SWR Kultur lesenswert - Literatur

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Aug 14, 2025 • 4min

Rie Qudan – Tokio Sympathy Tower

Der Roman spielt im Tokyo der Jetztzeit und der nahen Zukunft. „Political correctness“ gepaart mit Moralpostulaten via ChatGPT ist gang und gäbe. Aber worum geht es? Um Architektur, die den Menschen von heute korrekt abbildet. Ein Großprojekt ist in Planung: der „Tokyo Sympathy Tower“.   Ohne ein schützenswertes Glück ist die Hemmschwelle, ein Verbrechen zu begehen, erschreckend niedrig. Wenn man sich das Glück anderer Menschen nicht vorstellen kann, fällt es schwer, sich schuldig zu fühlen, wenn man es ihnen raubt. Das bedeutet, dass in der überwiegenden Mehrheit der Fälle die Täter selbst ehemalige Opfer sind.  Quelle: Rie Qudan – Tokio Sympathy Tower  „Homo felix“ und „homo miserabilis“ Der so spricht ist der „Glücksforscher“ Masaki Seto. Er teilt die Spezies Mensch in zwei Gruppen: den „homo felix“, den glücklichen Zeitgenossen, und den „homo miserabilis“, den durch schlechte Umwelteinflüsse beklagenswerten Menschen, der so zum Verbrecher wird. Keine Frage! Sozial orientierte Strafjustiz zeitigt Erfolge. Doch im „Tokyo Sympathy Tower“ sollen Leicht- wie Schwerverbrecher einem rein glücklichen Alltag frönen, mit Büchern, DVD’s, Sport und Spiel. Die ehrgeizige Architektin Sara Makina wird den Turm bauen. Dabei ist sie keineswegs von der superhumanen Idee des Glücksforschers gänzlich überzeugt. So befragt sie ChatGPT, im Roman „KI-built“ genannt – und wird eines Besseren belehrt.  Diskriminierungsfreie Kommunikation ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einer glücklicheren und inklusiveren Gesellschaft, in der Empathie, Verständnis und Zusammenarbeit wertgeschätzt werden. Quelle: Rie Qudan – Tokio Sympathy Tower Sex auf Japanisch  Die Mitdreißigerin Sara Makina ist mit einem viel jüngeren, äußerst gutaussehenden Modeberater liiert. Bevor sie mit ihm ins Bett geht, fragt sie, ob es ihn beleidige, wenn sie frage, ob er mit ihr ins Bett gehen möchte. Erst als er verneint, darf das Vergnügen seinen Lauf nehmen. Die noch recht junge Architektin scheint ansonsten eine konservative Gesinnung zu haben. Denn anstatt des Namens „Tokyo Sympathy Tower“ würde sie die japanische Bezeichnung „Tokyo-to Dojo-to“ bevorzugen, also: „Turm des Mitgefühls der Stadt Tokio“.    Moral als verbindliche Norm  Ein Teil des Romans spielt in der nahen Zukunft: 2030. Der Sympathy Tower ist gebaut, viele Insassen, die längst ihre Strafe abgebüßt haben, bleiben. Denn so schön wie im Sympathy Tower ist es für sie nirgendwo. Und doch befindet sich ein großes Polizeiaufgebot vor dem Tor des Turms. Nicht um die Straftäter zu bewachen, sondern um Eindringlinge abzuwehren, die den Turm zerstören wollen. Der „homo felix“ mutiert zum „homo iratus“, zum zornigen Menschen.   Rie Qudan gelingt es in ihrem Roman, die political correctness unserer Tage äußerst gekonnt, ein wenig überspitzt und daher mit Witz und Ironie abzubilden. Doch die Grundaussage ist bitterernst: Wenn Moralvorstellungen, die auch von ChatGPT vorgetragen werden, den Charakter einer stets verbindlicheren Norm annehmen, dann ist jegliche Abweichung in gewisser Weise „verbrecherisch“, weil gesellschaftszersetzend. Die Architektin Sara Makina gesteht offen ein:   Ich weiß, es ist unpassend, aber ich bin am glücklichsten, wenn ich im Angesicht von etwas Schönem trinke und rede. Quelle: Rie Qudan – Tokio Sympathy Tower Aber eigentlich kann eine solche Aussage bereits moralisch problematisch sein.  Ich kann nichts sagen, was ich nicht sagen darf. Ich will niemanden verletzen. Für alles, was ich sage oder tue, muss ich die Verantwortung übernehmen. Quelle: Rie Qudan – Tokio Sympathy Tower Das Postulat des „Schönen“ kann für andere verletzend sein, weil sie das Schöne nicht schön finden oder das Schöne sich nicht leisten können. Somit verschwindet das Schöne aus dem allgemeinen Vokabular. Wir errichten zwar heute keinen Turmbau zu Babel – aber vielleicht doch einen „Sympathy Tower“, aus dem es dann kein Entkommen gibt.
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Aug 11, 2025 • 4min

