SWR Kultur lesenswert - Literatur

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Aug 5, 2025 • 4min

Niko Paech – Befreiung vom Überfluss. Das Update | Buchkritik

Niko Paech polarisiert – und das nicht erst seit Kurzem. Der prominente Vordenker der Postwachstumsökonomie schaffte es einmal sogar auf die Titelseite der Bild-Zeitung – als Symbolfigur einer vermeintlich rückwärtsgewandten Wohlstandsverweigerung. Dabei formuliert Paech lediglich eine Erkenntnis, die in Umwelt- und Klimawissenschaften längst als Konsens gilt: Unendliches Wachstum ist auf einem endlichen Planeten nicht möglich. Was simpel klingt, hat weitreichende Konsequenzen.  Ein Programm zur Wiedererlangung der ökologischen Überlebensfähigkeit der menschlichen Zivilisation käme niemals ohne merklich veränderte Lebensführung zu Stande.“  Quelle: Niko Paech – Befreiung vom Überfluss. Das Update Ernüchternde Bilanz  In der aktualisierten Neuauflage seines erstmals 2012 erschienenen Werks Befreiung vom Überfluss zieht Paech ernüchtert Bilanz. In den vergangenen 13 Jahren habe sich kaum Grundlegendes verändert – weder durch grüne Regierungsbeteiligungen noch durch internationale Klimaabkommen.  Paech fordert einen radikalen kulturellen Wandel: Weg von Konsum, Globalisierung und fossiler Bequemlichkeit – hin zu Genügsamkeit, Regionalität und Selbstversorgung. Es sind weder neue Technologien noch globale Gipfel, die uns retten werden, so seine Überzeugung. Nötig sei vielmehr ein bewusster Rückbau unseres Konsumstandards – zumindest in den wohlhabenden Ländern.  Was sagt es über das kulturelle und moralische Niveau einer Zivilisation aus, die in einem historisch einmaligen Wohlstand schwelgt, vom Untergang bedroht ist, aber ausgerechnet dort stetig neue Rekorde an ökosuizidalem Gebaren zelebriert, wo es um den unnötigsten Pomp geht, der noch vor kurzem undenkbar war? Das betrifft den Konsum und den damit verbundenen Güterverkehr infolge des ausufernden Internethandels, aber erst recht die globale Mobilität und den Tourismus, insbesondere Kreuzfahrten und Flugreisen.“  Quelle: Niko Paech – Befreiung vom Überfluss. Das Update Die Rolle des Eigentums  Paechs Kritik trifft auch linke Bewegungen. Denn sie, so sein Vorwurf, hielten ebenso an der Logik des Wachstums fest – und legitimierten damit einen Lebensstil, der auf Kosten anderer geht, vor allem im globalen Süden.  Doch das greift zu kurz. Erstens: Wachstumskritik und Forderungen nach Arbeitszeitverkürzung sind längst auch in ökosozialistischen und anderen linken Umweltbewegungen angekommen. Und zweitens lenkt Paech damit von einer Leerstelle in seinem Modell ab: Eigentums- und Klassenverhältnisse spielen bei ihm allenfalls eine marginale Rolle – obwohl gerade sie darüber entscheiden, wer sich Verzicht leisten kann und wer nicht.   Die bisherige Abhängigkeit vom Markt würde lediglich durch eine solche vom Staat ersetzt, der komplett damit überfordert wäre, die Wirtschaft zentral zu planen.“  Quelle: Niko Paech – Befreiung vom Überfluss. Das Update Zwar erwähnt Paech alternative Eigentumsformen wie Verantwortungseigentum oder gemeinschaftsgetragenes Unternehmertum – aber die Bedeutung dieser wohlfeilen Begriffe bleibt nebulös. Ebenso die Frage, wie gesellschaftlich notwendige Arbeit – etwa Pflege oder technischer Infrastruktur – in einer Postwachstumsökonomie gewährleistet werden soll.  Erschöpfte Gesellschaft  Trotzdem beeindruckt das Buch an vielen Stellen – und trifft den Nerv einer Gesellschaft, die zunehmend erschöpft scheint.  Menschen kommen nicht mehr zur Ruhe, weil sie aus Angst, etwas zu verpassen, ununterbrochen auf Displays schauen und sich damit dem Druck aussetzen, jegliche Informationen zu verarbeiten. Unter dem Regime der Zeitknappheit hat das Wachstum der individuellen Möglichkeiten einen verheerenden Preis, nämlich Daueranspannung und Oberflächlichkeit – beides befördert eher einen Burnout als eine höhere Lebensqualität.“  Quelle: Niko Paech – Befreiung vom Überfluss. Das Update Verantwortung statt Hedonismus lautet Paechs Maxime. Ob man seine Vision teilt oder nicht – sie lässt sich nicht einfach abtun. Befreiung vom Überfluss ist ein unbequemes, aber wichtiges Buch. In Zeiten dominanter rechter Narrative und ihrer Scheindebatten erinnert es eindringlich daran: Ohne einen Bruch mit unseren gewohnten Denk- und Lebensmustern wird eine echte ökologische Wende nicht gelingen.
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Aug 5, 2025 • 4min

