

SWR Kultur lesenswert - Literatur
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Aug 1, 2025 • 12min
„Wir sind Menschen, wir sind dazu geboren, um zu lügen“
Ein Sanatorium. Drei Frauen. Ein Ort außerhalb der Zeit und mitten in der Gegenwart. In ihrem Debüt „Frauen im Sanatorium“ entwirft Anna Prizkau einen klugen Roman über das fragile Gleichgewicht zwischen Lebensmüdigkeit und Lebenshunger.
Im SWR Kultur lesenswert Magazin spricht die Autorin über ihre Figuren und ihre Liebe zur deutschen Sprache.
Ein Ort mit literarischer Geschichte
Das Sanatorium als Schauplatz hat Tradition in der Literatur. Ein Topos, bespielt – natürlich – von Thomas Mann im „Zauberberg“. Der habe Prizkau aber nicht beeinflusst, mehr habe sie sich mit Sylvia Plath „Die Glasglocke“ und M. Blechers „Vernarbte Herzen“ beschäftigt.
Gereizt hat Anna Prizkau an diesem Sujet: die Abgeschiedenheit. Prizkau beschreibt das Sanatorium als „geschlossenen Kosmos“, frei von digitalen Störungen, durchgetaktet allein vom Handywecker, der zu Gruppensitzungen oder Mahlzeiten ruft.
Für die Autorin ein idealer Ort, um Geschichten zu erzählen: „Weil wenn ich aus Berlin oder aus Hamburg oder aus irgendeiner Großstadt eine Geschichte erzählen muss, dann haben wir alle Einflüsse von den Restaurants, den Museen, der Zeitung, alles, was auf einen einspielt. Das gibt es in einem Sanatorium nicht.“
Drei Frauen, viele Leben
Im Zentrum des Romans stehen drei Frauen: die Erzählerin Anna, Elif und Marija. Jede bringt ihre eigene Biografie mit ihren eigenen Verletzungen. Prizkau beschreibt sie nicht als Patientinnen mit Diagnose, sondern als Menschen mit Geschichten: Die Biografien der Frauen sind voller Verletzungen, geprägt von migrantischen Lebenserfahrungen und von Widersprüchen.
Elif zum Beispiel hinterlässt Anna ein Büchlein im Sanatorium, in dem sie die Geschichten der Mitbewohnerinnen festhält. Im Laufe der Erzählung wird klar: Verlässlich sind diese Stimmen nicht. Prizkau sagt, wir seien eben alle unzuverlässige Erzähler:
Wir sind Menschen, wir sind dazu geboren, um zu lügen.
Sprache als Haltung
„Frauen im Sanatorium“ kein Roman der Diagnosen. Prizkau nutzt keinen „Therapiesprech“. Stattdessen findet sie eine rhythmische Sprache.
„Ich liebe die deutsche Sprache über alles“, sagt Prizkau. „Ich will ihr nichts antun.“ Ihre Liebe zur Sprache, gelernt erst mit acht Jahren, zeigt sich in der Sorgfalt, mit der sie jedes Wort setzt.
Anna Prizkau wurde 1986 in Moskau geboren, zog mit ihrer Familie nach Hannover und schrieb als Journalistin für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung. Jüngst auch über den Krieg gegen die Ukraine. 2020 erschien ihr Erzählband „Fast ein neues Leben“ in der Friedenauer Presse.
Von der Journalistin zur Autorin
Einen Ausschnitt aus „Frauen im Sanatorium“ hat Anna Prizkau 2021 auf Einladung von Philipp Tingler beim Ingeborg-Bachmann-Preis gelesen.
Dass sie einst, ohne ein Wort Deutsch zu sprechen in eine deutsche Schule kam, hat sie geprägt: „Ich musste über das Beobachten lernen.“ Dieser Blick prägt bis heute ihr Schreiben, vermutet sie im SWR Kultur lesenswert Magazin. Ob als Journalistin oder Romanautorin, beobachten, hören, erzählen: Das ist für sie der Kern des Menschlichen.

Jul 30, 2025 • 4min
Isabel Kreitz – Die letzte Einstellung
Hakenkreuzfahnen in den Straßen. Die Nachricht über einen Angriff der SA auf ein Kino kommt nicht in die Zeitung. Am Tag nach der Machtergreifung sind die Warnzeichen in Isabel Kreitz‘ Graphic Novel „Die letzte Einstellung“ kaum erkennbar. Nur Intellektuelle und Juden planen schon ihr Leben im Exil.
Aber Heinz Hoffmann? Der Autor, an den buschigen Augenbrauen leicht als das Alter Ego Erich Kästners erkennbar, gibt sich unbeeindruckt. Der Nationalsozialismus ist für ihn nur eine Phase.
Künstler im „Dritten Reich“ – Weggehen oder sich anpassen
Isabel Kreitz‘ Comic „Die letzte Einstellung“ ist nicht die erste Erzählung über das Lavieren eines Künstlers im selbsternannten Dritten Reich. Ihre Geschichte hat zum Teil große Ähnlichkeit mit Daniel Kehlmanns Roman „Lichtspiel“ über den Regisseur G.W. Pabst.