Jean-Baptiste Andrea – Was ich von ihr weiß

Kleiner Mann, ganz groß. Michelangelo Vitaliani, der Held des Romans von Jean-Baptiste Andrea, wird 1904 in ärmliche südfranzösische Verhältnisse geboren und wegen seiner Kleinwüchsigkeit verspottet. Aber er hat ein Jahrhunderttalent, das sich über alle gesellschaftlichen Hindernisse Bahn bricht.   Als Jugendlicher wird er zu seinem Onkel Alberto nach Italien geschickt, um das Handwerk der Bildhauerei zu erlernen. Und nicht zufällig heißt er Michelangelo. Bald überflügelt er den trinkfreudigen Alberto, dank seines ganz besonderen Verhältnisses zum Stein:   Der Stein hat immer zu mir gesprochen, alle Steine, Kalksteine, metamorphe Gesteine, selbst Grabsteine, ebenjene, auf die ich mich bald legen sollte, um mir die Geschichten der dort Ruhenden anzuhören. Quelle: Jean-Baptiste Andrea – Was ich von ihr weiß Auf Gräbern liegen und den Toten zuhören, das ist eine Obsession seiner Lebensfreundin Viola. Die beiden sind füreinander geschaffen, auch wenn sie nie wirklich zueinander finden – Voraussetzung für eine wechselvolle, melodramatische Romanhandlung.   In Adelskreisen  Viola ist die Tochter der reichen Adelsfamilie Orsini, bei welcher der junge Bildhauer seine ersten Karriereschritte absolviert, immer im Bann des eigensinnigen Mädchens. Viola hat eine Bärin gezähmt, und sie fügt sich nicht in die Rollenerwartungen einer effizient zu verheiratenden, den Nachwuchs sichernden Orsini-Erbin. Stattdessen bastelt sie an Flugapparaten und träumt von der Überwindung der physikalischen wie patriarchalen Schwerkraft. Bis sie nach einem kühnen Sprung am Hang eine fatale Bruchlandung erleidet:  Der Mistral packte Viola, schüttelte sie, zerrte sie seitwärts, ließ sie plötzlich um sich selbst rotieren. Trotz der Höhe hörten wir sie schreien. Nicht vor Angst, sondern vor Wut. In der nächsten Sekunde hatte sich das Segel verdreht. Viola stürzte plötzlich herab, ein herumwirbelnder wütender Ikarus, stieß aus dreißig Meter Höhe hinein in eine Masse von Grün, Waldgrün, verschwand zwischen den Bäumen. Quelle: Jean-Baptiste Andrea – Was ich von ihr weiß Höhenflüge und Abstürze  Viola überlebt mit schwersten Verletzungen, und auch die Freundschaft ist danach nie wieder, was sie war. Stattdessen konzentriert sich Vitaliani nun ganz auf seine Kunst, schafft Meisterwerke, stürzt auf andere Weise ab, rappelt sich wieder auf, bekommt verführerische Angebote und Aufträge von den Faschisten:  Die Regierung braucht Leute wie Sie. Dem Volk mangelt es an Vorstellungskraft. Wir müssen ihm etwas geben, was es sehen kann. Hätten Sie Interesse, für uns zu arbeiten? Der Duce weiß sich gegenüber seinen Künstlern und Wissenschaftlern großzügig zu zeigen.  Quelle: Jean-Baptiste Andrea – Was ich von ihr weiß Diese Kollaboration wird sich – nicht unerwartet – als ungut erweisen. In der Geschichte vom Aufstieg des genialen Künstlers Vitaliani aus den Schlacken der Herkunft sind viele literarische Muster zu finden – ein bisschen „Parfum“, ein bisschen „Blechtrommel“. Der Roman ist erzählt in der Ich-Perspektive, zwischendrin melden sich aber auch andere Stimmen zu Wort – ein Professor, der die mysteriöse Wirkung von Vitalianis später „Pietà“ erforscht, oder der Abt des Klosters, in dem Vitaliani nach einer weiteren Katastrophe sein letztes Refugium findet.   Kinostil mit Sentenzen  Jean Baptiste Andrea hat Drehbücher geschrieben und Regie geführt. Das merkt man dem Roman an. Er hat weite, spannende Erzählbögen und viele intensive, filmisch geschilderte Szenen. Zwar bespielt er große Themen wie den Ersten Weltkrieg, den italienischen Faschismus, die Verfolgung der Juden, die Kollaboration und Korruption der Eliten. Das bleibt jedoch eher Kulisse für einen süffig erzählten Roman, der weniger auf Erkenntnis als auf gute Unterhaltung zielt, bei allen großen Gefühlen aber nicht ins Kitschige abrutscht. Dafür sorgen die straffe, prägnante Sprache und der bisweilen fast sentenziöse Schliff der Reflexionen. „Was ich von ihr weiß“ ist bestes Popcorn-Buchkino. Das man in Frankreich dafür den höchsten Literaturpreis bekommt, ist bemerkenswert.
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Aug 8, 2025 • 6min

Wasafiri Magazine. International Contemporary Writing – The UAE Issue (Heft Nr. 122)

