

SWR Kultur lesenswert - Literatur
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Mentioned books

Jul 25, 2025 • 55min
Mit neuen Büchern von Tanja Kinkel, Gaea Schoeters, Adam Shatz, Nikolas Jaspert, Clarice Lispector und Johanna Haberer
Vom Wind des Meeres und der Freiheit – Neue Romane und Sachbücher
Bestsellerautorin Tanja Kinkel im Gespräch, Europas koloniale Schatten in neuen Büchern von Gaea Schoeters und Adam Shatz. Und ein Historiker taucht in die Tiefen des Meeres.

Jul 23, 2025 • 4min
Stefanie Schüler-Springorum – Unerwünscht
Westdeutschland gilt bei der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit vielen als vorbildlich. Wer das Buch „Unerwünscht“ der Historikerin Stefanie Schüler-Springorum liest, wird begründete Zweifel an dieser Zuschreibung hegen. Auf zweihundert Seiten blättert die Autorin in sieben Kapiteln eine Geschichte der westdeutschen Demokratie auf, die wenig mit erfolgreicher Vergangenheitsbewältigung zu tun hat.
Ob Sinti und Roma, Juden, Zeugen Jehovas, sogenannte „Berufsverbrecher“, Homosexuelle, Kommunisten oder psychisch Kranke: Für sie alle setzten sich Stigmatisierung und Ausgrenzung nach dem Untergang der NS-Diktatur fast nahtlos fort. Um jahrelange Gerichtsprozesse zu führen, fehlten den traumatisierten Opfern Kraft und Geld.
Allein die Zahlen, die Schüler-Springorum zusammenträgt, sind erschütternd: Von etwa 200.000 Tätern, die Millionen Zivilisten ermordeten, wurden in Deutschland nur circa 7.000 Personen juristisch belangt. Die Erklärung für dieses Missverhältnis liegt in der „Elitenkontinuität“ nach der Gründung der Bundesrepublik.
In Ministerien und Verwaltung, Justiz und Polizei, Wirtschaft, Medien, Bildungs- und Gesundheitswesen besetzten Männer die gleichen oder ähnliche Positionen, die sie zuvor im Nationalsozialismus innehatten. Was dies konkret bedeutet, macht Stefanie Schüler-Springorum mit Auszügen aus Urteilen, Interviews und Gerichtsakten deutlich. Das Ziel einer homogenen, „gesunden Volksgemeinschaft“ bleibt auch nach 1945 in Westdeutschland bestehen.
Befreit, aber ausgegrenzt
Viele der Überlebenden fanden sich nach der Ermordung ihrer gesamten Familie heimat- und orientierungslos in überfüllten Unterkünften für „Displaced Persons‘“ in der Obhut der Alliierten wieder. Wer in den früheren Wohnort zurückkehrte, sah sich mit dem kollektiven Schweigen der ehemaligen NS-Anhänger konfrontiert.
Oft folgten zähe Kämpfe um Rückerstattungen oder Deals mit den einstigen Verfolgern: Ein „Persilschein“ gegen die Rückgabe von Eigentum.
Mancher Erlass atmet auch 1948 noch den Geist des Nationalsozialismus. So wollte das Präsidium des Deutschen Städtetages Sinti und Roma, die als „kriminalistisches Problem“ galten, in Dörfer im Emsland umsiedeln und dort umerziehen. Die alliierte Oberaufsicht verhinderte solche rassistischen Praktiken.
Wenn es um die Anerkennung der Spätfolgen von Lagerhaft und Gewalt ging, ist die Lektüre der ärztlichen Gutachten für die Autorin heute schwer erträglich:
Bei Sinti und Roma wurde meist ihre »geringe Intelligenz« ins Spiel gebracht, bei Osteuropäern eine »gewisse geistige Primitivität« und bei weiblichen jüdischen Opfern »konstitutionell bedingte« emotionale Störungen. Oder aber man benutzte, wie im Verfahren einer Leipziger Jüdin, die das Ghetto Riga überlebt hatte, gerade ein gelungenes Nachkriegsleben als Argument. Als gutsituierte bürgerliche Frau habe sie doch Entschädigung eigentlich nicht nötig – trotz der sieben Fehlgeburten und anderer, offensichtlich haftbedingter Symptome.
Quelle: Stefanie Schüler-Springorum – Unerwünscht
„Mischung aus Rachsucht, Pedanterie und Ignoranz“
Was trieb die Juristen, ärztlichen Gutachter und Behördenmitarbeiter, mögliche Klagen und Ansprüche der Opfer unbedingt abzuwehren? Für Stefanie Schüler-Springorum ist es eine „Mischung aus Rachsucht, Pedanterie und Ignoranz“, die der Aufrechterhaltung des eigenen Überlegenheitsgefühls dient. Frauen kommen in diesem Buch als Opfer, Mütter und Partnerinnen vor, nicht als Täterin.
Vor dem Hintergrund der aktuellen Migrationsdebatte sowie Forderungen nach Grenzschließungen und Abschiebungen von unerwünschten Personen ist diese fundierte Analyse, die durch dreißig Seiten Anmerkungen und ein ausführliches Literaturverzeichnis ergänzt wird, unbedingt empfehlenswert.

Jul 23, 2025 • 4min
Dieter Kühn – Ausblicke vom Fesselballon
Schon mit dem Titel schließt sich ein Kreis. Denn Dieter Kühns erster Roman von 1971 hieß „Ausflüge im Fesselballon“. Figuren, Motive und Konstellationen des Frühwerks hat er nun erneut aufgegriffen. Hauptfigur der Handlung, die in den achtziger Jahren spielt, ist wiederum ein Studienrat. Gequält korrigiert Lothar Bremer Schülerhefte und sitzt Elternabende ab.
Dieter Kühn hat in seinen Romanen und Biographien gerne den erzählerischen Möglichkeitssinn spielen lassen und alternative Lebens- und Handlungsoptionen ausfabuliert. Lothar Bremer aber steckt in seiner ungeliebten Lehrerexistenz fest wie in einem Schraubstock.
