SWR Kultur lesenswert - Literatur

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Aug 19, 2025 • 4min

Paul Maar – Lorna

Der Kindheit bleibt Paul Maar auch treu, wenn er ein sogenanntes „Erwachsenenbuch“ schreibt. „Erwachsenenbücher“ sind eine seltsame Sache. Es gibt sie nur von Autorinnen und Autoren, die eigentlich auf Kinderbücher spezialisiert sind. Paul Maar, einer der beliebtesten deutschen Kinderbuchautoren, hat nun eine Novelle vorgelegt, die zwar mit der Erinnerung an eine Kindheit beginnt, die aber gewiss kein Kinderbuch ist.   Zeitkolorit der frühen 70er Jahre  Der Ich-Erzähler Markus hat einige Gemeinsamkeiten mit dem Autor: Er stammt aus der Gegend um Schweinfurt, besucht nach der Schulzeit die Kunstakademie in Stuttgart und arbeitet schließlich als Kunstlehrer am Gymnasium. So hat auch Paul Maar, Jahrgang 1937, seine Berufslaufbahn begonnen, bevor er Illustrator und Kinderbuchautor wurde. Sein Ich-Erzähler ist allerdings rund zwanzig Jahre jünger als er selbst. Markus‘ Studentenzeit liegt in den frühen siebziger Jahren, als Genesis mit Peter Gabriel tourte und im Fernsehen Wim Thoelkes „Der große Preis“ lief. Die Geschichte setzt aber rund zehn Jahre früher mit den ersten Erinnerungen an die titelgebende Lorna ein, ein Mädchen, das im selben Hochhausblock aufwächst wie Markus. Ihren irischen Vater hat sie nie kennengelernt.   Alle in unserer Clique waren mehr oder weniger in Lorna verliebt. Wir schwärmten uns gegenseitig vor, wie gut ihr die langen roten Haare standen und wie sehr die grünen Augen dazu passten. Irgendwie irisch, nannte es Roland. Dabei war uns natürlich klar, dass sie nicht direkt aus Irland kam.  Quelle: Paul Maar – Lorna Von der Liebes- zur Leidensgeschichte  Auch der Ich-Erzähler Markus ist in Lorna verliebt, obwohl sie sich für einen anderen entscheidet, ausgerechnet für „Hinkebein“, der an Kinderlähmung litt und sich nur schwer bewegen kann. Erst gegen Ende der Schulzeit – „Hinkebein“ ist bei einem Autounfall ums Leben gekommen – wird aus den beiden dann doch noch ein Paar. Doch die düsteren Vorzeichen mehren sich. Eine Freundin Lornas leidet an multipler Persönlichkeitsstörung und tritt mal als Yvonne, mal als Bobby auf, so dass sie, nachdem sie sich als Yvonne sattgegessen hat, als Bobby dieselbe Portion noch einmal isst. Lornas Vater stirbt im fernen Irland, ohne dass sie ihn je getroffen hätte. Und bald sind bei Lorna erste Anzeichen dessen zu erkennen, was Markus ihre „Manie“ nennt. Sie trinkt, wird aggressiv, verschwindet ganze Tage und kommt mit anderen Männern zurück in die gemeinsame WG, in der auch noch Katharina wohnt, vor deren Zimmertür Lorna ein Feuer anzündet. Für den Ich-Erzähler wird aus der Liebes- eine Leidensgeschichte.   Ich blickte ihr nach. Sie war wirklich nicht mehr die Lorna, in die ich mich verliebt hatte. Mir schien es, als hätte sie ihr Hirn umgestülpt und damit einer anderen Persönlichkeit Zutritt zu ihrem Körper verschafft. Mein Schmerz und meine Eifersucht galten nicht der Frau, in die sie sich verwandelt hatte. Quelle: Paul Maar – Lorna Lorna pendelt zwischen Aufenthalten in der Psychiatrie und immer kürzeren Versuchen, in eine lebbare Normalität zurückzufinden. Markus versucht, ihr nahe zu kommen, doch während er den Weg ins Leben findet und sich mit Katharina tröstet, bleibt sie auf der Strecke. Die Geschichte hat auch etwas mit Schuld und verpassten Möglichkeiten zu tun.   Paul Maar ist ein großartiger Erzähler Mit „Lorna“ zeigt Paul Maar einmal mehr, was für ein großartiger Erzähler er ist, der mit wenigen Strichen scharfe Bilder entwirft und ohne Angeberei und Übertreibungen auskommt. „Lorna“ ist alles andere als ein erbauliches Buch. Der Trost, den es dennoch enthält, liegt in der Gelassenheit des Erzählers, der dem Leben zugewandt bleibt. Seine Bescheidenheit prägt zugleich Paul Maars Stil. Als Kinderbuchautor hat er gelernt, auf Einfachheit zu setzen. Das kommt dieser schweren Geschichte sehr entgegen.
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Aug 19, 2025 • 8min