Mit den Vereinigten Arabischen Emiraten ist das so eine Sache: Sie stehen für Geld und Glamour – aber auch für Überwachung und unverhohlene Autokratie. Es mangelt an der Wahrung der Menschenrechte und auch an wirklicher Freiheit des Wortes. Und dennoch boomt und blüht dort die Kultur. Auch die Literatur. So spannende wie vielfältige Einblicke in die aktuelle Literatur- und Kunstszene vor Ort gibt jetzt die neue Ausgabe des britischen, in London beheimateten Literatur-Magazins Wasafiri. Und sie macht vor allem eines klar: Die Vereinigten Arabischen Emirate sind kein Monolith – sondern ein plurales Gebilde. Zunächst einmal bestehen sie aus sieben Emiraten. Abu Dhabi und Dubai sind sicherlich die bekanntesten. Doch auch die Emirate Adschman, Fudschaira, Ra’s al-Chaima, Sharjah und Umm al-Qaiwain gehören dazu. Und: Menschen aus 190 Nationen sind dort zuhause – mit ihnen zahlreiche Sprachen, Kulturen und Religionen. Viele der Menschen leben dort bereits ein Leben lang, andere sind zugezogen und bleiben, manche nur für eine Weile. Im Dialog: unterschiedliche Generationen Das Magazin – das sich stets aus Berichten, Reportagen, Rezensionen und Textauszügen zusammensetzt und ein angenehm schlichtes Design hat – stellt in dieser Ausgabe deshalb nicht nur Schriftsteller und Schriftstellerinnen und andere Kulturmacher und und -macherinnen bewusst unterschiedlicher Generationen vor, sondern bringt sie zum Teil auch miteinander ins Gespräch. Verblüfft betrachtet man manche von ihnen übrigens auf den ergänzenden Porträtfotos: Sie könnten ebenso Kreative aus New York oder Berlin sein. Sie alle sind zudem als Freiberufler tätig – nicht zuletzt um sich der staatlich gelenkten Kunstproduktion zu entziehen. Die meisten von ihnen leben und arbeiten in Abu Dhabi oder in Dubai, jenem Emirat, das sich schneller wandelt, als man denken kann. Und das man offenbar – so scheint es immer wieder in den unterschiedlichen Texten durch – nur schwer in seinen vielen Widersprüchlichkeiten zu fassen bekommt. Fluidität als Kennzeichen der Literatur der Emirate Dieses Fluide scheint für die Literatur der Emirate charakteristisch zu sein: Der aktuell in Sharjah ansässige Autor und Verleger Ahmed Makia etwa, der seit über 15 Jahren in der Literaturbranche der Emirate tätig ist, hat sich schon längst von der Idee der Langlebigkeit literarischer Kriterien und Projekte verabschiedet. So widerspricht für ihn das Konzept einer lokalen Literatur seiner Überzeugung, dass die Vereinigten Arabischen Emirate längst Teil der globalen Gesellschaft sind. Auch seine jüngeren Kollegen bestätigen: Gerade die Tatsache, dass diese Föderation ein ethnisch so volatiles Gebilde ist, mache den Golf künstlerisch zu einem aufregenden Experiment in Echtzeit. Nicht alle, die zu dieser Ausgabe als Künstler und Künstlerinnen beigetragen haben, sehen das so gelassen. Die in Kuwait in dritter Generation als Tochter syrischer Flüchtlinge aufgewachsene Autorin Nadeen Dannak etwa spürt den unterschiedlichen Arten nach, in denen Städte wie Dubai oder Kuwait Menschen wie sie beheimaten und spürbar auf Distanz halten zugleich. Zwischen Selbstzensur und Aufbegehren Und dann ist da noch die Selbstzensur als Folge der staatlichen Zensur – eine Frage, die alle bewegt. Die Herausgeber dieser Ausgabe Laure Assaf und Deepak Unnikrishnan, die beide an der New York University in Abu Dhabi lehren, gestehen im Editorial ehrlich ein: Jedes Wort in den Vereinigten Arabischen Emiraten muss abgewogen werden. Aber sie betonen auch: Genau deshalb zählt die Kunst, zählt jedes Wort. Umso aufmerksamer liest man daher die Gedichte und Prosa-Texte, die alternierend zu den Interviews und Berichten den Band ergänzen. Die bekannteste Autorin ist sicher die bilinguale Lyrikerin Mona Kareem. In Kuwait als Tochter von Beduinen staatenlos aufgewachsen, heute zwischen Kuwait und den USA lebend, bezeugen ihre Gedichte, was es bedeutet, sich vom Konzept einer „eigenen“ Geografie zu lösen. Nada Almosas Gedichte greifen dagegen aus bis nach Jenin im Westjordanland, wo Menschen wieder und wieder bei Raketenangriffen sterben. Shayma al Harth träumt in ihrem Gedicht von der ägyptischen Sängerin Umm Kulthum – und begleitet sie im Traum nach Sansibar, wo der Vater der Sängerin begraben werden wird. Die Lyrikerinnen Jill Magi und Aathma Nirmala Dious wiederum erzählen – wie auch der Prosa-Autor Ziad Abdullah – von heimlichen Lieben in der Stadt, von aufsässigen jungen Frauen und vom Versuch, sich wie eine Spinne aus dem Netz der Staatsmacht zu entziehen. Überhaupt überwiegen die weiblichen Stimmen! Im Aufbruch. Im Wandel. Denn: Es tut sich etwas in der literarischen Landschaft der Emirate. Und Frauen, heißt Autorinnen sind maßgeblich an dieser Veränderung beteiligt. Das betont auch der abschließende Überblicksartikel im Magazin. Er stellt die aktuellen Gedichtbände dreier Autorinnen unterschiedlicher Generationen vor, die eins eint: Sie bilden den Auftakt eines anglophonen Lyrikkanons in den Emiraten. Tatsächlich ist Englisch die Sprache, in der die Lyrik in den Emiraten blüht und gedeiht – und in der vor allem jene, die fremd in das Land kamen und blieben, einen neuen Ausdruck finden. Denn das herkömmliche Arabisch, in dem sie ebenso zuhause sind, verschmilzt bei ihnen zu etwas Neuem, zu einer Lyrik voller Übergänge: hybrid, vielsprachig und in der Lage, den fragwürdigen Status der Wurzellosigkeit in ein stolzes Ausrufezeichen zu verwandeln. Bleibt zu hoffen, dass man in naher Zukunft auch in deutscher Sprache diese Literatur lesen kann. Bis es soweit ist: Lesen Sie Wasafiri!
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Aug 8, 2025 • 6min

