

SWR Kultur lesenswert - Literatur
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May 25, 2025 • 4min
Jessica Zafra – Ein ziemlich böses Mädchen
Es geht schon wüst los: erstmal kopfloser Sex in Manila, dann haut der Mann ab, die Frau ihm tobend hinterher, denn sie ist schwanger. Das alles auf den ersten fünf Buchseiten. Und auf Seite 6 ist das Kind dann auch schon da: Guada rutscht in die Welt, die Hauptfigur in Jessica Zafras turbulentem, ja, zuweilen überturbulentem Roman „Ein ziemlich böses Mädchen“.
Der Kopf des Babys war so groß, dass die kleinste Bewegung es umfallen ließ. Als es nach einer Rassel griff, die Nani auf der Matratze neben ihrem Gitterbett hatte liegen lassen, fiel es kopfüber auf die Matratze und weckte dabei ihre erschöpfte Mutter. Die kleine Guada, völlig unversehrt, machte keinen Mucks, aber Siony reagierte so hysterisch, dass man meinen konnte, der Schädel des Babys wäre zerschmettert und die Hirnmasse würde sich über das Laken ergießen. Siony hatte schon immer einen Hang zum Dramatischen, aber das Muttersein steigerte dies nochmal.
Quelle: Jessica Zafra – Ein ziemlich böses Mädchen
Ein Anwesen namens „Alhambra“
Ganz schön überspannt, diese Siony! Als sie einen Job als Köchin bekommt, zieht sie gemeinsam mit ihrer Tochter als Bedienstete in das hochherrschaftliche Haus der Almagros. Guada – inzwischen ein Schulkind – freut sich vor allem über die Bibliothek im Südflügel. Weil die Almagros kolonialspanischer Herkunft sind, trägt ihr Anwesen den pompösen Namen „Alhambra“.
Ja, Jessica Zafra kann ziemlich polemisch sein. Aus ihrem Roman spricht deutlich die geübte Kolumnistin. Sie kann auch herrlich hochnäsig klingen, wenn Westler Weltgeschichte zu schreiben versuchen.
Die Bibliothek im Südflügel war nicht zu verwechseln mit der beim Orchideengarten, in der die vererbte antiquarische Buchsammlung von Don Placido inklusive einer etwas schadhaften Originalabschrift des Protokolls des Konzils von Trient zu finden war, ebenso wie der Boxer Codex, die Erstausgabe der über fünfzig Bände umfassenden Reihe The Philippine Islands von Blair und Robertson und, hinter feuerfestem Glas verschlossen, die Tagebücher des ersten Almagro, der die Philippinen erreichte zusammen mit dem Adelantado Legazpi.
Quelle: Jessica Zafra – Ein ziemlich böses Mädchen
Religion und Aberglauben auf den Philippinen
Konquistadoren des 16. Jahrhunderts. Entsprechend sorglos haben sich die Almagros über die Jahrhunderte bereichert. Bis in die Gegenwart des Romans – die 1980er und 1990er Jahre – zählen sie zur hellhäutigen Oberschicht. Deshalb ist dies – wie so viele philippinische Bücher – auch ein bissiger Roman über Klassenunterschiede.
Zudem erzählt Zafra von Arbeitsmigration und vom sehr philippinischen und durchaus wahnhaften Mix aus Religion und Aberglauben. Alle paar Seiten werden Marienerscheinungen beschworen und Amulette gezückt, Karten gelegt und Geister belauscht. Ein Kind wird auf den Namen Jejomar getauft, einen Zusammenschnitt aus Jesus, Josef und Maria.
Amen. Amen. Und nochmal Amen.
Quelle: Jessica Zafra – Ein ziemlich böses Mädchen
Sehr geistreich, aber leider verquasselt
Das alles ist eine ganze Weile lang sehr, sehr geistreich. Spätestens auf der Hälfte des Romans aber verliert sich Guadas Geschichte im Gequassel der Figuren mit all ihren witzigen Dialogen, ihrem Hang zu Mobbing und Lästereien und den vielen politischen Kommentaren. So verschwindet das Mädchen streckenweise völlig, taucht erst ein paar Seiten später wieder auf und ist dann plötzlich wieder ein paar Jahre älter.
Dabei hätte sie erzählerisch so viel zu bieten gehabt. Schließlich ist sie gar kein „ziemlich böses Mädchen“, wie der Buchtitel irreführenderweise behauptet, sondern ein eher ernstes Wesen. Leider lässt ihr die scharfzüngige Erzählerin keinen Raum, sich zu entfalten. Deshalb zerfällt Guadas Geschichte in ein Gewimmel aus Episoden. Jede für sich ist soziologisch interessant und unterhaltsam sowieso. Aneinandergehängte Episoden machen aber leider noch keinen guten Roman.

May 25, 2025 • 11min
„Neue Kapitel“: Der Börsenverein des deutschen Buchhandels feiert 200. Geburtstag und blickt in die Zukunft
In diesem Jahr feiert der Börsenverein des deutschen Buchhandels seinen 200. Geburtstag und ist damit der älteste Branchenverband Europas. Zeit, nicht nur auf die bewegte Geschichte des Vereins zurückzublicken, sondern auch nach vorne, in die Zukunft. Anfang Juni findet in Berlin der Kongress „Neue Kapitel“ statt.
Herausforderung durch KI
Im Gespräch erläutert die Vorsteherin des Börsenvereins, Karin Schmidt-Friderichs, die großen Herausforderungen für die Branche: Künstliche Intelligenz (KI) werde von Verlagen schon seit längerem als praktisches Tool zur Erleichterung von Arbeitsabläufen genutzt.
Problematisch wird es dort, wo KI urheberrechtlich geschützte Inhalte einliest, ohne dass die Urheber dafür honoriert werden. Hier fordert der Börsenverband klare Regelungen zum Schutz des Urheberrechts.
Unterstützung für kleine Verlage und unabhängige Buchhandlungen
Kleine Verlage und unabhängige Buchhandlungen sind unverzichtbarer Bestandteil eines lebendigen gesellschaftlichen Diskurses und Säulen der gelebten Demokratie.
Ihnen muss in diesen wirtschaftlich schwierigen Zeiten ein besonderer Schutz und eine besondere finanzielle Förderung zuteil werden, die über die Vergabe von Preisen hinausgeht, so eine Forderung des Börsenvereins an den neuen Kulturstaatsminister Wolfram Weimer.
Leseförderung bleibt wichtiges Ziel
In Zeiten, in denen einen Viertel aller Viertklässler nicht richtig lesen kann, ist Leseförderung wichtiger denn je.
