Sommerfrische mit Geschichte
Schattige Fichtenwälder und felsige Grate, spektakuläre Bahn-Viadukte, sanfthügelige Almen und beschauliche Villen: das ist die Semmering-Landschaft, in der Zeit um 1900 ein Sehnsuchtsort der vornehmen Wiener Gesellschaft. Heimito von Doderer und Peter Altenberg haben über den Semmering geschrieben, aber auch Stefan Zweig und andere prominente Autoren.
„Der Semmering und die Landschaft am Semmering sind speziell. Es ist eine Berglandschaft, die doch sehr wild ist, kaum bewegt man sich weg, wenige Schritte von diesen ehemaligen Grandhotels", erzählt Tanja Paar.
„Und es war eben tatsächlich um die Jahrhundertwende, also seit dem Bau der Südbahn und dann bis in die 1920er, 1930er Jahre ein ganz spezieller Ort, weil sich unterschiedliche Klassen, Religionen, Herkünfte dort gemischt haben, in einer Art und Weise, die, wie ich finde, einmalig ist.“
Ein Eisenbahnerpaar im Mittelpunkt
Unterschiedliche Klassen und Religionen mischen sich auch in Tanja Paars Roman, wobei die Autorin ihren Fokus auf Klara und Bertl legt, ein Wiener Eisenbahner-Ehepaar aus bescheidenen Verhältnissen, das zu Beginn der 1930er-Jahre auf den Semmering übersiedelt. Bertl, vom Wagenputzer zum Fahrdienstleiter befördert, wacht auf einem Bergbahnhof in 900 Metern Seehöhe über den ordnungsgemäßen Ablauf des Fahrbetriebs.
Tanja Paar – das bekennt sie im Nachwort – hat sich von den Erzählungen ihrer Großeltern zu diesem Roman inspirieren lassen.
„Es ist insofern die Geschichte meiner Großeltern, als der Großvater tatsächlich bei der Eisenbahn war, sich auch vom Wagenputzer hinaufgearbeitet hat, also aus ganz armen Verhältnissen stammend. Die haben tatsächlich am Semmering gelebt, in den 20er, 30er Jahren. Ich habe gewisse Dinge verdichtet und auch dazuerfunden. Es ist ja literarische Fiktion, das heißt, das ist jetzt nicht eins zu eins die Geschichte meiner Großeltern."
Aber doch über weite Strecken. Tanja Paar gewährt in ihrem Roman einen Blick hinter die Kulissen der noblen Sommerfrische. Wir lernen den Hotelverwalter Szabo kennen, einen ausgebildeten Konzertpianisten von filouhaftem Naturell, der mit dem Eisenbahner-Ehepaar befreundet ist, wir machen aber auch Bekanntschaft mit einem Baron namens Fritz, der sich von seiner Herkunft losgesagt hat und als „sozialdemokratischer Aristokrat“ von Fahrdienstleiter Bertl als Genosse ernst genommen wird.
Die orthodoxe Jüdin Rahel wiederum, eine enge Freundin Klaras, widmet sich in einem der bescheideneren Semmering-Häuser der Kunst des koscheren Kochens.
„Es hat den Mythos vom jüdischen Semmering auch gegeben. Ähnlich wie in anderen Ortschaften in Österreich gab es da Vorurteile und Antisemitismus. Und das wurde auch deutlich in den Erzählungen meiner Großeltern," meint die Autorin.
Zwischen Bürgerkrieg und Anschluss
Tanja Paar bettet die Handlung ihres Romans in die Irrungen und Wirrungen der österreichischen Zeitgeschichte. Die Bürgerkriegskämpfe zwischen „Roten“ und „Schwarzen“ im Februar 1934 sind im Roman ebenso Thema wie die Umtriebe der illegalen Nazis während der Ständestaat-Diktatur; der sogenannte „Anschluss“ und die Gleichschaltung Österreichs kommen genauso zur Sprache wie die Kämpfe des Jahres 1945, als sich Wehrmacht und Rote Armee opferreiche Gefechte in der Region liefern.
„Es ist ein Stück Zeitgeschichte. Der Bertl ist, als Eisenbahner wenig überraschend, ein Linker. Die Klara ist am Anfang vielleicht gar nicht so stark politisiert und wird dann erst in den Zeitläufen und durch ihre jüdische Freundin immer stärker politisiert. Es geht auch um den sogenannten „Anschluss“. Es gibt da eine Szene, wo auch dargestellt wird, dass die Klara durchaus nicht als Heldin agiert. Mir geht es auch nicht darum, meine Großeltern ex post als Heldinnen darzustellen."
Tanja Paars Roman ist ein stilles und unaufgeregtes, dafür umso eindringlicheres Stück Literatur. Der Alltag der kleinen Leute wird einfühlsam und ohne imposante Erzählgesten geschildert. Die Autorin bleibt über 250 Seiten hinweg nah an der gesprochenen Sprache.
Inspiriert von der Musik: Zwei Stimmen wie eine Fuge
Interessant auch die formale Struktur des Werks. Zwei Erzählstränge laufen mit- und gegeneinander: Einerseits wird die Chronologie der Ereignisse aus der Perspektive Klaras geschildert, beginnend 1928 und im Frühjahr 1945 endend; andererseits vernehmen wir die Stimme des Hotelverwalters Szabo, der sich 1989 – kurz vor dem Fall des Eisernen Vorhangs – im Rückblick an die erzählten Ereignisse erinnert. Unaufdringlich aber kunstvoll geht Tanja Paar da vor:
„Das funktioniert angelehnt an das musikalische Motiv der Fuge. Das heißt, ähnlich wie in der Musik gibt es zwei Stimmen, die die Motive immer wieder aufbringen, aber durchaus anders interpretieren."
„Am Semmering“: Tanja Paar hat einen angenehm zu lesenden Roman geschrieben, einen Roman, der ohne große Gesten auskommt – anspruchsvolle Unterhaltung und fein recherchiertes Historienbild in einem.