Schauerroman aus feministischer Perspektive: Caroline Haus „Stille im August“

Racel ist eine von 10 Millionen Oversea Filipino Workers weltweit. Seit Jahren arbeitet sie als Hausmädchen reicher Leute in Singapur. Als sie gerade die Luxuswohnung putzt, erfährt sie, ihre Mutter Alma ist verschwunden, Opfer womöglich des schweren Taifuns, der Banwa verwüstete. Die Rückkehr auf ihre Insel wird für Racel zur Reise in die Kindheit, ins große, längst verfallene Herrenhaus der Hazienda, in dem sie als Tochter einer Hausangestellten aufwuchs, und in dem es jetzt spukt. Das Haus, eines der ältesten im Village, liegt nur ein paar Häuserblocks entfernt, zu Fuß in einer Viertelstunde erreichbar. (...) Ich habe nicht vergessen, wie heiß es Mitte Dezember tagsüber immer noch ist, selbst in der Umarmung der Flammenbäume. Quelle: Caroline Hau – Stille im August Caroline Hau wollte einen Schauerroman aus feministischer Perspektive schreiben, mit dem Blick auf Frauen und ihre Ängste, in ihrem Haus, ihrem Körper, ihrem Verstand gefangen zu sein. Auf den Philippinen, sagt sie, gibt es eine lange literarische Tradition, mit Elementen des Schauerromans, die Düsternis und die Probleme des Landes zu beschreiben. Arm & Reich: Spannungen auf der Hacienda Mit leichter Hand literarisiert Caroline Hau die Wirklichkeit. Der Taifun „Haiyan“, der 2013 über 6000 Tote forderte, wird im Englischen zum „Petrel“, zum „Sturmvogel“. Hinter dem Namen der Großgrundbesitzer steht Aswang, ein Ungeheuer der Mythologie. Es wird viel gegessen im Roman. Die delikaten Speisen, verschiedene Sprachen, Tagalog, Ilongo, Englisch, spiegeln Kulturen des Landes. Vor allem aber schildert Caroline Hau die Kluft zwischen Arm und Reich: Lia, die verwöhnte Tochter der Hacenderos, mit Distanz, in der dritten Person, Racel aus der Nähe, im Ich. Der Taifun und die Suche nach der Mutter treten zurück. Wichtiger sind Racels Erinnerungen und ihr Wiedersehen mit Lia, neben der sie einst aufwuchs. Beide Frauen kommen aus Singapur nach Banwa. Beide sind Fremde im eigenen Land, aber die Annäherung gelingt nicht. Zu groß sind die Klassengegensätze. Ich denke daran, dass wir auf Banwa nur geduldet sind, ein Zustand, der sich jeden Tag ändern kann. Arbeiter und Arbeiterinnen lassen sich leicht ersetzen. Verärgere amo, (den Boss,) und das Haus, das man mit eigenen Händen erbaut hat, wird von seinem Grundstück weggefegt. Quelle: Caroline Hau – Stille im August In philippinischen Filmen und in der Literatur sind Hausangestellte immer präsent, aber keiner beachtet, was sie fühlen und denken, ihren Blick auf die Welt, sagt Caroline Hau. Mit ihrem Roman versucht sie, das wiedergutzumachen. Die „Stille im August“ im Land des Zuckerrohrs „Stille im August“ heißt im englischen Original „Tiempo Muerto“ und meint die tote Zeit auf den Zuckerrohrplantagen zwischen Pflanzung und Ernte. Für die Arbeiter bedeuten diese Sommermonate: keine Arbeit, kein Lohn, also Hunger und Not. Sobald der Sand der Küste unsere Füße zu verbrennen begann und die Flussbetten durstig wurden, (…) folgte die Stille im August, die langen Stunden, in denen wir darauf warteten, dass das Zuckerrohr wuchs, und den Himmel nach Zeichen absuchten, ob die Dürre, zickig und bockig wie ein Kind, vielleicht einen Tobsuchtsanfall bekommen und die Ernte zerstören würde. Quelle: Caroline Hau – Stille im August Auch wenn die Insel im Roman Banwa heißt, und es ein reales Banwa gibt, Vorbild im Roman ist Negros, die Zuckerinsel im Herzen des Archipels, ein grüner Traum, ein sozialer Brennpunkt. Hier ist der Feudalherr der Plantage noch Arbeitgeber, Taufpate, Trauzeuge, Patriarch zugleich. In den Städten beginnen die Slums gleich hinter abgeriegelten Villenvierteln, sagt Caroline Hau. Das ist fast körperlich erfahrbar, mit dem Akzent, dem Zustand der Haare und Zähne, der Hautfarbe. Ungleichheit wird gelebt, sagt Caroline Hau. Man trägt die Klassenmerkmale mit sich, mit den Kleidern, dem Aussehen, ob man Englisch spricht und mit welchem Akzent. Noch immer gibt es Rebellen in den Bergen Veränderung liegt in der Luft. Vielleicht ist die Mutter in die Berge gegangen, zu den Rebellen der New People‘s Army, Kommunisten, die seit Jahrzehnten Gleichheit, gerechte Löhne und eine Landreform fordern, auch mit Gewalt. Aber wer die Ordnung angreift, sich einer Gewerkschaft oder gar der NPA anschließt, riskiert sein Leben. Arbeiter, Kommunistinnen, Politiker und Aktivistinnen werden Opfer von schwerbewaffneten Privatarmeen der Großgrundbesitzer. Am bekanntesten war das Sagay-Massaker 2018, das die Leben von neun Zuckerrohr-arbeitern forderte, auch Frauen und Kinder. Die Arbeiter waren Mitglieder der Nationalen Vereinigung von Arbeitern, die um Reformen kämpften, erinnert sich Caroline Hau. Sie lebt seit Jahren im japanischen Kyoto, umso schärfer ist ihr Blick auf die neuralgischen Punkte der Philippinen: die EDSA-Revolution 1986 gegen Diktator Marcos, die viel versprach und wenig hielt; der immense Reichtum inmitten von Armut, Machismos, Korruption und die politischen Netzwerke einiger weniger Familien, die seit Jahrzehnten herrschen und in allem straffrei bleiben. Ihr Roman deutet diese Zustände nur an, Lia und vor allem Racel bleiben im Fokus, aber dazwischen erzählt Caroline Hau fast sanft von der Gewalt, von Traumata und Träumen, sozialem Unrecht und Aufruhr, Migration und Entfremdung; melancholisch, leise, aber eindringlich und szenisch in diesem facettenreichen Gesellschaftspanorama, einer, im doppelten Wortsinn, fantastischen Einführung ins Gastland der Frankfurter Buchmesse.
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Aug 8, 2025 • 55min

Mit neuen Büchern von: Katie Kitamura, Zheng Xiaoqiong, Caroline Hau, Jokha Alharthi und dem aktuellen Wasafiri Magazine

Heute lesen wir Bücher aus sonnigen Ländern: Lyrik aus China und einen Roman von den Philippinen. Einen Roman aus Oman sowie Geschichten aus den Emiraten. Und Katie Kitamura.
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Aug 8, 2025 • 2min

Dirk von Petersdorff (Hg.) – Der ewige Brunnen. Deutsche Gedichte aus zwölf Jahrhunderten

