte Potemkinsche Treppe in Odessa, die eine junge Frau, ein kleiner Junge und ein Mann hinuntergehen. Kurz darauf betreten sie ein Schiff, und die junge Frau springt auf hoher See über Bord. All das vor laufender Kamera, denn wir befinden uns in einem Film. Wirklich? Eli, der Regisseur und die Kunst des Weglassens Der Erzähler heißt Eli und ist Regisseur. In dem Film, der den Roman eröffnet, erzählt Eli die Geschichte seines Großvaters Lew, seines Vaters Felix und seiner Tante Vera. Es sei, so sagt Eli später einmal im Buch, furchtbar kompliziert, genau das Richtige stehen zu lassen. Katerina Poladjan ist eine Meisterin im Weglassen. Ihre Arbeitsweise vergleicht sie mit der eines Malers: „Schreiben ist in erster Linie erzählen, und jedes Erzählen braucht seine eigene Ökonomie. Wenn ein Maler mit wenigen dunklen Linien Akzente und Schatten setzt, kann das Bild sehr viel Licht zeigen. Vielleicht versuche ich etwas Ähnliches beim Schreiben: mit den richtigen Konturen etwas plastisch werden lassen, was mit einem Übermaß an Details wieder verflachen würde. Ich versuche, Räume zu öffnen, von denen ich fürchte, dass sie sich bei farbiger Ausmalung wieder verschließen würden.“ „Goldstrand“ ist ein raffiniert gebautes Buch, das sich leicht, ja sogar heiter liest. Das liegt am Tonfall, den Poladjan findet; an den funkelnden Dialogen, die Eli mit der Dottoressa, seiner Therapeutin, führt. Vor ihr breitet er auf der Couch in einer mondän verfallenen römischen Altbauwohnung seine Familiengeschichte aus, eine europäische Irrfahrt. Von Odessa nach Istanbul, an die bulgarische Küste – bis nach Rom. Familiengeschichte zwischen Rom, Odessa und dem Goldstrand Der real existierende „Goldstrand“, ein sozialistisches Großprojekt nahe Warna in Bulgarien, ist ein zentraler Ort im Roman. Die Idee: Ferien für alle. Sichtbeton als Ausdruck revolutionärer Schönheit. Felix, Elis Vater, wird nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs als Architekt zu einem der Baumeister der gigantischen Anlage. Elis Mutter Francesca, eine der hinreißendsten Figuren des Romans, die Ende der 1950er-Jahre entflammt in Begeisterung für die neue Linke, kommt als Teil einer Reisegruppe auf die Goldstrand-Baustelle und kehrt von dort nach einer Nacht mit Felix am Strand schwanger nach Rom zurück. Ihr Vater, ein glühender Mussolini-Anhänger, setzt sie vor die Tür. Eli wird in der düsteren Stadtvilla des Patriarchen großgezogen; seine Mutter wird dort nicht mehr geduldet. Für Katerina Poladjan ist der Goldstrand mehr als literarische Kulisse Katerina Poladjan hat selbst mehrere Kindheitsurlaube in Goldstrand verbracht. Was bedeutet ihr dieser Ort? „Eigentlich ist Goldstrand irgendein Ort; eine beinahe willkürlich gesetzte Station einer europäischen Odyssee. Aber auch ein Ort, der nach goldenem Glanz klingt, nach Goldsuche, nach Hoffnung auf Glück und Reichtum.“ So wird der Goldstrand im Roman zum Symbol: Ein Ort, in dem Menschen aller Nationen und aller Klassen zusammenkommen sollten. „Goldstrand“ ist ein Buch der hellen Utopien, die an den Klippen der Wirklichkeit zerschellt sind. Alle vermeintlichen Tatsachen kommen aus dem Mund eines professionellen Geschichtenerfinders. Eli erzählt nicht nur sein Leben, er erzählt auch um sein Leben. So lange er redet, erschafft er sich eine Identität. Eli braucht Publikum, um Kontur zu bekommen, Katerina Poladjan erzählt: „Und wie jedes Publikum ist die Dottoressa eine launische Zuhörerin. Sie hat Zweifel am Wahrheitsgehalt des Gehörten; sie hat eigene Vorstellungen, Wünsche, Erfahrungen, an denen sie das Gehörte misst.“ Was die Leser diesem Eli glauben können und was nicht? Unwichtig. Alles, was am Ende zählt, ist die Erzählung selbst. Und der beeindruckend kluge Roman, den Katerina Poladjan daraus gemacht hat.
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Aug 26, 2025 • 4min

Erika Fatland – Seefahrer. Eine Reise durch Portugals vergangenes Weltreich | Buchkritik