Ehekrise und Affären
Ausgiebig hadert er auch mit seiner Familiensituation. Seine Frau Renate ist leidenschaftliche Dolmetscherin und ständig unterwegs auf Kongressen. Zwar hat Bremer ein offenes Ohr, wenn sie ausführlich vom Tagungsbetrieb erzählt, von den Eitelkeiten der Forscher und den Tücken des Dolmetscheralltags.
Aber während Renate weg ist, bleiben Bremer der Haushalt und die offenbar von ihm wenig geliebte Tochter überlassen. Dass seine Schwiegermutter dann regelmäßig zur Unterstützung anrückt, beglückt ihn auch nicht gerade.
So reist Bremer herum, als wäre er auf Flucht, verbringt Tage an der Nordsee, hat Affären, etwa mit einer VHS-Dozentin und Orchideen-Liebhaberin, die allerdings nicht von ihrem bisherigen Partner loskommt, von dem sie sich eigentlich längst getrennt haben wollte. Bremer gefällt sich auf Dauer nicht in der „Rolle als Mann nur für den Nachmittag dann und wann“, er will mehr:
Und Lothar wieder: Aber merkst du denn nicht, dass ich dich brauche? Dass ich aus Not angerufen habe?“ „Aber nur, weil deine Renate mal wieder auf einer Konferenz ist.“ „Nicht nur, nicht nur… Sie bleibt ja auch sonst weg. Du weißt genau, diese Ehe ist ein auslaufendes Modell.“ „Ja, und so weiter und so weiter. Wir können uns am Montag sehn, aber heute geht es nicht.“
Quelle: Dieter Kühn – Ausblicke vom Fesselballon
Porträt eines Jahrzehnts
„Ausblicke vom Fesselballon“ hat viel Achtziger-Jahre-Atmosphäre. Einmal landet Bremer mitten in einer Anti-AKW-Demo; die Landschaft, in der der Roman spielt, das Rheinische Braunkohlerevier, ist noch schwer gezeichnet vom Tagebau. Die Menschen streiten über die Grundwasserabsenkung, die weggebaggerten Ortschaften und die Umsiedlungen. Weggebaggert wird allmählich auch die herkömmliche Ordnung der Geschlechter. Frauen gehen eigene Wege, entwickeln Eigensinn und berufliche Ambitionen, Bremer tut sich nicht leicht damit.
Seine Affäre mit der VHS-Dozentin endet in einem beklemmend beschriebenen Gewaltausbruch. Überhaupt neigt sich der Roman am Ende ins Düstere. Bremers Versuche, mit Forschungsaufträgen der Lehrerexistenz zu entkommen, scheitern. Das Angebot, für einen Baukonzern eine Festschrift zu verfassen, lehnt er ab, als ihm klar wird, wie tief die Firma in den Nationalsozialismus verstrickt ist. Schließlich reist er allein nach Neapel und irrt dort über vermüllte Hänge, die mit dystopischer Intensität beschrieben werden:
Bretter, Styroporplatten, Styroporbrocken, vom Meer noch nicht aufgelöst in Granulat. Das Meer als Müllzerkleinerer, vor allem im Brandungsbereich. Kühlschränke, Sessel, Stellagen – alles den Steilhang hinab, dem Meer zum Fraß vorgeworfen, aber dieser Sperrmüll lässt sich nicht verdauen, wird nur immer wieder ausgespien, angeschwemmt, ausgewürgt.“
Quelle: Dieter Kühn – Ausblicke vom Fesselballon
Sprachlust und Beschreibungskunst
Das Buch lebt – typisch für Kühn – nicht von in einem spannend konstruierten Plot, sondern von den vielen Exkursen und Abschweifungen, von genauen Beobachtungen und detailfreudig ausgemalten Erlebnissen, sei es ein desaströser Familienurlaub in Südfrankreich oder Bremers scheiternder pädagogischer Hausbesuch beim alkoholisierten Vater eines Problemschülers.
Die Sprachmacht, Sprachlust und Beschreibungskunst, die Dieter Kühns Werke auszeichnet, ist auch in seinem letzten Roman noch wirksam.

Jul 22, 2025 • 4min
Eine berührende und eindrucksvolle Recherche: Lorenz Hemickers „Mein Großvater, der Täter"
Persönlich hat Lorenz Hemicker seinen Großvater nie kennengelernt, er starb 1973, fünf Jahre vor der Geburt des Autors. Inzwischen, nach jahrelangen Recherchen, glaubt sein Enkel diesen Mann aber gut genug zu kennen, um sich ein Urteil über ihn erlauben zu können.
Was nichts daran geändert hat, dass es dem FAZ-Redakteur noch immer schwerfällt, diesen Mann seinen Großvater zu nennen, im Gegenteil. Lieber nenne er ihn nach seinem Vornamen, Ernst, schreibt Lorenz Hemicker in seinem Buch.
Nach der Lektüre dieser eindringlichen Spurensuche in einer deutschen, allzu deutschen Familiengeschichte dürfte das niemanden verwundern. Immerhin war Ernst Hemicker als SS-Offizier an Massenerschießungen von Juden beteiligt. Unter anderem.
Er war ein williger Vollstrecker. Ein Massenmörder, der geholfen hat, Zehntausende zu töten. Und er wurde zum Fluch für meinen Vater, den diese Schuld sein Leben lang bedrückte. Meinen Frieden kann ich mit ihm darum niemals schließen.
Quelle: Lorenz Hemicker – Mein Großvater, der Täter
Folgenreiches familiäres Schweigen
Tatsächlich handelt Lorenz Hemickers Buch nicht nur vom Nazi-Großvater. Sondern auch von der Last des familiären Schweigens nach dem Krieg, das erst durch eine drohende Anklage wegen Beihilfe zum Massenmord in den späten Sechzigern beendet wurde.
Seinen Vater Peter habe das Wissen um die Taten seines Erzeugers zeitlebens verfolgt; geradezu zwanghaft sei er bei jedem Familienessen auf den Holocaust zu sprechen gekommen, erinnert sich der Autor. Zugleich habe sein Vater aber die Rechtfertigungen des Großvaters ein ums andere Mal reproduziert, habe sich regelrecht an sie festgeklammert.
Ernst Hemicker behauptete bis zuletzt, er habe nur Befehle befolgt. Und sei sogar, als er im November 1941 die Erschießung Tausender Jüdinnen und Juden im Wald von Rumbula überwachen musste, zusammengebrochen.