„Die Anthologie Der ewige Brunnen stand damals im Haushalt meiner Eltern“, erinnert sich der Autor Uwe Wittstock. Der Titel sei ja etwas altbacken, die Sammlung selbst aber umso lebendiger: Sie umfasst deutschsprachige Gedichte aus 1.200 Jahren – auf ungefähr ebenso vielen Seiten. Von Walter von der Vogelweide bis zu Judith Holofernes Erstmals erschien „Der ewige Brunnen“ im Jahr 1955. Mit der Zeit gab es einige Neuausgaben, in die auch immer wieder neue Texte aufgenommen wurden. Inzwischen spannt die Anthologie den Bogen von Walter von der Vogelweide bis zu Judith Holofernes. Die aktuelle Ausgabe hat der Literaturwissenschaftler und Lyriker Dirk von Petersdorff kuratiert. Uwe Wittstock schrieb mit „Februar 33. Der Winter der Literatur“ und „Marseille 1940. Die große Flucht der Literatur“ zuletzt selbst zwei packende literaturhistorische Werke. Auf SWR Kultur erinnert er sich: „Es war immer ein gutes Gefühl zu wissen, dass es da dieses dicke Hausbuch gibt, in dem alle wichtigen Gedichte der deutschen Literatur versammelt sind.“
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Aug 7, 2025 • 4min

Paul Lynch – Jenseits der See

„Jenseits der See“ basiert auf einer wahren Begebenheit: Im November 2012 brach der Fischer José Salvador Alvarenga gemeinsam mit einem jüngeren Kollegen von der mexikanischen Küste aus zu einer Hochseetour auf. Das kleine Boot der beiden Männer geriet in einen schweren, fünf Tage andauernden Sturm, der auch den Motor zerstörte. 14 Monate später wurde Alvarenga auf den Marshallinseln angespült, etwa zehntausend Kilometer von seinem Startpunkt entfernt. Sein jüngerer und unerfahrener Fischerkollege blieb verschwunden. Gerüchten, er habe ihn aufgegessen, widersprach Alvarenga energisch – vielmehr sei dieser an einer Vergiftung gestorben. Den Leichnam habe er über Bord geworfen. Eine unglaubliche Geschichte; ein Drama, das nach literarischer Bearbeitung verlangt. Die beiden Männer, die auf See in Not geraten, heißen bei Paul Lynch Bolivar und Hector. Lynchs Beschreibung des verheerenden Sturms liest sich so:  Er hebt den Blick zum Horizont, doch erneut werden Wasser und Himmel zunehmend eins, sein Blick nun gepackt von dem, was er sieht – eine einfarbige Wand kommt heran, eine Wand steigt auf, bis es ist, als säße er am Boden eines Lochs fest, in einem einfarbigen Gefängnis, das sich weit über ihn erhebt, der Unendlichkeit entgegen. Quelle: Paul Lynch – Jenseits der See Aus dem Fertigteilfundus der Bedeutungsschwere  Damit ist der Tonfall des Romans gesetzt. Lynch unternimmt den Versuch, die nahezu aussichtslose Lage der beiden Männer in ein philosophisch-existentialistisches Drama zu verwandeln. Das liegt nahe, bedarf aber eines sprachlich sicheren und versierten Autors, der Paul Lynch nicht ist. Er zieht alle Register und bedient sich beidhändig aus dem Fertigteilfundus der Bedeutungsschwere. Noch nicht einmal 200 Seiten hat dieser Roman, doch ist er überfrachtet mit religiösen Anspielungen, intertextuellen Verweisen und schwerblütigen Reflexionen. Nicht ohne Grund heißt der Roman „Jenseits der See“ – schon der Titel verweist auf die metaphysische Stoßrichtung. Hier geht es nicht bloß um einen irdischen Überlebenskampf, sondern um den Kampf zweier entgegengesetzter Weltanschauungen: Während der ältere Bolivar alles tut, um am Leben zu bleiben, findet der junge Hector sich recht schnell mit seinem Schicksal ab und fügt sich in das aus seiner Sicht unvermeidliche: das Leiden. Auf nicht sonderlich subtile Weise wird Hector von Paul Lynch zu einem Märtyrer, zu einer Christusfigur aufgebaut, der schließlich in den Armen des schlafenden Bolivar stirbt:  Meer und Himmel sind von Licht entgrenzt. Er betrachtet Hectors Gesicht. Die Haut hat sich entspannt und eine graue Blässe angenommen. Der Anflug eines Lächelns auf den Lippen. Quelle: Paul Lynch – Jenseits der See Bedrückender Alltag auf hoher See  Es hätte durchaus etwas werden können mit diesem Roman. „Jenseits der See“ hat auch dichte, bedrückende Passagen, die den Alltag an Bord des Boots schildern. Die erzählen, wie die Männer sich von rohem Fisch ernähren, von Vögeln, denen Bolivar bei lebendigem Leib die Flügel ausreißt, damit das Fleisch frisch bleibt. Auch in der Darstellung der zwischen Liebe und Hass schwankenden Beziehung an Bord hat Lynch seine starken Momente. Doch wird all das überlagert von dem Eindruck, dass hier ein Autor schreibt, der über wenig Sprache, aber über großen Stilwillen verfügt. Manchmal bleiben Lynchs Sätze auch schlicht unverständlich:  Er horcht auf den wilden Atem, der dem Geist in ihm Gestalt gibt. Der Sturmwind des Geistes, und wie er blind gegen die Dunkelheit angeht.  Quelle: Paul Lynch – Jenseits der See Der Eindruck, dass sich hier ein junger Autor mit aller Gewalt in den Sound der Weltliteratur einschreiben will, ist ganz sicher kein Problem der Übersetzung: Eike Schönfeld ist einer der renommiertesten Übersetzer aus dem Englischen überhaupt. Aber auch ein Könner wie er kann ganz offensichtlich einen missglückten Roman wie „Jenseits der See“ nicht retten.
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Aug 6, 2025 • 7min