Hisashi Tôhara - Hiroshima. Eine Stimme aus der Hölle

Es gibt Zeitdokumente, die nicht altern. Die Erinnerungen des Japaners Hisashi Tôhara an den Abwurf der Atombombe auf Hiroshima am 6. August 1945 sind ein solches Zeitdokument.  Erst jetzt, zum achtzigsten Jahrestag des Bombenangriffs, sind Tôharas Erinnerungen zum ersten Mal auf Deutsch zu lesen. Diese Aufzeichnungen zeigen, wie tief und nachhaltig die von den USA entwickelte Atombombe auf das Leben der Japaner einwirkte.  Im Sommer 1945 ist der Autor Hisashi Tôhara ein 18-jähriger Teenager, voller Stolz auf seinen neuen Status als Oberschüler, den er sich als „übermenschliches Wesen“ vorstellt, „ein von der Gemeinheit gewöhnlicher Menschen enthobener Held“. Dieses Ideal wird die Atombombe zerstören.   Eine neue Form der Kriegsführung  Die unfassbare Katastrophe trifft die Stadt Hiroshima an einem wolkenlosen Sommermorgen um 8:15 Uhr buchstäblich aus heiterem Himmel.   Hisashi Tôhara sitzt an diesem schicksalhaften Montagmorgen mit einem Schulkameraden im Zug, weil er zu seiner evakuierten Familie in ein Dorf bei Hiroshima fahren will. Die Schilderung der unbeschwerten Unterhaltung zwischen den beiden Schülern lässt die ungeheure Fallhöhe des Absturzes aus dem Alltag erahnen. Plötzlich scheint die Welt einen Sprung zu machen.   Mit einem Mal wurde es um mich herum so hell, dass die Augen geblendet waren. Zeitgleich mit einem Grollen, als würde die Erde sich bewegen, spürte ich einen brennenden Schmerz im Nacken. Eine Überschwemmung von Licht, es fließt über und flutet Himmel und Erde und bricht als Sturzflut aus dem Fenster hinter mir herein.   Quelle: Hisashi Tôhara - Hiroshima. Eine Stimme aus der Hölle Der Krieg zwischen den USA und Japan dauerte zu diesem Zeitpunkt bereits über drei Jahre. Feindliche Flugzeuge und die Bombardierung Tokios sind dem Autor durchaus bekannt. Dass der Einsatz einer Atombombe eine vollkommen neue, unvorstellbare Dimension von kriegerischer Auseinandersetzung bedeutet, machen die Erinnerungen des 19-jährigen Autors auf erschreckende Weise deutlich.  Was passiert gerade? Eine Zugstörung? Kaum, dass ich das hatte denken können, verschwand schlagartig das Licht und tiefschwarzer Rauch umhüllte alles. Als der Rauch sich langsam verzog, fand ich mich auf der Straße wieder. Die umgebenden Häuser waren alle platt zusammengefallen. Ich fühlte mich, als wäre ich in ein völlig fremdes Land gekommen.  Quelle: Hisashi Tôhara - Hiroshima. Eine Stimme aus der Hölle Leben nach der Atombombe  „Eine Stimme aus der Hölle“ ist der Untertitel dieser Aufzeichnungen, der die gespenstische Flucht der beiden Schüler durch das tobende Flammeninferno Hiroshimas beschreibt. Hisashi Tôhara überlebte diese Flucht denkbar knapp. Seine Vorstellungen von Mitmenschlichkeit und Moral traten immer stärker in Konflikt mit seinem Selbsterhaltungstrieb. Dem ersten Hilferuf einer verzweifelten Mutter, deren Kind unter Haustrümmern eingeklemmt war, folgte er noch und verurteilte die Verantwortungslosigkeit seines fliehenden Schulkameraden. Aber seine Todesangst inmitten des Flammenmeeres überwältigte ihn zunehmend.   Ich hörte die Stimme eines Mannes, »Hilfe!«, » Hilfe!«, von einem eingestürzten Haus links. Trotz starker Gewissensbisse hielt ich nicht einmal an. Sogar jetzt leide ich immer noch unter schweren Schuldgefühlen. Ich kann meinen traurigen Selbsthass nicht unterdrücken, wenn mir bewusst wird, dass die Haltung, die in solchen Momenten zum Vorschein kommt, mein wirkliches, unverfälschtes Wesen ist.  Quelle: Hisashi Tôhara - Hiroshima. Eine Stimme aus der Hölle Der Schrecken Hiroshimas, sagt der Historiker Patrick Boucheron, beruht auf zwei unvereinbaren Zeiterfahrungen: Der Plötzlichkeit des Augenblicks und der Endlosigkeit des Sterbens, das in gewisser Weise bis heute andauert.  Die gut lesbare Übersetzung macht die Aufzeichnungen des jungen Hisashi Tôhara auch zu einer empfehlenswerten Schullektüre. Wie kriegsentscheidend der Einsatz der Atombombe wirklich war und ob dadurch weitere Kriegsopfer verhindert wurden, halten Historiker heute für zweifelhaft.
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Aug 5, 2025 • 6min