„Natürlich lief alles reibungslos“
Eine Behauptung, für die Lorenz Hemicker in den Aussagen anderer Beteiligter keinerlei Belege fand. Fakt ist dagegen, dass sein Großvater als gelernter Tiefbauingenieur für einen SS-General die berüchtigten Gruben im Wald von Rumbula konstruierte, inklusive der nach unten führenden Rampen.
Schließlich habe man es den „armen Menschen“ nicht zumuten können, auch noch hinunterzuspringen, wie es der Großvater bei einer Vernehmung formulierte.
Die Ermordung der Juden und der zivilisierte Umgang mit Menschen standen nebeneinander, ohne dass dies für ihn zu einem offenkundigen Widerspruch wurde: Mal sprach er wie ein Techniker, mal mitfühlend wie ein Mensch, dem seine Arbeit zuwider war. „Natürlich lief alles reibungslos“, gab Ernst zu Protokoll. Gedanken habe er sich keine gemacht. Der Auftrag sei ja eine Fachaufgabe gewesen.
Quelle: Lorenz Hemicker – Mein Großvater, der Täter
Auch bislang unbekannte Verbrechen
Überzeugend rekonstruiert Lorenz Hemicker den Lebensweg seines Großvaters, der einer, Zitat, „ideologischen Stringenz“ gefolgt sei: vom enttäuschten Kriegsfreiwilligen des Ersten Weltkriegs über den umtriebigen Unternehmer mit rassistischen Elitefantasien in den Weimarer Jahren bis zum SS-Offizier, der als begehrter Fachmann 1941 ins besetzte Lettland abkommandiert wurde.
Abwechselnd zu den Lebensstationen des Großvaters erzählt der Autor in bester Reportagemanier auch von seiner jahrelangen Spurensuche, ausgelöst vom Tod seines Vaters.
Eine berührende Recherche
Lorenz Hemicker vergräbt sich in Archive, spricht mit letzten Zeitzeugen, darunter lettische Shoah-Überlebende. Und bittet im Wald von Rumbula unter Tränen um Vergebung für die Taten seines Großvaters.
Zuletzt entdeckt er im österreichischen St. Pölten Zeugnisse für bislang unbekannte Verbrechen seines Vorfahren, als Leiter einer Nazi-Großbaustelle, auf der sich Tausende Zwangsarbeiter zu Tode schuften sollten.
Mit „Mein Großvater, der Täter“ hat Lorenz Hemicker eine eindrucksvoll erzählte, berührende Recherche vorgelegt, die sich mutig den Fragen nach deutscher Schuld und familiärem Wissen stellt.

Jul 21, 2025 • 4min
Ein leidenschaftliches Memoir: Anna Katharina Fröhlichs „Roberto und Ich“
Anna Katharina Fröhlichs neues Buch ist ein poetisches Memoir, eine Erinnerung an die erste Begegnung und die ersten Monate mit dem berühmten Mailänder Verleger und Autor Roberto Calasso.
Eine literarische Begegnung
Sie lernt ihn 1995 kennen – an einem Stand des Verlags Matthes & Seitz auf der Frankfurter Buchmesse, die sie zusammen mit ihrer Mutter besucht.
Auch wenn ich in meinem grünen Kleid mit den Puffärmeln wie eine Komparsin aus einem Goldoni-Stück neben meiner Mutter stand, muss ich etwas so Heiteres und Verlockendes verströmt haben, dass Roberto nicht die Flucht ergriff, wie es oft seine Art war. Er war neugierig auf mich, bodenlos neugierig. Später schrieb er mir in einem Brief, dass meine Erscheinung eine Epiphanie für ihn gewesen sei.
Quelle: Anna Katharina Fröhlich – Roberto und Ich
Die Puffärmel, Goldoni, eine Epiphanie: Von Anfang hat diese Annäherung in der Beschreibung Fröhlichs nicht nur etwas Überbordendes, sondern vor allem etwas Literarisches. Die nun beginnenden und sich immer weiter fortsetzenden Gespräche mit Calasso drehen sich um Bücher und Autoren, nicht um irgendwelche, sondern die absoluten und übergroßen der Weltliteratur.
Für das Mittelmäßige sind sie beide nicht geschaffen. Aber das Szenario, das Fröhlich aus ihrer Erinnerung hervorzaubert, ist selbst Literatur. Ihre Protagonisten „Roberto und Ich“ verwandeln sich in Figuren aus Prousts „Recherche“ oder Balzacs menschlicher Komödie.
Die junge Frau, die vor [Roberto Calasso] saß, war, wie eine Flickendecke aus verschiedenen Stoffresten, aus all den Büchern gemacht, die sie bis dahin gelesen hatte.
Quelle: Anna Katharina Fröhlich – Roberto und Ich
Liebe, Literatur und Eros
Anna Katharina Fröhlich schildert die Wochen und Monate der Verliebtheit, die Verlustängste und Eifersucht, die gemeinsamen Reisen und Beschwörungen einer Zukunft mit einer großen Intensität: Da ist einerseits die noch sehr junge, von ihrem Äußeren überzeugte, mit ihren Reizen spielende Frau, die sich bei Fröhlich in eine Novellenfigur aus dem späten 19. Jahrhundert verwandelt.
Sie will gefallen und lernen, wird angezogen von der intellektuellen Brillanz dieses Mannes, der ihr Vater sein könnte. Da ist andererseits der mit der Schriftstellerin Fleur Jaeggy verheiratete Calasso, der zwischen Abgeklärtheit und Enthusiasmus schwankt, diszipliniert ist und doch zu uneingeschränktem Genuss fähig.
Ihm widmet Fröhlich ein liebevolles Porträt. En passant stellt sie Themen seines Werks vor, verbeugt sich voller Bewunderung vor dem geistreichen Schriftsteller. Gleichwohl flirrt dieses Buch von Erotik, auf eine zugleich kokette und dezente Weise, wie sie auch in einem Roman des 19. Jahrhunderts nicht schöner zu finden wäre.