Jokha Alharthi – Herrinnen des Mondes

Oman hat sich im 20. Jahrhundert rasant verändert. Mit der Entdeckung des Erdöls in den 1960er-Jahren wuchs der Wohlstand, die traditionellen Stammesgesellschaften verloren an Bedeutung. Gerade junge Menschen zog es in die immer moderneren Städte. Von dieser Entwicklung erzählt Jokha Alharthi in „Herrinnen des Mondes“. Ihr Roman, der tiefe Einblicke in die omanische Gesellschaft gibt, spielt zwischen 1920 und 1990 im fiktiven Bergdorf al-Awafi. Die Autorin erklärte ihr literarisches Anliegen kürzlich bei einer Veranstaltung in Berlin, gedolmetscht von ihrer Übersetzerin Claudia Ott: Ich möchte als urteilsfreie, wertfreie Beobachterin diesen Prozess beschreiben, ohne zu sagen: das eine war besser oder die Moderne war besser oder früher war es besser. Das ist gar nicht meine Absicht. Sondern meine Literatur soll dazu beitragen, dass das einmal dokumentiert wird, was da vergangen ist und was dafür gekommen ist. Quelle: Jokha Alharthi - Herrinnen des Mondes Jokha Alharthi erzählt von mehreren miteinander verwandten oder verschwägerten Familien in al-Awafi. Die Großeltern-Generation wächst um 1920 herum noch in einer traditionellen Stammesgesellschaft auf, in der auch Sklaven gehalten wurden. In der mittleren Generation tobt dann der Streit zwischen Tradition und Moderne. Mayya etwa wurde zwar gegen ihren Willen verheiratet und spricht ihren Mann deshalb nicht mit Namen an - über ihr Kind lässt sie ihn jedoch nicht auch noch verfügen. „Hör zu!", sagte Mayya zu Suleimans Sohn, sobald ihr Kugelbauch sie nachts nicht mehr schlafen ließ. "Ich werde mein Kind nicht hier von den Ammen holen lassen. Ich will, dass du mich nach Maskat bringst. [...] Ich möchte zur Entbindung ins Saada-Hospital."„Soll mein Sohn etwa den Christen in die Hände fallen?", entrüstete er sich.Mayya schwieg. Und als sie im neunten Monat war, brachte ihr Mann sie ins Haus seines Onkels im Wadi Aday in Maskat, wo sie bis zur Entbindung wohnte. Im Missionskrankenhaus, dem Saada-Hospital, brachte sie ein schmächtiges Mädchen zur Welt." Quelle: Jokha Alharthi – Herrinnen des Mondes Die Moderne hält Einzug Ein Mädchen, das also nicht die Hoffnung des Vaters auf einen Stammhalter erfüllt und das Mayya zum Entsetzen der älteren Generation „London" nennt, nach der westlichen Hauptstadt. Die Moderne hält in dem fiktiven Bergdorf nicht in Form von Reichtum Einzug, wenn auch das eine oder andere Auto durch den Roman fährt. Vielmehr sind es die Lebenswege, die sich verändern - vor allem der Frauen, die von Generation zu Generation selbstbestimmter werden. Jokha Alharthi tippt allerlei Tabus der omanischen Gesellschaft an, die zum Teil heute noch gelten, so Claudia Ott: „Es gibt in diesem Roman Protagonisten, die zum Beispiel Selbstmord begehen - ein absolutes Tabu im Islam. Zauberei und Hexenglaube, das im Islam ja auch völlig tabuisiert wird. Auch die Themen Behinderung, behinderte Kinder. Im Roman kommt ein Kind mit Down-Syndrom vor, das eine sehr positive Rolle spielt. Es gibt ein anderes Kind, das an Autismus leidet. Ein anderes tabuisiertes Thema ist das Thema Sklavenhandel, Sklaverei, Versklavung. Die wurde in Oman erst im 20. Jahrhundert offiziell abgeschafft." Veränderungen im Oman Die ehemalige Sklavin Sarifa ist eine zentrale Figur, ohne dass „Herrinnen des Mondes“ durch sie zu einem gesellschaftskritischen Roman über Sklaverei würde. Vielmehr erzählt Jokha Alharthi multiperspektivisch davon, wie sich die Veränderungen in Politik und Gesellschaft Omans über drei Generationen hinweg in die Schicksale der Menschen einschreiben. In 60 kurzen Kapiteln, in denen sie jeweils wichtige Momente im Leben ihres Personals erzählt, wechselt die Autorin rege zwischen den Figuren und Zeitebenen hin und her. Die Szenen sind anschaulich beschrieben und kunstvoll montiert. Jeder Figur haben Autorin und Übersetzerin einen eigenen Sprachduktus gegeben, und auch hier sticht die frühere Sklavin Sarifa heraus. Claudia Ott sagt dazu: „Die liebt es, Sprichwörter in ihre sonst relativ saloppe und ein bisschen derbe, aber sehr sympathische Redeform einzufügen. Und das hat großen Spaß gemacht, hier eine Sprache zu finden, mit der diese Sarifa sofort erkenntlich wird." Nach der Geburt des Mädchens provoziert die Sklavin Sarifa bewusst Mayyas Mutter Salma. „Das Sprichwort sagt: Wer dich liebt, den liebe wieder, und wer dich hasst, den hasse wieder, und wer dich nicht mehr sehen mag, den lasse lieber. Wie ich sehe", setzte sie schnippisch hinzu, „ist noch gar kein Besuch gekommen, dem wir Kaffee einschenken müssten. Gib mir das Mädchen", wandte sie sich an Mayya, „ich will ihm ein paar gute Wünsche mit auf den Weg geben."„Das Mädchen will jetzt gestillt werden", giftete Salma. Sarifa lächelte und zuckte leicht mit den Schultern, als wollte sie tanzen. Quelle: Jokha Alharthi – Herrinnen des Mondes Zitate aus der klassischen arabischen Literatur Jokha Alharthi, die selbst in Maskat arabische Literatur lehrt, legt den Figuren immer wieder Zitate aus der klassischen arabischen Literatur in den Mund, manchmal sogar Gedichte. Im Original klingt das zum Beispiel so: Auf Deutsch wirken diese Literatur-Zitate gerade so fremd, dass sie neugierig machen. Claudia Ott hat den Roman mit großer Umsicht übersetzt und ihm ein kenntnisreiches Nachwort hinzugefügt. Auf omanische dialektale Besonderheiten musste sich die Übersetzerin hingegen nicht einstellen, denn Jokha Alharthi hat ihren Roman auf Hocharabisch verfasst - wohl auch mit Rücksicht auf den arabischen Buchmarkt. „Es gibt ja so ein schönes Sprichwort: Kairo schreibt, Beirut druckt, Bagdad liest," meint Ott. „Das trifft auf fast ein ganzes Jahrhundert moderner arabischer Literaturproduktion zu vom Ende des 19. bis zum Ende des 20. Jahrhunderts. Und damals hat sich die Schriftsprache der Literatur doch ein bisschen vereinheitlicht, weil man eben darauf zielte, nicht nur im eigenen Land gelesen zu werden, sondern in der ganzen arabischen Welt." Mehr Literatur aus dem Oman Ein erster omanischer Roman liegt mit „Herrinnen des Mondes" nun also endlich auf Deutsch vor. Es gäbe aber noch so viel mehr Literatur aus und über Oman zu entdecken. „Es gibt einige Schriftsteller, die Themen aus Oman so aufarbeiten, dass ein Leser selbst aus dem Ausland das Gefühl hat: Ich bin hier heimisch, ich fühl mich hier wohl. Solche Dinge sind einerseits sehr regional, und sie spielen ganz eindeutig in Oman und man spürt auch diese heiße Luft, so eine Atmosphäre, die einem das Gefühl gibt, man wäre tatsächlich dort gewesen," weiß die Übersetzerin. „Es ist eine absolut faszinierende, große Menge an guter Literatur vorhanden."
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Aug 6, 2025 • 4min