Zwölf Monate lang war Erika Fatland unterwegs. Und beim Kernstück ihrer Reise hat sie sich eng daran orientiert, wie vor fünfhundert Jahren die portugiesischen Entdecker reisten: Erika Fatland ist auf Frachtschiffen mitgefahren – von Portugal auf den Atlantik hinaus, an den Kapverden vorbei zum Kap der Guten Hoffnung, dann quer über den indischen Ozean nach Ostasien. Schließlich nach Brasilien und zurück nach Portugal. Auf dem Schiff hatte sie Zeit zum Nachdenken:  Die portugiesischen Kolonien bildeten eine Welt in der Welt, verbunden durch Schiffsrouten, eine gemeinsame Sprache und gemeinsame Herrscher. Auch heute gibt es diese Verbindungen noch. In den Cafés von Maputo lesen die Menschen Bücher aus Portugal oder Angola, in den Bars in Guinea-Bissau spielen sie Musik aus Brasilien oder Kap Verde, und nirgends ist das nächste goanische Restaurant weit entfernt. Die früheren portugiesischen Kolonien sind wie Bestandteile einer geheimen Verschwörung.  Quelle: Erika Fatland – Seefahrer. Eine Reise durch Portugals vergangenes Weltreich Zahlreiche überraschende Begegnungen mit Menschen rund um den Globus  An etlichen dieser Kolonien hat die Autorin Station gemacht. Sie hat Städte und Landschaften bereist und vor allem Menschen getroffen, die dort leben. Auf einer Fülle dieser Begegnungen fußt das über siebenhundertseitige Buch. Fatland trifft Männer, die vor einem halben Jahrhundert für die Unabhängigkeit Guineas kämpften. Sie durchreist Südwestafrika gemeinsam mit einer einheimischen Abenteurerin. In der früheren Kronkolonie Macao nahe Hongkong ist sie konfrontiert mit einer grotesken Glücksspiel-Industrie, einem Eldorado der Neureichen. Sehr gelungen eingeflochten hat sie kurzweilige historische Rückblicke. Aus alledem fügt sich nach und nach ein Bild zusammen:   Warum wurde gerade Portugal zum ersten globalen Imperium der Welt? Geografie und Ökonomie sind eine Erklärung. Im 15. Jahrhundert war Portugal ein kleines, armes und isoliertes Land – das Meer war ein Weg hinaus in die Welt und raus aus der Armut. Technologie ein anderer. Die Portugiesen perfektionierten die geschmeidige Karavelle, die lange Segeltouren unter schwierigen Bedingungen verkraftete und die Reise in unbekannte Fahrwasser möglich machte. Persönliche Ambitionen spielten ebenfalls hinein. Quelle: Erika Fatland – Seefahrer. Eine Reise durch Portugals vergangenes Weltreich Auf den Spuren der großen Seefahrer des 15. Jahrhunderts  Den Männern mit besagten Ambitionen verdankt das Buch seinen Titel: „Seefahrer“. So portraitiert es auch jene Abenteurer wie Heinrich den Seefahrer oder Vasco da Gama, den ersten Weltumsegler. Alles ist detailliert und differenziert beschrieben, dabei doch gut lesbar und mit einem stetigen Bezug zur Gegenwart. Ab und an schreibt die Autorin arg aus persönlicher Perspektive, aber darüber kann man hinwegsehen. Auch darüber, dass sie einerseits behauptet, man könne mit einem Rahsegelschiff – einem Segelschiff mit einem oder mehreren voll getakelten Masten - besonders gut gegen den Wind kreuzen, und ein paar Kapitel weiter – richtigerweise – das Gegenteil schreibt.   Ein Reisebuch im besten Sinne  Das Buch weist aber zwei andere Wermutstropfen auf: Der kleinere sind die 145 Fotos. Sie stammen von der Autorin selbst – technisch ordentlich, aber in Gestaltung und Lichtführung sind es fast durchweg Allerweltsfotos. Erika Fatlands ungemein lebendiger Text hätte es verdient, ihm Bilder professioneller Fotoreporter an die Seite zu stellen. Immerhin: Die Szenerien und die Menschen hat Fatland so gekonnt beschrieben, dass sie schon dadurch eindringliche Bilder im Kopf des Lesers erzeugt. Sodass es die Fotos gar nicht unbedingt braucht. Den zweiten, größeren Wermutstropfen stellt die deutsche Übersetzung dar. Neben grammatikalischen Schnitzern und manchmal derben Wortfehlern lässt sie insgesamt Sprachgefühl vermissen. Von einem Verlag wie Insel darf man da mehr erwarten.   Aber stets bleibt klar, was inhaltlich gemeint ist – und insofern hat man hier ein Reisebuch im besten Sinne in der Hand: voll kurzweiliger Information über Vergangenheit und Gegenwart in einem einstigen kolonialen Weltreich.
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Aug 25, 2025 • 4min