Auch bei Kreitz steuert alles auf den Dreh eines Spielfilms in den letzten Kriegswochen zu, inklusive eines manischen Regisseurs. Aber ihr Comic hebt sich wohltuend von Kehlmanns Roman ab, weil sie mehr im Blick hat als das Motiv des egozentrischen Künstlers.
Sie zeichnet den Alltag im nationalsozialistischen Berlin, wie üblich naturalistisch mit Bleistift, und oft aus der Vogelperspektive auf die zunehmend zerstörte Stadt. Ihr Strich hält penibel jedes Detail fest. Ihre Bilder atmen Zeitgeschichte. Die Trümmer, die Kleidung, Ausgebombte in den Straßen – alles zeugt von gründlicher historischer Recherche. Erst recht in den Dialogen:
Schauspieler: Die Bühnenarbeiter, französische Kriegsgefangene … die müssen alle zurück ins Lager! Und für uns Schauspieler heisst es jetzt Kriegsdienstverpflichtung! Heimatfront oder Ostfront. Und du, Heinz? Heinz: Ausgemustert! Verschleppte Angina pectoris. Nicht einmal in der Fabrik wollten sie mich nehmen. Dabei wäre ich sogar gern hingegangen. Da ist man wenigstens beschäftigt.
Quelle: Isabel Kreitz – Die letzte Einstellung
Mehr Nebenfiguren
Immer leicht ironisch gibt sich Kreitz‘ Hauptfigur Heinz Hoffmann. Man spürt, dass die Zeichnerin sein reales Vorbild verehrt. Doch sie zeigt auch, wie er stets seinen Vorteil sucht und die Frauen in seinem Leben benutzt – als gefeierter Autor Anfang der 30er Jahre genauso wie als verarmter Ghostwriter kurz vor Kriegsende.
Erstaunlich ist, dass Hoffmann über weite Strecken des Comics nicht in dessen Mittelpunkt steht. Kreitz baut seine Gefährtin Erika zur eigentlichen Hauptfigur auf. Anhand ihrer Entwicklung von der naiven Sekretärin zur kühl kalkulierenden Produktionsassistentin bei der Ufa erleben wir, wie man im NS-Regime sozial aufsteigen konnte.
Und wie die Kaltschnäuzigkeit dabei zunimmt. Leider vermag Isabel Kreitz das nicht in die Figurenzeichnung umzusetzen. So viel Liebe zum Detail in ihren Bildern steckt – die Gesichter wirken starr, sogar wenn die Figuren streiten. Sie altern nicht einmal besonders, wenn zwischen den Kapiteln ein Zeitsprung liegt.
Ein Filmdreh als Sinnbild für den nationalsozialistischen Größenwahn
Erst in den letzten Kriegsjahren tritt Heinz Hoffmann wieder in Erikas Leben. Sie nimmt den Ausgebombten bei sich auf, verschafft ihm sogar einen Auftrag als inoffizieller Drehbuchautor für einen Durchhaltefilm. Und noch einmal verschiebt sich der Fokus der Graphic Novel.
Wie in Daniel Kehlmanns „Lichtspiel“ läuft alles auf die Realisierung eines Spielfilms hinaus. Diesem Ziel wird alles andere untergeordnet. Sogar politische Auseinandersetzungen wandern in die Dialoge.
Erika: Nun geht es um Leben und Tod! Sich der Nachwelt erhalten, den Weg bis zu Ende gehen! Das ist deine Pflicht! Wir sind da in etwas hineingeraten, Heinz! Etwas so Großes … Sag mal, was schreibst du denn da? Heinz: Notizen für das Finale. Genauso müsste Leonore dem Ingenieur Martens ins Gewissen reden!
Quelle: Isabel Kreitz – Die letzte Einstellung
So treffend Isabel Kreitz die Durchhalteparolen im NS-Regime aufzuspießen versteht – spätestens hier löst sich der Fokus ihrer Geschichte auf. Mit den Dreharbeiten verliert sich die Zeichnerin in einer Vielzahl neuer Figuren und Orte.
So bleibt vor allem der Eindruck: Erich Kästner alias Heinz Hoffmann hat nur getan, was viele Künstler seiner Zeit taten. Ein schmales Fazit für ein so ehrgeizig angelegtes Buch.

Jul 29, 2025 • 4min
Philippe Sands – Die Verschwundenen von Londres 38
Walther Rauff war verantwortlich für die Entwicklung und den Betrieb der Gaswägen im Zweiten Weltkrieg. In den mobilen Vorläufern der Gaskammern verloren zwischen 1941 und 1943 Hunderttausende jüdische und andere KZ-Häftlinge ihr Leben.
Nach 1945 setzte sich Rauff, wie so viele NS-Verbrecher, nach Südamerika ab. Dort tauchte er aber nicht unter, sondern startete eine zweite Karriere als leitender Angestellter einer Konservenfabrik im chilenischen Patagonien. Nach dem Putsch Augusto Pinochets 1973 suchte der ehemalige SS-Offizier die Nähe zur Macht – und fand sie auch.
Diesem bisher kaum untersuchten Lebensabschnitt Rauffs widmet sich der bekannte Menschenrechtsanwalt Philippe Sands in seinem neuen Buch „Die Verschwundenen von Londres 38“.