Katie Kitamura – Die Probe

Katie Kitamura jongliert in ihren Romanen gern mit Ansichten der Realität. Was geschieht wirklich, was beruht auf Missverständnissen, Einbildung oder gar Selbstbetrug? Wie zuverlässig ist die Erzählstimme? Auch ihr neues Buch „Die Probe“ bringt die Leser gehörig durcheinander. Die Ausgangssituation scheint allerdings eindeutig. Eine Schauspielerin Ende vierzig trifft sich während einer Probenpause mit einem halb so alten Mann in einem New Yorker Restaurant. Der Empfangskellner erkundigte sich nach meiner Reservierung. Ich erklärte, ich sei verabredet, und zeigte auf den jungen Mann hinten im Restaurant. Xavier. Dieser Empfangskellner, ging mir auf, hatte ihn vermutlich an dem ungastlichen Tisch platziert, und noch während ich hinzeigte, bemerkte ich seine Verblüffung. Sein Blick glitt von meinem Gesicht zu meinem Mantel, zum Schmuck. Es war vor allem mein Alter. Das war es, was ihn verwirrte. Er lächelte knapp und bat mich, ihm zu folgen. Dazu war ich in keiner Weise gezwungen, ich hätte einen Irrtum oder eine Verpflichtung vorschützen, kehrtmachen und mich hinausstehlen können. Nur schien es inzwischen zu spät zu sein [...]. Quelle: Katie Kitamura – Die Probe Was Xavier von der namenlosen Ich-Erzählerin will, wird erst viel später benannt, aber sie nimmt sein Anliegen wahr als ebenso dringlich wie unerfüllbar. Spezialistin für das Innenleben der anderen Von außen betrachtet könnte es sich um einen asymmetrischen Flirt handeln – vielleicht doch eine Versuchung für sie? Darauf deutet hin, dass sie sich nicht bemerkbar macht, als ihr Ehemann überraschend das Lokal betritt, nur um gleich wieder zu verschwinden. Was sie wiederum ins Grübeln bringt, ob sie ihn womöglich nicht so gut kennt, wie sie denkt. Und dabei ist es doch ihre Spezialität, das Innenleben anderer zu ergründen. Glaubt sie jedenfalls. Ich hatte von Kindesbeinen an dazu geneigt, mein Gesicht gegen die Scheibe zu drücken, um die Geheimnisse anderer Menschen zu ergründen, zugleich aber auch den Impuls, mich selbst zu schützen. Falls nötig, konnte ich rasch und vehement Grenzen ziehen, dichtmachen und mich zurückziehen. Quelle: Katie Kitamura – Die Probe Kitamura braucht 35 Seiten ihres insgesamt keine 180 Seiten umfassenden Romans, bis sie zum springenden Punkt kommt: Xavier hält die Ich-Erzählerin für die Frau, die ihn einst zur Adoption freigegeben hat – was absolut unmöglich ist, wie sie ihm und den Lesern nachdrücklich klarmacht. Wie verschiebt sich das Eindeutige ins Uneindeutige? Das spannungsgeladene Treffen im Restaurant, ihre Unterstellung, Gäste und Kellner hielten sie für die Liebhaberin des jungen Mannes, die Beschreibung ihres angeblich harmonischen Ehelebens – schon diese Exposition ist angetan, die Leserin mit neugierig-unbehaglicher Bewunderung zu erfüllen. Welche der luziden Behauptungen und unmissverständlichen Beobachtungen der Erzählerin stimmen denn nun? Wo verschiebt sich das Eindeutige ins Uneindeutige? Wie werden sich die Rätsel und Widersprüche auflösen? Genauso ungemütlich geht es weiter in diesem ersten Teil des Romans. Xavier akzeptiert die Zurückweisung klaglos, bekommt aber überraschend einen Job als Assistent der inszenierenden Regisseurin, macht sich unverzichtbar, tritt tatsächlich auf wie ein untadeliger Sohn. Ein Zustand quälender Beklommenheit Erzählt wird in dialogischen und stummen Szenen und in detailreichen Nahaufnahmen, durchschossen von Rückblenden, im Wechsel mit Überlegungen der Erzählerin, quasi aus dem Off. Die Wirkung entspricht der eines Theaterstücks, das sie einst fasziniert hat: In jeder Szene entwickelte sich Spannung, obgleich wenig geschah und wenig gesprochen wurde, der Druck nahm stetig zu, und am Ende merkte ich, dass ich mich geraume Zeit in einem Zustand quälender Beklommenheit befunden hatte, beim Verlassen des Theaters war ich zugleich euphorisiert und ausgelaugt, vibrierte jeder Nerv meines Körpers. Quelle: Katie Kitamura – Die Probe Den Übergang zum zweiten Teil des Buchs markiert eine Kippfigur, die Grundvoraussetzung des ersten Teils ist plötzlich ins Gegenteil verkehrt. Xavier wird nun nämlich von der Erzählerin und deren Mann als gemeinsamer Sohn angesehen und auch so behandelt. Als er seine Wohnung verliert, zieht er bei ihnen ein, bringt sogar seine Freundin mit. Nach und nach legen die beiden jungen Gäste raumgreifend das wohlgeordnete Leben ihrer Gastgeber in Trümmer. Die Familienkonstellation löst sich auf in einer zunehmend absurden Farce, die an Theaterstücke von Roger Vitrac oder Yasmina Reza erinnert. Wenn das Vexierspiel auf die Spitze getrieben wird Doch dem Eklat folgt noch eine Pointe. Xavier, der zeitweise verstoßene Sohn, kehrt zurück, im Gepäck ein selbstgeschriebenes Stück. Ein Monolog. Die nächste Frage entwich mir, bevor ich mich bremsen konnte. Wer spricht ihn? Er nickte, als hätte er diese Frage erwartet, und ich wusste, er spürte genau wie ich, wie begierig ich war. Eine Frau deines Alters, in mancher Hinsicht auch deiner Veranlagung, sagte er. Eine Frau, die nicht mehr zu unterscheiden weiß, was real ist und was nicht. Quelle: Katie Kitamura – Die Probe Ist damit die Sache klar? Mitnichten. Kitamura treibt das Vexierspiel