Studieren ist die Hölle: Rebecca F. Kuangs neuer Fantasy-Roman „Katabasis“

„Zauberer sind meistens ältere oder alterslose Gandalfs“, schrieb die Fantasy-Ikone Ursula K. Le Guin einmal in einem Essay. „Aber was waren sie, bevor sie weiße Bärte hatten?“ Da setzt Rebecca F. Kuang an. Ihre Heldin Alice Law ist Magierin in Ausbildung an der Elite-Universität Cambridge. Die Doktorandin der Analytischen Magie steigt in die Unterwelt hinab. Nicht wie bei Orpheus und Eurydike der Liebe wegen, sondern aus akademischem Ehrgeiz. Am Morgen nach Professor Grimes‘ Tod, nachdem man seine Leiche entdeckt und die Lage sich beruhigt hatte, schien es ihr also wie das Natürlichste der Welt, Wege in die Hölle zu recherchieren. Quelle: Rebecca F. Kuang – Katabasis Denn nur der grimmige und geniale Jacob Grimes kann Alice anspruchsvolle Doktorarbeit betreuen. Leider kam sein Tod dazwischen. Heldenreise in die Hölle „Katabasis“, so heißt in der Mythologie die Totenfahrt. Und das ist auch der Titel von Rebecca F. Kuangs neuem Roman. Wie es sich für eine Heldenreise nach Fantasy-Literatur-Spielregeln gehört, tritt Alice Law den Ausflug in die Unterwelt in Begleitung an. Peter Murdoch, zu dem Alice nach einem Vorkommnis ein distanziertes Verhältnis pflegt, war einst ein Freund, nun ist er eher wissenschaftlicher Konkurrent. Der ebenfalls geniale Mitstudent unter Grimes, begleitet Alice auf der Reise via Pentagramm hinab zu den acht Höfen. Die Höllenkreise sind angefüllt mit Sünderinnen und Sündern, Schatten, wie in der „Göttlichen Komödie“. Kuang stattet ihre Figuren Alice und Peter mit dem notwendigen Wissen gemäß ihren akademischen Laufbahnen aus: Sie diskutieren über antike Mythologie, lesen Proust, Nietzsche, manövrieren sich mit T.S. Eliot und Borges durchs Totenreich. Das Totenreich als konkrete Erfahrung Dabei nimmt Kuang eine Perspektive ein, die schon Dante prägte: Seine „Göttliche Komödie“ war nach seiner eigenen Logik kein erfundener Traum, sondern ein realer Erfahrungsbericht. Wer das Buch liest, muss es als wahr annehmen. In dieser Tradition schreibt auch Kuang ihre Unterwelt nicht als bloße Metapher, sondern als konkretes Erfahrungsfeld, das sich rational erklären lässt. Die einzige, Antwort, die ihr einfiel, stammte von Dante, die einzige Möglichkeit der Erlösung im gesamten Inferno. Es gab nur eine Entität, die der Hölle etwas entreißen konnte. „Sie könnten durch einen Akt der göttlichen Gnade gerettet werden.“ „Red keinen Scheiß, Alice.“ Quelle: Rebecca F. Kuang – Katabasis Keine Dichotomie von Gut und Böse Da unterscheidet sich Kuangs Welt deutlich von typischer High Fantasy. Keine klare Dichotomie von Gut und Böse, kein Völkerkrieg. Die erste Hälfte des mehr als 700 Seiten starken Romans ist geprägt von diesem akademisch genauen Weltenbau, mit kurzen Zwischenkapiteln über die Theorie der Magie. In der zweiten Hälfte entwickelt sich daraus ein typisches Fantasy-Abenteuer voller Quests, Prüfungen und Begegnungen mit Feinden und Verbündeten. Zugleich spiegelt sich in der Hölle die reale Gegenwart: Auch in Kuangs Universum lassen sich Machtmissbrauch und „Me-too“-ähnliche Strukturen nicht einfach wegzaubern. Unterhaltung mit sprachlichen Schwächen Kuangs Ideen sind unterhaltsam. Leider hat der Roman sprachliche Schwächen. Ein Beispiel: Ob Alice, Peter oder Totengott Yama, alle sprechen mit dem gleichen Zungenschlag. Etwas verbale Variation hätte den Dialogen gutgetan. Trotzdem: „Katabasis“ ist ein kluges, erfrischendes und unterhaltsames Fantasy-Abenteuer, das die Unterweltliteratur neu interpretiert. Laissez-faire Lernen wie in Hogwarts? Undenkbar in Kuangs Welt. Kein Wunder also, dass die ewige Strafe der Unterwelt im Erbringen eines Leistungsnachweises besteht. Die Schatten schreiben an ihren Dissertationen. Und der Aufbau der Hölle? Der erinnert an einen Campus. Studieren kann eben manchmal die Hölle sein.
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Aug 22, 2025 • 6min