Von der Vergangenheit erzählen, als könne sie wieder stattfinden

Hedda ist Seiltänzerin im Alkazar auf der Reeperbahn. Anfang der 1930er Jahre beeindruckt sie das Publikum des legendären Varieté-Theaters in St. Pauli nicht nur mit ihrer waghalsigen Artistik, sondern auch mit zwei gefräßigen Kaimanen namens Eddy und Fred, die Hedda auf die Bühne mitnimmt. Selbst Alkazar-Gründer Arthur, der als gewissenloser Lude, aber auch als melancholischer Wohltäter geschildert wird, hat Respekt vor den Auftritten seiner Lieblingskünstlerin. Fließende Übergänge von Bühne und Bett Hedda genießt erstaunliche Freiräume in einer ruppigen Welt, in der die Übergänge von Bühne und Bett oft fließend sind. Die Tänzerin weiß um die Abgründe ihrer Arbeit. Frauen, die sich verkaufen müssen, werden von ihr „die Ritas“ genannt. Ein Teil von Hedda ist auch eine Rita. Diese Persönlichkeitsaufspaltung, die im Text als wiederkehrendes Motiv eingesetzt wird, fungiert als eine Art sprachlich-psychischer Schutzmechanismus in der sich radikalisierenden Männergesellschaft. Als die Nazis die Macht im Staate übernehmen, verändert sich der Kiez dementsprechend: Der freizügige Seiltanz mit Alligatoren ist bald abgesetzt, nun müssen „die Mädels im Dirndl“ auftreten. Heddas Freunde, die in kommunistischen Sportgruppen aktiv sind, werden verhaftet und ermordet.   Sie haben Listen gefunden. Rotsport. Quelle: Anja Kampmann – Die Wut ist ein heller Stern Ein kurzer Satz und noch ein Signalwort reichen Anja Kampmann, um bedrohliche Situationen zu beschreiben. Später erfahren wir, dass Heddas Schwarm, der Boxer Karl Johann August Hacker genannt Kuddel, von der Gestapo „geholt“ wurde. Die Angst begleitet die Figuren in „Die Wut ist ein heller Stern“ überallhin. Die neuen Hilfspolizisten, kurz: Hipos, sind im Dauereinsatz für den „Schnäuzer“, womit Adolf Hitler gemeint ist. Inzwischen ist es sogar zu gefährlich, auf die Beerdigung eines Freundes gehen, der als Rotfrontkämpfer hingerichtet wurde. Selbst die Finken, kleinkriminelle Schläger, die Arthurs Machtposition jahrelang abgesichert haben, können dem „Peitschenkönig“ nicht mehr helfen. Sein Nachfolger steht schon bereit. Jetzt hat Leopold sich ins Stroh gelegt mit dem Vieh. Er hat vorher die Getränke ins Alkazar geliefert. Aber er besitzt eine schöne Parteinummer. Alter Kämpfer. Er hetzt gegen Arthur, wie sie alle, sie bündeln ihre Kräfte, wollen ihn rausdrücken, deshalb sind sie hier. Sitzen an den Abenden da, starren uns an. Jeder Blick von ihnen sagt: Er kann euch nicht mehr schützen. Quelle: Anja Kampmann – Die Wut ist ein heller Stern Koloniale Pläne im Eismeer Parallel zu den Geschehnissen im Varieté wird Heddas Familiengeschichte erzählt. Der Vater reiht sich in die SA ein, die Mutter verdingt sich in Reemtsmas Zigarettenfabrik. Den behinderten Sohn Pauli können oder wollen die Eltern nicht mehr versorgen. Auch deshalb arbeitet Hedda nicht nur auf der Bühne, sondern verkauft ihren Körper dem Grauen, einem gebildeten Freier, der einst in der Schutztruppe für Deutsch-Südwestafrika diente. Mit dem wenigen Geld, das ihr der Graue gibt, finanziert sie Paulis Betreuung bei der Grubemüller, einer Nachbarin, „die es bis zur Blockwartin“ bringt. Und dann gibt es noch Jaan, Heddas älterer Bruder, der als schlecht bezahlter Geselle in einer Schmiede arbeitet und davon träumt, Harpunen für einen neuen Walfänger herzustellen. Tatsächlich planen die Nazis eine „Kolonie im Eismeer“. Die persönliche Not der Menschen ist bei Kampmann stets mit den politischen Verhältnissen, in diesem Fall mit dem Großmachtstreben des neuen Reichs verbunden. Pauli will Schiff fahren, wie Jaan. Weg von der Grubemüller. Bald, sage ich. Quelle: Anja Kampmann – Die Wut ist ein heller Stern Der Kleine wird nicht an Bord der Walfängers gehen können. Nicht einmal an Land wird er toleriert. Das Kind mit den Lern- und Gehschwierigkeiten darf nicht länger die Schule besuchen. Wer keine arische Perfektion bietet, wird aussortiert. Auch für Hedda werden die Räume ab 1933 ständig kleiner. Zeitweilig übernachtet sie bei der Prostituierten Leni und gerät damit ins Visier der brutalen Fürsorge.     Käthe Petersen ist der geflügelte Name, der nun überall herumgeistert. Komm ihr schräg, und du wirst entmündigt, für bekloppt erklärt, sagt Leni. Sie kontrolliert die Untersuchungen, sie darf über dich bestimmen, als wärest du ein Kind. Geschlechtskrank oder moralisch verkommen. Wohin du gehst und wie lange, ob mit dir noch zu rechnen ist. Papiere gehen hin und her. Quelle: Anja Kampmann – Die Wut ist ein heller Stern Ein zweites Ich als Schutz Die Zwangsoperation, der sich auch Hedda unterziehen muss, wird in einer schrecklich bedrückenden und gleichwohl gelungenen Szene beschrieben. Hier zeigt sich, wie existentiell die oft spielerisch anmutende Aufspaltung ihrer Identität ist. Eine Rita können sie „wie einen Kürbis aushöhlen“, heißt es in dem Roman, aber an Heddas Ich kommen die verbrecherischen Ärzte nicht heran. Die Erzählerin überlebt die unmenschliche Behandlung mit einer Wut, die wirklich wie ein heller Stern leuchtet. Da steht sie die Fürsorgerin. Ein Rübenmund und dieser vorwurfsvolle Blick. Indem ihr euch selbst erniedrigt, beschmutzt ihr zugleich die Reinheit des Volkskörpers. Pah. Die Rita starrt sie mit Rehaugen an, aber ich lache, du kratziges Biest, ich geh dir an die Gurgel, ich häcksel dich klein wie das stinkende Suppengrün auf dem Schneidebrett. Pah! Quelle: Anja Kampmann – Die Wut ist ein heller Stern Die zweite Karriere der brutalen Fürsorgerin Käthe Petersen hat es gegeben. Sie war verantwortlich für die Sterilisation und Entmündigung von vielen hundert Menschen. Eine Horrorgestalt, die auch nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in der Hamburger Bürokratie weiter Karriere machen konnte. Ein vierseitiges Personenregister im Anhang zeigt, dass die meisten Lebensgeschichten dieses Buchs nicht erfunden sind. Die Gegebenheiten mögen recherchiert sein, der Roman aber ist auf artifizielle Weise fiktiv. Das liegt vor allem an der Kunstsprache, in denen zahlreiche Dialektdialoge eingebunden sind und an den flirrenden Gedanken über das Hungern und Überleben in gefährlichen Zeiten. Die illusionslose, aber nie defätistisch angelegte Erzählstimme ist historisch verortet, und doch wirkt die Prosa nie altertümlich. Durch die einerseits lakonische, phasenweise aber auch lyrisch überhöhte Tonlage, die erwähnten Spiegelmomente in der Erzählperspektive und nicht zuletzt durch die suggestiven Monologe der Protagonistin wird eine sprachliche und inhaltliche Aktualität erzeugt. Roman überrascht mit Drehbewegungen und Sprüngen In „Die Wut ist ein heller Stern“ schreibt Anja Kampmann über die Vergangenheit, als könne sie wieder stattfinden. Das Buch ist ein Mahn- und Denkmal für ein Proletariat, das sich unter widrigsten Bedingungen gegen den Faschismus positionierte; auch unter Lebensgefahr werden noch Flugblätter gedruckt. Dabei verklärt sie das Milieu keineswegs. Der Blick auf die Sexarbeit ist so differenziert, wie die Schilderungen der Fürsorge-Verbrechen schonungslos sind. Kampmann beschreibt in vielen Einzelszenen, wie die Repressionen innerhalb der Nazi-Gesellschaft mit dem kolonialen Wahn korrespondieren. Dabei vermag die Autorin die vielen Erzählfäden souverän zu einem Textteppich zu verweben, der genremäßig schwer einzuordnen ist. Das Buch, das streckenweise Züge einer Ballade trägt, überrascht immer wieder mit Drehbewegungen und eigenwilligen Sprüngen. Bis zum Romanende, das 1937 angesiedelt ist, bleibt Heddas Geschichte offen und atemraubend. Ein Roman wie ein literarischer Seiltanz.
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Aug 18, 2025 • 4min