einfach weiter auf die Spitze. So bekommt das Buch etwas von einem unendlichen Möbiusband, das den Geist fesselt, lange nachdem die letzte Seite gelesen ist. Es geht nicht nur darum, was Identität sein kann für jemanden, der beruflich in die unterschiedlichsten Rollen schlüpft. Was, wenn unsere sozialen Rollen letztlich nicht mehr als Rollen-Spiele wären? Wie sehr sind wir bestimmt davon, wie andere uns wahrnehmen? Wie verlässlich ist das, was wir uns über uns selbst erzählen? Und was bedeutet es, dass wir nichts als Sprache haben, um diesen Abgrund der Ungewissheit zu überbrücken? Katie Kitamuras kühlen und klugen Roman „Die Probe“ zu lesen, ist wie über brechendes und immer neu gefrierendes Eis auf einem dunklen See zu laufen, wie in einem Traum. Ein schrecklich-schönes Lektüreerlebnis.
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Aug 4, 2025 • 4min

„Der unsterbliche Weil“: Eine außergewöhnliche Novelle von Maxim Biller

Die Novelle beginnt mit einem Spaziergang. Der tschechische Schriftsteller Jiří Weil läuft im April 1956 in großer Unruhe durch Prag, vorbei an der Pinkas-Synagoge, hin zur Moldau und denkt über sein wechselvolles Leben nach. Als er an der Konditorei vorbeikommt, die Cremeschnitten und Windbeutel selbst in schlimmsten Krisenzeiten anbot, erinnert er sich an die „Hasenjagd der Deutschen auf ihn“ und dass er im Mai 1945 „erschöpft und ausgemergelt“ in das Geschäft gegangen war.   Er hatte den halben Laden leer gegessen und eine Viertelstunde später draußen alles wieder – wankend und röchelnd – auf das elegant gemusterte Jugendstilpflaster des Bürgersteigs in der Pariser Straße erbrochen. Quelle: Maxim Biller – Der unsterbliche Weil Nur im Flüsterton darf er vom Überleben berichten Eine nachvollziehbare Reaktion, wenn man bedenkt, dass der 1900 geborene Autor in den Jahren zuvor mindestens zweimal hätte sterben sollen. 1935 wollten ihn die Stalinisten umbringen, weil er, der kommunistische Humanist, es gewagt hatte, die Führung in Moskau zu kritisieren. Sein Schriftstellerfreund Julius Fučík, ein linientreuer Parteisoldat, konnte die Todesstrafe gerade noch verhindern. Aus der Verbannung in die Heimat zurückgekehrt, begann der Terror der Nazis. Mit einem Trick, nämlich durch einen inszenierten Selbstmord, hat der jüdische Weil auch die deutsche Besatzung überlebt. Später will selbst die eigene Familie nichts davon wissen, nur im Flüsterton darf er vom Überleben berichten.   Wenn du so schreist, kann dich die ganze Stadt hören. Das ist keine schöne Geschichte, weißt du. Selbstmord ist bei uns Juden verboten, sogar wenn er gespielt ist. Also, bitte, sei leise. Quelle: Maxim Biller – Der unsterbliche Weil Statt nach dem Krieg endlich der literarischen Bestimmung folgen zu können, wurde Jiří Weil weiterhin ausgegrenzt. Aus dem Schriftstellerverband hatten ihn die Genossen geworfen, aber jetzt, inmitten Chruschtschows Tauwetter, beraten die folgsamen Funktionäre, ob sie den Verstoßenen „endlich wieder in ihren strengen Dichterklub aufnehmen“. Melancholische und federleichte Prosa Auf dem Gang durch die Heimatstadt kommt Weil schließlich an einer Telefonzelle vorbei. Soll er beim Kulturminister anrufen und sich erkundigen, wie es um seinen Fall bestellt ist? Kann er die mühsame Archivarbeit im Jüdischen Museum endlich aufgeben, um nichts als schreiben zu können? Der in Prag geborene Maxim Biller erinnert mit „Der unsterbliche Weil“ an einen Schriftsteller, der laut Philip Roth mit „Leben mit dem Stern“ einer „der herausragendsten Romane über das Schicksal der Juden unter den Nazis“ geschrieben hat, der aber heute, vor allem in Deutschland, weitgehend vergessen ist. Jenseits der literarischen Erinnerungsarbeit geht Biller in seiner melancholischen und zugleich federleichten Prosa der grundsätzlichen Frage nach, was literarisches Schreiben ausmacht. Jiří Weil führt auf seinem Spaziergang durch Prag ein Zwiegespräch mit einem Toten, nämlich mit Autorenfreund Julius, den die Nazis in Plötzensee ermordeten. Julius wollte die Welt mit Worten verändern; er war ein schreibender Aktivist. Dementsprechend wurde er im Ostblock gefeiert. Für Jiří Weil – wie ihn Biller entwirft – geht es in der Literatur um etwas völlig anderes:   Man kann nur davon erzählen, wie schön alles ist, auch wenn es schrecklich ist. Quelle: Maxim Biller – Der unsterbliche Weil Eine außergewöhnliche Novelle In solchen Zeilen lässt sich gewiss eine literarische Selbstverortung Billers mitlesen, dem mit „Der unsterbliche Weil“ eine außergewöhnliche Novelle gelungen ist. Die „unerhörte Begebenheit“, die für jene Textgattung charakteristisch ist, könnte in der ungeheuerlichen Anmaßung bestehen, über das Schicksal eines Schriftstellers richten zu wollen, der stets nur Opfer der Verhältnisse war. Jiří Weil erkennt schließlich, dass die Entscheidung der Bürokraten unerheblich ist für seine Autorenidentität. Die Unsterblichkeit des leider doch sterblichen Weil bezieht sich vor allem auf das Werk, das den Tod des Schöpfers überleben kann. Mit seiner außergewöhnliche Novelle zeigt Maxim Biller, was für ein herausragender Schriftsteller auch er ist.
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Aug 1, 2025 • 6min

