Schon beim Einlass merkt man, das ist keine normale Lesung: leicht erhöhte Sicherheitsvorkehrungen, Taschenkontrollen, ein wenig Nervosität liegt in der Luft. Bei den Podiumsgästen reist die Erinnerung an den 7. Oktober gerade immer mit, die Sorge zum Beispiel, nicht mehr zurück zu können, antwortet Ayelet Gundar-Goshen, Mutter von drei Kindern, auf die Frage der Moderatorin, wie es sich diesmal angefühlt hat Israel zu verlassen:
„Ich glaube, seit dem Tag ist es einfach so, wie Natalia Ginzburg es einmal nach dem Zweiten Weltkrieg beschrieben hat: Du schaust ein Gebäude an, und es ist nicht mehr nur ein Gebäude, weil du weißt, wie einfach Gebäude einstürzen können, weil du fühlst, das sich einfach alles um dich herum innerhalb von einer Sekunde in etwas anderes verwandeln kann. Und ich glaube, so ähnlich fühlt es sich jetzt beim Reisen an."
Gleichzeitig aber fühle sie sich sehr privilegiert, sagt Ayelet Gundar-Goshen, manchmal sogar schuldig:
„Weil so viele Menschen in Israel und in Gaza nicht diese Möglichkeit haben, (...), dem ganzen wenigstens mal kurz zu entkommen und durchzuatmen."
Ein Roman über Schuld und Angst
Ayelet Gundar-Goshen ist gerade mit ihrem Roman „Ungebetene Gäste“ auf Lesetour, elf Tage durch die Schweiz und Deutschland. Beim persönlichen Treffen zwei Stunden vor ihrem Auftritt auf dem Literaturfestival wirkt sie gelöst: lacht über den im Hotel verschlungenen Burger, denkt an den Mitbringsel-Auftrag ihrer Tochter.
Doch in ihrem Roman geht es um schwere Themen: um Schuld, Rassismus, tiefsitzende Ängste und Vorurteile in der israelischen Gesellschaft. Durch einen Unfall stirbt ein junger Mann, ein palästinensischer Arbeiter wird deshalb verhaftet, eine jüdisch-israelische Mutter namens Naomi weiß es besser, schweigt aber – um ihren kleinen Sohn zu schützen.
„Man kann Naomi auf jeden Fall als Stellvertreterin für die israelische Gesellschaft sehen, für Fragen nach Gerechtigkeit und danach, wie unser eigenes Trauma uns manchmal blind dafür macht, das Trauma zu sehen, das wir in anderen auslösen. Hier ist der Roman sehr israelisch," erzählt Ayelet Gundar-Goshen.
„Aber gleichzeitig ist es ein sehr universeller Roman, diese Frage: In wen verwandele ich mich, wenn ich mich bedroht oder verängstigt fühle? Könnte es sein, dass ich dann zu einer Bedrohung für andere werde, das aber nicht zugeben kann? Ich denke, das ist nicht nur eine israelische Frage."
Ayelet Gundar-Goshen ist nicht nur Schriftstellerin, sondern auch Psychotherapeutin. Nach dem 7. Oktober arbeitete sie in einem Traumazentrum für Überlebende des Terroranschlags der Hamas. Sie fühlte sich lange nicht in der Lage dazu, weiterzuschreiben. „Schreiben fühlte sich unmöglich an.“
Literatur als Protest und Verantwortung
Es war die Wut, die sie dann doch weiterschreiben ließ. Die Wut über Boykotte, so erzählt sie, darüber, dass die Regierung in Israel wieder mal anfing, Literatur, Kunst und Filme zu verbannen, die sich mit dem palästinensischen Leid beschäftigten. Gleichzeitig fing man außerhalb Israels damit an, israelische Künstler und Kultur zu boykottieren.
„Und ich dachte, ok, wenn die Rechten in Israel so viel Angst vor Worten haben, dann machen Worte vielleicht wirklich einen Unterschied. Das hat mich zurück zum Schreiben gebracht."
Ayelet Gundar-Goshen gehört zu den Tausenden in Israel, die Woche für Woche gegen die Regierung und gegen den Krieg in Gaza auf die Straße gehen. Gemeinsam mit anderen Israelis hält sie dabei Fotos von getöteten palästinensischen Kindern hoch.
„Gleichzeitig verstehe ich Leute, die sagen, glaubst du, irgendjemand in Gaza würde dasselbe tun mit Fotos von den Kindern, die im Kibbuz abgeschlachtet wurden? Ich verstehe, wenn Leute das sagen, aber ich persönlich glaube nicht, dass man einen Massenmord durch ein vorheriges Massaker rechtfertigen kann. Das Hamas-Massaker lässt sich durch nichts rechtfertigen, genauso wenig wie die Anzahl der zivilen Opfer in Gaza. Das muss sofort aufhören!"
Die Macht der Worte in Zeiten des Krieges
Zurück auf der Bühne beim Internationalen Literaturfestival in Berlin. Das Publikum darf Fragen stellen. Eine Frau vermisst ein klares Bekenntnis, dass das, was in Gaza passiere, ein Genozid sei.
Julia Tzaisler, die mit Ayelet Gundar Goshen und dem Drehbuchautor und Schriftsteller Yaniv Iczkovits auf dem Podium sitzt, wehrt ab. Die Autorin und Leiterin des Jerusalemer Literaturfestivals sagt, sie glaube nicht, dass sie bestimmte Begriffe benutzen müsse, um ihre Haltung deutlich zu machen.
Alle drei Podiumsgäste haben zu diesem Zeitpunkt schon mehrfach das Grauen in Gaza verurteilt, sich von der israelischen Regierung distanziert. Ayelet Gundar-Goshen beteuert, sie nehme ihre Verantwortung jede Woche bei den Protesten wahr, und indem sie über das, was passiert, spreche, auch hier:
„Ich mache mir manchmal Sorgen, dass Menschen außerhalb von Israel nun fordern könnten, (…) dass der Staat Israel kein Recht mehr habe zu existieren. Für mich ist die Sache klar, es muss einen palästinensischen Staat geben und der israelische Staat hat jedes Recht zu existieren."
Die Diskussion in Berlin zeigt: Es geht um mehr als nur um Bücher. Es geht darum, ob Sprache verbinden oder spalten kann. Es ist ein permanentes Ringen, um Begriffe wie „Genozid“ oder „Terror“ und darum, gesehen und gehört zu werden, jenseits von Schwarz und Weiß.
Gerade deshalb sind Stimmen wie die von Ayelet Gundar-Goshen in den aktuellen Debatten so wichtig. Und eine Bühne wie die beim Literaturfestival Berlin, wo geredet, aber nicht gebrüllt wurde, intensiv, aber respektvoll.