„Alles kann wie ein Engel aussehen": Sirka Elspaß' zweiter Gedichtband

Schon in ihrem Debüt „ich föhne mir meine wimpern“ vollzog Sirka Elspaß elegant einen Spagat: Sie ließ einen eigenen Ton erkennen und zugleich ihre Zugehörigkeit zu bestimmten literarischen Traditionen erkennen, insbesondere zu den confessional poets, zu denen Anne Sexton und Sylvia Plath zählen. Wie die Gedichte ihrer poetischen Vorläuferinnen, die explizit mit tradierten Mustern von Mutterschaft und Frausein abrechneten, so kontert auch Elspaß‘ lyrisches Ich Kindheits- und überkommene Weiblichkeitsmuster, eine lieblose Übermutter, Körperideale, hadert mit Essstörungen, prekären Zuständen und muss umgehen mit überbordender Sehnsucht, die aus der Erfahrung von Lieblosigkeit herrührt: „mutterkommes wird dunkelhol michheim“ Quelle: Sirka Elspaß – hungern beten heulen schwimmen In „hungern beten heulen schwimmen“ finden sich zentrale Themen und stilistische Eigenheiten von Elspaß wieder. Das beginnt schon beim Titel, der wie „ich föhne mir meine wimpern“ Aktivität signalisiert und nun mit gleich vier Verben aufwartet. Sie benennen nicht nur zentrale Facetten des Ichs, das hier spricht, und das sich als die Nahrung verweigerndes, auf etwas Metaphysisches gerichtetes, trauriges, aber dem Untergang trotzendes Ich zeigt. Die vier Verben überschreiben auch die vier Abteilungen des Bandes: jedem ist ein eigenes Kapitel zugeordnet. Diesen Kapiteln voraus geht wiederum eine Exposition. Konzeptuell ebenso wichtig wie diese Exposition ist jedoch das Motto: Perhaps an angel looks like everything Quelle: Sirka Elspaß – hungern beten heulen schwimmen Wahrnehmen und wahrgenommen werden Alles kann wie ein Engel aussehen. Sirka Elspaß zitiert hier das Langgedicht „Self portrait in a convex mirror“ des amerikanischen Dichters John Ashbery aus dem Jahr 1974. Die Komplexität ihres Mottos ist beträchtlich. Bereits Ashberys Gedicht zitiert eines der berühmtesten Bilder der abendländischen Kunstgeschichte: Parmigianos „Selbstporträt im Konvexspiegel“ aus dem Jahr 1523 oder 1524. Es hängt im Kunsthistorischen Museum in Wien. Man darf annehmen, dass Elspaß dieses Gemälde kennt, das seinen Schöpfer zur Kenntlichkeit verzerrt und dessen Porträtierten der Kunsthistoriker Giorgio Vasari als „mehr einem Engel als einem Menschen ähnlich“ rühmte. Und man kann davon ausgehen, dass sie es dem Manierismus zuzuordnen weiß, jenem Malstil, der von seinen Vertretern forderte, ganz der eigenen Malweise zu folgen. Es geht dort bei Vasari in Elspaß‘ Gedichten um Wahrnehmen und Wahrgenommen werden, um alle Verzerrungen, die mit diesen Dynamiken einher gehen. Nicht selten erschüttert, was in diesem Band zu lesen ist, so etwa im ersten Gedicht „hungern“: „dem hunger kann ich abgewinnendass er nicht geht dem betendass mich jemand sieht dem schwimmenein zieles ist doch immer das gleiche“ Quelle: Sirka Elspaß – hungern beten heulen schwimmen Ein Ton, der den Schmerz kennt Das hoch gespannte Ich der Gedichte fordert viel von sich, aber ebenso viel von anderen. Die Enttäuschung über Ungleichzeitigkeiten, die so oft in Beziehungen auftauchen, spricht in den Versen mit: „meinst du mich wenn du sprichst wenn wir uns sprechen sprechen wir aneinander vorbei meine worte treffen dich am knie du verdrehst die buchstaben in alle erdenklichen richtungen“ Quelle: Sirka Elspaß – hungern beten heulen schwimmen heißt es in dem Gedicht „meinst du mich wenn du sprichst“. Viele der Gedichte lesen sich, auch dies ganz in der Tradition der confessional poetry, als hätte sie eine Rasierklinge in Haut geritzt: Ihr Ton ist scharf, klar, kennt den Schmerz, die Einsamkeit, aber eben auch den Wunsch, es möge anders werden, bei Elspaß im Analogen wie im Digitalen. Es ist ein Wunsch, der nicht selten in Verzweiflung umschlägt: „keine neuigkeiten es gibt keinen wegzurück ins paradies ich gebe den tieren meinen namenich schaue sie an und denke jetzt denken sie dasund das immer tröstlich das zu denken wahrscheinlichaber denken sie etwas anderes ich schauenaturfilme mit zimmer-soundtrack und plottwists unter antilopenthat must be paradise schalte ab esse eine feigeof coursethere's some drama but it’s in fact quite epic schalte einich habe eine furchtbare ahnung gibt es etwa keinen wegzurück immer wennich gerade ein lieblingstier nach mir benannt habe wird eskurz darauf von einem anderen gefressen“ Quelle: Sirka Elspaß – hungern beten heulen schwimmen Originell, manchmal regelrecht witzig balanciert die Autorin in ihrem zweiten Band Resignation und Selbstironie, Ernst und Komik menschlichen Daseins aus. „hungern beten heulen schwimmen“ setzt fort, was Sirka Elspaß schon in ihrem Debut gezeigt hat: hier ist eine Autorin am Werk, die poetisch wahrnimmt, denkt und spricht.
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Aug 22, 2025 • 11min

Auf den Straßen von Dublin - eine literarische Entdeckungsreise durch Irlands Hauptstadt

