
SWR Kultur lesenswert - Literatur Ann Schlee – Die Rheinreise | Buchkritik
Sep 2, 2025
04:09
Romane, die von einer Reise erzählen, tun dies meist auf doppelte Weise. Denn fast immer ist die äußere Reise der Figuren nur das Gegenstück zu einer inneren, psychischen.
Das trifft auch auf Ann Schlees vergessenes Meisterwerk „Die Rheinreise“ zu. Vor mehr als 40 Jahren erstmals erschienen, erzählt dieser bemerkenswerte Roman von vier Touristen aus dem viktorianischen England.
Im Sommer 1851 ist das Quartett auf einem Dampfschiff von Koblenz nach Köln unterwegs: der missionarische Reverend Charles, seine passiv-aggressive Frau Marion, ihre von diffusen Erwartungen erfüllte Teenagertochter Ellie – und Charles’ Schwester Charlotte, Schlees Hauptfigur.
Fremdbestimmte „alte Jungfer“
Charlotte ist Mitte fünfzig und das, was man damals als „alte Jungfer“ bezeichnete. Ihre ganze Existenz steht im Dienst an anderen; auf der Reise fungiert sie für die Familie ihres Bruders als Gouvernante, Gesellschafterin und Kammerzofe in einem. Ein eigenes Leben hat Charlotte nicht – könnte sie aber, da sie kürzlich ein kleines Vermögen geerbt hat. Erwartet wird von ihr jedoch etwas anderes, nämlich ein pflichtbewusstes Leben im Haushalt ihres Bruders und ihrer Schwägerin. Eine Vorstellung, gegen die sie immer mehr Widerstände verspürt, nachdem sie auf der Reise einem Landsmann begegnet, der sie an die einzige Liebe ihres Lebens erinnert.Wer sie sein und wo sie wohnen würde, musste noch beschlossen werden. Sie war nicht sie selbst. Der Anblick dieses Gesichtes auf dem Anleger hatte sie tief erschüttert, denn was war sie für ihn und was war er, ein völlig Fremder, für sie?Quelle: Ann Schlee – Die Rheinreise
„Opfer einer unanständigen Phantasie“
So sehr Charlotte auch den Kontakt zu vermeiden sucht, der dubiose Mr. Newman taucht wie ein Springteufel überall auf. Selbst in Charlottes Träumen, wo er provozierende Fragen stellt, mit denen er Schlees Protagonistin zum „Opfer einer unanständigen Phantasie“ macht. Und alte Wunden aufreißt. Schließlich war es seinerzeit ihr bevormundender Bruder gewesen, der ihren damaligen Verehrer als nicht standesgemäß abgewiesen hatte. Womit er seine sich fügende Schwester ihrer einzigen Chance auf ein erfülltes Leben beraubte. Gegen Romanende entladen sich die Spannungen zwischen Schlees Figuren in einer Aussprache, die man kaum anders denn als zutiefst befriedigend empfinden kann.„Oh, das ist so erschütternd“, rief ihr Bruder. „Alles, was ich getan habe, war immer nur für dein Bestes. Weil du selbst nicht wusstest, was du wolltest, und jemand für dich entscheiden musste.“
„Ich glaube, Charlotte weiß gerade auch nicht, was sie will“, sagte seine Frau.
„Damals wusste ich es besser.“Quelle: Ann Schlee – Die Rheinreise