„Ich stehe hier sozusagen unter Denkmalschutz“
In einer Tonbandaufzeichnung von 1980 meinte Walther Rauff:
„Ich stehe hier sozusagen unter Denkmalschutz (…). Der General Pinochet war vor round about 12 Jahren in Ecuador, wo wir auch waren. Und damals war er x-mal in meinem Haus.“
Acht Jahre lang recherchierte der britisch-französische Bestsellerautor Sands den Fall Rauff. Er sichtete alle schriftlichen Zeugnisse und unterzog sie einer quellenkritischen Überprüfung. Er durchquerte Chile von Süd nach Nord, besuchte ehemalige Folterorte der Pinochet-Diktatur und führte zahlreiche Zeitzeugengespräche, mit Opfern ebenso wie mit ehemaligen Mitarbeitern der chilenischen Geheimpolizei DINA.
Darauf aufbauend entwickelt er eine erdrückende Indizienkette, die Rauffs Verstrickungen in die Machenschaften der DINA aufdeckt. Laut Sands war der glühende Nationalsozialist aktiv in Folterungen, Morde und in das massenhafte Verschwindenlassen von Oppositionellen eingebunden.
„Ich bin ein Engel“
Diese unglaubliche Geschichte, die bis dato lediglich Gegenstand von Vermutungen war, verbindet Sands mit einem zweiten Erzählstrang, nämlich jenem über die aufsehenerregende Verhaftung Pinochets 1998 in London.
Minutiös schildert der Autor das juristische Tauziehen um die Auslieferung des Ex-Diktators, die Spanien von Großbritannien verlangte: Ein komplexer und Neuland betretender Rechtsstreit, der 18 Monate später mit einem umstrittenen ärztlichen Gutachten und der Rücksendung Pinochets nach Chile wegen angeblicher Verhandlungsunfähigkeit endete.
Das Flugzeug traf am Dienstag, dem 3. März, in Santiago ein (…). Den Gehstock zwischen seine Beine geklemmt, wurde er auf eine Hebebühne gerollt und dann langsam zu Boden gelassen. Der Rollstuhl wurde auf das Rollfeld geschoben, wo er stehen blieb. Pinochet, in dunklem Anzug und lila Krawatte, wurde aufgeholfen, er ging ein paar Schritte vorwärts, umarmte General Izurieta, dann lief er winkend und lächelnd zum Flughafengebäude. Die Kapelle spielte, Anhänger jubelten, Pinochet strahlte.
Quelle: Philippe Sands – Die Verschwundenen von Londres 38
Rauff starb 1984, Pinochet 2006, ohne dass die beiden je für ihre Verbrechen verurteilt worden wären - und ohne die geringsten Anzeichen von Schuldeingeständnis oder gar Reue. Pinochet beteuerte 2003 in einem TV-Interview:
Ich habe niemanden ermordet, und ich gab keine Befehle, irgendjemanden zu ermorden. Ich bin ein Engel.
Quelle: Philippe Sands – Die Verschwundenen von Londres 38
Hin zum Primat der Menschenrechte
Trotz der skandalösen Straflosigkeit, die die Fälle Rauff und Pinochet verbindet, ist die zentrale Botschaft des Buches keine negative: Die juristische Auseinandersetzung, die mit der Festnahme Pinochets einsetzte, verschob den internationalen Diskurs weg vom Primat der Immunität von Staats- und Regierungschefs hin zum Primat der Menschenrechte.
Inspiriert von fiktionalen Werken wie den Erzählungen von Roberto Bolaño legt Sands ein kunstvoll zusammengefügtes Mosaik vor: Lebendig, vielstimmig, voller Spannungsmomente und mit großem Sinn für den menschlichen Faktor im Mahlstrom der Geschichte.
Dass die vertrackten Rechtsdebatten für Laien verständlich und bis zum Schluss interessant bleiben, ist nicht die geringste der erzählerischen Leistungen von Philippe Sands.

Jul 28, 2025 • 4min
Enn Vetemaa, Kat Menschik – Die Nixen von Estland
Was es zur Beobachtung der heimischen Nixen braucht, hält der estnische Schriftsteller Enn Vetemaa in seinem Bestimmungsbuch gewissenhaft fest: Benötigt werden ein Notizbuch, ein Bleistift und ein Taschenmesser zum Spitzen des Stifts. Als nützlich erweisen sich darüber hinaus ein Fernglas, Schwimmflossen und ein Fotoapparat.
Schon einige Seiten später betont Vetemaa das zurückhaltende Wesen der Nixen. Ein flüchtiges Vorbeihuschen im Schilf, ein kurzes geträllertes Motiv oder einige Schaumspritzer einer sogenannten Waschversessenen seien oft alles, worauf ein Nixenforscher seine Arbeit begründen müsse, heißt es darin.
Genau dieser Gegensatz zwischen wissenschaftlicher Präzision und anschaulichem, humorvollem Erzählen macht den Reiz von Vetemaas Bestimmungsbuch aus. Über den Nixenkundler im Allgemeinen schreibt er:
Er ist in erster Linie ein Freiluftforscher. In unseren Forschungsinstituten gibt es keine in Spiritus eingelegten Nixen (was als positiv angesehen werden kann). Auch aus Privatsammlungen sind mir nur einige Nixenlocken, abgeschnittene Fingernägel und Reagenz-Gläschen mit verschiedenen Absonderungen des Organismus bekannt, mehr nicht. Außerdem sind Nixen im Vergleich zu anderen Studienobjekten überaus scheu und beweglich.