Zwischen Rausch und Abschied
Der ornamentale Stil hat etwas Berauschtes. Die gemeinsamen Lektüren von Calasso und Fröhlich sind förmlich in „Roberto und Ich“ eingesickert – als Spuren einer Literatur, die ästhetisch weder kompromissbereit ist noch Scheu vor Detailversessenheit und Grandezza hat. Man könnte das epigonal nennen. Vielleicht auch lasziv. Sogar ein bisschen angeberisch.
Das Liebespaar von 1995, die modernen Nachfolger von Pluto und Proserpina, Venus und Zeit, Venus und Vulkan, das damals viel Staub aufgewirbelt hatte, existierte nicht mehr auf der Bühne der Welt, doch lebte es in mir weiter.
Quelle: Anna Katharina Fröhlich – Roberto und Ich
Es ist bei Fröhlich aber zugleich von so schöner Originalität und von Lust befeuert, dass man ihr gerne zurück ins romanhaft entrückte Glück folgt und alle Maßlosigkeit verzeiht. Aber auch auf das Glück legt sich früh schon ein Schatten.
Ein leidenschaftliches Memoir
Im Januar 1996 stirbt Calassos bester Freund, der große Dichter Joseph Brodsky. Anna Katharina Fröhlich, nur die Geliebte Calassos, darf der Trauerfeier nicht beiwohnen. Knapp 30 Jahre später besucht sie das Grab Brodskys in Venedig.
Das Buch endet dort auf dem Friedhof San Michele, wo Brodsky seinerzeit beigesetzt wurde. Und wo auch Roberto Calasso 2021 seine letzte Ruhestätte gefunden hat. Die angemessene Nachbarschaft. Und das adäquate Finale dieses leidenschaftlichen Memoirs.

Jul 18, 2025 • 12min
Überraschend unoriginell: Uketsus Debütroman „Seltsame Bilder”
Ein neuer Krimi aus Japan erzählt von Morden, die aufgeklärt werden, weil die Opfer rätselhafte Zeichnungen hinterlassen haben.
„Seltsame Bilder” heißt er, der Autor ist Uketsu. Inzwischen weiß man, dass es sich bei Uketsu um einen Mann handelt. Und der ist vielleicht auch ein bisschen seltsam: Er tritt nur in einem schwarzen Ganzkörperanzug und mit einer weißen Maske auf, die ans „Nō“-Theater erinnert. Seine Stimme lässt Uketsu verzerren.
Uketsu ist Youtuber, Internetautor, er macht Fotoinstallationen und er ist Zeichner. Drei Krimis hat er bislang geschrieben. „Seltsame Bilder” war sein Debüt und das wurde nun auch ins Deutsche übersetzt. Der Krimikritiker und Publizist Thomas Wörtche im Gespräch über den Roman.
Anonymität als PR Stunt
SWR Kultur: Herr Wörtche, auf YouTube kann man etliche, so niedlich gruselige Kurzfilme von Uketsu finden. Sein Kanal hat 1,75 Millionen Abonnenten. Wie wirkt denn Uketsus Performance auf Sie?
Thomas Wörtche: Sie haben es schön gesagt: niedlich und gruselig. Mir würde vielleicht noch ein klein wenig albern einfallen. Das ist, betrachtet in den Parametern der Aufmerksamkeitsökonomie, natürlich ein sehr geschickter Schachzug. Sich zu verfremden, sich unkenntlich zu machen, mit einer Maske aufzutreten und komische Stimmlagen zu pflegen, das hat einen hohen Verfremdungseffekt.
SWR Kultur: Und er ist auch anonym, das trägt zur Rätselhaftigkeit bei. Dass Autoren anonym bleiben wollen, das ist kein Einzelfall. Viele publizieren unter Pseudonym. B. Traven zum Beispiel, Elena Ferrante...
Thomas Wörtche: ...Ettore Schmitz alias Italo Svevo. Im Krimi-Bereich gibt es das natürlich auch: Gore Vidal als Edgar Box. In Deutschland: Cora Stephan als Anne Chaplet. Oder ein Wesen, das weder geschlechtlich noch namentlich definiert ist, namens Kim Koplin. Das ist völlig normal, das ist gar nichts Besonderes.
SWR Kultur: Sie lesen das nicht als Teil der Gruselstrategie?
Thomas Wörtche: Nein, überhaupt nicht. Ich lese das als Teil der PR-Strategie.
Mordfälle und kuriose Zeichnungen
SWR Kultur: „Seltsame Bilder”: Darin geht es um mehrere Morde, verteilt auf mehrere Jahrzehnte, nicht chronologisch erzählt. Ein Kind erschlägt seine Mutter, eine Schwangere stirbt bei der Geburt, zwei Männer werden in ihren Zelten erschlagen und die Opfer haben Zeichnungen hinterlassen.
Das ist das Besondere an diesen Geschichten. Und diese Zeichnungen, die helfen schließlich bei der Aufklärung der Mordserie. Die sind im Buch auch abgedruckt. Was für Bilder sind das?
Thomas Wörtche: Das sind merkwürdige Bilderrätsel. Im ersten Fall von der Frau, die beim Geburt ihres Kindes stirbt, da müssen wir fünf Bilder zusammenfügen. Obwohl er eigentlich immer nur von drei Bildern spricht, aber es geht um fünf Bilder. Wenn man die dreht und entschlüsselt, kommt man darauf, dass es ein Mord ist.
Die Herren, die im Zelt erschlagen werden, die malen unter seltsamen Umständen Bergketten ab, wo der Sonnenstand und die Perspektive eine Rolle spielt. Das sind natürlich Sachen, die kaum zu rekonstruieren sind, gerade die Sachen mit den Bergbildern. Er erzählt uns, dass der, der erschlagen wird, sozusagen mit den Händen hinter dem Rücken eine Skizze einer Bergkette liefert. Das ist schon ein bisschen arg gewagt, würde ich sagen.
Andererseits gibt es auch andere, nicht-textliche Elemente: Timetables, merkwürdige Buchstabenreihungen, die wir nicht verstehen, weil sie auf zwei japanischen Schriften beruhen, die eigentlich gar nichts zum Verständnis des Buches beitragen, sondern den Inhalt nochmal verdoppeln.
Nochmal das berühmte Spiel des klassischen „Whodunnit“. Mit den Zeittafeln: Wer war wann wo? Wo waren sie um 18.17 Uhr und wo waren sie um 18.18 Uhr? Also das Spiel verdoppelt dadurch, dass er das nochmal grafisch umsetzt. Das ist dann eher... redundant.
