
SWR Kultur lesenswert - Literatur Chloé Cruchaudet – Céleste. Es wird Zeit, Monsieur Proust
Aug 6, 2025
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Das Prinzip, in Erinnerungen auch in den kleinsten Details zu schwelgen, hat Marcel Proust auf die Spitze getrieben. Sein Roman-Zyklus „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ hat sieben Bände. Auf zwei Bände beschränkt sich die Comiczeichnerin Chloé Cruchaudet.
Ihre Graphic Novel „Céleste“ basiert auf den Erinnerungen von Prousts Haushälterin, Céleste Albaret. Sie hat mehrfach mit Reportern über ihre Zeit bei Proust gesprochen. Diese Interviews verwandelt Cruchaudet in eine visuell elegante wie kluge Erzählung über die letzten Lebensjahre des Schriftstellers.
Darin erzählt die alt gewordene Céleste ihre Geschichte statt Reportern einem Antiquitätenhändler-Paar, das auf der Jagd nach Proust-Andenken ist. In kurzen Episoden blicken wir zusammen mit der alten Frau ins Paris der 1910er Jahre zurück, in das abgedunkelte Haus des Autors, wo dicke Teppiche die Schritte dämpfen und Vorhänge den Asthmakranken vor der Stadtluft schützen.
So penibel der Schriftsteller seine Szenen schildert, so genau ist auch Cruchaudets Darstellung von Architektur, Mode und Einrichtung. Gleichzeitig legt sie Wert auf Nuancen. Mit Aquarelleffekten in Grün und Lila fächert sie eine ganze Palette von Lichtstimmungen auf. Und wie in seiner Literatur fließen Bewusstseinsstrom und Handlung ineinander. Das beginnt schon mit dem für ihn typischen Erzählkniff: dem jähen Erinnern.
Zu Beginn von Band zwei sehen wir Céleste als alte Frau in einem Sessel. Von oben nach unten schlängelt sich eine Lautmalerei über die ganze Seite und umschlingt ihre Gestalt wie ein Band. Es ist das langgezogene Pfeifen der Cafetiere - Proust hatte Célestes Kaffee gerühmt. Sofort hat sie die Zeit vor Augen, in der sie nach einem Konflikt gekündigt hatte – und Marcel Proust doch vermisste.
Ein Klang, ein Duft - und die Erinnerung kommt zurück
Nicht der Luxus fehlte mir, nachdem ich Monsieur verlassen hatte… sondern eher…eine Art von… von Feinheit…eine gewisse Vornehmheit…nicht nur in Manieren---auch darin, wie er sich der Welt völlig entziehen konnte … vor allem, wenn diese Welt ihm nicht zusagte.“Céleste hat einen Blick für den Wesenskern ihres Dienstherrn. Da überrascht es nicht, dass sie wenig später zu ihm zurückkehrt. Sie wird den immer kränklicher werdenden Autor zusammen mit ihrer Schwester betreuen und seinen Triumph miterleben: die Auszeichnung mit dem Prix Goncourt. Chloé Cruchaudet erzählt das in einer fließenden Folge von Anekdoten, wechselt innerhalb weniger Bilder von den 1910er Jahren in die 50er und zurück. Weil ihr Strich vor Schwung strotzt und Einzelbilder und Sprechblasen ohne festen Rahmen auskommen, liest sich das elegant und mühelos. Auch in der Ästhetik ist sie ganz Proustianerin.Quelle: Chloé Cruchaudet – Céleste. Es wird Zeit, Monsieur Proust
Die Literatur durchdringt den Comic - und umgekehrt
Wobei sie dem Menschen hinter dem Autor mit liebevollem Spott begegnet. Etliche Szenen zeigen ihn in seiner Arroganz und Selbstverliebtheit. Aber als Comic-Figur wirkt er kümmerlich. Cruchaudet zeichnet ihn dürr wie ein Strichmännchen, mit ausschweifenden Gesten und einer Mimik, die ans Grimassenhaft grenzt. Was sie vergessen lässt, sobald er mit Céleste über seine Literatur spricht.Proust: Das ganze Material, ich muss es zerpflücken, straffen, dehnen...versuchen, die ganze Schönheit zu extrahieren, indem ich ihm alle Aufmerksamkeit der Welt widme. Selbst den kleinsten, unbedeutendsten Momenten (...)Wie sehr das Schreiben Prousts Leben und das von Céleste durchdringt, macht Chloé Cruchaudet sichtbar, wenn seine Notizen und Manuskripte sich in ihre Bilder drängen. Sogar Zitate aus „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" lässt sie als Textfetzen über die Seiten ziehen. Bisweilen beschwören sie wie in einer doppelt belichteten Fotografie eine Schattenwelt unter der realen Comic-Welt hervor, in herrlich bunten Farben. Treffender hat noch keine Graphic Novel den Zauber von Literatur eingefangen.
Céleste: Eine seltsame Arbeit ist das, die Sie da machen. Es ist, als ...versuchten Sie, die Zeit an den Haaren festzuhalten!“Quelle: Chloé Cruchaudet – Céleste. Es wird Zeit, Monsieur Proust