Karl-Heinz Ott – Die Heilung von Luzon

Ein deutsches Paar Ende vierzig, gerade angekommen in Manila. Übermüdet, überfordert, gereizt. Tom und Rikka sind nicht zum Spaß auf die Philippinen gereist. Mit ihr stimmt irgendetwas nicht, und ihm geht es in dieser Fremde wie zu Hause, er fühlt sich schon beim Aufwachen erschöpft:  Allerdings steckte hinter dieser Schwermut vermutlich etwas ganz anderes, viel Schlimmeres, woran er lieber nicht denken mochte. Dabei wusste er nur zu gut, was es war. Es war ein innerer Aufruhr, den er mit aller Kraft niederzuhalten suchte. Im Grunde wollte er einfach nur wieder der sein, der er einmal war.  Quelle: Karl-Heinz Ott – Die Heilung von Luzon „Die Heilung von Luzon“ beginnt als Beziehungsroman. Doch dieses Bild eines Berliner Lehrers in der Midlife-Crisis und seiner vielleicht ein wenig labilen Frau weitet sich. Ein anderes Paar, ebenfalls aus Berlin, tritt hinzu: der egozentrische Mittfünfziger Bock, dessen beste Zeiten als jungwilder Regie-Berserker lang vorbei sind, und die zehn Jahre jüngere Gela, die eigentlich viel zu nett ist für den unduldsamen Kerl. Ein kleines Resort, fast wie in der Südsee  Alle vier finden sich wieder in einem kleinen Resort am Meer, mit ursprünglichem Strand, rauschenden Wellen, fantastischen Sonnenuntergängen und freundlichen Einheimischen, darunter drei junge Grazien, die vom Rezeptionstresen aus das Geschehen überwachen. Tom fühlt sich wie in der Südsee.   Das Schöne aber war dieses Schlichte, dieses Einfache, kein Tourismus, nichts Überfülltes.  Quelle: Karl-Heinz Ott – Die Heilung von Luzon Wozu man wissen muss, dass der Roman im Jahr 2004 spielt – und dass gleich jenseits des Zauns das ganze Arsenal trauriger Tropen lauert: Bruchbuden, Bettler und Bauruinen, Kampfhähne und Kabelgewirr, sogar Leprakranke.  Krude Zeremonien an Krebskranken  Aber die Gäste des Strandresorts sind ja auch nicht in den Ferien. Jeden Tag werden sie zu einem philippinischen Heiler kutschiert, der krude Zeremonien an Krebskranken vornimmt. Die letzte Hoffnung für Rikka wie für Bock – und für die attraktive Hotelmanagerin Susanne aus Moers. Die unbeirrbar optimistische Todgeweihte und ihr Begleiter, ein bramarbasierender Esoteriker, fungieren als Katalysatoren der emotionalen Dynamik in diesem Quartett.  Der Roman erzählt davon in Episoden, deren Perspektive jeweils Tom, Rikka, Gela oder Bock gehört. So kann er ganze Lebensgeschichten offenlegen, Kindheiten in Oberschwaben und Oberbayern, Zeiten von Depression und Desorientierung und die eingefahrene, verkrustete Gegenwart. Das Bedauern über die „roads not taken“, die verpassten Lebenschancen plagt alle vier. Aber während sich bei den beiden Kranken nach und nach eine gewisse Schicksalsergebenheit einstellt, eruptiert bei den beiden Gesunden die wilde Hoffnung auf gemeinsames Glück.  Letzte Dinge, Ironie und kleine Komödien  Daraus wird nichts, schließlich sind wir hier bei Karl-Heinz Ott, dem Experten für beschädigte Bürgerlichkeit und das Ertragen des Aussichtslosen. Doch obwohl es um traurige, ja letzte Dinge geht, ist „Die Heilung von Luzon“ kein trübseliges Buch. Wie sich Missverständnisse und Fehlinterpretationen in den Perspektivwechseln offenbaren, ist von tiefer Ironie, und die Hahnenkämpfe zwischen dem aufgeblasenen Theatermacher Bock und dem tapfer dagegenhaltenden Philosophielehrer Tom sind komische Dramolette:  Wusstet ihr, dass in Manila Gründgens gestorben ist“, warf Tom ein. „Da kennt sich einer aus“, murmelte Bock. „Man weiß nicht, ob Selbstmord oder ...“, sagte Tom, jedenfalls waren Schlaftabletten im Spiel.“ „Hab ich nie von gehört“, sagte Gela, und zu Bock: „Wusstest du das?“ „Jedes Wort parfümiert, alles Pose, ein Rampengeck“, brummte er vor sich hin. „Hohe-Ton-Scheiße, kein einziger Satz echt.  Quelle: Karl-Heinz Ott – Die Heilung von Luzon Gesellschaftskomödie und Liebesdrama, philosophische Gespräche, Theaterintrigen, Mystery und das alte Motiv des Westlers im Orient – all dies verbindet Karl-Heinz Ott mit leichter Hand. Ein kluges Capriccio als Porträt exemplarisch alternder Wirtschaftswunderkinder.
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Aug 16, 2025 • 6min