Lesen sei der wichtigste Schlüssel zu Bildung und Teilhabe: Der Kulturpass, so Karin Schmidt-Friderichs sei ein Weg, Kinder und Jugendliche für Bücher zu interessieren, von politischer Seite müsste allerdings viel mehr in einer gemeinsamen, länderübergreifenden Anstrengung geschehen.

May 25, 2025 • 6min
Michi Strausfeld – Die Kaiserin von Galapagos
Der Titel Die Kaiserin von Galapagos ist etwas irreführend, denn er bezieht sich nur auf die spektakulärste Geschichte des Bandes. Darin landet eine angebliche Baronin mit Hofstaat auf einer paradiesischen Insel im Galapagos-Archipel, ruft sich zur Kaiserin aus und errichtet ein Schreckensregime: ein vielfach verfilmter Stoff.
Auch der Untertitel Deutsche Abenteuer in Lateinamerika verweist nur oberflächlich auf den wirklichen Inhalt.
Vielfältige, meist kulturelle Beziehungen zwischen Deutschland und Lateinamerika
Tatsächlich liegt hier ein zentrales Werk über die vielfältigen, meist kulturellen Beziehungen zwischen Deutschland und dem großen Kontinent vor. Sie haben allerdings inzwischen erheblich gelitten, was Michi Strausfeld zu ihrem Buch bewegt hat:
„Das ärgert mich, das macht mich traurig. Dann wollte ich einfach wissen, war das immer so, gab es mal in der Geschichte Momente, wo wirklich Deutsche und Lateinamerikaner ein enges Verhältnis hatten, wer war drüben, was haben sie gemacht. Das war der Ausgangspunkt.“
Und dieses Ungenügen hat sie zu einem Kaleidoskop aus 500 Jahren deutsch-lateinamerikanischer Verbindungen gestaltet.
Es reicht von dem ersten Kartografen Martin Waldseemüller, der 1507 mit seiner Landkarte den Namen ‚América‘ einführte, über Weltumsegler wie Adellbert von Chamisso, der sich im 19. Jahrhundert für den Reichtum der brasilianischen Natur begeisterte, bis hin zu Hermann Burmeister, der als Maler, Geologe, Botaniker, Meeresbiologe und Paläntologe die Bedeutung Argentiniens in seinem Bericht Reise durch die La Plata-Staaten angemessen würdigte.
Hier ist seine Leistung längst vergessen. Michi Strausfeld hat auf ihn und viele andere wieder hingewiesen:
„Vielleicht kann man auf dem Einen oder Anderen etwas aufbauen, z.B. die berühmte ‚Berliner Schule‘ mit den Archäologen, Ethnologen. Diese Forscher haben Großartiges geleistet für Lateinamerika und werden in den Ländern, in denen sie waren, verehrt, haben dort Statuen, Museen sind nach ihnen benannt, und wir wissen noch nicht einmal, wer das war.“
Deutsche haben in Lateinamerika viele Spuren hinterlassen
Wie im Fall Burmeister. Er hat immerhin das ‚Argentinische Museum der Naturwissenschaften‘ in Buenos Aires gegründet, und ein Denkmal erinnert an seine Leistungen.
Die Hälfte ihres rund 260 Seiten umfassenden Buches hat Michi Strausfeld dem 20. und 21. Jahrhundert gewidmet, der Zeit, in der sich die Beziehungen vervielfachten, zunächst besonders durch die Emigranten. Sie flohen aus der Not in Deutschland in den Süden Lateinamerikas und auch nach Mexiko.
Die mexikanische Schriftstellerin Elena Poniatowska hielt z.B. die deutsche Gemeinde „für eine der besten in unserem Land: alle gaben ihr Herzblut und ihren Verstand.“
Dazu gehörte z.B. der Fotograf Hugo Brehme, der an der Mexikanischen Revolution teilnahm und dem das „kanonische Bild“des legendären Anführers Emiliano Zapata gelang: mit dem landestypische Sombrero, überkreuzten Patronengürteln, Gewehr und Säbel.
Zahllose jüdische Emigranten flohen in den 1930er Jahren vor dem wachsenden Antisemitismus. Einige von ihnen gründeten z.B. berühmte Buchhandlungen, die teilweise heute nach existieren. Dann kam die Welle der Nazis, die im Süden unterzutauchen versuchten.
Michi Strausfeld meint: „Wie die Nazis dort unbehelligt haben leben können, das ist etwas, was einen heute noch schamrot werden lässt. Und dass die Diplomaten kein wirkliches Interesse hatten. Ich meine, dass Mengele dort 20 Jahre lang im Großraum São Paulo leben konnte und bei einem Herzinfarkt im Meer gestorben ist.
Und die Leute wussten, dass er da war, die Botschaften wussten es mit ziemlicher Sicherheit auch.“
Mexiko: neue Heimat für viele Verfolgte
Unter den Emigrationsländern spielte Mexiko damals eine Sonderrolle, dank der liberalen Präsidentschaft von Lázaro Cárdenas und mexikanischer Diplomaten wie Gilberto Bosques, der für lebensrettende Visa in großer Zahl sorgte. Die erhielten vor allem politisch Verfolgte und Intellektuelle wie Hannah Arendt, Lion Feuchtwanger, Franz Werfel oder Heinrich und Golo Mann.
„Und auch bildende Künstler. Und erstaunlich ist, das hat mich sehr überrascht, dass die bildenden Künstler fast alle geblieben sind... Da sieht man, dass eines der Hauptprobleme, dass Deutschland und Lateinamerika sich vielleicht nicht ausreichend kennen, sind die Sprachprobleme,“ sagt Michi Strausfeld.
Michi Strausfeld kann sie zwar nicht beheben, aber sie hat ein Werk vorgelegt, dass die Leserin und den Leser in eine weitgehend unbekannte Welt eintauchen lässt.
Die Fülle der Beispiele bewältigt sie durch eine besonders anschauliche Form der Darstellung. Dazu verwendet sie oft ausführliche Zitate von Zeitzeugen oder von Autoren, die über einzelne Aspekte geschrieben haben. Ihre ungemein detailreiche Studie ist ein profunder Beitrag zum Verständnis Lateinamerikas.

May 25, 2025 • 55min
Welt im Wachkoma
Der Börsenverein des deutschen Buchhandels feiert seinen 200. Geburtstag und ist damit der älteste Branchenverband Europas. Der Band „Zwischen Zeilen und Zeiten. Buchhandel und Verlage 1825-2025. Eine andere Geschichte des Börsenvereins“ wirft spannende Schlaglichter auf die bewegte Historie des Vereins.
Außerdem blicken wir mit der Vorsteherin des Börsenvereins des deutschen Buchhandels, Karin Schmidt-Friderichs, in die Zukunft: Welche Chancen und Risiken birgt KI für die Branche, wie kann eine flächendeckende Leseförderung gelingen und warum bleibt Deep Reading der Schlüssel für die Zukunft des Buches (und unsere eigene)?