Mehr Schein als Rätsel
SWR Kultur: Ich fand die Idee, in einem Krimi mit Bildern und Bildinterpretation zu arbeiten erstmal sehr, sehr gut. Aber dann gibt es diese zwei Arten von Bildern: Das eine sind die Rätselbilder, die der Erzähler entschlüsselt und wir dann eben auch mit ihm. Das andere sind im Grunde nur in Grafiken umgesetzter Text, könnte man sagen.
Da wird ein Zeitstrahl aufgezeichnet. Da steht dann, welche Figur von wann bis wann ein Alibi hatte. Das haben wir aber im Text alles schon gelesen, das bringt irgendwie nicht viel.
Thomas Wörtche: Nein, das bringt überhaupt nicht viel. Und vor allem ist das ja auch uralt, das ist ja keineswegs innovativ. Da sind wir wieder beim klassischen „Whodunnit“, wo das sehr oft gemacht wurde, dass Pläne oder Bilder beigelegt wurden.
Bei John Dickson Carr, Ellery Greene, Freeman Wills Crofts... Ich glaube sogar auch bei Agatha Christie, da bin ich mir nicht ganz sicher. Eigentlich bei sehr, sehr vielen Autorinnen und Autoren des „Golden Age" ist das so.
Gerade beim „Locked-Room Mystery" ist das sehr berühmt, also beim Rätsel des verschlossenen Zimmers: Da wird das Zimmer skizziert, damit man sieht, dass da ja keiner reinkommt. Dann wird eben mit Taschenspielertricks - wie ich das nenne - wird das dann aufgelöst und das ist natürlich hier genau dasselbe Verfahren.
Alles erklärt, nichts gedacht
SWR Kultur: Ich dachte ja zuerst, dass das ein Krimi zum Mitraten sei. Das ist aber nicht, es wird einem alles, durch und durch erklärt.
Thomas Wörtche: Keine Chance! Es wird erklärt und ist auch außerhalb jeder menschlichen Vernunft. Irgendjemand wird zwangsgefüttert, um den Mageninhalt auf eine bestimmte Todeszeit festlegen zu können. Das ist völlig bizarr. Genau wie das Malen, halb erschlagen, mit einer Hand hinterm Rücken. Das sind lauter so Sachen, die einfach nur konstruiert sind und die einem keine Chance geben zum Miträtseln.
Und außerdem geben die Bilder und auch der Text kein Material zum Miträtseln. Es wird alles auserzählt. Die Fakten werden einem um die Ohren gehauen, aber diese Fakten sind natürlich alle erfunden, also alle nachgeliefert. Die folgen keiner logischen Kette, sondern allein der Willkür des Autors.
Allwissender Erzähler führt hinters Licht
SWR Kultur: Ich habe mich zwischendurch mal gefragt: Wer ist hier eigentlich der Erzähler? Der kennt seine Figuren und ihr Erleben sehr gut. Er erzählt immer aus einer Perspektive. Das fand ich schon ziemlich unheimlich. Effektvoll, in dem Sinne war es auch gelungen.
Aber zunehmend fühlte ich mich von diesem Erzähler, der irgendwie alles weiß, aber immer nur so Schritt für Schritt alles preisgibt, so ein bisschen hinters Licht gefühlt.
Thomas Wörtche: Er spielt sozusagen der Erzähler als Gott. Der allwissende Erzähler, ein uralter Trick. Der ist aber, wenn man das mal ideologiekritisch wenden würde, die Zentralperspektive. Und die Zentralperspektive lässt überhaupt nichts anderes zu. Sie ist sozusagen diktatorisch.
Das Diktatorische ist dann: Immer noch ein neues Kaninchen aus dem Hut zu ziehen. Noch eine Beziehung zwischen Personen zu enthüllen, ohne die man den Roman eigentlich gar nicht verstehen könnte, aber die sehr spät nachgeliefert wird und so weiter und so fort.
Hype trifft auf Ernüchterung
SWR Kultur: Uketsus Krimis wurden in Japan ziemlich gefeiert, dort ist er ein Bestseller-Autor. Jetzt erscheinen in etlichen Ländern Übersetzungen seiner Romane. Der Krimi „Seltsame Bilder” stand im Mai auch auf Platz 1 der deutschen Krimi-Bestenliste. Da kam er offenbar gut an. Der Lübbe-Verlag bringt schon Ende Oktober Uketsus nächstes Buch heraus, „Seltsame Häuser".
Ich verstehe den Hype um die Figur Uketsu durchaus, aber den Hype um die Romane verstehe ich nach der Lektüre nicht so ganz. Sie, glaube ich, auch nicht?
Thomas Wörtche: Nicht so richtig. Ich verstehe natürlich, dass die optische Aufmachung, auch das Buchdesign, originell ist. Die Sprache übrigens, das würde ich noch gerne anmerken, die Sprache ist wirklich sehr, sehr schlicht. Es gibt keine Rezeptionshürden.
Das möchte er auch. Er sagt in einem Interview, er möchte jetzt nicht literarisch sein, sondern er möchte auf möglichst breite Akzeptanz stoßen. Das ist ihm gelungen. Das ist wahrscheinlich auch der Grund, warum das Ding so abgeht und gefeiert wird.

Jul 18, 2025 • 7min
„Wenn man Ross Thomas liest, ist das wie eine Impfung gegen politische Naivität“
Es ist eine verlegerische Großtat: 25 Bände in 20 Jahren. Der kleine unabhängige Alexander Verlag gibt seit 2005 das Gesamtwerk des US-Amerikaners Ross Thomas heraus – eines des wichtigsten Politthriller-Autors des 20. Jahrhunderts.
Jetzt ist die Edition abgeschlossen. Alles durchgesehene, vervollständigte oder sogar komplett neue Übersetzungen. Am Anfang dieses Mammutprojekts stand ein Zufallsfund. „Ich habe 2004 mit einer neunbändigen Jörg-Fauser-Werkausgabe begonnen und relativ früh entdeckt, dass er, wie ich finde, zum Teil seine schönsten Texte über andere Autoren geschrieben hat,“ erzählt Verleger Alexander Wewerka.
