Kaum eine Zeit ist so gut erforscht wie die Hitlerjahre. Daher meinen wir die Antworten auf die Frage aller Fragen „Wie konnte das geschehen?“ längst zu kennen. Wir glauben zu wissen, weshalb Hitler an die Macht kam und sich an der Macht hielt. Vernichtungskrieg und Holocaust scheinen in all ihren Dimensionen analysiert zu sein. Götz Aly misstraut dieser Kennerschaft. Gängige Klischees sind ihm ein Gräuel.
Aly erzählt: „Ich schreibe ja auch in eine Szene der Gedenkstätten hinein und der Schulbücher. Da ist hauptsächlich immer von den Verbrechen die Rede. Und dann sieht man da unangenehme Figuren mit Schaftstiefeln und komischen Mützen und SS-Pluderhosen. Und dann gehen die Schüler und Schülerinnen raus und sagen, aha, das war der Nationalsozialismus. Der Nationalsozialismus war mehr und sehr viel differenzierter."
Verlockende Angebote und Lockmittel
Genau das wird in Götz Alys Opus Magnum deutlich. In zwölf glänzend geschriebenen, anschaulichen Kapiteln und auf über 700 Seiten schaut er darauf, wie es gelang, „die stets prekäre Einheit von Volk und Führung“ so lange zu wahren. Dabei kann Aly auf eine Reihe eigener Vorarbeiten zurückgreifen. Er legt dar, dass zur Steuerung der Bevölkerung anfänglich weniger Einschüchterung und Zwang eingesetzt wurden, sondern vielmehr attraktive Angebote und Lockmittel.
„Man tut ja immer so, als wäre der Terror von Anfang an gleichmäßig gewesen. Und unsere Eltern haben dann gesagt, also in meiner Generation: Ja, wir standen ja immer mit einem Bein im KZ, wenn wir da was gemacht hätten. Das taten die nicht," weiß der Autor.
Der Schwerpunkt des Buches liegt auf der Kriegszeit. Götz Aly rechnet überzeugend vor, dass der Krieg notwendig war, um den Staatsbankrott zu verhindern. Dass sich Hitler 1941 schließlich gegen die Sowjetunion wendete, ist für den Autor nicht Folge eines lang gehegten Plans, sondern vielmehr einer großen „Ratlosigkeit“.
„Nachdem alles scheitert und er eigentlich nicht weiß, wie es weitergeht und die Verschuldung immer mehr wächst und auch die Reichsreserven an Getreide und so weiter ganz schnell sinken, ... da entschließt er sich zum Krieg gegen die Sowjetunion. Wohlwissend, wie leicht das schiefgehen kann."
Der Antisemitismus war die Grundbedingung für das Morden
Der Holocaust erscheint bei Aly weniger als rassistisches Mordprogramm, sondern als wirtschaftlich motiviertes Raubmordunternehmen. Die Besitztümer der deportierten, erschossenen und vergasten Juden gingen an die deutsche „Volksgemeinschaft“.
Als Grundbedingung für das Morden betrachtet auch Götz Aly den Antisemitismus. Ausgemacht ist für ihn jedoch, dass sich die Nationalsozialisten nicht von blindem Wahn treiben ließen, sondern vielmehr mit funktionalem Kalkül vorgingen. Den Einwand, dass kühle Berechnung kaum den Furor und fanatischen Eifer erklären kann, mit dem Deutsche im Osten mordeten, lässt Götz Aly nicht gelten.
„Was heißt hier Furor? Das geht ja alles gesetzmäßig vor sich – in vielerlei Beziehungen. Begriffe wie Furor – das ist alles nicht analytisch. Ich bin erstmal dafür, dass man möglichst viel mit den normalen historiografischen Methoden erforscht."
Brillant zeichnet Aly das enorme Tempo nach, das für die Hitlerzeit typisch war. Von Beginn an sei es darum gegangen, das Volk in Bewegung zu halten, keiner sollte zur Ruhe und zum Nachdenken kommen. Der ins Exil gezwungene, hellsichtige Beobachter Wilhelm Röpke fand dafür das einprägsame Bild eines Kreisels, der immer wieder angestoßen werden muss, um im Gleichgewicht zu bleiben. Im Krieg galt das erst recht. Die Menschen rotierten – nahezu besinnungslos.
„Dieser Krieg verengt einfach ungeheuer die moralischen und auch rechtlichen Vorstellungen der Beteiligten, in Deutschland auch der Bevölkerung, die halt um ihre Angehörigen bangen, die bald dem Bombenkrieg ausgesetzt sind. Da sagt Goebbels: ‚Bombenkrieg, prima. Die Leute legen sich eine innere Hornhaut zu‘, so betrachtet er das."
Götz Aly ist überzeugt, dass die deutsche Führung schon sehr früh erkannte, dass der Krieg kaum zu gewinnen war. Sie habe den Völkermord beständig weiter vorangetrieben, um die Bevölkerung in eine immer größere Mitschuld zu verstricken. So sollten die Deutschen aus Furcht vor Rache dazu gebracht werden, bis zuletzt weiterzukämpfen. Aus „Kraft durch Freude“ wurde „Kraft durch Todesangst“.
„‚Die Brücken sind hinter uns abgebrochen, wir haben ohnehin zu viel auf dem Kerbholz‘, das ist Goebbels wörtlich," zitiert Aly.
Der Führer-Mythos bleibt außen vor
Das voluminöse Goebbels-Tagebuch ist eine der wichtigsten Quellen für Aly. Es sind vor allem die täglichen Einträge des Propagandaministers, die dem Autor als Beleg für das instrumentelle Verhältnis der Naziführung zur Macht dienen. Eine festgefügte Ideologie habe es nicht gegeben; stattdessen passte die Führung nach Alys Einschätzung ihre politischen Programme je nach Situation an, um ihre Herrschaft zu sichern.
„Diese ganze Mythologisierung und dass das so etwas ganz Besonderes gewesen wäre und dass das, was die da gemacht haben, uns Heutigen allen so fremd ist, das ist es eben in den Einzel-Elementen nicht. Wenn man sich das anguckt, gibt es das alles weiterhin, bloß nicht in dieser radikalen und kombinierten Form."
Dies ist die Quintessenz des Buches. Götz Aly hält nichts von Erklärungen, die seiner Ansicht nach bloß dazu taugen, Distanz herzustellen. Der „Führer-Mythos“, den Historiker wie Ian Kershaw als wichtiges Bindemittel des Regimes beschrieben haben, bleibt bei ihm komplett außen vor.
Man kann fragen, ob Götz Aly nicht grundsätzlich die irrationalen Elemente des Hitlerismus zu gering gewichtet. Lernen lässt sich mit seinem großen Buch, das aus einer enormen Materialfülle und Detailkenntnis schöpft, wie durchschnittliche Menschen zum Mitmachen gebracht wurden. Die Nazis, das ist seine Botschaft, waren keine Teufel. Sie stehen uns vielmehr sehr nah.
„Dass die böse waren und dass die Böses gemacht haben, das stimmt. Aber es ist kein Lernziel. Man muss fragen, wie dieses Böse zustande gekommen ist. Abscheu zu bewirken, das ist auch kein Lernziel. Man muss gucken, dass man es versteht."