
SWR Kultur lesenswert - Literatur Katie Kitamura – Die Probe
Aug 5, 2025
06:02
Katie Kitamura jongliert in ihren Romanen gern mit Ansichten der Realität. Was geschieht wirklich, was beruht auf Missverständnissen, Einbildung oder gar Selbstbetrug? Wie zuverlässig ist die Erzählstimme?
Auch ihr neues Buch „Die Probe“ bringt die Leser gehörig durcheinander. Die Ausgangssituation scheint allerdings eindeutig. Eine Schauspielerin Ende vierzig trifft sich während einer Probenpause mit einem halb so alten Mann in einem New Yorker Restaurant.
Der Empfangskellner erkundigte sich nach meiner Reservierung. Ich erklärte, ich sei verabredet, und zeigte auf den jungen Mann hinten im Restaurant. Xavier. Dieser Empfangskellner, ging mir auf, hatte ihn vermutlich an dem ungastlichen Tisch platziert, und noch während ich hinzeigte, bemerkte ich seine Verblüffung. Sein Blick glitt von meinem Gesicht zu meinem Mantel, zum Schmuck. Es war vor allem mein Alter. Das war es, was ihn verwirrte. Er lächelte knapp und bat mich, ihm zu folgen. Dazu war ich in keiner Weise gezwungen, ich hätte einen Irrtum oder eine Verpflichtung vorschützen, kehrtmachen und mich hinausstehlen können. Nur schien es inzwischen zu spät zu sein [...].Was Xavier von der namenlosen Ich-Erzählerin will, wird erst viel später benannt, aber sie nimmt sein Anliegen wahr als ebenso dringlich wie unerfüllbar.Quelle: Katie Kitamura – Die Probe
Spezialistin für das Innenleben der anderen
Von außen betrachtet könnte es sich um einen asymmetrischen Flirt handeln – vielleicht doch eine Versuchung für sie? Darauf deutet hin, dass sie sich nicht bemerkbar macht, als ihr Ehemann überraschend das Lokal betritt, nur um gleich wieder zu verschwinden. Was sie wiederum ins Grübeln bringt, ob sie ihn womöglich nicht so gut kennt, wie sie denkt. Und dabei ist es doch ihre Spezialität, das Innenleben anderer zu ergründen. Glaubt sie jedenfalls.Ich hatte von Kindesbeinen an dazu geneigt, mein Gesicht gegen die Scheibe zu drücken, um die Geheimnisse anderer Menschen zu ergründen, zugleich aber auch den Impuls, mich selbst zu schützen. Falls nötig, konnte ich rasch und vehement Grenzen ziehen, dichtmachen und mich zurückziehen.Kitamura braucht 35 Seiten ihres insgesamt keine 180 Seiten umfassenden Romans, bis sie zum springenden Punkt kommt: Xavier hält die Ich-Erzählerin für die Frau, die ihn einst zur Adoption freigegeben hat – was absolut unmöglich ist, wie sie ihm und den Lesern nachdrücklich klarmacht.Quelle: Katie Kitamura – Die Probe
Wie verschiebt sich das Eindeutige ins Uneindeutige?
Das spannungsgeladene Treffen im Restaurant, ihre Unterstellung, Gäste und Kellner hielten sie für die Liebhaberin des jungen Mannes, die Beschreibung ihres angeblich harmonischen Ehelebens – schon diese Exposition ist angetan, die Leserin mit neugierig-unbehaglicher Bewunderung zu erfüllen. Welche der luziden Behauptungen und unmissverständlichen Beobachtungen der Erzählerin stimmen denn nun? Wo verschiebt sich das Eindeutige ins Uneindeutige? Wie werden sich die Rätsel und Widersprüche auflösen? Genauso ungemütlich geht es weiter in diesem ersten Teil des Romans. Xavier akzeptiert die Zurückweisung klaglos, bekommt aber überraschend einen Job als Assistent der inszenierenden Regisseurin, macht sich unverzichtbar, tritt tatsächlich auf wie ein untadeliger Sohn.Ein Zustand quälender Beklommenheit
Erzählt wird in dialogischen und stummen Szenen und in detailreichen Nahaufnahmen, durchschossen von Rückblenden, im Wechsel mit Überlegungen der Erzählerin, quasi aus dem Off. Die Wirkung entspricht der eines Theaterstücks, das sie einst fasziniert hat:In jeder Szene entwickelte sich Spannung, obgleich wenig geschah und wenig gesprochen wurde, der Druck nahm stetig zu, und am Ende merkte ich, dass ich mich geraume Zeit in einem Zustand quälender Beklommenheit befunden hatte, beim Verlassen des Theaters war ich zugleich euphorisiert und ausgelaugt, vibrierte jeder Nerv meines Körpers.Den Übergang zum zweiten Teil des Buchs markiert eine Kippfigur, die Grundvoraussetzung des ersten Teils ist plötzlich ins Gegenteil verkehrt. Xavier wird nun nämlich von der Erzählerin und deren Mann als gemeinsamer Sohn angesehen und auch so behandelt. Als er seine Wohnung verliert, zieht er bei ihnen ein, bringt sogar seine Freundin mit. Nach und nach legen die beiden jungen Gäste raumgreifend das wohlgeordnete Leben ihrer Gastgeber in Trümmer. Die Familienkonstellation löst sich auf in einer zunehmend absurden Farce, die an Theaterstücke von Roger Vitrac oder Yasmina Reza erinnert.Quelle: Katie Kitamura – Die Probe
Wenn das Vexierspiel auf die Spitze getrieben wird
Doch dem Eklat folgt noch eine Pointe. Xavier, der zeitweise verstoßene Sohn, kehrt zurück, im Gepäck ein selbstgeschriebenes Stück.Ein Monolog. Die nächste Frage entwich mir, bevor ich mich bremsen konnte. Wer spricht ihn? Er nickte, als hätte er diese Frage erwartet, und ich wusste, er spürte genau wie ich, wie begierig ich war. Eine Frau deines Alters, in mancher Hinsicht auch deiner Veranlagung, sagte er. Eine Frau, die nicht mehr zu unterscheiden weiß, was real ist und was nicht.Ist damit die Sache klar? Mitnichten. Kitamura treibt das Vexierspiel einfach weiter auf die Spitze. So bekommt das Buch etwas von einem unendlichen Möbiusband, das den Geist fesselt, lange nachdem die letzte Seite gelesen ist. Es geht nicht nur darum, was Identität sein kann für jemanden, der beruflich in die unterschiedlichsten Rollen schlüpft. Was, wenn unsere sozialen Rollen letztlich nicht mehr als Rollen-Spiele wären? Wie sehr sind wir bestimmt davon, wie andere uns wahrnehmen? Wie verlässlich ist das, was wir uns über uns selbst erzählen? Und was bedeutet es, dass wir nichts als Sprache haben, um diesen Abgrund der Ungewissheit zu überbrücken? Katie Kitamuras kühlen und klugen Roman „Die Probe“ zu lesen, ist wie über brechendes und immer neu gefrierendes Eis auf einem dunklen See zu laufen, wie in einem Traum. Ein schrecklich-schönes Lektüreerlebnis.Quelle: Katie Kitamura – Die Probe