Quelle: Enn Vetemaa, Kat Menschik – Die Nixen von Estland
Nicht jeder Witz zündet nach vier Jahrzehnten
Enn Vetemaas Bestimmungsbuch der „Nixen von Estland“ erschien im Original 1983 – und zwei Jahre später erstmals in deutscher Übersetzung. Dass mehr als vier Jahrzehnte später nicht alle Witze zünden, liegt einerseits daran, dass sich einige Anspielungen schlicht auf die damalige Zeit beziehen.
So lobt Vetemaa die nixenfreundliche Umweltpolitik in Estland und verweist auf die sauberen Gewässer im Land. Der heutige Leser hat dagegen schon den Klimawandel und die Überfischung der Meere im Sinn. Andererseits schweift Vetemaas Text oft ab und verliert sich Im Anekdotischen.
Am wirkungsvollsten ist er, wenn er sich an der Logik des Bestimmungsbuches hält und die Nixen beispielsweise in Familien einordnet: Von den Schönhaarigen, über die Waschversessenen und Kopfkratzerinnen, bis hin zu den Lauthalsigen.
Nicht zu verwechseln sind die Nixen von Estland übrigens mit den Meerjungfrauen, die sich deutsche Leser vielleicht vorstellen:
Folklore, Märchen und die Kunst der Welt überhaupt haben den Eindruck erweckt, die Nixen hätten unbedingt Schwänze. Was die in Estland vorkommenden Nixen angeht, so müssen wir den Leser offenbar verblüffen: Bei keiner estnischen Art wurde bis auf den heutigen Tag ein Schwanz festgestellt!
Quelle: Enn Vetemaa, Kat Menschik – Die Nixen von Estland
Illustrationen folgen dem Text – und retten ihn ins Heute
Vor rund 20 Jahren hat Kat Menschik Veteemas Text mit Illustrationen versehen: Sie hält teils präzise seine Beschreibungen der Nixen fest, dann wieder schweift auch sie ab und fügt beispielsweise Schautafeln mit Pflanzen aus Estland und Europa hinzu.
Vor allem aber setzt die Illustratorin immer Nixenforscher und andere Männer auf so überspitzt-lächerliche Weise in Szene, dass sie zahlreiche Passagen kontert, die – auch wenn es um Nixen geht – sexistisch erscheinen oder ein antiquiertes Frauenbild vermitteln:
Sieht ein Nixenforscher, der sich seiner ersten Hörner bereits abgestoßen hat, die bescheidene waschversessene Rubbelfee in ihrer verführerischen Pose, so bekommt er sofort Sehnsucht nach der Wärme eines heimischen Herds, nach Bequemlichkeit, nach sauberen Kleidungsstücken und Tischtüchern und nach sättigender Hausmannskost.
Quelle: Enn Vetemaa, Kat Menschik – Die Nixen von Estland
Neu aufgelegt zum 40. Geburtstag der „Anderen Bibliothek“
Zum 40. Geburtstag der „Anderen Bibliothek“ ist der Band mit Kat Menschniks Bildern neu aufgelegt worden. Eine lohnende Wiederentdeckung er vor allem, weil „Die Nixen von Estland“ das erste Buch ist, für das Kat Menschik Illustrationen angefertigt hat.
Zwar wirkt ihr Stil noch etwas suchend, er zeigt aber gerade in den detailverliebten Abbildungen der estnischen Natur alle Anlagen, die Menschik inzwischen zu einer der gefragtesten Illustratorinnen des Landes gemacht haben. Die Eigenwilligkeit und der Witz ihrer Bilder überstrahlen Enn Vetemaas Text inzwischen merklich.

Jul 27, 2025 • 4min
Dagmar Fenner - Digitale Ethik
Als der amerikanische Mathematiker und Philosoph Norbert Wiener in den 1940er Jahren die theoretischen Grundlagen für lernende Maschinen formulierte, konnte er noch nicht wissen, wie fundamental sich dadurch die Welt verändern würde. Denn künstliche Intelligenzen und autonome Roboter gab es bis auf Weiteres nur in der Welt der Science-Fiction.
Trotzdem ahnte Wiener bereits, dass das Selbstverständnis der Menschen eines Tages durch eine neue Generation von Maschinen auf eine schwere Probe gestellt werden würde. Heute sind wir es bereits gewohnt, dass Maschinen nicht nur immer komplexere Informationen verarbeiten, sondern inzwischen auch eigenständig Entscheidungen fällen können.
Die Verantwortung der Maschinen
Der enorme Erfolg der künstlichen Intelligenzen löst jedoch nicht nur Bewunderung aus, sondern wirft auch grundsätzliche Fragen nach ihrer Verantwortung auf. Aus diesem Grund hat die Philosophin Dagmar Fenner eine Einführung in die „Digitale Ethik“ vorgelegt, die sich ausdrücklich als angewandte Ethik für das neue Maschinenzeitalter versteht:
Unter einer Angewandten Ethik im erweiterten Sinn soll hier sowohl eine wissenschaftliche Disziplin als auch eine transakademische Beratertätigkeit in Kommissionen und Gremien verstanden werden, sofern mit philosophischen Mitteln […] zur Lösung konkreter moralischer Probleme in einer Gesellschaft beigetragen wird.
