
SWR Kultur lesenswert - Literatur Schonungslos und anrührend: Sylvie Schenks neuer Roman „In Erwartung eines Glücks“
Aug 1, 2025
06:13
Von der ersten Zeile an ist Druck auf diesem Roman. Man spürt die Dringlichkeit, von der er angetrieben ist. Mit dem Alter, so schreibt Sylvie Schenk, wächst die Ungeduld. Die Zeit läuft einem davon, gerade, wenn man das mögliche Ende vor Augen hat.
Genau so geht es Irène, der Protagonistin von Schenks neuem Roman. Irène hat plötzlich Sehstörungen, findet die Worte nicht mehr, spürt Taubheit im Arm. Ein Freund kommt vorbei und rast mit Irène in die Klinik:
Ihr war danach, alles mit sich geschehen zu lassen, im Augenblick verharrend, sah sie die Hausreihen und Bäume vorbeiflutschen. Sie wusste längst, dass Ängste sich nur im Zaum halten lassen, wenn man die Zukunft ignoriert, die Vergangenheit ausblendet und sich in der Gondel der Gegenwart schaukeln lässt: Ich bin da, noch atme ich.“Quelle: Sylvie Schenk – In Erwartung eines Glücks
Lebensbilanz im Krankenhaus
Man sollte, das ist eine alte Weisheit, ein Buch niemals nach dem Cover beurteilen. Im Fall von „In Erwartung eines Glücks“ – allein schon der Titel führt in die Irre – sieht man ein paar verschwommene Blumen auf pastellfarbenem Grund. Harmlos. Der Roman ist jedoch alles andere als das. Sylvie Schenk ist 81 Jahre alt. Sie hat großartige Romane wie „Eine gewöhnliche Familie“ oder „Maman“, mit dem sie 2023 auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis stand, geschrieben. Doch erst das neue Buch zeigt, wie radikal, wie ungeschützt im besten Sinne Sylvie Schenks Literatur ist. Hier steht ein Mensch am Ende seines Lebens buchstäblich nackt vor uns. Oder genauer gesagt: Nur noch im Krankenhaushemd. Denn dort, im Krankenhaus, spielt der gesamte Roman. Die befürchtete Diagnose Schlaganfall bewahrheitet sich bei Irène nicht, stattdessen wird eine Hirnhautentzündung festgestellt; Irène verbleibt zur Beobachtung zunächst einmal in der labyrinthähnlich geschilderten Klinik.Überlagerungen von Realität und Erfindung
Irène ist Schriftstellerin; ihr Name, so rutscht es ihr einmal gegenüber ihrer noch jugendlichen Zimmergenossin heraus, ist ein Pseudonym. In Wahrheit heißt sie Syl, wie die Autorin selbst auch. „In Erwartung eines Glücks“ spielt permanent mit derartigen Überlagerungen von Realität und Erfindung. Der Klinikaufenthalt ist Anlass für eine Selbstreflexion, für eine Lebensbilanz, die nicht eben freundlich ausfällt:Wie sah ihr schriftstellerisches Leben aus? Die Suche nach einer Identität war Thema all ihrer Romane, aber nach einem Dutzend Bücher war sie keinen Schritt weitergekommen. Und vielleicht hatte sie nur deshalb ihr Leben dem Schreiben gewidmet: um unter den vielen Pseudo-Synonymen das ursprüngliche Wort zu finden. Oder, um auf hohem Niveau zu lügen.“Quelle: Sylvie Schenk – In Erwartung eines Glücks
Ein Houellebcq-Wiedergänger in Grün
„In Erwartung eines Glücks“ ist ein Buch über das Altern, den Verfall und auch über Abschiede – und dennoch ist die Atmosphäre nicht durchgehend bedrückend. Sylvie Schenk verfügt über einen feinen Humor und über einen Sinn für das Absurde. Beides zeigt sich in den Dialogen zwischen Irène und ihrer Zimmergenossin Ada und in den Gesprächen mit einem Mitpatienten, den Irène nur den „Froschmann“ nennt: grüner Bademantel, grüne Monster-Hausschuhe. Irène erkennt in ihm einen Wiedergänger von Michel Houellebecq. Dessen letzten Roman „Vernichten“ liest sie gerade mit Begeisterung. Er gilt als Houellebecqs menschenfreundlichstes Buch, als eine Intervention gegen Altersdiskriminierung. Man sieht: Die Motive in „In Erwartung eines Glücks“ sind sorgfältig verzahnt.Ein Leben in Andeutungen und Erinnerungsfragmenten erzählt
Sylvie Schenks große Kunst besteht darin, in Andeutungen und Erinnerungsfragmenten im Grunde ein ganzes Leben zu erzählen. Schenks Lesergemeinde kennt Episoden dieses Lebens aus ihren vorangegangenen Büchern: Aufgewachsen ist Irène, Jahrgang 1944, in den französischen Alpen und in einem lieblosen familiären Umfeld. Nach der Hochzeit mit einem Deutschen, zu dieser Zeit noch eine Zumutung für beide Familien, kam sie nach Deutschland, arbeitete als Lehrerin und Übersetzerin, bevor sie sich getraute, sich Schriftstellerin zu nennen. Die Ehe mit Johann, dem Deutschen, startete euphorisch, um alsbald in Routine und Gleichgültigkeit zu versanden. So jedenfalls Irènes Empfinden:Sie hoffte aber noch immer, dass ihr Mann endlich mit ihr sprechen würde, und nicht nur über die Einkaufsliste. Sie hoffte es viele, viele Jahre lang. Die Hoffnung starb nie. Er aber.“Quelle: Sylvie Schenk – In Erwartung eines Glücks
20.000 Nächte gemeinsames Ein- und Ausatmen
Ja, Johann ist tot. Gestorben nach mehr als 50 Jahren Ehe. Im Grunde ist das der Erzählanlass für „In Erwartung eines Glücks“. Die Lücke. Und die existentiellen Fragen, die sich damit verbinden: Was bleibt, wenn einer geht? Welche Umstände bestimmen eine Biografie? Wovon lebt eine Ehe? Hausbau, Geschlechtsverkehr, Kindererziehung, so denkt Irène, sind nichts gegen fast zwanzigtausend Nächte gemeinsamen Ein- und Ausatmens. Das ist nur eine der vielen schönen kleinen Beobachtungen und Formulierungen in diesem Buch, das sich auch als ein später Erkenntnisroman lesen lässt. Irène, noch immer in der Klinik, schreibt ihrem verstorbenen Mann eine kurze Nachricht:Du warst tief in mir eingeschrieben, und ich wusste es nicht. Noch ist es früh in der Nacht, und ich denke an dich, denken ist zu viel gesagt, träumen ist auch falsch, ich spiele magisches Denken, taste mich an dich heran, spiele Blinde Kuh in Liebe, ich rufe dich herauf, streichle dich oder deine Schemen, ich vermisse dich.“Quelle: Sylvie Schenk – In Erwartung eines Glücks