Annie Ernaux – Die Besessenheit

Annie Ernaux ist vor allem für ihre autofiktionalen Romane bekannt, in denen sie ihre Familiengeschichte umkreist und sich dadurch von ihrer Herkunft zu befreien und mehr über sich selbst zu erfahren sucht. Erst in diesem Frühjahr ist bei Suhrkamp das Buch „Ich komme nicht aus der Dunkelheit raus“ erschienen, in dem Ernaux vom Abschied von ihrer an Alzheimer erkrankten Mutter erzählt. Und über das Vergehen des Lebens und der Zeit nachdenkt. Weniger häufig, aber doch in mehreren Romanen hat sich Ernaux literarisch mit ihren Liebesgeschichten auseinandergesetzt. In „Eine Leidenschaft“ oder „Der junge Mann“ zum Beispiel, und auch im 2002 im Original und jetzt erstmals auf Deutsch erschienenen Roman „Die Besessenheit“. (K)eine Liebesgeschichte? Nur 66 luftig gedruckte Seiten hat Annie Ernaux' Buch, doch der erste, optische Eindruck einer literarischen Petitesse täuscht: Die Literaturnobelpreisträgerin von 2022 spürt in „Die Besessenheit“ in ungeheuer verdichteter Form einer Obsession nach. Der Ausgangspunkt ist eigentlich banal: Die Ich-Erzählerin hat sich nach sechs Jahren Beziehung von einem Mann getrennt, im Buch mit W. abgekürzt,... ...aus Überdruss wie aus dem Unwillen, meine nach achtzehn Jahren wiedererlangte Freiheit für ein Zusammenleben aufzugeben, nach dem er sich von Anfang an gesehnt hatte. Quelle: Annie Ernaux – Die Besessenheit Eine Trennung ohne größere emotionale Turbulenzen also, so scheint es zunächst. Doch einige Monate später berichtet W. der Erzählerin, dass er mit einer anderen Frau zusammenziehe. An meinem Gefühl der absoluten Niederlage merkte ich, dass ein neues Element hinzugekommen war. Von diesem Moment an nahm die Frau mein Leben in Besitz. Ich dachte nur noch durch sie. Quelle: Annie Ernaux – Die Besessenheit Aufschlussreich ist hier die Formulierung „durch sie“, nicht „an sie“. Denn nicht nur die Gedanken von Annie Ernaux' Erzählerin schweifen häufig zu der „Neuen“. Die Frau füllte meinen Kopf, meine Brust und meinen Bauch, begleitete mich überallhin, diktierte mir meine Gefühle. Gleichzeitig ließ mich diese ständige Anwesenheit intensiver leben. Sie löste Regungen aus, die mir bis dahin fremd gewesen waren, setzte eine Energie und einen Erfindungsreichtum frei, deren ich mich nicht für fähig gehalten hätte, trieb mich konstant zu fieberhaften Aktivitäten an.Die Frau beschäftigte mich im doppelten Wortsinn, ich war von ihr besessen. Quelle: Annie Ernaux – Die Besessenheit Eine Obsession mit „der Neuen“ Diese Obsession lässt die Erzählerin Dinge tun, die ihr noch Monate zuvor völlig fremd gewesen wären. Fieberhaft versucht sie, den Namen der Frau herauszufinden, ihr Alter, ihren Beruf, ihre Adresse. Der Ex-Freund ist aus naheliegenden Gründen zurückhaltend mit Informationen. Also recherchiert sie selbst. Kuriose Randnotiz: Annie Ernaux hat diesen Roman 2001 geschrieben, und ihre Erzählerin recherchiert noch im Minitel, dem französischen Vorgänger des Internets. Einzig an diesem technischen Detail merkt man dem Roman sein Alter an. Ansonsten ist „Die Besessenheit“ eine zeitlos gültige Beschreibung der perfiden Macht von Eifersucht. Annie Ernaux schreibt in knappen Sätzen und prägnanten, präzisen Bildern über die Wucht eines Gefühls, das dazu führt, dass die Erzählerin sich „verwünscht“ fühlt, sich in bestimmten Pariser Stadtteilen „auf feindlichem Gebiet“ wähnt, weil ihr dort das neue Paar über den Weg laufen könnte - auch Paranoia mischt sich in den Schmerz, den sie nun über die Trennung empfindet. Hatte sie vielleicht doch noch nicht mit dem Mann abgeschlossen? Oder entsteht die Obsession aus der Unerreichbarkeit des früheren Partners? Die Erzählerin vergleicht ihren Zustand mit einer Krankheit, einer Depression, somatisiert, erklärt oder psychologisiert aber ansonsten nicht. Ernaux geht es darum, Worte zu finden für das Existentielle dieser Erfahrung. Ihre Erzählerin schreibt sich mit „Die Besessenheit“ aber nicht in einem kathartischen Sinne von ihren dunklen Gefühlen frei. Vielmehr dokumentiert sie diese Phase als wichtiges, intensives Erlebnis. Dieser Zustand hielt die alltäglichen Sorgen und Ärgernisse auf Abstand. Er versetzte mich in gewisser Weise an einen Ort, an dem die übliche Mittelmäßigkeit des Lebens nicht an mich herankam. Quelle: Annie Ernaux – Die Besessenheit Schreiben über die Eifersucht Als „das Wesentliche“ beschreibt die Erzählerin ihre Eifersucht zu jener Zeit und will sie deshalb erforschen, in Worte fassen und durch Aufschreiben bewahren. Auch die möglicherweise fragwürdige Vorbildfunktion ihres Textes für andere eifersüchtige Frauen reflektiert sie klug. Und bleibt bei ihrem Entschluss: Schreiben ist für mich eine Möglichkeit gewesen, das zu retten, was schon nicht mehr meine Realität ist, keine Empfindung mehr, die mich auf der Straße überfällt und von Kopf bis Fuß erfasst, sondern nur noch ,die Besessenheit', ein klar umrissener Zeitraum der Vergangenheit. Quelle: Annie Ernaux – Die Besessenheit Sonja Finck hat Annie Ernaux' klare Sprache grandios treffend ins Deutsche übersetzt. „Die Besessenheit“ ist die literarisch enorm dichte Selbsterkundung einer Frau, die mit großer Empathie, aber rückblickend auch selbstironisch auf ihr früheres Ich schaut. Und dabei Grundsätzliches nicht nur über die Eifersucht, sondern über große Gefühle allgemein und über das Schreiben formuliert.
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Aug 15, 2025 • 25min