Quelle: Dagmar Fenner – Digitale Ethik
Die Berechnung der Gesellschaft
Unabhängig davon, ob man die künstlichen Intelligenzen begrüßt oder mit Sorge betrachtet, stellen sich bereits jetzt zahlreiche ethische Fragen, die beantwortet werden müssen. Das betrifft nicht nur den Umgang mit den massenhaft erhobenen Daten, sondern auch die Prinzipien, die bei den algorithmischen Entscheidungen zum Einsatz kommen.
Auch wenn Computer im Vergleich zu Menschen weit mehr Faktoren in ihre Berechnungen einbeziehen können, werden sie dennoch manchmal genötigt sein, aus mehreren schlechten Alternativen eine auszuwählen. So muss ein selbstfahrendes Auto im Fall eines absehbaren Aufpralls entscheiden, wohin es ausweicht und wen es dadurch gefährdet:
2016 verlautbarte ein Mercedes-Benz-Manager für Fahrassistenzsysteme, die Passagiere im Auto sollten immer gerettet werden. Im Gegensatz zu Pflegerobotern für die individuelle Nutzung dürfen moralische Regeln für autonome Fahrzeuge sich aber nicht an teils egoistischen Moralvorstellungen der Fahrzeugbesitzer orientieren oder den Herstellern überlassen bleiben.
Quelle: Dagmar Fenner – Digitale Ethik
Die Zukunft der Steuerung
In Zukunft wird es vermutlich noch um viel weitreichendere Entscheidungen gehen als um die von selbstfahrenden Autos. In Fenners umfassender Einführung werden alle gesellschaftlichen Bereiche, in denen schon jetzt künstliche Intelligenzen zum Einsatz kommen, wie bei der medizinischen Versorgung oder der polizeilichen Ermittlung, ausführlich behandelt.
Sie folgt dabei dem »Wiener Manifest für digitalen Humanismus« von 2019, mit dem sich zahlreiche Experten dafür eingesetzt haben, möglichst viele Nutzer an der Entwicklung von gesellschaftlich relevanten Algorithmen zu beteiligen. Denn nur so könne sichergestellt werden, dass die Gesellschaft insgesamt von den neuen Technologien profitiere:
Da Technologien wie gesehen Teil eines soziotechnischen Systems sind, müssten möglichst alle Betroffenen an ihrer Gestaltung beteiligt und mehr öffentliche und demokratische Reflexions- und Verhandlungsräume geschaffen werden.
Quelle: Dagmar Fenner – Digitale Ethik
Im Verlauf seiner Karriere machte sich Norbert Wiener zunehmend Sorgen, seine Erkenntnisse könnten in die falschen Hände geraten. Er nahm sich vor, die Öffentlichkeit mehr über die Folgen seiner Forschung aufzuklären.
In dieser Tradition steht auch Dagmar Fenner, der es gelungen ist, äußerst kompetent in die komplexe Materie der lernenden Maschinen einzuführen.

Jul 25, 2025 • 6min
Adam Shatz – Arzt, Rebell, Vordenker. Die vielen Leben des Frantz Fanon
Frantz Fanon war nur ein kurzes Leben beschieden. Er starb mit gerade einmal 36, an Leukämie. In einem Krankenhaus in Maryland. Ausgerechnet im „Land der Lynchmörder“, wie er die USA einmal bezeichnet hatte. Das war am 6. Dezember 1961.
Algerien stand kurz vor der Unabhängigkeit und nur wenige Tage zuvor war sein Buch erschienen, das ihn posthum zur Symbolgestalt des Freiheitskampfes der sogenannten Dritten Welt machen sollte: „Die Verdammten dieser Erde". Kein Geringerer als Jean-Paul Sartre hatte das Vorwort dazu geschrieben. „The Rebel’s Clinic" heißt der Originaltitel der Biografie.
Und tatsächlich war der große Theoretiker des Antikolonialismus auch und vor allem Psychiater. Gehörte die Psychiatrie zu seiner täglichen Praxis. Es war in Kliniken, wo er seine Beobachtungen zu Macht und Ohnmacht und zur Entfremdung anstellte. In Kliniken formten sich seine Gedanken zu den Auswirkungen von Rassismus und kolonialer Gewalt und wie darauf zu reagieren sei.
Rassismus macht krank
Fanon hat in seinem kurzen Leben viele Kämpfe gekämpft. Schon als 19-Jähriger schließt er sich de Gaulles Armee im Kampf gegen den Faschismus an. Wobei er die tiefgreifende Enttäuschung verkraften muss, dass das republikanische Frankreich sein Versprechen von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit gegenüber seinen schwarzen Soldaten nicht hält.
Nach dem Krieg folgt ein Medizinstudium in Frankreich. Auch hier erlebt er Diskriminierung - am eigenen Leib und im Umgang mit den algerischen Patienten – arme Tagelöhner - durch seine Kollegen. Rassismus macht krank, ist seine Erkenntnis.
1952 veröffentlicht er „Schwarze Haut, weiße Masken". Ein Buch, in dem er genau das beschreibt. Er spricht von „Verinnerlichung und Epidemisierung der Minderwertigkeit“. Damals ist er 27 und seiner Zeit weit voraus. 1953 nimmt er dann eine Chefarztstelle in einer Klinik in Algerien an.