Oliver Maria Schmitt schreibt mit „KomaSee“ einen herrlich durchgeknallten Italien-Roman und verrührt fröhlich alle Genres vom Politthriller bis zur Vorabendserie: nicht büchnerpreisverdächtig, aber saukomisch.
Von den vielen Deutschen, die sich - neben und nach Alexander von Humboldt - nach Lateinamerika aufmachten und dort wichtigen Spuren hinterließen, erzählt die große Lateinamerika-Expertin Michi Strausfeld in ihrem neuen Buch „Die Kaiserin von Galapagos“.
Nell Zink lässt in ihrem neuen Roman „Sister Europe“ eine illustre Gruppe in der Berliner Kulturblase aufeinander treffen. Dabei heraus kommt nicht nur eine gewitzte Parodie auf den Literaturbetrieb, auf Wokeness-Bewegungen und Identitätsdebatten - sondern auch eine widerborstige Liebeserklärung an Berlin.
Der Chilene Alejandro Zambra ist Vater geworden - und nichts ist mehr wie vorher. In seinen „Nachrichten an meinen Sohn“ nimmt er uns mit und erzählt vom Glanz und Elend moderner Vaterschaft: feine, ehrliche Beobachtungen eines Mannes, der sich im Spannungsfeld zwischen Fürsorge, Überforderung und dem Wunsch nach einer echten Beziehung zu seinem Kind bewegt.

May 25, 2025 • 5min
Alejandro Zambra – Nachrichten an meinen Sohn
Mit dir im Arm sehe ich zum ersten Mal den Schatten, den wir gemeinsam an die Wand werfen. Da bist du zwanzig Minuten alt. Deine Mutter schließt die Lider, will aber nicht schlafen. Sie ruht nur ein paar Sekunden aus. „Neugeborene vergessen manchmal das Atmen“ sagt uns die Krankenschwester, eine freundliche Spielverderberin.
Quelle: Alejandro Zambra – Nachrichten an meinen Sohn
Wahrscheinlich erinnern sich alle Eltern an solche oder ähnliche Momente wie sie Alejandro Zambra in „Nachrichten an meinen Sohn beschreibt“. Es sind Eindrücke aus dem kleinen Stück Magie, die die ersten Minuten nach der Geburt eines Kindes haben – Vater und Sohn, jetzt werfen sie einen gemeinsamen Schatten - wie schön.
Zarte Momente und humorvolle Einsichten
Es gibt viele zarte poetische Passagen in diesem Buch, in dem der chilenische Autor Alejandro Zambra über das Vatersein reflektiert. Besonders im ersten Kapitel des Buches reiht er Beobachtungen und kluge Gedanken aneinander, er beschreibt die ersten gemeinsamen Tage und Wochen, aber nicht chronologisch, sondern assoziativ, wie Notizen, oder Nachrichten eben.
Und es gibt sehr komische kleine Einschübe:
Ich bin stolz, dass das erste Wort, das mein Sohn vor fünf Tagen ausgesprochen hat, entgegen dem statistischen Trend das Wort Papa ist. Das sagt er jetzt ständig. Allerdings hat er noch Schwierigkeiten mit dem stimmlosen bilabialen Verschlusslaut p, und so ersetzt er ihn momentan durch den stimmhaften bilabialen Nasallaut m
Quelle: Alejandro Zambra – Nachrichten an meinen Sohn
Eine der lustigsten Passagen ist die, in der Alejandro Zambra erzählt, wie er Schokolade isst, die mit einem psychoaktiven Pilz versetzt war.
Er hofft, damit seine Kopfschmerzen zu heilen, was tatsächlich klappt, ihn aber, weil er viel zu viel Pilzschokolade auf einmal isst, auf einen stundenlangen Drogentrip schickt. Da sein Sohn gerade das Krabbeln gelernt hat, krabbelt auch Alejandro Zambro high durch die Wohnung und betrachtet die Welt durch Kinderaugen.
Ich wagte ein vorsichtiges, zaghaftes Krabbeln. Die Knie taten höllisch weh, was ich, vielleicht wegen meiner katholischen Erziehung, als ein positives Zeichen nahm. Ich erreichte das Wohnzimmer, besah mir auf allen Vieren die Pflanzen. Herrliche Ameisen, so schwarze, glänzende, tänzerische hatte die Weltgeschichte noch nicht gesehen, kamen und gingen auf einem Pfad, der in einer Fensterrille begann und oben auf einem Blumentopf endete. Ich studierte sie eingehend, saugte sie förmlich in mich auf, genoss sie.
Quelle: Alejandro Zambra – Nachrichten an meinen Sohn
Reflexionen über Männerrollen und Nähe
Das erste Kapitel des Buches spielt zeitlich in der Pandemie, auf deren Höhepunkt der Sohn zwei Jahre alt ist.
Die übrigen Kapitel bestehen aus eigenständigen, sehr unterschiedlichen Geschichten, die aber alle um das Thema Vater-Sohn Beziehung, Männerrollen und Nähe und Distanz zwischen Männern kreisen. Zambra problematisiert das Vatersein auf eine eher leise Art. Er spricht nicht nur über die Freuden, sondern auch die Zweifel, Ängste und Unsicherheiten, die mit der neuen Rolle als Vater einhergehen.
So fragt er sich auch, was es bedeutet, ein „guter Vater“ zu sein, und denkt kritisch über eigene Prägungen, gesellschaftliche Erwartungen und die Verantwortung nach, die mit dem Elternsein kommt. Dabei geht es weniger um dramatische Konflikte als um feine, ehrliche Beobachtungen eines Mannes, der sich im Spannungsfeld zwischen Fürsorge, Überforderung und dem Wunsch nach einer echten Beziehung zu seinem Kind bewegt.
Ein Blick auf das Vatersein in all seinen Facetten
Wieder fehlt es nicht an lustigen Passagen, zum Beispiel wenn der Erzähler darüber nachdenkt, wie er jahrelang litt, weil er nicht wollte, dass sein intellektuelles Umfeld von seiner Fußballleidenschaft erfuhr. Er wollte lieber als verkopft-intellektuell wahrgenommen werden, da passte die Passion für den Prollsport nicht ins Bild. Dabei war das gemeinsame Fußball schauen eine der wenigen Möglichkeiten, in Verbindung mit dem Vater zu treten.
Selbst wenn wir mit unseren Vätern restlos zerstritten waren, bescherte uns die Möglichkeit, unsere Streitigkeiten etwas Höherem zu opfern und gemeinsam ein Spiel zu sehen, eine angemessene Dosis Familienhoffnung, einen vorübergehenden Waffenstillstand, und bewahrte uns zumindest die Illusion der Zusammengehörigkeit.