„Meine erste große Liebe war Greta Garbo“

Ein Roman als Film Zuerst sitzen wir im Dunklen. Angela Steidele platziert uns mit den ersten Zeilen ihres Romans in einem Kinosaal. Auf der Leinwand entspinnt sich eine Szene im Schnee: Greta Garbo eilt durch die Schweizer Landschaft. „Wir sehen beim Lesen einen Film“, sagt die Autorin Angela Steidele im Gespräch mit SWR Kultur. Diese Erzählhaltung werde den ganzen Roman über durchgehalten. Doch nach und nach wird einem klar: Dieses Dunkel hat auch eine metaphorische Ebene. Denn Angela Steidele folgt den Größen des Films wie Greta Garbo oder Marlene Dietrich durch die dunklen Seiten des 20. Jahrhunderts. Der Film als Propagandawerkzeug Den Anstoß dazu hat der Film „Königin Christine“ gegeben, mit Greta Garbo in der Hauptrolle - Steideles „erste große Liebe“. Sie recherchierte zu Garbos Leben und ihren Filmen und wurde zur Expertin. Diese Leidenschaft für Stumm- und Tonfilme blieb lange Zeit privat. Bis Steidele klargeworden sei, „dass heutzutage die filmchenbasierten sozialen Medien und die digitale Revolution, also ein krasser Medienwechsel, einen starken Anteil am neuerlichen Aufkommen des Faschismus haben und der Rückkehr der starken Männer, des Patriarchats, des Angriffs auf Frauenrechte, auf die Demokratie“, so Steidele. Was ist wahr, was erfunden? Sie sieht darin Parallelen zum frühen Film, insbesondere beim Übergang vom Stumm- zum Tonfilm ab 1930. Dieser Medienwechsel habe die Wahrnehmung der Wirklichkeit des Publikums erschüttert, sagt Angela Steidele. Eine Filmproduktionsfirma wie die Ufa sei bewusst gegründet worden, um Propaganda-Filme zu produzieren. Das heißt, „es ging nie um Filmkunst, wie wir das vielleicht denken, sondern um Fälschung von Wirklichkeit“, so Steidele. Feministische Antwort auf Thomas Manns „Der Zauberberg“ Ihr Roman „Ins Dunkel“ folgt den Spuren großer Filmstars wie Greta Garbo oder Marlene Dietrich von den 1920er bis in die 40er Jahre. In einem Schweizer Bergdorf blicken Greta Garbo und Erika Mann mit zwei Freundinnen auf diese wechselhafte Zeit, ihre Karrieren und wie sie sich zum Nationalsozialismus verhalten haben, zurück. Vier Frauen in den verschneiten Schweizer Bergen. Angela Steideles Roman „Ins Dunkel“ sei auch eine „augenzwinkernde feministische Antwort“ auf Thomas Manns „Der Zauberberg“. Gerade bei der Frage, wie es Kunst und Literatur mit der Politik halten, sei Thomas Mann eine besonders interessante Persönlichkeit. Denn Thomas Manns Werk sei politikfrei und, so Steidele, sogar demokratiefeindlich: „Er hat keine einzige überzeugende Frauenfigur in seinem riesigen literarischen Oeuvre geschaffen. Ich bin Thomas Mann als Epiker unendlich verbunden. Alles, was ich von Erzählen weiß, habe ich von ihm gelernt. Und gleichzeitig bin ich als Demokratin und Feministin von einem wie Thomas Mann tief enttäuscht“, so Steidele. Sie wünscht sich, dass die Leser und Leserinnen ihres Romans den „Schwung mitnehmen, dass es sich lohnt, für die Demokratie zu kämpfen“.
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Aug 15, 2025 • 55min

Mit neuen Büchern von Marco Wanda, Annie Ernaux, Angela Steidele, Thomas Melle und Verena Kessler

Leidenschaftlich geht es im lesenswert Magazin zu: Es wird geliebt, getrunken, gesungen und gelogen – im Kino, auf der Konzertbühne oder im Gym.
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Aug 15, 2025 • 7min

„Das Schreiben hatte für mich etwas Therapeutisches"

Leben, Liebe, Tod, das sind die großen Themen über die Marco Wanda in seinen Songs schreibt. In Hits wie „Bussi Baby“, „Bologna“ oder „Columbo“, die ab 2011 einen regelrechten Wanda-Hype auslösten. Auf diese Zeit, das Großwerden als Band, den überfordernden Erfolg und das Leben als Rock ‘n Roll-Star schreibt Marco Wanda in seinem Buch „Dass es uns überhaupt gegeben hat“. Zwischen Exzess und Poesie „Ich staune immer noch, dass man in diesem Jahrhundert zu einer Gitarre greifen kann, sechs Akkorde spielt und davon leben kann“, sagt Marco Wanda im Gespräch mit SWR Kultur. Das Motto der Band: „Wir packen es, dass wir es nicht packen“. Die österreichische Musikindustrie erweckte die Band aus dem Dornröschen-Schlaf. Der Druck, diesen Erfolg dann auch zu halten, war immens. Sein Buch sei ein Buch aber nicht nur über die Band, sondern über das Leben, so Marco Wanda: „Über Erfolg, Rückschläge, Resilienz, über Verlust, über Freundschaft.“ Bloß keine verkopften Songs Alkohol, Drogenkonsum, zerstörte Hotelzimmer. Darüber schreibt Marco Wanda schonungslos. Aber auch über die Bücher, die ihn begleiten und Autoren, die er schätzt, wie Hemingway, Jack Kerouac oder Allen Ginsberg. Vorbilder seien die aber keine: „Ich bin kein Techniker und ich glaube, wenn man zu verkopft schreibt, dann spürt ein Leser nichts mehr.“ Er habe sich bemüht, eine eigene Sprache zu entdecken. Das Schreiben des Buches habe etwas zutiefst Therapeutisches: „Ich habe versucht, jedes Gefühl einmal wahrzunehmen, weil ich der Überzeugung bin, das Schmerz gefühlt werden will“, so Marco Wanda.
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Aug 15, 2025 • 9min