Chloé Cruchaudet – Céleste. Es wird Zeit, Monsieur Proust

Das Prinzip, in Erinnerungen auch in den kleinsten Details zu schwelgen, hat Marcel Proust auf die Spitze getrieben. Sein Roman-Zyklus „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ hat sieben Bände. Auf zwei Bände beschränkt sich die Comiczeichnerin Chloé Cruchaudet. Ihre Graphic Novel „Céleste“ basiert auf den Erinnerungen von Prousts Haushälterin, Céleste Albaret. Sie hat mehrfach mit Reportern über ihre Zeit bei Proust gesprochen. Diese Interviews verwandelt Cruchaudet in eine visuell elegante wie kluge Erzählung über die letzten Lebensjahre des Schriftstellers.  Darin erzählt die alt gewordene Céleste ihre Geschichte statt Reportern einem Antiquitätenhändler-Paar, das auf der Jagd nach Proust-Andenken ist. In kurzen Episoden blicken wir zusammen mit der alten Frau ins Paris der 1910er Jahre zurück, in das abgedunkelte Haus des Autors, wo dicke Teppiche die Schritte dämpfen und Vorhänge den Asthmakranken vor der Stadtluft schützen. So penibel der Schriftsteller seine Szenen schildert, so genau ist auch Cruchaudets Darstellung von Architektur, Mode und Einrichtung. Gleichzeitig legt sie Wert auf Nuancen. Mit Aquarelleffekten in Grün und Lila fächert sie eine ganze Palette von Lichtstimmungen auf. Und wie in seiner Literatur fließen Bewusstseinsstrom und Handlung ineinander. Das beginnt schon mit dem für ihn typischen Erzählkniff: dem jähen Erinnern. Zu Beginn von Band zwei sehen wir Céleste als alte Frau in einem Sessel. Von oben nach unten schlängelt sich eine Lautmalerei über die ganze Seite und umschlingt ihre Gestalt wie ein Band. Es ist das langgezogene Pfeifen der Cafetiere - Proust hatte Célestes Kaffee gerühmt. Sofort hat sie die Zeit vor Augen, in der sie nach einem Konflikt gekündigt hatte – und Marcel Proust doch vermisste.  Ein Klang, ein Duft - und die Erinnerung kommt zurück  Nicht der Luxus fehlte mir, nachdem ich Monsieur verlassen hatte… sondern eher…eine Art von… von Feinheit…eine gewisse Vornehmheit…nicht nur in Manieren---auch darin, wie er sich der Welt völlig entziehen konnte … vor allem, wenn diese Welt ihm nicht zusagte.“  Quelle: Chloé Cruchaudet – Céleste. Es wird Zeit, Monsieur Proust Céleste hat einen Blick für den Wesenskern ihres Dienstherrn. Da überrascht es nicht, dass sie wenig später zu ihm zurückkehrt. Sie wird den immer kränklicher werdenden Autor zusammen mit ihrer Schwester betreuen und seinen Triumph miterleben: die Auszeichnung mit dem Prix Goncourt. Chloé Cruchaudet erzählt das in einer fließenden Folge von Anekdoten, wechselt innerhalb weniger Bilder von den 1910er Jahren in die 50er und zurück. Weil ihr Strich vor Schwung strotzt und Einzelbilder und Sprechblasen ohne festen Rahmen auskommen, liest sich das elegant und mühelos. Auch in der Ästhetik ist sie ganz Proustianerin.   Die Literatur durchdringt den Comic - und umgekehrt  Wobei sie dem Menschen hinter dem Autor mit liebevollem Spott begegnet. Etliche Szenen zeigen ihn in seiner Arroganz und Selbstverliebtheit. Aber als Comic-Figur wirkt er kümmerlich. Cruchaudet zeichnet ihn dürr wie ein Strichmännchen, mit ausschweifenden Gesten und einer Mimik, die ans Grimassenhaft grenzt. Was sie vergessen lässt, sobald er mit Céleste über seine Literatur spricht.  Proust: Das ganze Material, ich muss es zerpflücken, straffen, dehnen...versuchen, die ganze Schönheit zu extrahieren, indem ich ihm alle Aufmerksamkeit der Welt widme. Selbst den kleinsten, unbedeutendsten Momenten (...)  Céleste: Eine seltsame Arbeit ist das, die Sie da machen. Es ist, als ...versuchten Sie, die Zeit an den Haaren festzuhalten!“  Quelle: Chloé Cruchaudet – Céleste. Es wird Zeit, Monsieur Proust Wie sehr das Schreiben Prousts Leben und das von Céleste durchdringt, macht Chloé Cruchaudet sichtbar, wenn seine Notizen und Manuskripte sich in ihre Bilder drängen. Sogar Zitate aus „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" lässt sie als Textfetzen über die Seiten ziehen. Bisweilen beschwören sie wie in einer doppelt belichteten Fotografie eine Schattenwelt unter der realen Comic-Welt hervor, in herrlich bunten Farben. Treffender hat noch keine Graphic Novel den Zauber von Literatur eingefangen.
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Aug 6, 2025 • 4min

