
SWR Kultur lesenswert - Literatur Annie Ernaux – Die Besessenheit
Aug 16, 2025
05:32
Annie Ernaux ist vor allem für ihre autofiktionalen Romane bekannt, in denen sie ihre Familiengeschichte umkreist und sich dadurch von ihrer Herkunft zu befreien und mehr über sich selbst zu erfahren sucht.
Erst in diesem Frühjahr ist bei Suhrkamp das Buch „Ich komme nicht aus der Dunkelheit raus“ erschienen, in dem Ernaux vom Abschied von ihrer an Alzheimer erkrankten Mutter erzählt. Und über das Vergehen des Lebens und der Zeit nachdenkt.
Weniger häufig, aber doch in mehreren Romanen hat sich Ernaux literarisch mit ihren Liebesgeschichten auseinandergesetzt. In „Eine Leidenschaft“ oder „Der junge Mann“ zum Beispiel, und auch im 2002 im Original und jetzt erstmals auf Deutsch erschienenen Roman „Die Besessenheit“.
(K)eine Liebesgeschichte?
Nur 66 luftig gedruckte Seiten hat Annie Ernaux' Buch, doch der erste, optische Eindruck einer literarischen Petitesse täuscht: Die Literaturnobelpreisträgerin von 2022 spürt in „Die Besessenheit“ in ungeheuer verdichteter Form einer Obsession nach. Der Ausgangspunkt ist eigentlich banal: Die Ich-Erzählerin hat sich nach sechs Jahren Beziehung von einem Mann getrennt, im Buch mit W. abgekürzt,......aus Überdruss wie aus dem Unwillen, meine nach achtzehn Jahren wiedererlangte Freiheit für ein Zusammenleben aufzugeben, nach dem er sich von Anfang an gesehnt hatte.Eine Trennung ohne größere emotionale Turbulenzen also, so scheint es zunächst. Doch einige Monate später berichtet W. der Erzählerin, dass er mit einer anderen Frau zusammenziehe.Quelle: Annie Ernaux – Die Besessenheit
An meinem Gefühl der absoluten Niederlage merkte ich, dass ein neues Element hinzugekommen war. Von diesem Moment an nahm die Frau mein Leben in Besitz. Ich dachte nur noch durch sie.Aufschlussreich ist hier die Formulierung „durch sie“, nicht „an sie“. Denn nicht nur die Gedanken von Annie Ernaux' Erzählerin schweifen häufig zu der „Neuen“.Quelle: Annie Ernaux – Die Besessenheit
Die Frau füllte meinen Kopf, meine Brust und meinen Bauch, begleitete mich überallhin, diktierte mir meine Gefühle. Gleichzeitig ließ mich diese ständige Anwesenheit intensiver leben. Sie löste Regungen aus, die mir bis dahin fremd gewesen waren, setzte eine Energie und einen Erfindungsreichtum frei, deren ich mich nicht für fähig gehalten hätte, trieb mich konstant zu fieberhaften Aktivitäten an.
Die Frau beschäftigte mich im doppelten Wortsinn, ich war von ihr besessen.Quelle: Annie Ernaux – Die Besessenheit
Eine Obsession mit „der Neuen“
Diese Obsession lässt die Erzählerin Dinge tun, die ihr noch Monate zuvor völlig fremd gewesen wären. Fieberhaft versucht sie, den Namen der Frau herauszufinden, ihr Alter, ihren Beruf, ihre Adresse. Der Ex-Freund ist aus naheliegenden Gründen zurückhaltend mit Informationen. Also recherchiert sie selbst. Kuriose Randnotiz: Annie Ernaux hat diesen Roman 2001 geschrieben, und ihre Erzählerin recherchiert noch im Minitel, dem französischen Vorgänger des Internets. Einzig an diesem technischen Detail merkt man dem Roman sein Alter an. Ansonsten ist „Die Besessenheit“ eine zeitlos gültige Beschreibung der perfiden Macht von Eifersucht. Annie Ernaux schreibt in knappen Sätzen und prägnanten, präzisen Bildern über die Wucht eines Gefühls, das dazu führt, dass die Erzählerin sich „verwünscht“ fühlt, sich in bestimmten Pariser Stadtteilen „auf feindlichem Gebiet“ wähnt, weil ihr dort das neue Paar über den Weg laufen könnte - auch Paranoia mischt sich in den Schmerz, den sie nun über die Trennung empfindet. Hatte sie vielleicht doch noch nicht mit dem Mann abgeschlossen? Oder entsteht die Obsession aus der Unerreichbarkeit des früheren Partners? Die Erzählerin vergleicht ihren Zustand mit einer Krankheit, einer Depression, somatisiert, erklärt oder psychologisiert aber ansonsten nicht. Ernaux geht es darum, Worte zu finden für das Existentielle dieser Erfahrung. Ihre Erzählerin schreibt sich mit „Die Besessenheit“ aber nicht in einem kathartischen Sinne von ihren dunklen Gefühlen frei. Vielmehr dokumentiert sie diese Phase als wichtiges, intensives Erlebnis.Dieser Zustand hielt die alltäglichen Sorgen und Ärgernisse auf Abstand. Er versetzte mich in gewisser Weise an einen Ort, an dem die übliche Mittelmäßigkeit des Lebens nicht an mich herankam.Quelle: Annie Ernaux – Die Besessenheit
Schreiben über die Eifersucht
Als „das Wesentliche“ beschreibt die Erzählerin ihre Eifersucht zu jener Zeit und will sie deshalb erforschen, in Worte fassen und durch Aufschreiben bewahren. Auch die möglicherweise fragwürdige Vorbildfunktion ihres Textes für andere eifersüchtige Frauen reflektiert sie klug. Und bleibt bei ihrem Entschluss:Schreiben ist für mich eine Möglichkeit gewesen, das zu retten, was schon nicht mehr meine Realität ist, keine Empfindung mehr, die mich auf der Straße überfällt und von Kopf bis Fuß erfasst, sondern nur noch ,die Besessenheit', ein klar umrissener Zeitraum der Vergangenheit.Sonja Finck hat Annie Ernaux' klare Sprache grandios treffend ins Deutsche übersetzt. „Die Besessenheit“ ist die literarisch enorm dichte Selbsterkundung einer Frau, die mit großer Empathie, aber rückblickend auch selbstironisch auf ihr früheres Ich schaut. Und dabei Grundsätzliches nicht nur über die Eifersucht, sondern über große Gefühle allgemein und über das Schreiben formuliert.Quelle: Annie Ernaux – Die Besessenheit