„Also wir sind eben ein Volk, das gerne Geschichten erzählt. Die literarische Geschichte in Dublin ist einfach so gigantisch. Die hatten ja wirklich unglaubliche Schriftsteller wie James Joyce und Oscar Wilde und Bram Stoker. Das hier war Oscar Wildes Viertel. Er hat dort drüben gewohnt. Und wenn man diesen Laden betritt, läuft man buchstäblich über dieselben Dielen wie er." In Dublin kann man über weltberühmte Autoren stolpern, ohne auch nur einen Fuß in eine Bibliothek zu setzen. Aber was macht die irische Hauptstadt zu einem Mekka für Bücherfans? Und wie wichtig ist Literatur eigentlich für die Iren selbst? Auf zu einem Spaziergang durchs literarische Dublin. Zwischen Hogwarts und Heiligen: Das Book of Kells im Trinity College Kaum ein Ort lässt Dublins jahrhundertealte Literaturgeschichte so greifbar werden wie die ehrwürdige Bibliothek des Trinity College. Darin der „Long Room“ ein 64 Meter langer, holzgetäfelter Saal, hoch wie eine Kirche – jüngere Besucher fühlen sich an Harry Potters Hogwarts erinnert. Etwa 200.000 alte Bücher lagern hier, gerade sind es deutlich weniger, sie werden ausgelagert, denn ab 2027 bleibt die Bibliothek drei Jahre geschlossen, wird renoviert und digitalisiert. Das wertvollste Stück: das „Book of Kells“. Elena Felber, Besucherführerin bei Book of Kells, erzählt: „Es ist aus dem 9. Jahrhundert, und es gibt mehrere Manuskripte, die so alt sind. Aber keines ist so schön dekoriert wie das Book of Kells und keines ist so gut erhalten. Also das ist jetzt 1200 Jahre alt rund und ich glaube, dass insgesamt nur circa 60 Seiten fehlen.“ Elena Felber kam vor neun Jahren als Au-pair aus Deutschland hierher – und ist geblieben. Heute erklärt sie Besuchern die Trinity-Bibliothek und das „Book of Kells“ Es ist kunstvoll auf Kalbsleder geschrieben und enthält die vier Evangelien. Erschaffen wurde es von Mönchen auf der Insel Iona. Weil ihr Kloster im 9. Jahrhundert immer wieder von Wikingern angegriffen wurde, brachte man es ins sicherere irische Kells – und 1631 ins Trinity College. Elena Felber weiß: „Das Book of Kells ist eigentlich nur dazu da, um hübsch auszusehen und auf dem Altar zu sitzen, während besonderen Festtagen. Es ist praktisch viel mehr ein Bilderbuch als wirklich ein Buch, das man liest.“ Die altehrwürdige Trinity Bibliothek Jahr für Jahr kommen Hunderttausende, um die feinen keltischen Ornamente zu bewundern. Die Originalseiten liegen geschützt in einer Vitrine – umgeblättert wird nur alle paar Wochen. Auch wenn der Text nicht für Spannung sorgt, sind die kunstvollen Verzierungen Teil der irischen Identität, erklärt Elena Felber. „Diese Dekorationen, die sind wirklich überall zu finden. In jedem Souvenirladen gibt es überall diese Celtic knots, Ketten und Kühlschrankmagnete und alles mögliche. In den Fenstern findet man überall Tattoo Designs, die davon inspiriert worden sind. Überall wo man in Dublin hinschaut, auf den Straßenlaternen, sind einfach kleine Ornamente und Kunstwerke, die von dem Book of Kells inspiriert worden sind.“ Aus der Stille der altehrwürdigen Trinity Bibliothek geht es zurück auf die hektischen Straßen Dublins. Vorbei an gregorianischen Hausfassaden, lebhaften Pubs und Cafés. Literatur ist hier überall. Das merkt man schon an den vielen Buchläden, die es in Dublin gibt. Dublins ältester Buchladen Hodges Figgis Hodges Figgis ist der älteste Buchladen Irlands – seit 1768. Drei Etagen voller Bücher, verbunden durch eine knarrende Holztreppe. Schauplatz in Romanen von James Joyce bis Sally Rooney. Besonders groß ist die Auswahl an irischer Literatur und Geschichtsbüchern. Jamie Ryan Anderson leitet die Belletristik-Abteilung bei Hodges Figgis: „Irische Geschichte ist hier sehr beliebt. Besonders aus der Zeit der Revolution oder über die große Hungersnot. Ich glaube, die Iren lesen sehr gerne darüber, wer sie sind und woher sie kommen. Deshalb versuchen wir bei Hodges Figgis, das hier wirklich zu fördern." Michaela aus Australien ist gerade erst in Dublin gelandet, und direkt zu Hodges Figgis gegangen. In Australien, sagt sie, gibt es kaum noch alte Buchläden, die Leute bestellen nur noch bei Amazon und Co. In Dublin ist das noch anders erzählt Michaela: „Ich liebe das hier, ich suche speziell nach Buchhandlungen. Ich war 20 Jahre nicht hier, bin gerade erst angekommen und muss sagen es ist eine tolle Stadt für Bücher. Ich hoffe wirklich, dass es immer noch so ist wie früher." Stipendien für Künstlerinnen und Künstler Irland hat vier Literaturnobelpreisträger: Wiliam Butler Yeats, Bernard Shaw, Samuel Beckett und Seamus Heaney. Und eine lebendige Gegenwartsliteratur: von Claire Keegan bis Sally Rooney. Möglich auch dank staatlicher Unterstützung. „Wir haben den Arts Council for Ireland, der Stipendien und Zuschüsse für Künstler in Irland bereitstellt," berichtet Jamie. „Es ist schön, dass die Regierung erkennt, dass man nicht gleichzeitig schreiben und voll arbeiten kann. Ich finde, die Kultur in Irland, insbesondere in Dublin, ist so reichhaltig, weil Kunst hier so ernst genommen wird." Autoren als Popstars: