
SWR Kultur lesenswert - Literatur Rie Qudan – Tokio Sympathy Tower
Aug 14, 2025
04:09
Der Roman spielt im Tokyo der Jetztzeit und der nahen Zukunft. „Political correctness“ gepaart mit Moralpostulaten via ChatGPT ist gang und gäbe.
Aber worum geht es? Um Architektur, die den Menschen von heute korrekt abbildet. Ein Großprojekt ist in Planung: der „Tokyo Sympathy Tower“.
Ohne ein schützenswertes Glück ist die Hemmschwelle, ein Verbrechen zu begehen, erschreckend niedrig. Wenn man sich das Glück anderer Menschen nicht vorstellen kann, fällt es schwer, sich schuldig zu fühlen, wenn man es ihnen raubt. Das bedeutet, dass in der überwiegenden Mehrheit der Fälle die Täter selbst ehemalige Opfer sind.Quelle: Rie Qudan – Tokio Sympathy Tower
„Homo felix“ und „homo miserabilis“
Der so spricht ist der „Glücksforscher“ Masaki Seto. Er teilt die Spezies Mensch in zwei Gruppen: den „homo felix“, den glücklichen Zeitgenossen, und den „homo miserabilis“, den durch schlechte Umwelteinflüsse beklagenswerten Menschen, der so zum Verbrecher wird. Keine Frage! Sozial orientierte Strafjustiz zeitigt Erfolge. Doch im „Tokyo Sympathy Tower“ sollen Leicht- wie Schwerverbrecher einem rein glücklichen Alltag frönen, mit Büchern, DVD’s, Sport und Spiel. Die ehrgeizige Architektin Sara Makina wird den Turm bauen. Dabei ist sie keineswegs von der superhumanen Idee des Glücksforschers gänzlich überzeugt. So befragt sie ChatGPT, im Roman „KI-built“ genannt – und wird eines Besseren belehrt.Diskriminierungsfreie Kommunikation ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einer glücklicheren und inklusiveren Gesellschaft, in der Empathie, Verständnis und Zusammenarbeit wertgeschätzt werden.Quelle: Rie Qudan – Tokio Sympathy Tower
Sex auf Japanisch
Die Mitdreißigerin Sara Makina ist mit einem viel jüngeren, äußerst gutaussehenden Modeberater liiert. Bevor sie mit ihm ins Bett geht, fragt sie, ob es ihn beleidige, wenn sie frage, ob er mit ihr ins Bett gehen möchte. Erst als er verneint, darf das Vergnügen seinen Lauf nehmen. Die noch recht junge Architektin scheint ansonsten eine konservative Gesinnung zu haben. Denn anstatt des Namens „Tokyo Sympathy Tower“ würde sie die japanische Bezeichnung „Tokyo-to Dojo-to“ bevorzugen, also: „Turm des Mitgefühls der Stadt Tokio“.Moral als verbindliche Norm
Ein Teil des Romans spielt in der nahen Zukunft: 2030. Der Sympathy Tower ist gebaut, viele Insassen, die längst ihre Strafe abgebüßt haben, bleiben. Denn so schön wie im Sympathy Tower ist es für sie nirgendwo. Und doch befindet sich ein großes Polizeiaufgebot vor dem Tor des Turms. Nicht um die Straftäter zu bewachen, sondern um Eindringlinge abzuwehren, die den Turm zerstören wollen. Der „homo felix“ mutiert zum „homo iratus“, zum zornigen Menschen. Rie Qudan gelingt es in ihrem Roman, die political correctness unserer Tage äußerst gekonnt, ein wenig überspitzt und daher mit Witz und Ironie abzubilden. Doch die Grundaussage ist bitterernst: Wenn Moralvorstellungen, die auch von ChatGPT vorgetragen werden, den Charakter einer stets verbindlicheren Norm annehmen, dann ist jegliche Abweichung in gewisser Weise „verbrecherisch“, weil gesellschaftszersetzend. Die Architektin Sara Makina gesteht offen ein:Ich weiß, es ist unpassend, aber ich bin am glücklichsten, wenn ich im Angesicht von etwas Schönem trinke und rede.Aber eigentlich kann eine solche Aussage bereits moralisch problematisch sein.Quelle: Rie Qudan – Tokio Sympathy Tower
Ich kann nichts sagen, was ich nicht sagen darf. Ich will niemanden verletzen. Für alles, was ich sage oder tue, muss ich die Verantwortung übernehmen.Das Postulat des „Schönen“ kann für andere verletzend sein, weil sie das Schöne nicht schön finden oder das Schöne sich nicht leisten können. Somit verschwindet das Schöne aus dem allgemeinen Vokabular. Wir errichten zwar heute keinen Turmbau zu Babel – aber vielleicht doch einen „Sympathy Tower“, aus dem es dann kein Entkommen gibt.Quelle: Rie Qudan – Tokio Sympathy Tower