„Irgendwann tauchte ein Text auf über Ross Thomas und den fand ich so interessant und toll, dass ich dachte, okay, wer ist Ross Thomas?“
Alexander Wewerka erinnert sich
Von den 1960er bis in die 1990er Jahre schrieb Ross Thomas scharfsinnige und genau beobachtete Romane über politische Intrigen und Korruption – mit einem messerscharfen Blick auf die Realität jener Zeit. Viele seiner Bücher sind in den 1970er Jahren im Ullstein Verlag erschienen. „Leider in zweifelhaften Übersetzungen, was einerseits der Zeit geschuldet ist, weil natürlich nach 50 Jahren redet man anders, aber viel schlimmer: Sie haben gekürzt.“
Alexander Wewerka besorgte sich die berühmten gelben Taschenbücher antiquarisch und nahm sie mit in den Urlaub. „Und ich bin immer begeisterter geworden, egal wie die Übersetzungen waren, ob da was fehlte. Aber dieser Grundton bei ihm, diese Haltung, dass alle, die sich anlächeln, im gleichen Augenblick hinten schon das Messer wetzen.“
Ich hätte Sie kaum wiedererkannt, Captain Millwed, mit all den neuen grauen Haaren.“ „Colonel Millwed.“ „Mein Gott. Die Army würde doch nie – aber klar, doch, sie würde. Und sie hat. Glückwunsch.“
Quelle: Ross Thomas – Die im Dunkeln
„Wie mache ich es denn?“: Der Weg zur Werkausgabe
Bekannt ist Ross Thomas für seine sorgsam verwickelten, kaum nachzuerzählenden Plots. Es geht um Wahlmanipulationen, Erpressungen oder den Versuch, eine ganze Stadt finanziell auszunehmen.
Er hat sogar einen spannenden Roman über Insidergeschäfte auf dem Rohstoffmarkt geschrieben. Politik, Wirtschaft und Verbrechen sind bei ihm nicht zu unterscheiden – seine Romane sind intelligent und unterhaltsam. Verständlich, dass sich Alexander Wewerka um die deutschen Rechte bemühte – und dank Ross Thomas‘ Witwe auch bekam. „Und jetzt hatte ich das Problem: wie mache ich es denn? Denn die Bücher gab es ja auf Deutsch. Aber eben nicht gut.“
Er kontaktierte Gisbert Haefs, der 1995 eine gute Übersetzung von Ross Thomas‘ letztem Roman „Die im Dunkeln“ im Haffmanns Verlag gemacht hat. Darin sollen kurz vor der Amtseinführung von Präsident Clinton die Spuren einer Unterschlagung und diverser anderer Schweinereien verwischt werden.
„Und dann haben wir uns in Köln getroffen in so einer Kölsch-Kneipe und ich habe gesagt, Herr Haefs, ich habe die Möglichkeit, Ross Thomas zu machen. Ich wäre auch bereit, alles zu bringen. Wenn schon, denn schon. Aber ökonomisch stehe ich da vor einem kleinen Problem und wollte Sie mal fragen, weil Sie haben ja den letzten übersetzt, auch sehr gut, vollständig ... Und dann strahlte er und sagte, Ross Thomas! Und er hat mir dann angeboten, zu extrem guten Konditionen, mich dabei zu unterstützen.“
Deshalb war der erste Band der Werkausgabe dann 2005 eine Neuauflage von Ross Thomas‘ letztem Roman. „Ich gebe zu, es gab keinen editorischen Plan. Das ist vielleicht ein kleiner Schönheitsfleck, aber mein Anspruch war jetzt auch nicht eine literaturkritisch-wissenschaftliche Edition, sondern ich wollte das Werk zugänglich machen.“
Lebenserfahrung als Voraussetzung für intelligente Unterhaltung
Und das ist ihm gelungen! Die Bücher sind in keiner vorher festgelegten Reihenfolge, also nicht chronologisch erschienen – deshalb ist der Abschluss nun Ross Thomas‘ dritter Roman, 1967 im Original erschienen. „Stimmenfang“ erzählt die Geschichte eines Wahlkampfs in einem fiktiven afrikanischen Staat.
„Man kann ein Gerücht nicht bestreiten – sonst verleiht man ihm nur Glaubwürdigkeit“
Bei diesem Buch ist offensichtlich: Der US-Amerikaner Ross Thomas weiß, wovon er erzählt. Bevor er Romane geschrieben hat, war er Soldat auf den Philippinen, baute den Radiosender der American Forces Networks in Bonn auf, war als Berater, Redenschreiber und politischer Stratege in den USA tätig – und hat sogar selbst mal einen Wahlkampf in Nigeria gemanagt. Ein politischer Insider, zweifellos, der überzeugt ist, dass es keine Gewissheiten oder moralisch einwandfreie Menschen gibt.
Die Trommeln sollen die Ängste vor Impotenz und Tod verbreiten“, sage Diokadu. „Zwei sehr starke Ängste, Mr. Shartelle. Aber angenommen, die Opposition bestreitet es.“ „Fragen Sie den PR-Fachmann“, sagte Shartelle und deutete mit seiner Zigarre auf mich. „Man kann ein Gerücht nicht bestreiten – sonst verleiht man ihm nur Glaubwürdigkeit“, sagte ich.
Quelle: Ross Thomas - Stimmenfang
Wie sein Lebenslauf, so sind auch seine Romane kosmopolitisch: Die Handlungsorte reichen vom Nachkriegs-Bonn über Manila bis ins Oval Office. Seine Figuren folgen – und das ist für die Entstehungszeit der Romane bemerkenswert – keiner Ideologie. Charakterisiert werden sie über ihre fast schon pedantisch erwähnten Vorlieben. Und seine Beschreibung liefert den ironischen Kommentar oftmals gleich mit.
Bewegung war Mickey Dellas einziger Fluch. Die Aussicht auf einen Spaziergang von sechs Häuserblocks konnte eine tiefe Depression bei ihm auslösen. Bekanntlich hatte er einmal ein Taxi genommen, um eine Straße zu überqueren, aber es hatte sich um die Constitution Avenue gehandelt, die eine breite Straße ist, und außerdem hatte es geregnet.
