SWR Kultur lesenswert - Literatur

SWR
undefined
May 19, 2025 • 4min

Janosch Schobin – Zeiten der Einsamkeit

Immer mehr Menschen leben allein. Nicht alle leiden darunter. Wer allein ist, muss sich keineswegs einsam fühlen. Aber nicht erst seit der Corona-Pandemie ist offenbar geworden, dass Einsamkeit krank machen kann. Der Soziologe Janosch Schobin hat mit einsamen Menschen in Deutschland, den USA und Chile gesprochen, um das „universelle Gefühl“ Einsamkeit näher zu bestimmen.    John, den der Autor in Brooklyn trifft, hat sich in eine Art inneres Exil zurückgezogen, als in seinem Viertel alles den Bach runterging – zumindest aus seiner Sicht. Als angestammte Familien weggezogen sind und neue Mieter die Wohnungen übernommen haben, „Griechen, Latinos, Araber“ – alles Fremde also. John, der Fremde hasst, ist nicht sympathisch und will es auch nicht sein. Die Einsamkeit hat sich in seinen Körper regelrecht eingeprägt, bestimmt die Art, wie er redet und denkt. Mit Folgen.  Wenn sich die Einsamkeit in den Körper, in die Bewegungen und die Sprache einschreibt, dann wird sie für den Betroffenen immer intransparenter, immer schwieriger in den Blick zu nehmen: Sie wird selbst zur Farbe der Linse, durch die das Licht der Welt zu einem dringt. Quelle: Janosch Schobin – Zeiten der Einsamkeit Benachteiligung durch Armut und Geschlecht  Es ist eine Beobachtung, die der einfühlsame Autor immer wieder machen und präzise zur Sprache bringen wird. Janosch Schobin hat 71 Interviews mit einsamen Menschen geführt, die er „als Experten ihres eigenen Lebens ernstnimmt“. An acht ausgewählten Fällen, die er ausführlich beschreibt und analysiert, zeigt Schobin, wie sich Einsamsein in bestimmten gesellschaftshistorischen Zusammenhängen ausgeformt hat. Er nimmt Menschen in den Blick, die einsam, allein und unbemerkt sterben. In Deutschland werden es immer mehr. Er schildert am Beispiel von zwei Frauen, wie einsam Hinterbliebene sind. Und er spricht mit einer einsamen in Harlem aufgewachsenen Afroamerikanerin, die ihrem ursprünglichen Milieu entwachsen ist, ohne sich in dem Künstler- und Intellektuellenmilieu, in das sie den Aufstieg geschafft hat, fest verankern zu können.  Es gilt als ausgemacht, dass moderne, individualistische Gesellschaften immer einsamer werden, weil die neuen, selbstgewählten Bindungen unsicherer und flüchtiger sind als vordem Familienstrukturen. Aber so einfach ist es nicht, sagt Janosch Schobin. Er macht deutlich, dass nicht beides gleichzeitig zu haben ist: hohe Beziehungsautonomie und bedingungslose Bindungen. Und er fragt, ob eine hohe Bindungsstabilität zum Preis einer niedrigen Beziehungsautonomie wirklich vorzuziehen ist. Die Geschichte der Chilenin Marta legt dies nicht nah. Die aus armen, bildungsfernen Verhältnissen stammende Frau, die mit einem Säufer verheiratet ist, hat keine Chance, ihrer Benachteiligung durch Armut und Geschlecht zu entkommen.  Extreme Belastungstests  Wer von Beziehung zu Beziehung hopst, mag mitunter einen subtilen Mangel, eine kriechende Beziehungsunfähigkeit und ein vages Gefühl der sozialen Wertlosigkeit empfinden, die zusammen zu Recht als Einsamkeit bezeichnet werden können. Mit der zermürbenden, lebenslangen Vereinsamung, die aus der untergeordneten Position von Frauen in den Gesellschaften Lateinamerikas resultiert, lässt sich die subtile Leere hyperdynamisierter Beziehungsbiografien nicht vergleichen. Quelle: Janosch Schobin – Zeiten der Einsamkeit Janosch Schobin ist ein aufmerksamer Zuhörer. Er hat ein feines Gespür für sein Gegenüber, und er ist ein ausgezeichneter Erzähler, der seine Erkundungen mit viel Sinn für Dramaturgie aufgebaut hat. Zuletzt wagt er einen Ausblick auf „die Zukunft der Einsamkeit“. Er rechnet damit, dass künstliche Intelligenz und Medikamente gegen Einsamkeitsbelastungen zum Einsatz kommen werden. Vor allem aber vermutet er, dass durch die schnelle Abfolge von Krisen, denen wir seit einigen Jahren ausgesetzt sind und wohl auch bleiben werden, soziale Gefüge weiterhin extremen Belastungstests ausgesetzt werden. Janosch Schobins Buch schafft keine Abhilfe, aber es kann dabei förderlich sein, klarer zu sehen.
undefined
May 18, 2025 • 4min