Schonungslos und anrührend: Sylvie Schenks neuer Roman „In Erwartung eines Glücks“

Von der ersten Zeile an ist Druck auf diesem Roman. Man spürt die Dringlichkeit, von der er angetrieben ist. Mit dem Alter, so schreibt Sylvie Schenk, wächst die Ungeduld. Die Zeit läuft einem davon, gerade, wenn man das mögliche Ende vor Augen hat. Genau so geht es Irène, der Protagonistin von Schenks neuem Roman. Irène hat plötzlich Sehstörungen, findet die Worte nicht mehr, spürt Taubheit im Arm. Ein Freund kommt vorbei und rast mit Irène in die Klinik: Ihr war danach, alles mit sich geschehen zu lassen, im Augenblick verharrend, sah sie die Hausreihen und Bäume vorbeiflutschen. Sie wusste längst, dass Ängste sich nur im Zaum halten lassen, wenn man die Zukunft ignoriert, die Vergangenheit ausblendet und sich in der Gondel der Gegenwart schaukeln lässt: Ich bin da, noch atme ich.“ Quelle: Sylvie Schenk – In Erwartung eines Glücks Lebensbilanz im Krankenhaus Man sollte, das ist eine alte Weisheit, ein Buch niemals nach dem Cover beurteilen. Im Fall von „In Erwartung eines Glücks“ – allein schon der Titel führt in die Irre – sieht man ein paar verschwommene Blumen auf pastellfarbenem Grund. Harmlos. Der Roman ist jedoch alles andere als das. Sylvie Schenk ist 81 Jahre alt. Sie hat großartige Romane wie „Eine gewöhnliche Familie“ oder „Maman“, mit dem sie 2023 auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis stand, geschrieben. Doch erst das neue Buch zeigt, wie radikal, wie ungeschützt im besten Sinne Sylvie Schenks Literatur ist. Hier steht ein Mensch am Ende seines Lebens buchstäblich nackt vor uns. Oder genauer gesagt: Nur noch im Krankenhaushemd. Denn dort, im Krankenhaus, spielt der gesamte Roman. Die befürchtete Diagnose Schlaganfall bewahrheitet sich bei Irène nicht, stattdessen wird eine Hirnhautentzündung festgestellt; Irène verbleibt zur Beobachtung zunächst einmal in der labyrinthähnlich geschilderten Klinik. Überlagerungen von Realität und Erfindung Irène ist Schriftstellerin; ihr Name, so rutscht es ihr einmal gegenüber ihrer noch jugendlichen Zimmergenossin heraus, ist ein Pseudonym. In Wahrheit heißt sie Syl, wie die Autorin selbst auch. „In Erwartung eines Glücks“ spielt permanent mit derartigen Überlagerungen von Realität und Erfindung. Der Klinikaufenthalt ist Anlass für eine Selbstreflexion, für eine Lebensbilanz, die nicht eben freundlich ausfällt: Wie sah ihr schriftstellerisches Leben aus? Die Suche nach einer Identität war Thema all ihrer Romane, aber nach einem Dutzend Bücher war sie keinen Schritt weitergekommen. Und vielleicht hatte sie nur deshalb ihr Leben dem Schreiben gewidmet: um unter den vielen Pseudo-Synonymen das ursprüngliche Wort zu finden. Oder, um auf hohem Niveau zu lügen.“ Quelle: Sylvie Schenk – In Erwartung eines Glücks Ein Houellebcq-Wiedergänger in Grün „In Erwartung eines Glücks“ ist ein Buch über das Altern, den Verfall und auch über Abschiede – und dennoch ist die Atmosphäre nicht durchgehend bedrückend. Sylvie Schenk verfügt über einen feinen Humor und über einen Sinn für das Absurde. Beides zeigt sich in den Dialogen zwischen Irène und ihrer Zimmergenossin Ada und in den Gesprächen mit einem Mitpatienten, den Irène nur den „Froschmann“ nennt: grüner Bademantel, grüne Monster-Hausschuhe. Irène erkennt in ihm einen Wiedergänger von Michel Houellebecq. Dessen letzten Roman „Vernichten“ liest sie gerade mit Begeisterung. Er gilt als Houellebecqs menschenfreundlichstes Buch, als eine Intervention gegen Altersdiskriminierung. Man sieht: Die Motive in „In Erwartung eines Glücks“ sind sorgfältig verzahnt. Ein Leben in Andeutungen und Erinnerungsfragmenten erzählt Sylvie Schenks große Kunst besteht darin, in Andeutungen und Erinnerungsfragmenten im Grunde ein ganzes Leben zu erzählen. Schenks Lesergemeinde kennt Episoden dieses Lebens aus ihren vorangegangenen Büchern: Aufgewachsen ist Irène, Jahrgang 1944, in den französischen Alpen und in einem lieblosen familiären Umfeld. Nach der Hochzeit mit einem Deutschen, zu dieser Zeit noch eine Zumutung für beide Familien, kam sie nach Deutschland, arbeitete als Lehrerin und Übersetzerin, bevor sie sich getraute, sich Schriftstellerin zu nennen. Die Ehe mit Johann, dem Deutschen, startete euphorisch, um alsbald in Routine und Gleichgültigkeit zu versanden. So jedenfalls Irènes Empfinden: Sie hoffte aber noch immer, dass ihr Mann endlich mit ihr sprechen würde, und nicht nur über die Einkaufsliste. Sie hoffte es viele, viele Jahre lang. Die Hoffnung starb nie. Er aber.“ Quelle: Sylvie Schenk – In Erwartung eines Glücks 20.000 Nächte gemeinsames Ein- und Ausatmen Ja, Johann ist tot. Gestorben nach mehr als 50 Jahren Ehe. Im Grunde ist das der Erzählanlass für „In Erwartung eines Glücks“. Die Lücke. Und die existentiellen Fragen, die sich damit verbinden: Was bleibt, wenn einer geht? Welche Umstände bestimmen eine Biografie? Wovon lebt eine Ehe? Hausbau, Geschlechtsverkehr, Kindererziehung, so denkt Irène, sind nichts gegen fast zwanzigtausend Nächte gemeinsamen Ein- und Ausatmens. Das ist nur eine der vielen schönen kleinen Beobachtungen und Formulierungen in diesem Buch, das sich auch als ein später Erkenntnisroman lesen lässt. Irène, noch immer in der Klinik, schreibt ihrem verstorbenen Mann eine kurze Nachricht: Du warst tief in mir eingeschrieben, und ich wusste es nicht. Noch ist es früh in der Nacht, und ich denke an dich, denken ist zu viel gesagt, träumen ist auch falsch, ich spiele magisches Denken, taste mich an dich heran, spiele Blinde Kuh in Liebe, ich rufe dich herauf, streichle dich oder deine Schemen, ich vermisse dich.“ Quelle: Sylvie Schenk – In Erwartung eines Glücks Der Wunsch, sich mit der Welt zu versöhnen Nichts daran ist sentimental, allenfalls getragen von dem Wunsch, sich mit der Welt zu versöhnen. Einen Weg und eine Sprache dafür zu finden. „In Erwartung eines Glücks“ ist gerade wegen der Schonungslosigkeit, mit der hier ein Leben rekapituliert wird, ein anrührendes Buch, an dessen Ende Irène über den Kauf neuer Turnschuhe nachdenkt. Möge sie sie noch lange benutzen können.
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Aug 1, 2025 • 9min

