
SWR Kultur lesenswert - Literatur „Der unsterbliche Weil“: Eine außergewöhnliche Novelle von Maxim Biller
Aug 4, 2025
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Die Novelle beginnt mit einem Spaziergang. Der tschechische Schriftsteller Jiří Weil läuft im April 1956 in großer Unruhe durch Prag, vorbei an der Pinkas-Synagoge, hin zur Moldau und denkt über sein wechselvolles Leben nach. Als er an der Konditorei vorbeikommt, die Cremeschnitten und Windbeutel selbst in schlimmsten Krisenzeiten anbot, erinnert er sich an die „Hasenjagd der Deutschen auf ihn“ und dass er im Mai 1945 „erschöpft und ausgemergelt“ in das Geschäft gegangen war.
Er hatte den halben Laden leer gegessen und eine Viertelstunde später draußen alles wieder – wankend und röchelnd – auf das elegant gemusterte Jugendstilpflaster des Bürgersteigs in der Pariser Straße erbrochen.Quelle: Maxim Biller – Der unsterbliche Weil
Nur im Flüsterton darf er vom Überleben berichten
Eine nachvollziehbare Reaktion, wenn man bedenkt, dass der 1900 geborene Autor in den Jahren zuvor mindestens zweimal hätte sterben sollen. 1935 wollten ihn die Stalinisten umbringen, weil er, der kommunistische Humanist, es gewagt hatte, die Führung in Moskau zu kritisieren. Sein Schriftstellerfreund Julius Fučík, ein linientreuer Parteisoldat, konnte die Todesstrafe gerade noch verhindern. Aus der Verbannung in die Heimat zurückgekehrt, begann der Terror der Nazis. Mit einem Trick, nämlich durch einen inszenierten Selbstmord, hat der jüdische Weil auch die deutsche Besatzung überlebt. Später will selbst die eigene Familie nichts davon wissen, nur im Flüsterton darf er vom Überleben berichten.Wenn du so schreist, kann dich die ganze Stadt hören. Das ist keine schöne Geschichte, weißt du. Selbstmord ist bei uns Juden verboten, sogar wenn er gespielt ist. Also, bitte, sei leise.Statt nach dem Krieg endlich der literarischen Bestimmung folgen zu können, wurde Jiří Weil weiterhin ausgegrenzt. Aus dem Schriftstellerverband hatten ihn die Genossen geworfen, aber jetzt, inmitten Chruschtschows Tauwetter, beraten die folgsamen Funktionäre, ob sie den Verstoßenen „endlich wieder in ihren strengen Dichterklub aufnehmen“.Quelle: Maxim Biller – Der unsterbliche Weil
Melancholische und federleichte Prosa
Auf dem Gang durch die Heimatstadt kommt Weil schließlich an einer Telefonzelle vorbei. Soll er beim Kulturminister anrufen und sich erkundigen, wie es um seinen Fall bestellt ist? Kann er die mühsame Archivarbeit im Jüdischen Museum endlich aufgeben, um nichts als schreiben zu können? Der in Prag geborene Maxim Biller erinnert mit „Der unsterbliche Weil“ an einen Schriftsteller, der laut Philip Roth mit „Leben mit dem Stern“ einer „der herausragendsten Romane über das Schicksal der Juden unter den Nazis“ geschrieben hat, der aber heute, vor allem in Deutschland, weitgehend vergessen ist. Jenseits der literarischen Erinnerungsarbeit geht Biller in seiner melancholischen und zugleich federleichten Prosa der grundsätzlichen Frage nach, was literarisches Schreiben ausmacht. Jiří Weil führt auf seinem Spaziergang durch Prag ein Zwiegespräch mit einem Toten, nämlich mit Autorenfreund Julius, den die Nazis in Plötzensee ermordeten. Julius wollte die Welt mit Worten verändern; er war ein schreibender Aktivist. Dementsprechend wurde er im Ostblock gefeiert. Für Jiří Weil – wie ihn Biller entwirft – geht es in der Literatur um etwas völlig anderes:Man kann nur davon erzählen, wie schön alles ist, auch wenn es schrecklich ist.Quelle: Maxim Biller – Der unsterbliche Weil
