
SWR Kultur lesenswert - Literatur Sergej Lebedew – Die Beschützerin
Sep 23, 2025
04:09
Vor zwei Jahren erschien Sergej Lebedews „Titan oder Die Gespenster der Vergangenheit“. Die alte psychoanalytische Erkenntnis, dass Verdrängtes irgendwann an die Oberfläche zurückkehrt, ist in dem Band in Geschichten verpackt: Verbrechen lassen sich möglicherweise für eine Weile vertuschen, aber wie Gespenster spuken die Opfer der Geschichte auch in der Gegenwart herum.
Lebedew, einer der profiliertesten Vertreter der jüngeren russischen Literatur, beschäftigt das Erbe der Sowjetunion, und er beschäftigt sich in seinen Büchern mit den Auswirkungen, die ihre Gewaltgeschichte auf das Leben heute hat. In seinem jüngsten Roman „Die Beschützerin“ findet er dafür ein eindrückliches Bild.
Die Bergbausiedlung mit Namen Marat, deren reales Vorbild im Städtchen Tores in der Ostukraine zu suchen sein dürfte. Es ist das Jahr 2014, kurz nach dem Euromaidan, den Protesten in Kiew, kurz nach Putins Annexion der Krim und dem Beginn der von Russland gesteuerten sezessionistischen Bewegung, die bald kriegerisch eskalierte.
Ein Untoter spricht
Am verlassenen Schacht 3/4 fließen Vergangenes und Gegenwärtiges zusammen, scheint sich das Unheilvolle der Zeiten zu kristallisieren: Hier hat man sowohl die Opfer des Stalinismus als auch jene der Nazis „entsorgt“. Ein Ingenieur, selbst dort verscharrt, spricht als Untoter, als Geist, über das, was er geschaffen hat.Donkosaken erschossen Mitglieder der Bergarbeiterräte. Rote Partisanen – Kosaken. Weiße Garden – Rote. Die deutschen Besatzungstruppen – Partisanen. Anhänger von Nestor Machno – Anhänger von Anton Denikin. Die Roten – Deutsche und Machno-Anhänger. Sie folterten. Stachen ihnen die Augen aus. Schnitten ihnen die Kehle durch. Perpetuum mobile, die Tautologie der Gewalt.Der Totenschacht liegt an jenem Ort, an dem im Juli 2014 von russischen Agenten ein malaysisches Flugzeug abgeschossen wird – wir erinnern uns daran. So setzt sich die Geschichte der Gewalt fort. Sergej Lebedew erzählt sie als ein Kontinuum. Vier Figuren lässt er auftreten, vier Tage lang sehen wir durch ihre Augen, wie aus einem kalten Krieg gegen die Menschlichkeit wieder ein heißer wird, sich die unüberwundene Gewalt in alle Beziehungen und Biographien frisst.Quelle: Sergej Lebedew – Die Beschützerin
Das unerschöpflich Böse
Da ist der schon erwähnte Ingenieur, ein Zombie, der keine Ruhe finden kann. Da ist der General, dessen Karriere mit dem Abschuss des Flugzeugs auf finstere Weise verknüpft ist. Da ist der junge Valet, der vor einiger Zeit Marat verlassen musste, der von seinem Onkel in einem Moskauer Sonderregiment der Polizei untergebracht wurde. Als er nach Marat zurückkehrt, ist er ein zur Härte erzogener Mann, der auf Seiten der Sezessionisten steht und auf Rache sinnt. Seine Rachegelüste beziehen sich auf Marianna, die einst den heimlichen Mittelpunkt der Zechenwelt bildete. Sie hatte die Wäscherei geleitet. Und ihr Wort hatte Gewicht. Sie war auch dafür verantwortlich, dass Valet verbannt wurde. Marianna ist die titelgebende „Beschützerin“, die ihre Macht allerdings verloren hat. Sie ist todkrank und wird von ihrer Tochter Shanna bis zum Ende gepflegt.Und [Shanna] spürt – zum ersten Mal – das unerschöpfliche Böse dieses Ortes. Sie erkennt es in ihm, in diesem Ort, wie man verborgene Fäulnis oder Verderbnis erkennt, jenes schreckliche, niederträchtige, erdige Etwas, das Marianna ihr Leben lang wegzuwaschen versucht hatte, um seine Ausbreitung, Ansammlung, Verdickung, Verknöcherung zu verhindern.Quelle: Sergej Lebedew – Die Beschützerin