„Irgendwann habe ich gemerkt, wie Protein-besessen diese Welt eigentlich ist“

„Ich mache nicht so viel mit Hanteln. Ich starte immer mit Cardio, zum Aufwärmen vielleicht auf dem Crosstrainer oder einem kleinen Spaziergang auf dem Laufband,“ schlägt Verena Keßler vor. Literatur auf dem Laufband also. Ungewöhnlich? Nicht bei diesem Roman. „Gym“ heißt der und spielt in einem Fitnessstudio. In so einem treffe ich heute Autorin Verena Keßler. Hier zeigt sie mir ihre Trainingsroutine - und wir sprechen über ihren neuen Roman. Darin landet die Protagonistin als Angestellte hinter der Smoothie-Theke des „Mega Gym“. Zunächst ohne Absicht, dort zu trainieren. Bis sie merkt, dass ihr Körper sich mit dem Kraftsport verändert: „Jedenfalls ihrem Gefühl nach. Und sie merkt, sie wirkt plötzlich ganz anders auf die Leute, bei ihr werden mehr Shakes am Tresen gekauft und so.“ Fitnessstudio als Ausgleich Vor zwei Jahren hat Verena Keßler selbst mit dem Trainieren in einem Fitnessstudio angefangen, als Ausgleich zum Schreibtischjob. Meist ein-, zweimal die Woche, mittags, wenn das Studio leer ist: „Irgendwie fühle ich mich da ganz wohl und gehe gerne hin. Es gibt aber auch Phasen, wo ich – zum Beispiel nach dem Schreiben des Buchs – gar nicht mehr hingehe.“ Zwischen Hantelbank und Crosstrainer kam ihr die Idee zu einem Roman. Den Einstieg in den Job erschwindelt sich Keßlers Ich-Erzählerin. „Mega Gym“-Chef Ferhat erzählt sie, ihren nicht gerade Fitnessstudio-konformen Körper habe sie nur, denn sie habe gerade… (…) entbunden: nicht: Ich habe vor Kurzem ein Kind bekommen, wie ein normaler Mensch es ausgedrückt hätte. Quelle: Verena Keßler – Gym Die Lüge hält sie erstaunlich lange aufrecht. Zwischen dem Mixen von Smoothies und Proteinshakes mit obskuren Namen erzählt sie dem Roman- und Studiopersonal von den Herausforderungen, die die vermeintlich alleinerziehende Mutter problemlos zu meistern scheint. Kontrolle oder Kontrollverlust? Ob es ein Roman über Kontrolle oder Kontrollverlust sei, frage ich Keßler. „Beides. Sie kommt ja in einer Situation an, wo sie das Gefühl hat, die Kontrolle über ihr Leben verloren zu haben. Sie hat ihren Job verloren und sich eine Weile gehen lassen. Dann fängt sie im Fitnessstudio an, obwohl sie eigentlich nicht trainieren will. Aber als sie merkt, dass sie Muskeln aufbaut und es mit ihrem Einsatz zusammenhängt, entdeckt sie etwas Neues, das sie kontrollieren kann. Das motiviert sie sofort, weiterzumachen.“ Ein Roman in drei Sätzen Im Grunde war es ganz simpel. Ein fitter, ein straffer, ein starker Körper war vor allem eins: Arbeit. Quelle: Verena Keßler – Gym Diese Arbeit beschreibt Keßler auf knapp 190 Seiten und in drei Sätzen. Also, im Sinne einer Trainingsdramaturgie. In drei Teile ist Keßlers Roman gegliedert. Sätze – im Kraftsport die übliche Struktur in der eine Muskelgruppe trainiert wird. Dreimal fünfzehn Wiederholungen. Dazwischen: Rückblenden. Der alte Job, der, soviel sei verraten, mit einer ungeheuerlichen Tat der Erzählerin endete. Von Satz zu Satz wird die Verbissenheit ihrer Hauptfigur größer. „Scheitern ist für sie die allergrößte Katastrophe.“ Keßler erzählt mir während des Trainings: „Ehrgeiz, der große Wunsch nach Anerkennung, das finde ich interessant. Und auch dieses Streben nach Leistung.  Wie sehr kann man das verfolgen, ohne dass es einen krank macht? Bei ihr ist es ja letztendlich so. Auf der einen Seite ist es total gewünscht und anerkannt, dass man nach Leistung und Erfolg strebt. Auf der anderen Seite soll man auf keinen Fall zu verbissen sein. Am besten fällt einem alles zu und man schafft auch alles andere. Und wenn man es dann nicht schafft, wenn ein Erfolg zum Beispiel nicht eintritt, dann soll man ganz bescheiden sein und sagen: Das ist ja gar nicht schlimm. Das ist ja etwas, das die Protagonistin gar nicht kann. Dieses Scheitern ist für sie die allergrößte Katastrophe.“ Ein Millennial-Roman durch und durch. Denn „Gym“ ist keine reine Milieustudie der Fitnessszene: In dieser Welt voller Proteinshakes und Instagram-Posen stecken die gut trainierten „Glutes“, die Gesäßmuskeln, in Leggins. In der Erzählung steckt einiges an Zeitdiagnose. Ein Millennial-Roman durch und durch. Irgendwann habe ich bei Instagram auch nichts anderes mehr gesehen und gemerkt, wie Protein-besessen diese Welt eigentlich ist. Quelle: Verena Keßler im Gespräch „Bei diesem ersten, assoziativen Schreiben ist mir aufgefallen, wie das automatisch reinrutscht. Obwohl ich vorher gesagt hätte, dass ich mich gar nicht so wahnsinnig viel mit dieser Fitnesswelt beschäftigt habe,“ gibt die Autorin zu. „Aber das ist ja dann auch eine Frage des Algorithmus: Irgendwann habe ich bei Instagram auch nichts anderes mehr gesehen und gemerkt, wie Protein-besessen diese Welt eigentlich ist. So sind die Dinge dann da reingekommen.“ Gegenwartsmarker im „Mega Gym“ Hüttenkäse, Protein und Pumpen: Diese Gegenwartsmarker treten im „Mega Gym“ personifiziert in Form der Figuren auf. An ihnen verhandelt Keßler Leistungsdruck, Kontrolle, Körperbilder und die Sozialen Medien amüsant mit. Da gibt es zum Beispiel die Trainerin Swetlana, die schließlich mit ihrem Instagram-Account, auf dem sie ihre tanzenden Pobacken präsentiert, viral geht. Eine Kränkung für das Erzählerinnen-Ego, der Growth und Gains bald nicht mehr reichen. Chef Ferhat stellt ihr einen Trainingsplan zusammen: Wir fangen mal mit 45 Kilo an. Klingt vielleicht viel, aber in ein paar Wochen wirst du schon dein Eigengewicht auflegen können. Und in ein paar Monaten ist auch das Doppelte bis Dreifache drin. Mag glaubt immer gar nicht, wie viel ein Mensch bewegen kann, auch Frauen, unterschätz dich da nicht, im Grunde gibt’s kein Limit.“ Ein leichter Schwindel erfasste mich.Kein Limit, keine Grenzen. Quelle: Verena Keßler – Gym Keßlers Eskalationsfantasien Kein Limit haben auch Keßlers Eskalationsfantasien. In „Gym“ erschafft sie eine überzeichnete, absurde Welt: „Dann sieht sie,“ die Erzählerin, „Vic, die krasse Bodybuilderin, die diese von dem Ideal abweichenden Muskeln hat. Ah ja, man kann sich abheben.  Das ist immer das, worauf sie anspringt. Dann will sie das sofort auch, doller als Vic und will noch krasser werden als sie,“ weiß die Romanautorin. Beim Schreiben halfen ihr deshalb nicht nur eigene sportlichen Erfahrungen, sondern auch Recherche, unter anderem ein Telefonat mit einer echten Bodybuilderin: „Es geht nicht darum, wie das aussieht, sondern was das für eine Leistung ist. Die richten ihr Leben darauf aus. Die trainieren so viel, dazu gehört die strenge Ernährung. Für Wettkämpfe sind sie runtergehungert, damit man die Muskeln gut sehen kann“. Verena Keßler faszinierte das: „Die sind krass ehrgeizig und auf den Erfolg bei Wettkämpfen gepolt. Das passt zu meiner Figur. Als ich mit der Bodybuilderin telefoniert habe, da war ich schon relativ weit mit dem Text und habe ein paar Sachen abgeglichen: Wie trainierst du, wie oft trainierst du?“ Unsympathische Erzählerin Keßlers Protagonistin ist dabei wenig sympathisch. Die Kolleginnen im „Mega Gym“ belächelt sie. Die Mütter, denen sie in einem Kurs zum Prä-Baby-Body verhelfen soll, vergrault sie schnell mit ihren neo-liberalen ‚Du kannst alles schaffen, wenn du dich nur richtig anstrengst‘-Ansprachen.  „Also über meine Protagonistin würde ich nicht sagen, dass sie Feministin ist, sie ist eher Egoistin. Und ich glaube, sie würde es auch über sich selber nicht sagen, weil das für sie relativ egal ist, weil das sowas Gesellschaftliches ist und die Gesellschaft ist ihr eigentlich völlig egal,“ verrät die Autorin. „Für sie zählt sie selbst, ihre Ziele, was sie erreichen möchte und dass sie sich abhebt von den anderen. Und ja, ihr Frauenbild ist oft ein bisschen abschätzig und sie ordnet sich ja immer so ein. Also jede Frau wird erstmal abgecheckt, ist die besser als ich? Wenn ja, was kann ich dagegen tun? Wo kann ich sie irgendwie übertrumpfen? Und wenn nein: Wie kann ich sie kleinhalten, durch das, wie ich mit ihr agiere?“ Verena Keßlers Lieblingsgeräte Im Studio zeigt mir Verena Keßler ihre Lieblingsgeräte. Wichtig sei ihr beim Training selbst eher der Spaßfaktor. Und: Körper und Geist in Einklang zu bringen. „Schreiben ist ja dieses ständige ‚In seinem eigenen Kopf sein‘ und der Körper stört dabei ja fast. Irgendwann macht er sich bemerkbar, durch Rückenschmerzen. Und dann fand ich’s schon immer gut zu sagen: So, jetzt gehe ich einfach mal ins Fitnessstudio. Der Kopf ist dabei auch aus. Was ich nicht gut kann, ist mir dabei Gedanken machen. Es tut auf jeden Fall gut, wenn man kurz raus ist aus dem Kopf.“
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Aug 15, 2025 • 5min