Wilde, Joyce und die Denkmäler der Stadt Irlands literarische Größen sind in Dublin Teil der Popkultur. James Joyce lächelt als Graffitti von Hauswänden, Oscar Wilde-Zitate zieren Tassen und T-Shirts. Die ganze Stadt ist geschmückt mit Denkmälern, Postern und Plaketten mit Zitaten irischer Autoren, man stößt beim Spazierengehen fast unvermeidlich auf die Statuen. Im Marrion Square Park lächelt Oscar Wilde seine vielen Fans selbstsicher, fast lasziv als bunte Statue auf einem Felsen drapiert an. Die Dubliner, die ihre großen Autoren genauso gerne feiern wie verspotten, nennen das Denkmal: „The queer with the leer“, was man in etwa mit „der Queere mit dem lüsternen Grinsen“ übersetzen kann – James Joyce, dessen Statur sich auf einen Gehstock stützt, heißt im Dubliner Jargon übrigens „The prick with the stick“, was hier aber besser nicht übersetzt werden soll. James Joyce ist in Dublin allgegenwärtig. Sein berühmtestes Buch „Ulysses“ hat sogar sein eigenes Festival. Jedes Jahr am 16. Juni wird in Dublin „Bloomsday“ gefeiert, benannt nach Leopold Bloom, der am 16. Juni in der Ulysses durch Dublin spazierte. Und dabei machte er auch in Sweney’s Pharmacy Halt. Swenys Pharmacy als lebendiger Treffpunkt für Literatur Heute ist Sweny’s eine Mischung aus Buchladen und Joyce-Museum winzig, aber voller Geschichte. Über 150 Jahre war es eine Apotheke, auch Oscar Wildes Familie war hier Kunde. Seit 2009 wird der Laden von Freiwilligen wie Wayne betrieben: „Im Regal stehen 47 Übersetzungen von Ulysses in 47 verschiedenen Sprachen. Das gibt Euch eine Vorstellung davon, welche Resonanz das Buch weltweit hatte. Es wird immer noch in neue Sprachen übersetzt. Und oft bekommen wir Exemplare, die uns gespendet oder zugeschickt werden. Oder auch wenn eine neue Übersetzung erscheint, wird sie uns zugeschickt." Sweny‘s Pharmacy ist wie ein Sprung ins vergangene Jahrhundert. Wenn man auf den knarrenden, alten Dielen steht, fühlt man sich Oscar Wilde, aber vor allem James Joyce sehr nah. Wer will, kann sogar ein Stück Ulysses mit nach Hause nehmen, denn noch immer gibt es bei Sweny‘s die Zitronenseife, die Leopold Bloom in der Ulysses hier kauft. Aber, das betont Wayne, der Laden versteht sich auch als Ort der Kultur – regelmäßig gibt es Joyce Lesungen, Konzerte und auch die Förderung junger, noch unbekannter Autor:innen ist dem Team von Sweny‘s wichtig. Wayne meint: „Wir sind so etwas wie ein kulturelles Zentrum. Wir unterstützen lokale Künstler und Schriftsteller und veröffentlichen Bücher. Der Laden zieht viele kreative Menschen an.. wir sehen uns gerne als die Shakespeare and Company von Dublin." MoLI – ein modernes Zuhause für Irlands Geschichten Mit guten Wünschen von Wayne geht es von Sweny‘s Pharmacy zum letzten Stopp meines literarischen Spaziergangs durch Dublin. Das Museum of literature Ireland, kurz MoLi, gibt es seit 2019 und bietet einen guten Überblick über die reiche irische Literaturgeschichte. Benedict Schlepper-Connolly ist hier Kurator und spricht, dank seiner Hamburger Mutter, Deutsch: „Wir wollten wirklich, dass das Moli ein Ort ist, wo die richtigen Literaturliebhaber hin kommen können. Aber auch die Leute, die vielleicht einmal im Jahr versuchen, ein Buch zu lesen oder überhaupt gar nicht. Dadurch haben wir sehr viel, wo man vielleicht nur ein paar Zeilen lesen muss, und dann kriegt man schon ein Gefühl für die Sprache und verschiedenen Schriftsteller und die Geschichten der Literatur hier.“ Das MoLI ist modern und multimedial. Texte schweben projiziert im Halbdunkel, Stimmen erklingen auf Englisch und Irisch. Auch im MoLi kann man Ulysses nicht entkommen, James Joyces‘ persönliche Erstausgabe liegt hier hinter Glas und im Garten steht noch heute eine prachtvolle Esche unter der Superstar Joyce einst als Student für ein Foto posierte. Doch auch die wichtigen irischen Autorinnen haben einen Platz, Maeve Binchy und Kate O´Brien, oder die kürzlich verstorbene Edna O‘Brien. Literatur gehört zur DNA der Stadt Warum sind die Iren so literaturverliebt? Benedict Schlepper-Connolly hat eine Theorie: „Ich glaube, dass die Iren ganz fundamental Geschichtenerzähler sind. Das merkt man dann, wenn man in jedes Cafe oder Kneipe geht. Wie diese Geschichten erzählt werden, ganz farbenfroh und ganz dramatisch manchmal. Warum wir jetzt irische Geschichten oder irische Schriftsteller gerne lesen… Ich glaube, oft lesen wir irische Schriftsteller, weil sie uns etwas erklären über unsere Vergangenheit oder, auch sogar die Gegenwart. Geschichten, die vielleicht noch nicht richtig erzählt wurden in dem Land.“ Literatur ist in Dublin mehr als Erinnerung an große Namen. Sie ist Teil des Lebens, auf Straßen und Plätzen, in Läden und Kneipen. Geschichten halten Vergangenheit und Gegenwart zusammen. Wer Dublin besucht, merkt schnell: Hier ist Literatur kein Hobby, sondern Teil der DNA der Stadt. Und vielleicht stolpert man auf den Kopfsteinpflastern tatsächlich über Joyce, Wilde oder Rooney – wenn auch nur zwischen den Zeilen.
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Aug 22, 2025 • 55min