Ein knappes Jahr später beginnt dort ein erbitterter Kampf um die Unabhängigkeit. Einer der grausamsten und blutigsten des 20. Jahrhunderts. Für Fanon gibt es kein Zögern. Er schließt sich dem Widerstand gegen die französischen Machthaber an und wird Mitglied der FLN, bis zu seinem Tod.
Die erste Biografie, die Fanon als Mensch beschreiben will
„The Rebel’s Clinic" ist keineswegs die erste Biografie Frantz Fanons, aber die erste, die versucht, wie Shatz selbst es formuliert…
… einer Symbolgestalt wie Fanon das zu verschaffen, was ihm die weiße Welt zu Lebzeiten vorenthielt: nämlich als Mensch wahrgenommen zu werden.
Quelle: Adam Shatz – Arzt, Rebell, Vordenker. Die vielen Leben des Frantz Fanon
Die wichtigste Quelle waren ihm hierbei Fanons Schriften selbst. Was sein Privatleben anging, hielt der sich ziemlich bedeckt. Memoiren betrachtete er eher verächtlich als bourgeoises Freizeitvergnügen.
Mit der Akribie eines Archäologen hat sein Biograf jedoch erfolgreich geschürft und eine Vielzahl von, wie er sagt, „verklausulierten Nebenbemerkungen über seine erlebte Erfahrung und die daraus resultierenden Überlegungen gefunden“.
Außerdem hatte Adam Shatz das Glück, noch mit Zeitgenossen und Weggefährtinnen Fanons sprechen zu können. Allen voran mit Marie-Jeanne Manuellan, seiner ehemaligen Sekretärin, die 2019 in einer Seniorenresidenz in Paris verstarb. Mit 91.
Mehrfach hat Marie-Jeanne Manuellan zu mir gesagt: „Ich möchte nicht, dass Fanon in kleine Teile zerlegt wird.“ Wenn man nur einen Aspekt seiner Arbeit und seiner Persönlichkeit betrachte, übersehe man das untrennbar zusammengehörende Gesamtbild.
Quelle: Adam Shatz – Arzt, Rebell, Vordenker. Die vielen Leben des Frantz Fanon
Shatz fügt die Einzelteile zusammen
Adam Shatz hat versucht, diese vielen kleinen Einzelteile zu einem Ganzen zusammenzufügen. Fanon war ein radikaler Universalist. Als Franzose von den Antillen, kämpfte er für die Freiheit Algeriens.
Als rebellischer Geist der er war, unterwarf er sich den autoritären Strukturen einer Befreiungsbewegung. Er befürwortete gewaltsamen Widerstand, beschrieb aber wie kein anderer gleichzeitig mit großer Sensibilität und Menschlichkeit die nachhaltigen Traumatisierungen durch eben diese Gewalt. Und zwar auf beiden Seiten.
Adam Shatz kaschiert diese Widersprüche nicht, sondern lässt sie nebeneinanderstehen, legt nicht fest oder vereindeutigt. Für ihn ist und bleibt Fanon ein lebenslang Suchender. Wie heißt es doch im letzten Satz von „Schwarze Haut, weiße Masken"?
Oh mein Leib, sorge dafür, dass ich immer ein Mensch bin, der fragt!
Quelle: Frantz Fanon – Schwarze Haut, weiße Masken
Gewalttheorie nach dem 7. Oktober
Sechs Jahre hat Adam Shatz an dieser Biografie gearbeitet. Während des Schreibens war er davon ausgegangen, dass sie vor dem Hintergrund der Black Lives Matter Bewegung rezipiert würde, doch dann geschah, nur wenige Monate vor Fertigstellung des Buches, der 7. Oktober. Und die Auseinandersetzung mit Fanon und seiner Gewalttheorie bekam wieder einmal neuen Brennstoff.
So verhandelt Adam Shatz im Epilog die Frage, ob Fanon den Anschlag der Hamas vom 7. Oktober gutgeheißen, ihn womöglich als Form antikolonialer Gewalt für legitim erachtet hätte. Die Beantwortung dieser Frage macht er sich nicht leicht.
Sie widerzugeben, würde diese Rezension sprengen, aber vielleicht bietet die Neugier darauf einen weiteren Grund dafür, sich in die Lektüre dieser fulminanten Biografie zu stürzen.

Jul 25, 2025 • 4min
Schicksalhafte Begegnung zwischen einer Frau und einer Kakerlake: „Die Passion nach G.H.“ von Clarice Lispector
Um es gleich vorweg zu sagen: Dieser Roman ist eine Zumutung. Und zugleich ein Kunstwerk von wunderbarer Radikalität, das sprachlich wie gedanklich seinesgleichen sucht. Wir sind in Rio de Janeiro, in einer gut betuchten Gegend. Dort lebt auch die Ich-Erzählerin des Romans, eine wohlhabende Bildhauerin namens G.H.
Doch schon die ersten Worte des Romans ziehen uns hinein in ein verstörendes Selbst-Gespräch, das G.H. halb mit sich, halb mit uns, dem Leser, der Leserin führt. Denn just an dem Morgen, an dem der Roman spielt, hat G.H. das Zimmer ihres Dienstmädchens betreten, das ohne Vorwarnung gekündigt hatte.