Warum wir eine Männeraugen verspeisende Serienmörderin irgendwie gut verstehen können

Wenn es zuhause bei Ji-won zum Abendessen Fisch gibt, bekommen sie und ihre jüngere Schwester Ji-hyun Schweißausbrüche vor Ekel. Ihre Mutter hat eine ganz ungewöhnliche Angewohnheit: Sie verspeist mit großer Leidenschaft Fischaugen. Denn die Augen, sagt sie, sind das Beste: Sie nimmt eines der Stäbchen und sticht damit in den Fischkopf. Ji-hyun macht ein Geräusch, das irgendwo zwischen keuchen und würgen liegt. Ein paar Sekunden später hält Umma beide Stäbchen hoch, damit Ji-hyun und ich die kleine, weiße Kugel sehen können, die zwischen den schmalen Metallspitzen klemmt. Sie hat ein triumphierendes Funkeln in den Augen und bevor wir reagieren können, steckt sie sich das Ding in den Mund. »So köstlich!« Sie zeigt uns ihre leere Zunge. Die silbrige Füllung ihrer Zähne schimmert im Licht. »Seht ihr? Eure Umma lügt nicht. Ihr zwei verpasst was.« Quelle: Monika Kim – Das Beste sind die Augen Fischaugen bringen Glück Es soll Glück bringen Fischaugen zu essen, sagt eine alte Weisheit in Korea. Zuhause in Los Angeles können Ji-won, ihre Mutter und ihre Schwester gerade eine große Portion Glück gebrauchen: Der Vater hat nämlich die Familie von heute auf morgen verlassen. Ji-wons Mutter ist erschüttert. Wochenlang sind ihre Tage gefüllt mit Warten und Weinen. Ihre Töchter können diese Passivität nicht ertragen. Ji-won ist im ersten Semester an der Universität zudem so eingespannt, dass sie kaum Kraft hat, sich um ihre trauernde Mutter zu kümmern. Stattdessen wirft sie ihrer Mutter insgeheim vor, dass sie sich so abhängig von einem Mann gemacht hat. Und sich schon bald einem Neuen an den Hals wirft: George. It-Berater, stolzer Republikaner. Er hat braune Haare, blaue Augen und, und das erschüttert die Schwestern, eine weiße Hautfarbe. Wie kommt es, dass du einen weißen Mann in einem koreanischen Laden kennengelernt hast?«, frage ich. »Ich weiß, es klingt verrückt, aber George ist ein besonderer Mann. Ich habe noch nie jemanden wie ihn getroffen. Er weiß andere Kulturen zu schätzen und die koreanische mag er besonders, weil er in Seoul stationiert war. Er spricht sogar unsere Sprache! Ist das nicht toll?« Quelle: Monika Kim – Das Beste sind die Augen Aber schnell stellt sich raus: Der vermeintlich weltoffene George interessiert sich nicht für asiatische Kultur, sondern für asiatische Frauen. Er fetischisiert sie, macht sie zu Objekten seiner sexuellen Fantasien. Die Namen der beiden Schwestern Ji-won und Ji-hyun kann er nicht aussprechen und gibt ihnen kurzerhand Spitznamen. Er nennt sie „kleine, orientalische Mädchen“ und gafft sie unverhohlen an. Georges stechender Blick ist ständig auf Ji-hyun und mich gerichtet. Er beobachtet uns. Bewertet uns. Legt uns frei, Schicht für Schicht. Er sieht hungrig aus, als wären wir seine Beute. Manchmal, wenn ich mich umdrehe und ihn beim Starren ertappe – und er nicht einmal den Anstand hat, wegzusehen –, dann sehe ich seine Augen und muss an meinen Traum denken. Quelle: Monika Kim – Das Beste sind die Augen Feministischer Horror-Roman In Ji-won wächst die Wut. Und ein Hunger, der ihr Angst macht: Sie hat es auf Georges eisblaue Augen abgesehen. Traum und Realität verschwimmen in „Das Beste sind die Augen“, wenn Ji-won sich ausmalt, wie sie langsam und präzise Georges Augen aus ihren Höhlen löst und verspeist. Brutal und auch ziemlich ekelig ist diese Fantasie, die, so viel sei schon mal verraten, keine Fantasie bleiben wird. Die koreanisch-amerikanische Autorin Monika Kim hat mit ihrem Debütroman einen Bestseller in den USA gelandet. Hier in Deutschland erscheint das Buch bei „kiwi sphere“. Das frisch gegründete Imprint gehört zum Verlag „Kiepenheuer und Witsch“ und richtet sich gezielt an Leserinnen zwischen fünfzehn und dreißig, sagt Programmleiterin Mona Lang. „Das Beste sind die Augen“ ist der erste Titel des neuen Programms. Mit einem feministischen Horror-Roman zu starten, ist eine ungewöhnliche Entscheidung. Was hat Mona Lang und ihr Verlags-Team an Ji-wons Obsession für Augen gepackt? „Ich habe mit der mitgefiebert, hab die Protagonistin, die dann gewalttätig wird und auch diese Augen isst, ich hab die so angefeuert. Und gedacht, endlich geht es andersrum und es wird nicht wie in all diesen eine Million True-Crime-Podcasts-irgendein-Mann-ermordet-junge-schöne-Frauen, das war alles so umgedreht. Da konnte man so eine weibliche Wut kanalisieren. Das fanden wir alle total toll und dann haben wir gedacht, das ist genau der richtige Aufmacher für unser Programm, weil das so zeigen soll, dass wir nicht ein Romance- und Fantasy-Verlag nur sind, sondern relativ breit gehen wollen.“ Wütende „Weird girls“ Und sie folgen damit einem Trend: Wütende „Weird girls“, also seltsame Mädchen erobern die Popkultur. Sie sind die Antiheldinnen zum dezenten, lieben und hübschen Vanilla-Girl, zum Clean-Girl, zu den Tradwifes. Frauen, die sich nicht anpassen. „Weird Girls“, etwa wie in den Romanen von Ottessa Moshfegh oder auch bei Literatur-Nobelpreisträgerin Han Kang. Autorin Monika Kim geht mit ihrer Protagonistin Ji-won noch einen Schritt weiter: Ji-wons Obsession für blaue Augen ist definitiv „weird“. Sie träumt ständig von ihnen, malt sich aus, wie sie wohl schmecken würden, während sie sich von hartgekochten Eiern und kleinen Kirschtomaten ernährt. Ji-wons zunehmende Obsession zeichnet Monika Kim in einer langsamen emotionalen Abwärtsspirale. Ji-won isoliert sich zunehmend von ihrer Familie und hat Schwierigkeiten, an der Universität mitzukommen. Ihre Sehnsucht nach blauen Augen wird sehr konkret, als Ji-won auf ihr erstes, zufälliges Opfer trifft: Ein Obdachloser, den sie tot auffindet. Ich erwarte, dass das Auge einfach herausspringt, so wie ich es mir in meinen Träumen ausgemalt habe. Aber selbst nachdem ich um die Augenhöhle herumgeschnitten und den Hautfetzen entfernt habe, der als Lid diente, bewegt sich der Augapfel keinen Zentimeter. Ich hole tief Luft und grabe ihn mit den Fingernägeln aus. Schließlich reißt der Sehnerv und meine Finger umklammern ein triefendes Etwas. Quelle: Monika Kim – Das Beste sind die Augen Ji-won verspeist den Male Gaze Wenn dieser Horror in „Das Beste sind die Augen“ einsetzt, kennt Monika Kim kein Pardon. Nach 200 Seiten wird die Träumerin Ji-won zur Serienmörderin. Und entwickelt ihr Können: das Entnehmen blauer Augen. Anders als Patrick Bateman in Bret Easton Ellis‘ Roman „American Psycho” tötet Ji-Won nicht aus reiner Langeweile oder Lust. Ihre Geschichte ist die einer jungen, migrantischen Frau, ohne eine stabile Familie und ohne finanzielles Sicherheitsnetz. Eine Frau mit koreanischen Wurzeln, die für weiße Männer nie Mensch, sondern immer nur Objekt ist. Ji-won macht diese Erfahrung sowohl zuhause mit George als auch an ihrer Uni. Dort lernt sie einen Kommilitonen kennen, der sich zunächst als besonders freundlicher und aufgeklärter Verbündeter gibt. Bis er immer mehr Ansprüche gegenüber Ji-won stellt. Je mehr sie sich ihm entzieht und nicht dem rassistischen Klischee einer dankbaren, immer verfügbaren asiatischen Frau entspricht, desto besitzergreifender wird er. Als Serienmörderin übt Ji-won Rache am Male Gaze, indem sie wortwörtlich den männlichen Blick verspeist. Tränen kullern über meine Wangen. Ich fahre mit der Zunge über das Auge, durchbreche die harte äußere Hülle. Es knirscht und knistert und ich muss an die knusprig gebratene Fischhaut zwischen den Zähnen meiner Mutter denken. Quelle: Monika Kim – Das Beste sind die Augen „Female Rage“ – Rache am Patriarchat „Female Horror“, „Body Horror“ oder „Female Rage“ – es gibt viele Begriffe für diese Genre: Filme oder Bücher, in denen Frauen nicht das schöne, passive Opfer sind, sondern zu Täterinnen werden. Körper und Körperbilder werden hier im wahrsten Sinne des Wortes aufgebrochen. Mit einer großen Lust am Ekel und am Schock sprengen die Täterinnen ihre weibliche Sozialisierung. In Zeiten, in denen Gewalt gegen Frauen stark zunimmt und rechte Kulturkämpfer Frauenrechte mit Füßen treten, bietet diese Popkultur eine Gegenerzählung an. „Good for her“ – „Gut für sie“ heißt es, wenn in dieser neuen Genre-Literatur eine Heldin wie Ji-won etwas tut, das moralisch absolut verwerflich ist, für sie persönlich aber ein Moment der Befreiung. Weil sie ihre Wut nicht runterschluckt, sondern radikal rauslässt. Auch für Leserinnen kann das befreiend sein, meint Mona Lang von „kiwi sphere“: „'Das Beste sind die Augen' zu lesen hat für mich ein empowerndes Moment. Auch wenn ich niemandem dazu raten würde das zu tun, was die Hauptfigur tut. Aber diese Fetischisierung, die ja stattfindet im Buch, der etwas entgegensetzen. Weil es ist ja nicht leicht, das ist ja eine strukturelle Ebene.  Und was willst du als Einzelne asiatisch-amerikanische Frau wie jetzt Ji-won dem entgegensetzen? Und dass sie überhaupt etwas findet, das sie entgegensetzt, finde ich ein total empowerndes Moment für Frauen.“ Monika Kim öffnet uns die Augen Am Ende des Romans plant Ji-won, Rache an demjenigen zu üben, der für sie schuld am Unglück ihrer Familie ist: Ihr Vater. Für Sigmund Freud ist der Vatermord grundlegend für die Kultur-Entwicklung. Bei Freud sind es allerdings immer die Männer, die „Bruderhorde“, die den Vatermord verüben. Was sich der Vater der Psychoanalyse nicht vorstellen konnte: Frauen und queere Menschen, die sich an Patriarchen und am Patriarchat rächen. Ob Female Rage, die weibliche Rache in der Popkultur, so revolutionär werden kann wie damals Freuds Theorie vom Vatermord? Monika Kim öffnet uns jedenfalls die Augen, dass Frau durchaus durchtrieben und bösartig sein darf. Zumindest in der Fantasie.
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Aug 1, 2025 • 13min

