
SWR Kultur lesenswert - Literatur Schicksalhafte Begegnung zwischen einer Frau und einer Kakerlake: „Die Passion nach G.H.“ von Clarice Lispector
Jul 25, 2025
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Um es gleich vorweg zu sagen: Dieser Roman ist eine Zumutung. Und zugleich ein Kunstwerk von wunderbarer Radikalität, das sprachlich wie gedanklich seinesgleichen sucht. Wir sind in Rio de Janeiro, in einer gut betuchten Gegend. Dort lebt auch die Ich-Erzählerin des Romans, eine wohlhabende Bildhauerin namens G.H.
Doch schon die ersten Worte des Romans ziehen uns hinein in ein verstörendes Selbst-Gespräch, das G.H. halb mit sich, halb mit uns, dem Leser, der Leserin führt. Denn just an dem Morgen, an dem der Roman spielt, hat G.H. das Zimmer ihres Dienstmädchens betreten, das ohne Vorwarnung gekündigt hatte.
Im Zimmer vermutet sie Schmutz und Chaos. Umso überraschter ist sie angesichts der gleißenden Ordnung und Sauberkeit, die sie vorfindet.
Die Kammer schien auf einem Niveau zu sein, das unvergleichlich viel höher lag als die Wohnung selbst. Wie ein Minarett. Da war mein erster Eindruck von einem Minarett, das über einer grenzenlosen Fläche schwebte. Von diesem Eindruck spürte ich zunächst nur mein körperliches Unbehagen.Noch etwas findet sie dort: Rätselhafte Kohlezeichnungen an der Wand, die den nackten Umrissen von Menschen gleichen. Und eine Kakerlake, die aus einem Schrank hervorlugt. In einem Anfall von Schrecken tötet G.H. das Tier.Quelle: Clarice Lispector – Die Passion nach G.H.
Alle Gewissheiten geraten ins Wanken
Doch dieser eruptive Akt der Gewalt – samt dem ungeahnten Gefühl einer damit einhergehenden Befreiung– weicht einer spirituellen Krise, die sukzessive alle Gewissheiten ins Wanken bringt, die bis dato für G.H. gegolten haben:Ich hatte getötet! Aber warum dieser Jubel und über ihn hinaus die innige Akzeptanz des Jubels? Wie lange schon war ich also im Begriff gewesen zu töten?Was folgt, ist eine vielschichtige Meditation über die eigene Identität, die Natur des Lebens und die Kräfte des Universums. Ausgelöst wird sie durch den Todeskampf der sich windenden sterbenden Kakerlake, den G.H. mit Schrecken und Faszination zugleich beobachtet. Denn in den Augen dieses Tieres erblickt sie all das, was dem Menschlichen vorausgeht – nicht zuletzt das eigene Tier-Sein.Quelle: Clarice Lispector – Die Passion nach G.H.
Wie Eiter stieg meine wahrste Konsistenz in mir hoch – und ich spürte mit Schreck und Ekel, dass der Umstand, »dass ich bin«, aus einer Quelle kam, die der des Menschlichen weit vorausging.Quelle: Clarice Lispector – Die Passion nach G.H.
Keine kafkaeske Verwandlung
Doch Lispector erzählt von keiner kafkaesken Verwandlung. Ihre Protagonistin wird vielmehr zum Tier, indem sie sich den Körper der sterbenden Kakerlake wortwörtlich einverleibt. Denn diese Kakerlake, so begreift G.H., ist wie sie: weiblich, voll erschreckender Feuchtigkeit, voll schrecklicher Fruchtbarkeit – eine Fruchtbarkeit, die G.H. zum Verhängnis wurde, da auch ihr Leib Jahrzehnte zuvor gerichtet wurde, als sie das Kind, mit dem sie schwanger war, abtreiben musste. Der Roman strahlt dabei gleichermaßen aus in die Gefilde der Metaphysik wie in die einer religiösen Mystik. Die Suche nach Erkenntnis ins absolut Offene hinein ist ihm Weg wie Ziel zugleich. Und auch wenn der Roman angelegt scheint wie ein wild mäandernder Bewusstseinsstrom, so ist er doch nach strengen formalen Regeln choreographiert:Eine tastende Sprache
Aufgeteilt in einzelne Kapitel, beginnt jedes neue Kapitel mit dem letzten Satz des vorangehenden Kapitels. In jedem neuen Kapitel streift G.H. Gewissheit nach Gewissheit ab, dringt immer schärfer vor zur Essenz der Dinge.Ich wusste, dass ich mich im Unreduzierbaren befand, obwohl mir unklar war, was das Unreduzierbare ist.Clarice Lispector wiederum entfaltet mit „Die Passion nach G.H.“ – von Luis Ruby in ein vibrierendes Deutsch übertragen – vor unseren Augen eine tastende Sprache, die sich im Suchen selbst neu erfindet. Und die uns neu sehen und neu denken lehrt.Quelle: Clarice Lispector – Die Passion nach G.H.