Richard Overy – Hiroshima. Wie die Atombombe möglich wurde

Es geht dem Historiker Richard Overy nicht nur um den fast schon mythischen Laborkomplex von Los Alamos und die schon oft erzählte Geschichte vom wissenschaftlichen Wettlauf zur einsatzfähigen Atombombe. Sein Buch beschäftigt sich zunächst mit den historischen Voraussetzungen der Eskalation des Luftkriegs gegen Japan.   Zwei Drittel der leicht gebauten japanischen Städte wurden schon vor den Atombomben in Schutt und Asche gelegt. Nie zuvor und danach starben in einem Krieg – wie beim verheerenden Angriff auf Tokio im März 1945 – 100.000 Menschen in nur drei Stunden. Dabei wäre diese Entfesselung der Zerstörungskraft wenige Monate zuvor noch nicht möglich gewesen; zu groß waren die Reichweitenprobleme und die Pannenanfälligkeit des neuen B-29 Langstreckenbombers. Zudem erwies sich die Taktik der Angriffe mit Sprengbomben aus großen Höhen als wenig effektiv.   Eskalation des Luftkriegs  Die Wende kam, als niedrig fliegende Bomberverbände mit Unmengen der in Harvard entwickelten Napalm-Brandbomben Feuerstürme erzeugten. Nun endlich konnte die US-Luftwaffe ihre Wirksamkeit unter Beweis stellen.   Einer der Gründe, warum Luftwaffenchef Arnold Flächenbombardements so sehr gefielen, waren die öffentlichkeitswirksamen Bilder, die er der amerikanischen Bevölkerung, den Politikern und den Chefs der rivalisierenden Teilstreitkräfte präsentieren konnte. Quelle: Richard Overy – Hiroshima. Wie die Atombombe möglich wurde Den US-Bürgern war nach dem Kriegsende in Europa kaum zu vermitteln, dass bei der Eroberung der erbittert verteidigten japanischen Hauptinseln noch eine weitere Million Soldaten sterben würde. Stattdessen sollten die Japaner, die als „fanatische Wilde“ oder menschliches „Ungeziefer“ bezeichnet wurden, zur Kapitulation gebombt werden.   Wissenschaftlich-militärische Großtaten?  Bis heute werden die Angriffe auf Hiroshima und Nagasaki in den Vereinigten Staaten deshalb als wissenschaftlich-militärische Großtaten gesehen, weil sie den Krieg verkürzten und so letztlich viele Leben retteten. In den damaligen US-Medien wurden die getroffenen Städte fälschlich als Ballungen militärischer Infrastruktur dargestellt und der Atomtod als eine vergleichsweise schöne und schnelle Art zu sterben. Die Zeitzeugenberichte, die Richard Overy anführt, vermitteln dagegen Eindrücke unfassbaren Grauens.   Waren diese Massaker militärisch wirklich notwendig? Overy zeigt, dass von japanischer Seite längst Friedensfühler ausgestreckt worden waren, auch wenn die Hardliner-Generäle weiter nur den Kampf bis zum Sieg oder Untergang kannten. Es gab aber auch eine „Friedensfraktion“, die den aussichtslosen Krieg beenden wollte, sofern der Begriff „Kapitulation“ vermieden würde. Auch aufgrund von kulturellen Differenzen wurden sie von den Amerikanern aber nicht richtig verstanden und ernst genommen.   Die Rolle der Sowjetunion  Zudem machten die Japaner den Fehler, als Vermittler die Sowjetunion einzuschalten. Stalin wollte jedoch die sich abzeichnende Niederlage Japans rasch noch für eigene Eroberungen nutzen. Angesichts der Atombombe begann sich das Zeitfenster zu schließen. Deshalb erklärten die vermeintlichen Vermittler den Japanern am 8. August den Krieg.   Die unerwartete Truppenmobilität und Feuerkraft der Roten Armee führte zu einer Art ostasiatischem Blitzkrieg. Innerhalb weniger Stunden waren die japanischen Verteidigungslinien durchbrochen und überrannt.   Quelle: Richard Overy – Hiroshima. Wie die Atombombe möglich wurde Das gab letztlich den Ausschlag. Die Japaner akzeptierten die Bedingungen der Amerikaner, bevor womöglich Teile ihres Landes dem kommunistischen Machtbereich einverleibt wurden. Vor Stalin hatten sie noch größere Angst als vor der Atombombe. Die Niederlage Japans war mit dem Eingreifen der Sowjetunion endgültig besiegelt und der Angriff auf Nagasaki einen Tag später militärisch nicht mehr gerechtfertigt, folgert Richard Overy. Seinem Buch gelingt es, auf knappem Raum viele Aspekte der Atombombenabwürfe abzuhandeln – als technischem Durchbruch und historischem Bruch zugleich.

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