„Ich versuche, den Leuten heimlich auch mal einen Shakespeare unterzujubeln“

Social Media trifft Literaturkritik: Wie BookTok & Co. das Lesen revolutionieren Bücher boomen, auch im Netz. Wer heute nach Lesetipps sucht, findet sie nicht mehr nur im Feuilleton oder in der Buchhandlung, sondern auch bei TikTok und Instagram. Einer der Buch-Creator ist Thomas Sachsenmaier, besser bekannt als Thomas_Bookclub. Mit über 74.000 Followern auf Instagram bringt er Literatur in Reels unter: schnell, pointiert, oft ironisch. Der digitale Bücherkosmos Im SWR Kultur lesenswert Magazin spricht er über seinen Weg von der Germanistik-Vorlesung in den digitalen Bücherkosmos, über die Kraft von Bookstagram-Communities und die Frage, wie Social Media die klassische Literaturkritik ergänzt. Er erklärt, warum Jane Austen eigentlich die erste New Adult-Autorin war, wie er Klassiker von Shakespeare oder Gothic Novels in den kurzen Videos unterbringt – und warum auch Unterhaltungsliteratur eine Daseinsberechtigung hat. Lesen in Zeiten des Algorithmus Sachsenmaier gibt Einblicke in seine Arbeit und diskutiert die Verantwortung gegenüber einem jungen Publikum. Und er spricht darüber, was ihn an BookTok und Bookstagram begeistert. Liegt die Zukunft des Lesens in Zeiten von Algorithmen auf den Social Media Plattformen? Thriller-Tipp von Thomas Außerdem bringt Thomas einen Thriller-Tipp mit in die Sendung: „Yoko“ von Bernhard Aichner. Ein Buch, das den Buchblogger aktuell sehr begeistert. Vielleicht auch ein potentielles Freibadbuch?
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Aug 1, 2025 • 12min

„Wir sind Menschen, wir sind dazu geboren, um zu lügen“

Ein Sanatorium. Drei Frauen. Ein Ort außerhalb der Zeit und mitten in der Gegenwart. In ihrem Debüt „Frauen im Sanatorium“ entwirft Anna Prizkau einen klugen Roman über das fragile Gleichgewicht zwischen Lebensmüdigkeit und Lebenshunger. Im SWR Kultur lesenswert Magazin spricht die Autorin über ihre Figuren und ihre Liebe zur deutschen Sprache. Ein Ort mit literarischer Geschichte Das Sanatorium als Schauplatz hat Tradition in der Literatur. Ein Topos, bespielt – natürlich – von Thomas Mann im „Zauberberg“. Der habe Prizkau aber nicht beeinflusst, mehr habe sie sich mit Sylvia Plath „Die Glasglocke“ und M. Blechers „Vernarbte Herzen“ beschäftigt. Gereizt hat Anna Prizkau an diesem Sujet: die Abgeschiedenheit. Prizkau beschreibt das Sanatorium als „geschlossenen Kosmos“, frei von digitalen Störungen, durchgetaktet allein vom Handywecker, der zu Gruppensitzungen oder Mahlzeiten ruft. Für die Autorin ein idealer Ort, um Geschichten zu erzählen: „Weil wenn ich aus Berlin oder aus Hamburg oder aus irgendeiner Großstadt eine Geschichte erzählen muss, dann haben wir alle Einflüsse von den Restaurants, den Museen, der Zeitung, alles, was auf einen einspielt. Das gibt es in einem Sanatorium nicht.“ Drei Frauen, viele Leben Im Zentrum des Romans stehen drei Frauen: die Erzählerin Anna, Elif und Marija. Jede bringt ihre eigene Biografie mit ihren eigenen Verletzungen. Prizkau beschreibt sie nicht als Patientinnen mit Diagnose, sondern als Menschen mit Geschichten: Die Biografien der Frauen sind voller Verletzungen, geprägt von migrantischen Lebenserfahrungen und von Widersprüchen. Elif zum Beispiel hinterlässt Anna ein Büchlein im Sanatorium, in dem sie die Geschichten der Mitbewohnerinnen festhält. Im Laufe der Erzählung wird klar: Verlässlich sind diese Stimmen nicht. Prizkau sagt, wir seien eben alle unzuverlässige Erzähler: Wir sind Menschen, wir sind dazu geboren, um zu lügen. Sprache als Haltung „Frauen im Sanatorium“ kein Roman der Diagnosen. Prizkau nutzt keinen „Therapiesprech“. Stattdessen findet sie eine rhythmische Sprache. „Ich liebe die deutsche Sprache über alles“, sagt Prizkau. „Ich will ihr nichts antun.“ Ihre Liebe zur Sprache, gelernt erst mit acht Jahren, zeigt sich in der Sorgfalt, mit der sie jedes Wort setzt. Anna Prizkau wurde 1986 in Moskau geboren, zog mit ihrer Familie nach Hannover und schrieb als Journalistin für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung. Jüngst auch über den Krieg gegen die Ukraine. 2020 erschien ihr Erzählband „Fast ein neues Leben“ in der Friedenauer Presse. Von der Journalistin zur Autorin Einen Ausschnitt aus „Frauen im Sanatorium“ hat Anna Prizkau 2021 auf Einladung von Philipp Tingler beim Ingeborg-Bachmann-Preis gelesen. Dass sie einst, ohne ein Wort Deutsch zu sprechen in eine deutsche Schule kam, hat sie geprägt: „Ich musste über das Beobachten lernen.“ Dieser Blick prägt bis heute ihr Schreiben, vermutet sie im SWR Kultur lesenswert Magazin. Ob als Journalistin oder Romanautorin, beobachten, hören, erzählen: Das ist für sie der Kern des Menschlichen.
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Aug 1, 2025 • 55min

Mit neuen Büchern von Christian Baron, Monika Kim, Anna Prizkau, Sylvie Schenk und Jessica Anthony

„Frauen im Sanatorium“, Weird Girls in einem feministischen Horrorroman und Lebenslügen einer Ehe. Und: Bookstagram und BookTok – Content Creator Thomas Bookclub im Gespräch.
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Aug 1, 2025 • 6min