Voller großer, scharfer Traurigkeit: Thomas Melle – „Haus zur Sonne“

Dieses Buch durchzieht „eine, große, scharfe Traurigkeit“, wie es auf seinen letzten Seiten heißt. Thomas Melle schreibt ein weiteres Mal – so wie schon in seinem furiosen, radikal autobiographischen Buch „Die Welt im Rücken“ 2016 - über jene fürchterliche unheilbare psychische Erkrankung, die den Erzähler von „Haus zur Sonne“ seines Lebens müde werden und den erlösenden Tod herbeisehnen lässt. Dieser Erzähler ist fünfzig Jahre alt, so wie Melle, arbeitete einst wie Melle fürs Theater, und war wie er 2019 in allerlei sozialmediale Händel auf Twitter verstrickt, als er es gewagt hatte, den Nobelpreisträger Peter Handke in einem Zeitungsartikel gegen dessen Kritiker zu verteidigen. „Vielleicht hat die Krankheit, die mich gebrochen hat, mich erst zum Schriftsteller gemacht“, hatte Thomas Melle 2016 in seinem Buch „Die Welt im Rücken“ gemutmaßt und damals im Interview gesagt: „Schriftsteller wollte ich eh immer sein, nur dass genau dieses Thema nun zum meinem bisherigen Lebensthema geworden ist, das hatte ich eigentlich anders eingeplant. Ich hätte gern darauf verzichtet, andererseits ist es eine Aufgabe, eine existentielle Aufgabe, mich dem zu widmen und das in eine Form zu bringen – eine Aufgabe hat auch nicht jeder.“ Erloschener Lebensfunke Zu seinem neuen Roman will Thomas Melle kein Interview geben. „Haus zur Sonne“ ist die finstere und im Wortsinn todernste Fortschreibung von „Die Welt im Rücken“, hat sein Ich-Erzähler doch nach einem neuerlichen schweren manischen Schub so viel verbrannte Erde hinterlassen wie noch nie: Freunde weg, Wohnung weg, Geld weg. Ruf zerstört. Er hat sich „weggeschossen aus der Gesellschaft“. Was Mediziner eine depressive „Episode“ nennen, hat für denjenigen, der sie durchmacht, alles andere als vorübergehenden Charakter, - eher finalen. Er fühlt sich am Ende. Sein Lebensfunke sei „erloschen“, schreibt er und weiter: „Ich war Asche“. „Memoir, Autofiktion – ich weiß es nicht genau. Für mich war es erst ein Bericht, der aber natürlich einen Protagonisten und eine Handlung hat, also auch romaneske Formen hat.“ „Nonfiktionaler Roman“ So wie „Die Welt im Rücken“ kann man auch „Haus zur Sonne“ mit einem Oxymoron Didier Eribons, einen „nonfiktionalen Roman“ nennen, wobei das neue Buch im Gegensatz zum Vorgänger fast keine komischen Ausflüchte mehr kennt, sondern uns in einen „zähen Strudel“ mit den immer selben Gedankenschleifen zieht und insofern ein vermutlich sehr genaues Abbild der Krankheit ist, die einen aus diesem ewigen Mahlstrom der Verzweiflung nicht mehr auftauchen lässt. Nach dem Besuch schier unzähliger Kliniken und Psychiatrien sucht der Erzähler jetzt mit dem Titel gebenden „Haus zur Sonne“ ein fiktives, vom Staat mitbetriebenes Hospiz auf: eine letzte Zufluchtsstätte für allen Sterbewilligen. Kein Krankenhaus, kein Sanatorium, nein: eine „perfide Maschinerie“ der Euthanasie, in die man sich „existenzmüde“ als „Klient“ selbst einweist. Hospiz der anderen Art Auf den aseptischen Fluren dieses Hauses entspinnt sich ein Mystery-Horror-Drama der anderen Art. Der Erzähler trifft andere Todessehnsüchtige, lauter Untergeher, die alle so wie er nur verschwinden wollen und tatsächlich auch nacheinander gehen. Wie sie gehen, bleibt im Verborgenen. Vorher durchleben sie so wie der Ich-Erzähler in wie auch immer genau induzierten „Simulationen“ noch „virtuelle Alternativgeschichten“ ihres Lebens: Was wäre aus meinem Leben geworden, wenn ich mich hier anders verhalten hätte, wenn ich ein anderer geworden wäre? Das sind Momente, in denen sich die Insassen kurz einmal vergessen können, um dann, zurückgekehrt aus diesen Traumwelten, umso härter auf dem Boden der Wirklichkeit wieder aufzuschlagen. Dieser Roman hat etwas Niederschmetterndes, Gnadenloses in all seiner Vergeblichkeit, aber er ist eben auch sehr ehrlich, weil hier kein „Checkerautor“ schreibt, wie Melle das nennt. Nein, hier schreibt einer, der weiß, „was es heißt, wirklich unrettbar verloren zu sein“.   Ich dachte, ich könnte wenigstens als Fehlnummer ein Vorbild sein, anderen Mut machen, lebend zeigen, dass es möglich war, sich aus der ganzen Katastrophe wieder herauszuarbeiten. Da lag ich falsch, denn sie kam immer wieder, und immer heftiger. Das wusste ich theoretisch, aber praktisch war es immer wieder ein Schock und bedeutete auch, am Ende, den Verlust jeglicher Würde. Quelle: Thomas Melle – Haus zur Sonne „Haus zur Sonne“ lässt uns den depressiven Tran in all seinem Schrecken, all seinen Loops durchwaten – und nimmt doch eine unerwartete Wendung. Denn „am Saum des Todes“ rührt sich im Erzähler auf einmal „Lebenstrotz“: ein Zeichen der Hoffnung.
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Aug 14, 2025 • 4min