Quelle: Alejandro Zambra – Nachrichten an meinen Sohn
Es gibt schon diverse Bücher über Mutterschaft, doch nur wenige übers Vater werden und -sein. Gerade deshalb sticht „Nachrichten an meinen Sohn“ durch seine besondere Perspektive heraus.
Es ist ein berührendes und zugleich humorvolles Buch, das die vielfältigen Facetten des Vaterseins einfängt. Alejandro Zambra verbindet poetische Beobachtungen mit persönlichen Reflexionen und schafft so eine authentische Liebeserklärung an die Vater-Sohn-Beziehung. Ein lesenswertes Werk für alle, die das Familienleben mit offenen Augen und Herzen betrachten möchten.

May 23, 2025 • 5min
Christine Haug und Stephanie Jacobs (Hg.) – Zwischen Zeilen und Zeiten
Zu den Büchern, die von den Nazis 1933 ins Feuer geworfen wurden, gehörte auch Erich Maria Remarques „Im Westen nichts Neues“. Der 1929 erschienene Antikriegsroman, der sofort zum internationalen Bestseller avancierte, war in Deutschland nach dem Verbot nicht mehr zu haben.
Und doch wurde der Roman schon im März 1945 – als nahezu alles in Schutt und Asche lag – in großer Zahl wieder ausgeliefert. Was wie ein Wunder anmutet, lässt sich recht einfach erklären – und führt zurück ins Jahr 1933.
Der Ullstein Verlag lagerte noch eine Charge mit 120.000 Exemplaren, und der Verleger entschied sich, diese heimlich außerhalb Berlins einzulagern. Eile war geboten, weil bereits ein Jahr später die absehbare Enteignung der jüdischen Verlagsinhaber erfolgte.
Quelle: Christine Haug und Stephanie Jacobs (Hg.) – Zwischen Zeilen und Zeiten
Ruchlose Ware
Die heimlich zur Seite geschafften Exemplare überstanden den Krieg unbeschadet und konnten gleich nach Kriegsende verkauft werden. Lernen lässt sich dies aus einem Buch, das jetzt anlässlich des zweihundertsten Geburtstags des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels erschienen ist und das voller spannender Geschichten steckt.
Es ist nicht das erste Werk, das sich mit dem ältesten Wirtschaftsverband Deutschlands befasst. Zum 175. Geburtstag kam eine schwergewichtige, leinengebundene Festschrift heraus. Von dieser klassischen Institutionengeschichte sollte sich das neue Buch abheben, erklärt Mitherausgeberin Stephanie Jacobs:
„Uns war es wichtig, eine andere Geschichte zu erzählen, indem wir nicht schwergewichtige wissenschaftliche Großaufsätze veröffentlicht haben, sondern versucht haben in 216 kleinen Miszellen, kleinen Anekdoten skurrile, manchmal schräge, manchmal auch verheerende Einblicke in diese zweihundert Jahre zu bringen."
Knapp siebzig Autoren führen in chronologischer Ordnung durch mehr als zweihundert Jahre. Denn die kurzweilige „andere Geschichte des Börsenvereins“ beginnt nicht erst 1825, sondern bereits im Jahr 1765. Da nämlich gründete sich eine erste Buchhandlungsgesellschaft, ein Börsenverein avant la lettre, mit dem Ziel, illegale Nachdrucke zu verhindern.
Rigoros ging der Verband danach nicht nur gegen Raubkopien, sondern auch gegen die „Verbreitung ruchloser Ware“ vor. Der Buchhändler Friedrich Perthes stiftete 1827 „im Namen der Sittlichkeit“ gar zur Bücherverbrennung an.
Das archaische Ritual der Bücherverbrennung wurde im 19. Jahrhundert von den Behörden nicht mehr angewandt. Verbotene Bücher wurden eher eingestampft als verbrannt. Einzelne Parteien und Gruppen jedoch übten die alte Praxis nach eigenem Recht weiter aus.
Quelle: Christine Haug und Stephanie Jacobs (Hg.) – Zwischen Zeilen und Zeiten
Leseboom an den Fronten
Der Erste Weltkrieg führte überraschend zu einem Leseboom an den Fronten, doch nicht dazu, dass die Qualität des Lesestoffs zunahm. „Vom Besten fast gar nichts, vom Guten wenig und vom Schlechten viel“, klagte ein Zeitgenosse über das Angebot. Eine Reihe von Kurzessays beleuchtet schließlich ausführlich die Rolle des Börsenvereins während der Nazidiktatur, es ist keine ruhmreiche Rolle, weiß Jacobs:
„Wir können in ganz vielen kleineren Geschichten zeigen, wie verheerend die Bereitschaft war, sich dienend an den Nationalsozialismus anzuschließen. Bis zur Beteiligung an Bücherverbrennungen, bis zu dem Verbot tatsächlich.
Einzelne jüdische Autoren – und zwar sehr früh schon, mit Feuchtwanger haben wir ein Beispiel, – nicht mehr verlegen zu dürfen und tatsächlich auch Anzeigen zu schalten, die davor warnen, dass die Buchhändler einen Fehltritt tun."
Der Börsenverein hat sich von Beginn an als Vertreter wirtschaftlicher und kultureller Interessen verstanden. „Eine andere Geschichte des Börsenvereins“ bildet genau diese spezielle Verbindung präzise ab. Verfolgen lässt sich anhand des reich bebilderten und schön gestalteten Geburtstagsbuchs, wie einmal stärker wirtschaftliche und ein andermal kulturelle Themen in den Vordergrund rückten.
„Zuerst war es ein ganz klarer Wirtschaftsverband. Wenn wir dann an die Geschichte der Urheberrechte denken, dann ist es plötzlich so geworden, dass die Frage nach der Verfügbarkeit von Wissen, von urheberrechtsbewehrtem Wissen eine ganz große Rolle spielt. Ein ganz moderner Gedanke der Zugänglichkeit von Wissen für eine große Menge.
Heutzutage ist wieder ein Zungenschlag in den Börsenverein gekommen, der ganz klar kulturell geprägt ist. Und auch kulturell geprägt ist in Bezug auf die Verantwortung der Bücherverleger und Buchhändler, in Bezug auf gesellschaftliche, auch durchaus weltweit gesellschaftliche Fragestellungen, in dem sowas wie Meinungsfreiheit und Zensur wieder ins Zentrum gestellt wird."
Interessierte Leser müssen „Zwischen Zeilen und Zeiten“ nicht von vorn bis hinten durchackern, sondern können einfach irgendwo anfangen zu lesen.