Mit neuen Büchern von Percival Everett, Anja Kampmann, Henning Ahrens, Sirka Elspaß und mit einem Streifzug durch die Literaturszene von Dublin.

Nostalgisch aufgeladen, mit Freude am Spiel und mit einem ernsten Blick auf das, was einem vom Leben noch bleibt – wir stellen Bücher vor, die ungewöhnliche literarische Zugänge zu existentiellen Themen finden.
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Aug 20, 2025 • 4min

Elmar Theveßen – Deadline | Buchkritik

Eines muss man ihm lassen: Elmar Theveßen spricht Klartext. Man dürfe die Vereinigten Staaten keinesfalls als Diktatur bezeichnen, so der Befund des ZDF-Manns, aber eine „Demokratie“ seien die USA von heute auch nicht mehr.   Trumps Werkzeuge: Einschüchterung, Nötigung, Erpressung  Trump untergräbt ja die Gewaltenteilung, entmachtet den Kongress, bedroht die unabhängigen Gerichte, verfolgt politische Gegner. Er erpresst auch die Medien. Er schafft Bürger und Menschenrechte ab mithilfe eines gleichgeschalteten Regierungsapparats. Dabei benutzt er Einschüchterung, Nötigung, Erpressung als Werkzeuge mit dem Ziel der absoluten Unterwerfung. Und genau das macht er ja auch in der Außenpolitik mit seinen Strafzöllen, mit seinen Drohungen gegenüber Grönland und Panama und anderen. Also, er sprengt die amerikanische Demokratie und die regel- und wertebasierte Weltordnung. Quelle: Elmar Theveßen - Deadline In seinem Buch – fesselnd geschrieben und unmissverständlich in der Diagnose – zeichnet Elmar Theveßen ein düsteres Bild: Der 47. US-Präsident erscheint da als bösartiger Narzisst, als ruchloser Machtmensch, der notfalls auch vor physischer Gewalt gegen seine Gegner nicht zurückschreckt. Eine drastische Einschätzung – und eine gut belegte:  Also, Trump hat den Rubikon schon überschritten. Er lässt Menschen deportieren, ohne geordnetes Verfahren. Und dabei ignoriert er ja auch Urteile des Obersten Gerichts. Quelle: Elmar Theveßen - Deadline Die ideologischen Grundlagen des libertären Autoritarismus  Theveßen, ein profunder Kenner der USA, arbeitet in seinem Buch die ideologischen Grundlagen heraus, auf denen der libertäre Autoritarismus der amerikanischen Rechten von heute fußt. Als deren Bannerträger sieht der ZDF-Korrespondent Trumps Stellvertreter JD Vance – einen Mann, der seinem direkten Vorgesetzten in Sachen Intellekt und der Fähigkeit zu strategischem Denken weit überlegen ist:  „Also, Vance glaubt, dass eine linke Politik in den USA und Europa, die den Menschen mit dem erhobenen Zeigefinger der moralischen Überlegenheit vorschreibt, was sie zu tun und zu denken haben, dass das in die Tyrannei führt. Und sein Gegenrezept hat er mal in einem Interview formuliert. Er empfiehlt eine „Dewokeisierung“. Man müsse die Institutionen der Linken übernehmen und gegen sie wenden, man müsse den Staatsapparat komplett zerschlagen. Und damit ist Vance eigentlich Teil einer postliberalen, neo-reaktionären Bewegung, die man die „Dunkle Aufklärung“ nennt. Er will die Demokratie durch einen konservativen, tief religiösen, nationalistischen Staat – basierend auf alten Werten und Tugenden – ersetzen, mit einem autoritären Anführer an der Spitze. Und dieser Anführer soll dann den Tech-Konzernen und den Wirtschaftsbossen freie Bahn geben, die ihn unterstützen und auch finanzieren. Und erst dann, so glaubt Vance, werde Amerika wieder alte Größe zurückerlangen.“  Quelle: Elmar Theveßen - Deadline Wo ist die große, zivilgesellschaftliche Gegenbewegung?  Lassen sich Vance und Trump – und die finanzkräftigen Kreise, die hinter ihnen stehen – überhaupt noch aufhalten? Theveßen ist sich nicht sicher. Wenn, dann nur durch eine zivilgesellschaftliche Großbewegung, in der sich Bürgerrechtsgruppen, Gewerkschaften, Kirchen, Universitäten, die Demokratische Partei und viele andere Akteure zu einem schlagkräftigen Bündnis zusammenschließen, meint Theveßen. Im Moment gibt es für ein solches Bündnis allenfalls Ansätze.   Elmar Theveßens Buch ist keine angenehme, aber eine aufrüttelnde Lektüre. Europas Demokratinnen und Demokraten, so das Resümee des Autors, müssten sich endlich auf eigene Beine stellen, auch militärisch. Denn die parlamentarische Demokratie – vor einem Vierteljahrtausend nicht zuletzt in den USA erfunden – ist zu wertvoll, um sie kampflos preiszugeben.
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Aug 19, 2025 • 4min