Quelle: Ross Thomas – Porkchoppers
Und auch in jedem Dialog steckt etwas mindestens Zweideutiges. Herrlich! Sicherlich merkt man gelegentlich, dass die Romane mittlerweile einige Jahrzehnte alt sind. So sind beispielsweise Ross Thomas‘ Frauenfiguren zwar aktiver als bei vielen seinen Zeitgenossen, aber ihr hervorstechendstes Merkmal ist oft weiterhin ihr Sex-Appeal. Dennoch sind seine Romane unserer heutigen Realität erstaunlich nah.
Literatur als ‚Impfung gegen politische Naivität‘
„Wir haben einmal Trump benutzt als Abbildung. Weil als Trump an die Macht kam, da kamen eben gerade die „Porkchoppers“ bei uns. Ein Wahnsinnsbuch, beschreibt den Wahlkampf in Chicago in einer riesigen Gewerkschaft. Und der langjährige Präsident will wieder zur Wahl antreten und sein Assistent sagt, eigentlich bin ich jetzt mal dran. Und dann entsteht ein Kampf zwischen den beiden, der ist so grotesk und wahnsinnig, hätte es Trump nicht gegeben, hätte man mir gesagt, na gut, hier übertreibt er.“
Ross Thomas zeigt mit seinen Romanen, dass es gegen Lügen, Korruption und Zynismus Mittel gibt: selbstständiges Denken, einen klaren Verstand und eine gesunde Skepsis gegenüber moralischer Sentimentalität sowie Ideologien.
„Fauser hat diesen Satz: Wenn man Ross Thomas liest, ist das wie eine Impfung gegen politische Naivität und so weiter.“ Tatsächlich mag es pathetisch oder übertrieben klingen, aber: Liest man Ross Thomas, blickt man anders auf die Gegenwart. Abgeklärter. Klüger. Sorgsamer. Ross Thomas ist ein großer Autor – ein Klassiker, den man nun dank des Alexander Verlags in vollem Umfang entdecken kann.

Jul 18, 2025 • 6min
Schicksalsschlag in der Liebe: Urs Faes' „Sommerschatten"
Urs Faes‘ neuer Roman „Sommerschatten“ handelt von einer tiefen Krise, von einer Erschütterung. Sein Held durchmisst darin diverse Gefühlszustände und Erinnerungsräume. Das Seltsame aber: Die Sprache selbst bleibt von dem geschilderten Schock und der daraus folgenden Verwirrung fast gänzlich unberührt.
Späte Liebe vor malerischer Kulisse
Aber der Reihe nach: Dem Ich-Erzähler, gerade von einer schweren Erkrankung genesen und nicht mehr in der Blüte seiner Jahre, hat sich in die jüngere Ina verliebt. Es ist eine überraschende, eine späte und nicht zuletzt auch eine verletzliche Liebe, die sich vor der Kulisse des malerischen und dunklen Schwarzwald ereignet.
Der Erzähler hat seine Wohnung in Straßburg aufgegeben, ist in eine – wie er es nennt – „Klause“ gezogen, um näher bei seiner Geliebten zu sein. Dann ein Telefonanruf, der das Glück bedroht: Almut, eine enge Freundin Inas, überbringt eine furchtbare Nachricht:
Sieht schlimm aus mit Ina. Ohne Bewusstsein aus dem Wasser geborgen. Gerettet. Wiederbelebungsversuche, presste sie noch heraus. Ihre Stimme zitterte, ging in einen unverständlichen Wortschwall über, der kein Nachfragen zuließ, bis sie in Tränen ausbrach und abbrach.
Quelle: Urs Faes – Sommerschatten
Ein tragischer Unfall ändert alles
Ina, Cellistin von Beruf und leidenschaftliche Freitaucherin in ihrer Freizeit, verliert beim Training die Kontrolle. Mehr tot als lebendig wird sie aus dem Becken gezogen. Sie liegt auf der Intensivstation, versetzt in ein künstliches Koma. Für den Erzähler beginnt eine verstörende Zeit der Ungewissheit und der Angst.
Er flieht in Erinnerungen, muss sich Ina in seinem Kopf neu zusammensetzen. Und sich eingestehen, dass sie vielleicht eine Seite hatte, die er nicht wahrnehmen wollte: Das Tauchen ist für sie nicht nur ein Sport gewesen, sondern etwas Existentielles. Sie wurde von der Tiefe angezogen, fasziniert von der gefährlichen Trance, die einen dort heimsuchen kann.
Beim Betrachten von Gegenständen in Inas Wohnung, am Krankenbett ausharrend oder durch die Schwarzwald-Landschaft fahrend, kommen ihm nun immer wieder Bruchstücke ihrer gemeinsamen Zeit in den Sinn. Indem er sie für sich lebendig hält und Szenen des gemeinsamen Lebens heraufbeschwört, bringt er sie auch uns Lesern nahe.
Und in dem, was er weglässt oder nur andeutet, kommt etwas an seiner Partnerin zum Vorschein, zu dem er keinen Zugang hatte.
Kaum hatte ich das Handy losgelassen, fiel mir die Nachricht ein, die mich Tage zuvor erreicht hatte. Ich tippte an und las: ‚Liebster, der Nachtwind durchkämmt das Gras, greift ins Haar und vernebelt die Sicht. Alles hält ein, bleibt ohne Aussicht. Die Wege gehen zu, verlieren sich im Ungefähren. Und irgendetwas fragt: wie weiter? Überhaupt weiter?‘Ich hatte diesen Worten auch deshalb zunächst wenig Beachtung geschenkt, weil mich dann und wann Nachrichten solcher Art erreichten, als gehörte ein wenig Daseinsüberdruss, der auch mir nicht fremd war, zu Inas gelegentlichen Gemütslagen.Hatte ich überhört, was sie mir sagen wollte?“
Quelle: Urs Faes – Sommerschatten
Flucht in die Vergangenheit
Das ist eine der Grübeleien, die den Erzähler umtreiben. Ihm bleibt so nichts anderes übrig, als sich in den Details des Vergangenen der Geliebten zu versichern. Sie kann nicht sprechen, sie kann sich nicht rühren.