Die einen werden bei der Zensur in der DDR hängenbleiben, andere bei dem Verleger, der als Spion für den KGB tätig war, und wieder andere beim ersten Frauenbuchladen, dessen Gründerinnen 1975 mit der Devise angetreten sind: „außer Männern haben wir nichts zu verlieren“. Ein Buch mithin, mit dem den Herausgeberinnen gelingt, was sie sich vorgenommen haben: „die Verlags- und Buchhandelsgeschichte aus der Ecke der Spezialwissenschaften (zu) locken“.

May 23, 2025 • 8min
Ein leichtes Fiebergefühl beim Lesen von Nell Zinks „Sister Europe“
Man schreibt den 21. Februar des Jahres 2023. Der Schauplatz ist Berlin. Dort findet sich eine illustre Gesellschaft im Dunstkreis einer Feier für einen Abend und eine Nacht zu einer Schicksalsgemeinschaft zusammen. Doch zunächst lernt man die Figuren des Romans einzeln kennen.
Nicole zum Beispiel, die mal Kilian hieß, sie ist 15 und möchte eine Frau sein. Allein – ein billiges Glitzerkleid und High Heels reichen nicht aus:
Was war schon dabei, sich für ein paar Minuten auf der Kurfürstenstraße als Stricherin auszugeben? So hatte sie es sich jedenfalls gedacht – dass es einfach sein würde. Als sie sich die Situation ausgemalt hatte, sah sie keine Probleme. Eine kurze Tour über den Laufsteg und für jeden Typen, der ihr hinterherpfiff, gäbe es einen Punkt.
Quelle: Nell Zink – Sister Europe
Eine illustre Gesellschaft im Berlin des Jahre 2023
Nicoles Probe aufs Exempel misslingt gründlich. Derweil bereitet sich ihr Vater Demian, freier Kunstkritiker, zuhause am Schlachtensee auf die Feier vor, bei der der arabische Autor Masud al-Huzeil einen Literaturpreis erhalten soll. Demian verehrt Masuds Dichtung seit er ihn vor Jahrzehnten an der dänischen Küste getroffen hat.
Demian war damals jung und leicht zu beeindrucken gewesen, traurig und schüchtern – achtzehn Jahre alt und ein begeisterter Leser von Lyrik, auch von arabischen Versen in Übersetzung. Tagelang hörte er Masuds blumigem, stockendem Englisch zu, außerstande, seine ständigen Einladungen abzulehnen.
Quelle: Nell Zink – Sister Europe
Zur Preisverleihung bringt Demian Livia mit, eine Freundin und Erbin mitsamt Königspudel Mephisto. Ausgelobt hat den Literaturpreis eine gealterte muslimische Prinzessin, die in der französischen Schweiz lebt und in den Vereinigten Emiraten Anerkennung als Dichterin genießt.
Vor allem aber ist sie reich und kann nicht selbst bei der Soiree dabei sein. Also schickt sie ihren homosexuellen Enkel Radi als Stellvertreter nach Berlin.
Dann ist da noch der halbamerikanische Kleinverleger Toto, der in den Neunzigern mit schlechten Musikerbiografien gut Geld verdient und in Berlin seine Wahlheimat gefunden hat. Er bringt seine Internetbekanntschaft Avianca mit zu der Soiree.
Nell Zink lässt ihre Figuren mal aufeinanderprallen, mal umeinander herumtanzen. Und sie lässt ihnen den Polizisten Klaus hinterherschleichen, der in seiner zwielichtigen Art als Sittenwächter walten will und zugleich wirkt wie die lebende Verkörperung einer gegenwärtigen konservativen Empörungskultur.
Liebevolle Porträts schräger Vögel
Zink porträtiert diese schrägen Vögel liebevoll, feinfühlig, mit einer Prise zärtlicher Ironie. Aus dem pointenreichen Dialogen und unzähligen kleinen Volten erwächst eine beeindruckende Lebendigkeit und herrliche Komik, wie in diesem Moment des Abendessens, das – schließlich ist die Preisstifterin muslimisch – ohne Alkohol auskommen muss, so heißt es im Roman:
„Die neun Tische im überheizten Glaspavillon, jeweils für zehn Personen gedeckt, litten an einem auffälligen Mangel an Weingläsern. Es gab keine. Toto setzte sich neben den Mann vom Kulturministerium, der sich von der Bar in der Lobby einen Highball geholt hatte, und die anderen gesellten sich dazu.
Der Ministerialrat war hungrig und schlecht gelaunt, er fing gleich an, sich den Inhalt des Brotkorbs in den Mund zu schieben, eine Scheibe nach der anderen. Neben ihm saß ein bärtiger, lächelnder Mann mit starkem slawischem Akzent, in einem blassblauen Leinenblazer über einem wollenen Pullunder. Der Ministerialrat schwärmte vom ganz unbürokratischen Vergnügen, mit Goethe-Instituten in Diktaturen zu operieren.
Eine schaumige Suppe wurde serviert – ihr blumiger Geschmack erinnerte Demian an Quittenmarmelade –, gefolgt von einer winzigen, salzigen Torte aus in Aspik ertränkter Wachtel, die Toto mit einem Hockeypuck verglich. Der dritte Gang war ein Lammkarree. Es war rot und zäh und reagierte auf Messerattacken, indem es tiefdunkles Blut absonderte. Der Slawe schlug vor, es in die Küche zurückzuschicken und wieder am Lamm anzubringen."
Alltagsabsurditäten prallen auf die Sehnsucht der Figuren nach Kontakt, Übereinstimmung und Zugehörigkeit. Denn nicht wenige von ihnen sehnen sich, so kitschig es klingen mag, danach, verstanden zu werden, im Wissen und mit der Erfahrung, dass das selten klappt.
Ein bisschen Woody Allen
„Sister Europe“ ist auch ein Liebesroman, der die Zweifel und Schüchternheiten seines Personals extrem gut kennt und der Fragen von Identität, Begehren und Zuneigung ständig indirekt verhandelt, im Wissen, dass Liebe oft ein großes Aneinandervorbei bleibt. Ein bisschen klingt der Roman nach frühen Filmen von Woody Allen, ein bisschen nach denen des französischen Filmemachers Eric Rohmer mit ihren schnellen Dialogen.
Die Liebesgeschichte in „Sister Europe“ verwebt sich aber mit Beobachtungen aus dem subkulturellen Berlin der Neunzigerjahre und den kulturellen und Halbwelt-Milieus der Gegenwart. Nicht selten fragt man sich, woher die Autorin eigentlich so derart frappierend gut kennt, was sie in dem unverwechselbaren Ton erzählt, der schon ihre vorangegangenen Romane prägte und trägt.