Im Zimmer vermutet sie Schmutz und Chaos. Umso überraschter ist sie angesichts der gleißenden Ordnung und Sauberkeit, die sie vorfindet.
Die Kammer schien auf einem Niveau zu sein, das unvergleichlich viel höher lag als die Wohnung selbst. Wie ein Minarett. Da war mein erster Eindruck von einem Minarett, das über einer grenzenlosen Fläche schwebte. Von diesem Eindruck spürte ich zunächst nur mein körperliches Unbehagen.
Quelle: Clarice Lispector – Die Passion nach G.H.
Noch etwas findet sie dort: Rätselhafte Kohlezeichnungen an der Wand, die den nackten Umrissen von Menschen gleichen. Und eine Kakerlake, die aus einem Schrank hervorlugt. In einem Anfall von Schrecken tötet G.H. das Tier.
Alle Gewissheiten geraten ins Wanken
Doch dieser eruptive Akt der Gewalt – samt dem ungeahnten Gefühl einer damit einhergehenden Befreiung– weicht einer spirituellen Krise, die sukzessive alle Gewissheiten ins Wanken bringt, die bis dato für G.H. gegolten haben:
Ich hatte getötet! Aber warum dieser Jubel und über ihn hinaus die innige Akzeptanz des Jubels? Wie lange schon war ich also im Begriff gewesen zu töten?
Quelle: Clarice Lispector – Die Passion nach G.H.
Was folgt, ist eine vielschichtige Meditation über die eigene Identität, die Natur des Lebens und die Kräfte des Universums. Ausgelöst wird sie durch den Todeskampf der sich windenden sterbenden Kakerlake, den G.H. mit Schrecken und Faszination zugleich beobachtet. Denn in den Augen dieses Tieres erblickt sie all das, was dem Menschlichen vorausgeht – nicht zuletzt das eigene Tier-Sein.
Wie Eiter stieg meine wahrste Konsistenz in mir hoch – und ich spürte mit Schreck und Ekel, dass der Umstand, »dass ich bin«, aus einer Quelle kam, die der des Menschlichen weit vorausging.
Quelle: Clarice Lispector – Die Passion nach G.H.
Keine kafkaeske Verwandlung
Doch Lispector erzählt von keiner kafkaesken Verwandlung. Ihre Protagonistin wird vielmehr zum Tier, indem sie sich den Körper der sterbenden Kakerlake wortwörtlich einverleibt. Denn diese Kakerlake, so begreift G.H., ist wie sie: weiblich, voll erschreckender Feuchtigkeit, voll schrecklicher Fruchtbarkeit – eine Fruchtbarkeit, die G.H. zum Verhängnis wurde, da auch ihr Leib Jahrzehnte zuvor gerichtet wurde, als sie das Kind, mit dem sie schwanger war, abtreiben musste.
Der Roman strahlt dabei gleichermaßen aus in die Gefilde der Metaphysik wie in die einer religiösen Mystik. Die Suche nach Erkenntnis ins absolut Offene hinein ist ihm Weg wie Ziel zugleich. Und auch wenn der Roman angelegt scheint wie ein wild mäandernder Bewusstseinsstrom, so ist er doch nach strengen formalen Regeln choreographiert:
Eine tastende Sprache
Aufgeteilt in einzelne Kapitel, beginnt jedes neue Kapitel mit dem letzten Satz des vorangehenden Kapitels. In jedem neuen Kapitel streift G.H. Gewissheit nach Gewissheit ab, dringt immer schärfer vor zur Essenz der Dinge.
Ich wusste, dass ich mich im Unreduzierbaren befand, obwohl mir unklar war, was das Unreduzierbare ist.
Quelle: Clarice Lispector – Die Passion nach G.H.
Clarice Lispector wiederum entfaltet mit „Die Passion nach G.H.“ – von Luis Ruby in ein vibrierendes Deutsch übertragen – vor unseren Augen eine tastende Sprache, die sich im Suchen selbst neu erfindet. Und die uns neu sehen und neu denken lehrt.

Jul 25, 2025 • 12min
Es gab schon im Mittelalter ein Bewusstsein für Überfischung und Nachhaltigkeit
Eine Geschichte nicht über, sondern aus dem Meer zu schreiben – das war die Idee von Nikolas Jaspert, als er seine Recherchen begann. Er ist in die Tiefen der Meere abgetaucht und mit einem dicken Buch an Land gegangen.
„Fischer, Perle, Walrosszahn. Das Meer im Mittelalter“ heißt es und will „die erste Geschichte des Mittelalters von der Warte des Meeres aus“ sein. Denn, sagt Nikolas Jaspert, „das Mittelalter ist nach geläufiger Vorstellung ländlich geprägt, und wenn wir vom Meer auf das Land schauen, dann sehen wir Schiffe, Hafenstädte und Menschen, die vom Meer lebten.
Was mir jetzt wichtig war, eine Geschichte aus dem Meer zu schreiben, also zu schauen, was unter Wasser existierte und wie dies genutzt, verarbeitet und gedeutet wurde.“
Meeresmonster, Sirenen und seltsame Mischwesen
Und da tummelt sich allerhand Getier und mehr. Jaspert erzählt von Meeresmonstern, Sirenen und seltsamen Mischwesen, halb Fisch, halb Mönch, aber auch von Alexander dem Großen, der sich der Legende nach in einer Glaskugel auf den Meeresgrund habe sinken lassen, um die Unterwasserwelt zu erforschen.