Also muss er das Sprechen übernehmen und die Wegstrecken in Gedanken alleine gehen, die sie zuvor zusammen zurückgelegt haben. Das hat etwas sehr Bedächtiges – manchmal ist es getragen von einem sensiblen Ton, manchmal durchdrungen von einer abgeklärten Trägheit.
Ich schreibe über unsere Wege, über das, was wir gelebt haben, mir selber zu sagen, dass es wirklich gewesen ist. Und ich weiß dabei immer: Du würdest eine ganz andere Geschichte erzählen.
Quelle: Urs Faes – Sommerschatten
Urs Faes‘ trauriger Held, ein Kulturjournalist im Übrigen, erscheint wie Orpheus, der seine Eurydike aus der Unterwelt zurückholen will. Er blickt sich dabei allerdings fortwährend um. Er ist auch eine männliche Scheherazade. Solange er erzählt, ihr am Bett wachend aus Büchern vorliest, mit seinen Worten in ihre komatöse Bewusstlosigkeit einzudringen sucht, solange wird er Ina am Leben halten.
Erzählung als Rettungsanker
Es ist eine existentielle Haltlosigkeit, in die er unerwartet versetzt ist. Halt geben in diesem Moment nicht die medizinischen Gerätschaften, die Faes in nüchterner Form aufzählt. Sondern nur die ein leises Vertrauen heraufbeschwörenden Wörter. Und die Natur.
Den Abend am See lesen; jenseits der Grenze Höriland – Wolkenstein, Hohenklingen, Schienerberg bis hin zum Bodanrück. Moorwiesen mit Seevögeln, Strandläufern und zum Ufer hin die Liebeshalde – das müsste unser Land sein. Du würdest unvermittelt auftauchen, wie an jenem Abend in der Kleinstadt im Harz: plötzlich da.
Quelle: Urs Faes – Sommerschatten
Die Liebe, das Glück, die eigene Heilung
Nicht nur dieses Zitat lässt eine Ahnung von der Sprache dieses Buches aufscheinen: Sie hat etwas geradezu Ausgewähltes, poetisch Aufgeladenes. An vielen Stellen ist sie bemüht nicht nur um das genaue, sondern um das noch gewichtigere Wort. Was dieser Text hingegen nicht zeigt, ist der Aufruhr eines Verzweifelten und Zweifelnden.
Dafür hat die Erzählung eine zu laue, vernünftige Temperatur. Man mag das als Stärke betrachten – als Versuch, dem Unverständlichen mit Wohlklang zu begegnen. Aber vielleicht ist es auch ein bisschen zu gediegen, zu betulich, zu wohldurchdacht für das aufwühlende Chaos, das ein solches Unglück im Inneren anrichtet. Denn für den Erzähler steht hier doch alles auf dem Spiel: die Liebe, das Glück, die eigene Heilung.

Jul 18, 2025 • 14min
„Eheprobleme im Einfamilienhaus haben mich nie interessiert": Büchner-Preisträgerin Ursula Krechel im Gespräch
Ursula Krechel sagt, sei „überrascht und erfreut“ gewesen, als sie erfuhr, dass sie mit dem diesjährigen Georg-Büchner-Preis ausgezeichnet wird: „Ich habe davon erfahren durch einen Anruf, an einem heißen Tag, und er kam vom Akademie-Präsidenten Ingo Schulze. Das war doch eine große Freude.“
Den Verhärtungen der Gegenwart die Kraft der Literatur entgegensetzen
Die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung zeichnet mit Ursula Krechel eine Autorin aus, die „in ihren Gedichten, Theaterstücken, Hörspielen, Romanen und Essays den Verheerungen der deutschen Geschichte und Verhärtungen der Gegenwart die Kraft ihrer Literatur entgegensetzt“. „Ich bin mit dieser Begründung sehr glücklich“, sagt Ursula Krechel im Gespräch auf SWR Kultur.
Franz W. – versteckt in Krechels neuem Roman
Sieht sie Parallelen zu Büchners Werk, der ja ebenfalls politisch arbeitete und sowohl Romane als auch Dramen schrieb? „In gewisser Weise passt das schon, und das macht mich auch glücklich“, sagt Ursula Krechel. Fröhlich verrät sie, dass es in ihrem neuen Roman „Sehr geehrte Frau Ministerin“ sogar einen Franz W. gibt, also einen Franz Woyzeck.
Auf Seite 356 liest man: „Erwähnt wurde der Fall des Franz W., dessen Tötungsdelikt auf vielen Bühnen des In- und Auslands dargestellt würde, ohne dass die Tat Abscheu errege. Im Gegenteil: W. werde wie ein bedauernswertes Opfer behandelt.“
Ein vorzeitiger Gruß an Georg Büchner? Ursula Krechel: „Ich habe einfach eine gewisse Freude gehabt, Franz W. hineinzugeheimnissen. Ich glaube, niemand hat es bis jetzt gemerkt.“
„Ich habe kein Interesse an Eheproblemen im Einfamilienhaus.“
Rund 30 Bücher hat Ursula Krechel bislang geschrieben: Romane, Dramen, Gedichte, Essays. Außerdem zahlreiche Hörspiele fürs Radio, auch für den SWR. Schon immer war sie eine politische Autorin. „Ich bin sicher keine Autorin, die ein Interesse hat, über Eheprobleme im Einfamilienhaus mit einem Gärtchen davor zu schreiben“, sagt sie, „das interessiert mich nicht, das hat mich nie interessiert.“
Im Gegenteil: „Ich neige dazu, große Panoramen und auch vielstimmige Texte zu bauen. Es macht mir mehr Freude, wenn ich viel Verschiedenes, viel Gebautes, eine Architektur oder ein Panorama von Gegenwart oder von Nachkriegsgeschichte in ein Buch nehme.“
Über dies und noch viele andere Themen spricht Ursula Krechel im „lesenswert Magazin". Etwa über die Bedeutung juristischer Fragen für ihr Werk, über ihre Recherche in Archiven und ihren eigenen Vorlass, den sie kürzlich der Berliner Akademie der Künste überlassen hat.

Jul 18, 2025 • 55min
Mit neuen Büchern von Ursula Krechel, Urs Faes, Uketsu, Ross Thomas und Heinz Strunk
Und: Neue Krimis und die neuen Bücher von Urs Faes und Heinz Strunk.