Voller Ernsthaftigkeit werden seelische und gesellschaftliche Ambivalenzen ausgelotet, doch auch dabei kommt der Humor nie zu kurz, wie diese Schilderung zeigt, in der Demian über seine Zweifel an Masuds Dichtung sinniert:
Als er die Bücher las, stieß Demian zu seinem Entsetzen auf einen krassen und hartnäckigen Rassismus gegen Schwarze. Ließ sich das entschuldigen? Er entschuldigte es, auf Grundlage der Tatsache, dass es einem antischwarzen Rassisten schwerfallen würde, in Norwegen allzu viel Schaden anzurichten, wo antimuslimischer Rassismus eine tödliche Bedrohung war (zugegeben, ein großer Teil davon war intersektional und richtete sich gegen Somalis). War es herablassend, seine eigenen ethischen Maßstäbe zu senken, weil der Mann ein Genie war, oder war es eurozentrisch, sie nicht zu senken, und was war schlimmer?
Quelle: Nell Zink – Sister Europe
Träume und Wünsche unter den Vorzeichen von Wokeness und großen Umbrüchen
Ja, was ist schlimmer? fragt man sich im Blick auf die Zwiespalte der Figuren in einem Roman, der die Borniertheiten und Kränkungen, die Träume und Wünsche seiner Figuren unter den Vorzeichen von Wokeness und den großen Umbrüchen der Gegenwart so interessiert betrachtet wie ein Vogelbeobachter seltsames Federvieh durch ein Fernglas: voller Zuneigung und Faszination und Neugierde.
Nicole mit ihrem Wunsch, ihr biologisches Geschlecht abzulegen verkörpert das vielleicht am deutlichsten, wie sehr die Zersplitterung der Gesellschaft das Empfinden der Verlorenheit befördert.
Nichts bleibt wie es ist, nichts kommt wie es kommen soll, aber alles wirkt plausibel in „Sister Europe“, weil Nell Zink einfach eine großartige Erzählerin ist. Rückblickend versteht man, wie kunstvoll schon der erste Satz den weiten Horizont des Romans aufspannt:
Es regnete vierzig Tage und vierzig Nächte», erzählte Demian seiner jüngeren Tochter Maxima («Maxi»), die mit leichtem Fieber früher als sonst ins Bett gegangen war.
Quelle: Nell Zink – Sister Europe
Der Satz erinnert an die biblische Erzählung von Noah und der Arche: die Sintflut dauerte vierzig Tage. Die biblische Geschichte ist eine von Untergang und Überleben, – ganz wie „Sister Europe“.
Beim Lesen stellt sich ein leichtes Fiebergefühl ein, das zugleich high macht, hypnotisiert und darin wiederum auch dem Song der Band „The Psychedelic Furs“ ähnelt, dem Nell Zinks melancholisch-kluger Roman seinen Titel verdankt.

May 23, 2025 • 6min
Oliver Maria Schmitt – KomaSee
Das Spätwerk Woody Allens zeichnet sich durch eine gewisse künstlerische Beliebigkeit aus: Wo immer ihm eine Tourismusbehörde günstige Bedingungen bot, schien es, hat er einen pittoresken Film gedreht. Barcelona, Rom, Paris – you name it.
Turismo Como kann nun zwar nicht mit Woody Allen aufwarten, aber immerhin mit Oliver Maria Schmitt und seinem neuen, am Comer See spielenden Roman – Achtung Wortspiel – „KomaSee“. Also vorne mit „K“ und hinten mit „a“, so wie die tiefe Bewusstlosigkeit. Die wunderschöne Kulisse der Lombardei drängt sich immer wieder ins Bild.
Am Tage protzte und prunkte dieser immer leicht überkandidelte Alpensee schon sehr mit seiner aufdringlichen Grandezza, immer wirkte er ein bisschen wie zu stark geschminkt.
Quelle: Oliver Maria Schmitt – KomaSee
Nachfahr der Neuen Frankfurter Schule
Schmitt ist ein legitimer Nachfahre der Neuen Frankfurter Schule, angesiedelt irgendwo zwischen dem Dichter-Star der Satiriker-Gruppe Robert Gernhardt und dem selbsternannten „Klimbim- und Krawallschriftsteller“ Eckhard Henscheid. War den beiden in den 70er Jahren die Zeitschrift Pardon geistige Heimat, so für Oliver Maria Schmitt später die Titanic.
Wie Henscheid und Gernhardt ist auch der jüngere, immerhin inzwischen auch schon fast 60-jährige Schmitt in verschiedenen Genres unterwegs. In seinem neuesten Streich verbinden sich sein Faible für die Reisereportage, der Groschen- und Kriminalroman und die Gesellschaftssatire. Nehmen wir es vorweg: Dem Büchnerpreis rückt er mit „KomaSee“ nicht näher, aber vielleicht dem Kasseler Literaturpreis für grotesken Humor.
Wobei „grotesk“ vermutlich auch die falsche Beschreibung für „KomaSee“ wäre; die Komik ist eher von der robusteren Art, und wie es sich dabei gehört, baut das Personal nah am Klischee:
Da ist zuallerst die abgebrannte Papparazza Elena, in Deutschland aufgewachsene Halbitalienerin, die sich eine finanzielle Konsolidierung durch das Schießen kompromittierender Bilder von George Clooney verspricht – der besitzt bekanntlich am Comer See eine stattliche Villa. Ihm fotografisch eine Affäre nachzuweisen, wäre gut fürs Geschäft.
Des Weiteren gibt es den für Futurismus und den Duce schwärmenden Aufschneider Faustino, der Elena erfolglos den Hof macht. Eine mafiöse Familie betreibt windige Geschäfte, und das im Rollstuhl sitzende Oberhaupt entpuppt sich als früherer Verehrer von Elenas überdrehter Mutter Sophia.
Die wiederum stammt vom Comer See, wo sie seinerzeit den später unter dubiosen Umständen zu Tode gekommenen Terroristen und Tankwart Rudolf kennenlernte.
Diese Liebe wurde von Rudolf Faulhaber aus Titisee-Neustadt erwidert. Schnell habe man geheiratet, in Como, aber nur standesamtlich. Was ihre, Sophias Eltern, die sowieso schon gegen eine Ehe mit einem dahergelaufenen Tankwart aus Deutschland waren, vollends zur Raserei brachte. Vielleicht hatten sie da aber schon eine Art Vorgefühl, sagte die Mutter, denn Rudi war, wie er ihr erst nach der Eheschließung beichtete, in der RAF.