Rie Qudan – Tokio Sympathy Tower

Der Roman spielt im Tokyo der Jetztzeit und der nahen Zukunft. „Political correctness“ gepaart mit Moralpostulaten via ChatGPT ist gang und gäbe. Aber worum geht es? Um Architektur, die den Menschen von heute korrekt abbildet. Ein Großprojekt ist in Planung: der „Tokyo Sympathy Tower“.   Ohne ein schützenswertes Glück ist die Hemmschwelle, ein Verbrechen zu begehen, erschreckend niedrig. Wenn man sich das Glück anderer Menschen nicht vorstellen kann, fällt es schwer, sich schuldig zu fühlen, wenn man es ihnen raubt. Das bedeutet, dass in der überwiegenden Mehrheit der Fälle die Täter selbst ehemalige Opfer sind.  Quelle: Rie Qudan – Tokio Sympathy Tower  „Homo felix“ und „homo miserabilis“ Der so spricht ist der „Glücksforscher“ Masaki Seto. Er teilt die Spezies Mensch in zwei Gruppen: den „homo felix“, den glücklichen Zeitgenossen, und den „homo miserabilis“, den durch schlechte Umwelteinflüsse beklagenswerten Menschen, der so zum Verbrecher wird. Keine Frage! Sozial orientierte Strafjustiz zeitigt Erfolge. Doch im „Tokyo Sympathy Tower“ sollen Leicht- wie Schwerverbrecher einem rein glücklichen Alltag frönen, mit Büchern, DVD’s, Sport und Spiel. Die ehrgeizige Architektin Sara Makina wird den Turm bauen. Dabei ist sie keineswegs von der superhumanen Idee des Glücksforschers gänzlich überzeugt. So befragt sie ChatGPT, im Roman „KI-built“ genannt – und wird eines Besseren belehrt.  Diskriminierungsfreie Kommunikation ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einer glücklicheren und inklusiveren Gesellschaft, in der Empathie, Verständnis und Zusammenarbeit wertgeschätzt werden. Quelle: Rie Qudan – Tokio Sympathy Tower Sex auf Japanisch  Die Mitdreißigerin Sara Makina ist mit einem viel jüngeren, äußerst gutaussehenden Modeberater liiert. Bevor sie mit ihm ins Bett geht, fragt sie, ob es ihn beleidige, wenn sie frage, ob er mit ihr ins Bett gehen möchte. Erst als er verneint, darf das Vergnügen seinen Lauf nehmen. Die noch recht junge Architektin scheint ansonsten eine konservative Gesinnung zu haben. Denn anstatt des Namens „Tokyo Sympathy Tower“ würde sie die japanische Bezeichnung „Tokyo-to Dojo-to“ bevorzugen, also: „Turm des Mitgefühls der Stadt Tokio“.    Moral als verbindliche Norm  Ein Teil des Romans spielt in der nahen Zukunft: 2030. Der Sympathy Tower ist gebaut, viele Insassen, die längst ihre Strafe abgebüßt haben, bleiben. Denn so schön wie im Sympathy Tower ist es für sie nirgendwo. Und doch befindet sich ein großes Polizeiaufgebot vor dem Tor des Turms. Nicht um die Straftäter zu bewachen, sondern um Eindringlinge abzuwehren, die den Turm zerstören wollen. Der „homo felix“ mutiert zum „homo iratus“, zum zornigen Menschen.   Rie Qudan gelingt es in ihrem Roman, die political correctness unserer Tage äußerst gekonnt, ein wenig überspitzt und daher mit Witz und Ironie abzubilden. Doch die Grundaussage ist bitterernst: Wenn Moralvorstellungen, die auch von ChatGPT vorgetragen werden, den Charakter einer stets verbindlicheren Norm annehmen, dann ist jegliche Abweichung in gewisser Weise „verbrecherisch“, weil gesellschaftszersetzend. Die Architektin Sara Makina gesteht offen ein:   Ich weiß, es ist unpassend, aber ich bin am glücklichsten, wenn ich im Angesicht von etwas Schönem trinke und rede. Quelle: Rie Qudan – Tokio Sympathy Tower Aber eigentlich kann eine solche Aussage bereits moralisch problematisch sein.  Ich kann nichts sagen, was ich nicht sagen darf. Ich will niemanden verletzen. Für alles, was ich sage oder tue, muss ich die Verantwortung übernehmen. Quelle: Rie Qudan – Tokio Sympathy Tower Das Postulat des „Schönen“ kann für andere verletzend sein, weil sie das Schöne nicht schön finden oder das Schöne sich nicht leisten können. Somit verschwindet das Schöne aus dem allgemeinen Vokabular. Wir errichten zwar heute keinen Turmbau zu Babel – aber vielleicht doch einen „Sympathy Tower“, aus dem es dann kein Entkommen gibt.

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