Paul Maar – Lorna

Der Kindheit bleibt Paul Maar auch treu, wenn er ein sogenanntes „Erwachsenenbuch“ schreibt. „Erwachsenenbücher“ sind eine seltsame Sache. Es gibt sie nur von Autorinnen und Autoren, die eigentlich auf Kinderbücher spezialisiert sind. Paul Maar, einer der beliebtesten deutschen Kinderbuchautoren, hat nun eine Novelle vorgelegt, die zwar mit der Erinnerung an eine Kindheit beginnt, die aber gewiss kein Kinderbuch ist.   Zeitkolorit der frühen 70er Jahre  Der Ich-Erzähler Markus hat einige Gemeinsamkeiten mit dem Autor: Er stammt aus der Gegend um Schweinfurt, besucht nach der Schulzeit die Kunstakademie in Stuttgart und arbeitet schließlich als Kunstlehrer am Gymnasium. So hat auch Paul Maar, Jahrgang 1937, seine Berufslaufbahn begonnen, bevor er Illustrator und Kinderbuchautor wurde. Sein Ich-Erzähler ist allerdings rund zwanzig Jahre jünger als er selbst. Markus‘ Studentenzeit liegt in den frühen siebziger Jahren, als Genesis mit Peter Gabriel tourte und im Fernsehen Wim Thoelkes „Der große Preis“ lief. Die Geschichte setzt aber rund zehn Jahre früher mit den ersten Erinnerungen an die titelgebende Lorna ein, ein Mädchen, das im selben Hochhausblock aufwächst wie Markus. Ihren irischen Vater hat sie nie kennengelernt.   Alle in unserer Clique waren mehr oder weniger in Lorna verliebt. Wir schwärmten uns gegenseitig vor, wie gut ihr die langen roten Haare standen und wie sehr die grünen Augen dazu passten. Irgendwie irisch, nannte es Roland. Dabei war uns natürlich klar, dass sie nicht direkt aus Irland kam.  Quelle: Paul Maar – Lorna Von der Liebes- zur Leidensgeschichte  Auch der Ich-Erzähler Markus ist in Lorna verliebt, obwohl sie sich für einen anderen entscheidet, ausgerechnet für „Hinkebein“, der an Kinderlähmung litt und sich nur schwer bewegen kann. Erst gegen Ende der Schulzeit – „Hinkebein“ ist bei einem Autounfall ums Leben gekommen – wird aus den beiden dann doch noch ein Paar. Doch die düsteren Vorzeichen mehren sich. Eine Freundin Lornas leidet an multipler Persönlichkeitsstörung und tritt mal als Yvonne, mal als Bobby auf, so dass sie, nachdem sie sich als Yvonne sattgegessen hat, als Bobby dieselbe Portion noch einmal isst. Lornas Vater stirbt im fernen Irland, ohne dass sie ihn je getroffen hätte. Und bald sind bei Lorna erste Anzeichen dessen zu erkennen, was Markus ihre „Manie“ nennt. Sie trinkt, wird aggressiv, verschwindet ganze Tage und kommt mit anderen Männern zurück in die gemeinsame WG, in der auch noch Katharina wohnt, vor deren Zimmertür Lorna ein Feuer anzündet. Für den Ich-Erzähler wird aus der Liebes- eine Leidensgeschichte.   Ich blickte ihr nach. Sie war wirklich nicht mehr die Lorna, in die ich mich verliebt hatte. Mir schien es, als hätte sie ihr Hirn umgestülpt und damit einer anderen Persönlichkeit Zutritt zu ihrem Körper verschafft. Mein Schmerz und meine Eifersucht galten nicht der Frau, in die sie sich verwandelt hatte. Quelle: Paul Maar – Lorna Lorna pendelt zwischen Aufenthalten in der Psychiatrie und immer kürzeren Versuchen, in eine lebbare Normalität zurückzufinden. Markus versucht, ihr nahe zu kommen, doch während er den Weg ins Leben findet und sich mit Katharina tröstet, bleibt sie auf der Strecke. Die Geschichte hat auch etwas mit Schuld und verpassten Möglichkeiten zu tun.   Paul Maar ist ein großartiger Erzähler Mit „Lorna“ zeigt Paul Maar einmal mehr, was für ein großartiger Erzähler er ist, der mit wenigen Strichen scharfe Bilder entwirft und ohne Angeberei und Übertreibungen auskommt. „Lorna“ ist alles andere als ein erbauliches Buch. Der Trost, den es dennoch enthält, liegt in der Gelassenheit des Erzählers, der dem Leben zugewandt bleibt. Seine Bescheidenheit prägt zugleich Paul Maars Stil. Als Kinderbuchautor hat er gelernt, auf Einfachheit zu setzen. Das kommt dieser schweren Geschichte sehr entgegen.

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