„Es geht mir gut“ und andere Lügen

Alfred Hitchcock wandte in seinen Filmen regelmäßig den Trick an, Zuschauer mit einem Informationsvorsprung auszustatten, was unter dem Stichwort „Suspense“ zu einem Markenzeichen seiner Regie wurde. Er ließ sie schon von der Bombe in der Aktentasche wissen, während seine Figur noch glaubt, in der Aktentasche seien lediglich Papiere. Einen vergleichbaren Kniff kennt man aus Fernsehshows: Zwei Menschen, die am gleichen Ereignis beteiligt waren, werden vor laufender Kamera getrennt voneinander befragt. Dabei kommt es oft zu Überraschungen beim Zuschauen. Man weiß dadurch mehr über das Ereignis und die Menschen, als beide Beteiligte für sich genommen, deren Wahrnehmung und Erinnerung sich oft voneinander unterscheiden. „Suspense“ als dramaturgischer Kniff Mit ähnlichen Mitteln arbeitet die Autorin Jessica Anthony in „Es geht mir gut“. Sie nutzt die Möglichkeit, durch unterschiedliche Kenntnisstände ihrer Romanpersonage und der Leser Spannung zu erzeugen. In ihrem vierten Roman lässt sie zwei Eheleute wechselseitig vom Zustand ihrer Ehe und von der Vergangenheit erzählen, so dass man lesend schon bald mehr über die Ehe weiß, als die Beteiligten selbst. „Es geht mir gut“ beginnt im Jahr 1957, kurz nachdem die russische Raumfahrt am 3. November 1957 mit der Sputnik 2 die Hündin Laika ins All geschickt hat. Es scheint ein fast normaler Sonntag zu sein. Für die Familie Beckett, Virgil und seine Frau Kathleen und die beiden Söhne Nathaniel und Nicolas, die in einer Wohnanlage mit Pool lebt, beginnt der Tag mit einem Gottesdienstbesuch der männlichen Familienmitglieder. Kathleen, der an diesem ungewöhnlich warmen Novembertag furchtbar heiß ist, tut etwas anderes: Wir haben hier einen Pool, und niemand geht rein. Als wir hierhergezogen sind, haben wir über den Pool geredet. Er ist da, und die Jungs nutzen ihn nicht. Deshalb dachte ich, dass ich mal baden gehe! Quelle: Jessica Anthony – Es geht mir gut Der Pool als Katalysator Kathleen wird diesen Pool den ganzen Tag lang nicht mehr verlassen. Das Eintauchen und Verharren im Pool, wird zum Katalysator, der die Artikulation von Verdrängtem in Gang setzt. Es hat sich in der neun Jahre andauernden Ehe zwischen Kathleen und Virgil zu einer regelrechten Halde aufgetürmt. Vieles haben die beiden voreinander verheimlicht, etwa, dass Nathaniel, der erste Sohn von Kathleen, nicht von Virgil gezeugt wurde, sondern von Kathleens Tennislehrer. Kathleen hatte im Geist lange Verhandlungen mitsamt Richtern und Geschworenen über das geführt, was sie getan hatte, was richtig und was falsch daran gewesen war, und stets war sie zu dem Schluss gekommen, dass Nathaniel nur sie etwas anging. Quelle: Jessica Anthony – Es geht mir gut Große und kleine Lügen Wer was in dieser Ehe mit sich ausgemacht hat, wie viele kleine, vor allem aber große Lügen und Selbstbetrug damit einhergingen, enthüllt Anthonys Roman nach und nach und mit wechselndem Fokus von Kathleen und Virgil. Der steht seiner Frau Kathleen in Sachen Betrug und Selbstbetrug in nichts nach. Je weiter sich die Handlung entfaltet, umso deutlicher wird: Hier haben sich zwei zusammengetan, deren Temperamente und Neigungen extrem weit voneinander entfernt sind. Während Kathleen, die in ihrer Jugend eine Karriere als Profitennisspielerin angestrebt hat, ehrgeizig und zielstrebig ist, hat Virgil sich die meiste Zeit treiben, seine Träume Träume sein lassen., Besonders den Traum, einmal so Saxophon zu spielen wie Charlie Parker, den er nach einem Konzert angesprochen hat: Virgil konnte nicht glauben, dass zwei Stunden vergangen waren, als die Musik verstummte und der Ansager wieder auf die Bühne trat. Er ging zum Mikrofon und fragte Charlie Parker, wie er es geschafft hatte, so gut zu sein. „Nicht du spielst das Saxophon, das Saxophon spielt dich“, sagte Charlie Parker, und in diesem Moment beschloss Virgil, dass er sobald er aus Europa zurückgekehrt wäre – falls er zurückkehrte – aufs College gehen und Saxophonspielen lernen würde. Das hieße Nägel mit Köpfen machen. Quelle: Jessica Anthony – Es geht mir gut Geplatzte Träume Die Fähigkeit, Nägel mit Köpfen zu machen geht Virgil restlos ab. Er gleitet durch seinen Beruf als Versicherungsvertreter, das Golfspiel mit seinen Kollegen, bei dem es nie ums Gewinnen geht, und durch seine Affäre mit der Kellnerin Little Mo. Als diese ihm ein Saxophon schickt, um ihn an seine Jugendträume zu erinnern, hat er, wie Kathleen, das Problem, dass sich nicht länger verbergen lässt, was er lange unter Verschluss gehalten hat. Virgil ließ die Verschlüsse des Kastens zuschnappen und trug ihn zum Bluebird. Er öffnete den Kofferraum. Übers Wochenende würde er das Saxophon dort lassen, überlegte er, oder bis er wusste, was er damit anstellen sollte. Quelle: Jessica Anthony – Es geht mir gut „Nicht wissen, wie man es anstellen soll“: Das wäre eine alternative Überschrift dieses gehaltvollen Romans, der das bröckelnde Fundament einer Ehe und des Traums von der glücklichen Kleinfamilie offen legt und mit immer neuen überraschenden Wendungen aufwartet. Jessica Anthony legt dabei die Enttäuschungen und Eskapaden von Kathleen und Virgil offen, ohne ihre Figuren bloß zustellen. „Wie könnte ein gutes Eheleben aussehen, das auf Wahrheit gründet?“ Ein weitgehender Verzicht auf Psychologisierungen, die konsequenten Wechsel des Erzählfokus und das beiläufige, aber genau inszenierte Erwähnen des Raumflugs der Sputnik 2 sorgen dafür, dass die Lebensgeschichten der Hauptfiguren zugleich singulär und paradigmatisch für die Lebensumstände im Amerika der späten Fünfzigerjahre lesbar werden. Kathleens buchstäbliches Aufweichen drängt zu der Frage: „Wie könnte ein gutes Eheleben aussehen, das auf Wahrheit gründet?“ Genau, aber nicht allwissend erzählt Anthony. Lesend wird man aufgefordert, sich diese Frage zu stellen, und sich auf blinde Flecken und den Ausgang dieser Geschichte selbst einen Reim zu machen.

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