„Es wird im Mittelalter nicht unterschieden zwischen wirklichen und Fantasielebewesen, und zwar ganz einfach aus dem Grund, weil man sich nicht sicher sein konnte, dass es sie nicht doch gibt. Man mag das naiv nennen, aber wir wissen selbst heute noch wenig über die Meere, noch viel weniger wusste man im Mittelalter“.
Pragmatisches Denken
Die Menschen im Mittelalter begegneten dem Meer mit Respekt, man fürchtete es. Und trotzdem nutzte man es früh als Ressource. Die Schätze des Meeres wurden gehoben. Muscheln, Korallen, Bernstein, und vor allem Fisch, der mit Salz konserviert und weit ins Landesinnere verschickt werden konnte. Massenware wie der Hering wurde auch weit entfernt der Küsten in Hospitälern für die Ärmsten gereicht.
Bei alldem wusste man darum, dass man einen Fluss leerfischen kann, und man traf Vorkehrungen. Darüber geben Marktverordnungen, Zolllisten und andere Quellen Aufschluss, die regeln, wie viel gefischt und verkauft werden darf.
„Es geht weniger darum, Mutter Natur zu schützen, sondern man dachte sehr pragmatisch, aber eben nachhaltig. Im Kern ist das Nachhaltiges Denken, aber nicht aus Liebe zur Natur, sondern aus Selbstinteresse.“

Jul 25, 2025 • 55min
Mit neuen Büchern von Tanja Kinkel, Gaea Schoeters, Adam Shatz, Nikolas Jaspert, Clarice Lispector und Johanna Haberer
Vom Wind des Meeres und der Freiheit – Neue Romane und Sachbücher
Bestsellerautorin Tanja Kinkel im Gespräch, Europas koloniale Schatten in neuen Büchern von Gaea Schoeters und Adam Shatz. Und ein Historiker taucht in die Tiefen des Meeres.

Jul 25, 2025 • 16min
„Der vorauseilende Gehorsam gegenüber autoritären Strukturen macht mir wirklich Angst.“
In ihrem Revolutionsroman „Im Wind der Freiheit“ sind die Frauen die Protagonistinnen. Deren Rolle in der Revolution von 1848/49, sagt Tanja Kinkel, sei viel zu lange übersehen worden.
„Ich hatte wirklich die Qual der Wahl, wen von den vielen Frauen, denen ich begegnet bin, ich in meinem Buch unterbringen konnte.“
Im Roman ist das allen voran die Journalistin und Schriftstellerin Louise Otto, eine historische Figur. 1819 wird sie in Meißen geboren, kämpft für Freiheit und Gleichberechtigung und gründet 1849 eine eigene Zeitung, die „Frauenzeitung“. Für Tanja Kinkel eine Pionierin der modernen Frauenbewegung.
„Louise Otto war ganz klar eine frühe Feministin, sie hat sich selbst so verstanden.“
Gleich zu Beginn des Buchs trifft Louise Otto auf die die zweite Protagonistin , die Arbeiterin Susanne Grabasch, im Roman eine fiktive Person. In der Folge wird das Revolutionsgeschehen aus den unterschiedlichen Perspektiven der beiden Frauen erzählt.
Lange war die Revolution 1848/49 eher eine ‚Männergeschichte‘, festgemacht an Namen wie Robert Blum, Friedrich Hecker und Gustav Struve. Tanja Kinkel schickt jetzt erstmals die Frauen der Revolution vor. Will sie ausgleichende Gerechtigkeit walten lassen?
Parallelen zur Gegenwart
Kinkel erzählt im „lesenswert Magazin": „Ich wollte über das schreiben, was mich interessiert hat, und da war es eben die Rolle der Frauen, die mir ins Auge stach.“
Die Revolution von 1848/49 scheiterte. In den Augen von Tanja Kinkel unter anderem an der Uneinigkeit der Demokraten und der Rolle der freien Presse, die „Dinge schreiben konnte, die niemals einem Faktencheck standhalten würden“. Das alles machte damals die Zusammenarbeit immer schwieriger.
Tanja Kinkel sieht dabei deutliche Parallelen zur Gegenwart: „Ich fürchte, dass es einfach zu verführerisch ist, einfachen Botschaften zu folgen, statt abzuwägen. 1848 kann uns einiges über die Gegenwart sagen.“
Ein Roman über Trump?
Was der Schriftstellerin und Vorsitzenden der Internationalen Lion-Feuchtwanger-Gesellschaft in Los Angeles vor allem Sorge bereitet, ist die Entwicklung in den USA. Sie meint: „Es heißt ja sprichwörtlich: was in den USA passiert, schwappt ein paar Jahre später zu uns herüber. Das macht mir verdammt Angst.“
Einen Roman über Donald Trump zu schreiben, kommt für sie übrigens nicht infrage: „Als fiktive Person funktioniert er nicht, er ist viel zu eindimensional, er ist eine lächerlich überspitze Figur, die einem niemand abnimmt. Die Realität ist mies verfasst.“