Quelle: Oliver Maria Schmitt – KomaSee
Hohe Pointendichte
Ferner gibt es eine Vermieterin von der Sorte zupackende Mamma, die ihren in jeglicher Hinsicht schwer vermittelbaren Sohnemann Eusebio ins Eheglück mit Elena zwingen will. Enkelin Riva schwirrt auch noch als vermurkste Vertreterin der Generation Z durch die Szenerie. Jede und jeder spielt ihre und seine klischeehafte Rolle, und das auch ziemlich gut.
Oliver Maria Schmitt kann sehr komisch schreiben, und die Pointendichte nimmt nach anfänglich raumgreifenden touristischen Informationen zu architektonischen Schmuckstücken und historischen Räuberpoistolen immer mehr zu. Schmitt beherrscht das anspielungsreiche Wortspiel mindestens ebenso gekonnt wie den gemeinen Kalauer:
Das war nun der berühmte Tropfen Wein, möglicherweise ein ganz ordentlicher italienischer Tafelwein, der dem Fass die Krone ins Gesicht schlug.
Quelle: Oliver Maria Schmitt – KomaSee
In „KomaSee“ werden so ziemlich alle Themen verhandelt und Materialien verbraten, die auch in der Gala zu finden sein könnten (Superreiche bei einer Oldtimer-Auktion), auf Seite Drei der Süddeutschen (Schlepperkriminalität), im Poproman (Zitate von Tocotronic und anderen Helden der Subkultur), in einer Vorabendserie (Herzschmerz mit Verwicklungen), Politsatire (der Hang Italiens zur Faschismus-Nostalgie) und in einem Politthriller (kam RAF-Terrorist Rudolf wirklich aufgrund von Schussligkeit beim Hantieren mit Sprengmitteln um?).
Den ästhetischen Fehltritten von Touristen wird ebenso Aufmerksamkeit geschenkt wie der Eleganz des italienischen Mannes:
„Ein italienischer Uomo gentile würde sich eher beide Beine amputieren lassen, als in der Öffentlichkeit mit Kinderhosen herumzulaufen."„Und deswegen hasst du diese Menschen?“„Ich hasse sie überhaupt nicht“, zischte Faustino zwischen den Zähnen hervor. „Es ist nur ganz normale Verachtung. Sie können ja nichts dafür, sie sind auch nur Heimatvertriebene. Am liebsten würden sie in Ruhe und unbehelligt auf ihren hässlichen Sofas sitzen und ihre mobilen Endgeräte streicheln, aber irgendetwas zwingt sie, das Haus zu verlassen und sich in die Fremde zu begeben. Sie sind ja nur Geflüchtete, Verlorene der Zivilisation, auf der Flucht vor der Langeweile und vor sich selbst, Tote auf Urlaub, ragazzi in vacanza.“
Quelle: Oliver Maria Schmitt – KomaSee
Guilty-Pleasure-Lektüre: unterhaltsam, lustig, mitunter total blöd
All das spielt sich also ab auf dem schmalen Grat zwischen Kolportage und Ironie: „KomaSee“ ist Trivialliteratur und gleichzeitig ihre Parodie. Die Lektüre ist ein bisschen Guilty Pleasure, der zugleich durch die eingezogene Metaebene Absolution zuteil wird.
Fazit: Keine Pflichtlektüre, aber immerhin kurzweiliger als so manches von Kunstwillen befeuerte Dichtwerk. Unterhaltsam, lustig, mitunter total blöd, manche Witze abgestanden, am Ende ein bisschen auf mythisch machend und auf heitere Weise der absurden Gegenwart auf der Spur.
Wie sich überm Comer See manchmal stürmische Winde aus verschiedenen Richtungen gefährlich zu einem tosenden Unwetter vereinen, so verdichten sich in „KomaSee“ verschiedene luftige Ideen zu einem Klamaukgewitter.
Wie sagte schon der von Kunstbeflissenheit auch nicht immer ganz freie Tocotronic-Frontmann Dirk von Lowtzow: „Pure Vernunft darf niemals siegen!“

May 21, 2025 • 4min
Alice Zeniter – Eine ganze Hälfte der Welt
Wie in Geschichte und Wissenschaft, hat auch in der Literatur die Suche nach vergessenen Frauen begonnen. Außerdem setzte eine Auseinandersetzung damit ein, wie Frauen in der Literatur gesehen oder ihre Werke von der Kritik eingeordnet werden. Das Wort „Frauenliteratur“ etwa wird mit einem abwertenden Beigeschmack verwendet. Sie gilt als kitschig, als banal.
Das musste auch die französische Romanautorin Alice Zeniter feststellen. Bei den Recherchen für ihren Essayband „Eine ganze Hälfte der Welt“ stellte sie fest, dass nicht nur ihre Werke, sondern auch die anderer Autorinnen von den Medien abqualifiziert werden:
Eine vollkommene Leidenschaft von Annie Ernaux wurde als »Backfischlektüre« bezeichnet, Marie Darrieussecq durfte über sich lesen, dass sie »Das Baby besser zusammen mit den dreckigen Windeln ihres Sohnes in die Tonne gehauen hätte«, und im Jahr 2017 betitelte die Sonntagszeitung Journal du Dimanche einen Artikel über Lola Lafon und mich mit den Worten: »Die netten Mädels, die bei den Neuveröffentlichungen dieses Herbstes den Ton angeben werden«. Wenn diese Männer und Frauen, deren Entscheidungsgewalt ungeheuer ist, die über Erfolg und Misserfolg der Verlagsprogramme bestimmen, so über Autorinnen sprechen, ob nun privat oder öffentlich, wie lässt sich dann verhindern, dass wir weniger achtbar, weniger lesbar erscheinen als unsere männlichen Kollegen?
Quelle: Alice Zeniter – Eine ganze Hälfte der Welt
Leserinnen häufig durch männliche Identifikationsfiguren geprägt
Autorinnen sähen sich außerdem mit sexistischen Verhaltensweisen konfrontiert:
Eine Autorin, das merkte ich sehr schnell, ist ein Körper, zu dem jeder eine Meinung hat. Nachdem ich zum ersten Mal in der Literatursendung La Grande Librairie aufgetreten war und voller Stolz das Podium mit Umberto Eco geteilt hatte, hielt es der Cheflektor meines Verlags für angebracht, mir vor Zeugen meine im Fernsehen getragene Kleidung anzukreiden, die mich, mit seinen Worten, »angestaubt« wirken lasse.
Quelle: Alice Zeniter – Eine ganze Hälfte der Welt
Nachdenklich stimmen auch Zeniters Beobachtungen zu ihrem eigenen Leseverhalten in Kindheit und Jugend. Sie wurde von Romanen geprägt, deren Identifikationsfiguren männliche Helden waren. Frauen dagegen waren keineswegs Heldinnen:
Meine Erinnerung spult eine lange Reihe von Nebenfiguren ab, Objekte der Begierde männlicher Helden, oft passive Versatzstücke der Geschichte, die man entführen, einsperren, vergiften kann (manchmal alles hintereinander), eine Unzahl matter Gestalten, mit vor unerwiderter Liebe fahlem Teint, die sich die Nasen an Fensterscheiben platt drücken, hier und da ein paar weggesperrte Irre.
Quelle: Alice Zeniter – Eine ganze Hälfte der Welt
Die Weibliche Perspektive geht verloren
Sie listet viele Beispiele vor allem aus franzöischen Werken auf und zitiert ausführlich die US-amerikanische Literaturnobelpreisträgerin Toni Morrison zum Thema Identifikation mit Romanfiguren. So weit, so spannend und außerdem sowohl dem Titel und dem Untertitel des Buches angemessen. Letzterer verspricht, „Über Autorinnen - Heldinnen – Leserinnen“ zu erzählen.
Doch ab etwa Seite 100 ändert sich der Tenor: Nun geht es nur noch um Alice Zeniter – was sie sich beim Schreiben ihrer Romane gedacht hat, was sie von politischer Literatur hält oder was sie beim Schreiben oder Lesen ganz allgemein bewegt. Die weibliche Perspektive geht dabei verloren:
Literarische Formen können mich auf rein intellektueller Ebene interessieren (»so etwas habe ich noch nie gesehen, das ist völlig neu«) und mich zugleich zutiefst langweilen. Seien wir ehrlich: Was mich bei manchen »schwierigen« Texten anspricht, ist weniger das Werk an sich als das Bild von mir selbst bei der Lektüre.
Quelle: Alice Zeniter – Eine ganze Hälfte der Welt
Alice Zeniter wendet sich damit an Leser, die an den Hintergründen ihrer Romane interessiert sind oder die sich allgemein mit der Entstehung von Literatur auseinandersetzen. Die ersten Kapitel von „Eine ganze Hälfte der Welt“ hingegen leisten einen lesenswerten und sehr lebendig geschriebenen Beitrag zur Rolle der Frau in Literatur und Literaturbetrieb.

May 20, 2025 • 4min
Andreas Maier – Der Teufel | Buchkritik
Wahrscheinlich ist der Teufel ein Heiliger. Die Figur im Chorgestühl der Friedberger Stadtkirche, die Andreas Maier jahrelang für den Teufel hielt, stellt tatsächlich wohl eher den heiligen Sebastian dar. Nicht dass die Teufelsfigur damals, in den 1970er und 80er Jahren, allgegenwärtig gewesen wäre.
Doch die Welt, in der Maier aufwuchs, war klar und übersichtlich in Gut und Böse aufgeteilt. Und es war selbstverständlich, dass man selbst immer zu den Guten gehörte. So lernte es das Kind tagtäglich in der Tagesschau.
In den Nachrichten gab es die Guten und die Bösen. Gut und Böse existierte von Anfang an. Es prägte hauptsächlich die Welt draußen, allerdings nur diese. Das Familienleben war nicht davon betroffen. Es prägte nicht die Menschen, unter denen das Kind aufwuchs und denen es allesamt vertraute.
Quelle: Andreas Maier – Der Teufel
Entweder gut oder böse
„Der Teufel“ ist der zehnte von elf Bänden einer in der hessischen Wetterau angesiedelten, umfassenden Heimat-, Selbstwerdungs- und Generationserkundung. „Ortsumgehung“ hat Andreas Maier diesen Zyklus mit Bezug auf die damals gebauten Umgehungsstraßen schön doppeldeutig genannt.
Der Radius hat sich mit dem allmählichen Älterwerden des Protagonisten vom Zimmer über das Haus, die Straße und in die Welt hinaus erweitert. Mit dem neuen Band unternimmt Maier nun noch einmal einen Längsschnitt, um das allumfassende Entweder-Oder der Weltordnung in den Blick zu nehmen. Das Fernsehen als ehemaliges Leitmedium spielte dabei die zentrale Rolle. Von da aus strahlte das Entweder-Oder auf alles aus. Arm oder reich. West oder Ost. Märklin oder Fleischmann-Modelleisenbahn.
Problemzone Sexualität
Als besonders prekär erlebte Maier die Aufteilung in Mann und Frau. Sie war gewissermaßen naturgegeben, aber eben doch so, dass das Mannsein für einen Jungen des Jahrgangs 1967 zur Herausforderung werden musste. Männer waren Machthaber, Unterdrücker, Gewalttäter. Pubertierende wuchsen also in eine Rolle hinein, die sie zugleich abzulehnen hatten. Sexualität wurde damit zu einer kaum zu bewältigenden Problemzone.
Maier beschreibt sein erstes Mal bei Batiktuchlicht und mit dem Duft indischer Räucherkerzen. Das geforderte Programm hieß „Zartheit, Bedächtigkeit, Aufmerksamkeit“, um ja nicht in Verdacht zu geraten, ein, wie er das nennt, „Schwanzsteckermännerschwein“ zu sein. Doch alle guten Absichten waren letztlich vergeblich.
Irgendwann, während wir schließlich das festlich Erwartete vollführten, kündigte sich an, was am meisten zu vermeiden war, denn daran machte sich das eigentlich Egoistische und Unheilvolle der Frauenfeinde fest, es war gleichsam Symbol der Herabwürdigung der Frau zum Objekt, nämlich die Ejakulation.
Quelle: Andreas Maier – Der Teufel
Mehr Essay als Erzählung
Mit ironischer, erkenntnisfördernder Distanz schreibt Maier nicht einfach aus der Gegenwart heraus, sondern aus einem fiktiven Schreibmoment im Jahr 2009, als er das Zimmer seines geistig gehandicapten, verstorbenen „Onkel J.“ bezog. Da sitzt er noch immer, als wäre seit dem ersten Band des Zyklus die Schreibzeit stehen geblieben.
Von daher wird klar, dass die so eindeutige Autofiktionalität mit Vorsicht zu genießen ist. Von Buch zu Buch erscheinen die Figuren der Familie in anderem Licht, wandelt sich auch der Vater von einer bedrohlichen über eine an Migräne leidende zu einer nahezu freundlichen Gestalt. Auch indem Maier zwischen mehr essayistischen und stärker erzählerischen Passagen wechselt, entzieht er sich dem schlichten Entweder-Oder.
Vielleicht bedeutet erwachsen zu werden ja, von dort zum Sowohl-Als-auch vorzudringen. „Was haben der Teufel und der liebe Gott damals ausgewürfelt über mich?“, fragt Maier heute. Der liebe Gott bleibt dann allerdings dem noch ausstehenden Abschlussband vorbehalten.