Katja Kettu – Forschungen einer Katze

Die Ausgangssituation von Katja Kettus „Forschungen einer Katze“ wirkt seltsam, ja, sogar ein bisschen absurd: Ein nicht näher bezeichnetes kluges sphärisches Wesen wird vom „Amt für Forschung und Unterstützung der Lichten Lebensformen“ auf die Erde geschickt, um Menschen zu erforschen. Eigentlich sollte es der Geburt des Kindes einer Schriftstellerin beiwohnen, aber es geht etwas schief: Die Schriftstellerin verliert das Kind. Und das Wesen landet im Körper einer zeitreisenden Katze.   Tatsächlich funktioniert dieser erzählerische Dreh sehr gut: Die Katze erklärt, beobachtet, greift gelegentlich in die Handlung ein. Sie ist instinktgeleitet wie ein Tier, dann wieder menschenähnlich intelligent. Und sie sorgt für kleine komische Momente inmitten der existentiellen Verzweiflung der namenlosen Schriftstellerin, die eng an Katja Kettu angelehnt ist.   Über unerfüllten Kinderwunsch schreiben  „Es ist sehr schwierig, über den Verlust eines Kindes zu schreiben. Die Katze hat mir Distanz gegeben. Die Katze hat mir geholfen, eine größere Perspektive zu finden. Deshalb ist es ein sehr befreiendes Buch für mich. Es hat mir geholfen weiterzuleben", erzählt Katja Kettu bei einem Treffen in Berlin. Sie hat jahrelang erfolglos versucht, ein Kind zu bekommen. In ihrem Roman schreibt sie drastisch und bisweilen überdeutlich über ihre Erlebnisse: die körperlichen Vorgänge, die Auswirkungen auf die Psyche, das Gefühl, sich selbst zu verlieren, die oftmals grausam-verständnislosen Reaktionen ihres Umfelds.   Katja Kettu berichtet: „Ich habe an einem Buch über einen Künstler gearbeitet und hatte einen sehr engen Zeitplan. Als ich mit dem Verlag darüber reden wollte und ihnen sagte, ich hatte gerade eine Fehlgeburt sagten sie nur: Nun, Du bist eine Schriftstellerin, komm damit klar." Mit ihrer schonungslosen Offenheit gelingt es Kettu, diese Erfahrungen emotional nachvollziehbar zu machen – und hoffentlich auf diese Weise auch mehr gesellschaftliches Verständnis für Frauen zu wecken, die eine Fehlgeburt hatten. Dazu füllt sie auch literarisch eine Lücke: Über ungewollte Kinderlosigkeit wird nur sehr selten geschrieben. Zusammen mit Tine Høegs gerade auf Deutsch erschienenem Roman „Hunger“ zeigt nun auch Katja Kettu, wie es möglich ist.  Faszinierende Einblicke in finnische Geschichte  Die „Forschungen einer Katze“ bleiben nämlich nicht bei der Autofiktion und in Helsinki in den 2020er Jahren stehen. Vielmehr trifft die zeitreisende Katze Ende der 1910er Jahre in Nordfinnland in der Nähe der russischen Grenze auf das Verdingmädchen Eeva, das sich in den sanften Jakob verliebt. Wie in ihren drei bisher ins Deutsche übersetzten Romane hat Katja Kettu auch dieses Mal wieder Teile ihrer Familiengeschichte aufgegriffen.   „Einige Verwandte sind damals in die Sowjetunion geflohen. Sie dachten, es wäre ein besserer Ort – und er war nur fünf Kilometer entfernt. Es gibt da eine Geschichte in meiner Familie: Meine Urgroßeltern haben beschlossen, in die Sowjetunion zu gehen, hatten das Pferd schon vor den Schlitten gespannt und dann hat es sich das Bein gebrochen." Das ist natürlich sehr schlimm für das Pferd – hat aber letztlich meine Existenz ermöglicht. Denn alle andere Verwandten sind von Stalin ermordet oder in Lager gesteckt worden.   Somit zeigen sich in Eevas Leben die Auswirkungen der großen historischen Verwerfungen jener Jahre: der finnische Bürgerkrieg 1918, die Verfolgung finnischer Kommunisten, der Winterkrieg. Das sind hochinteressante Einblicke in die finnische Geschichte, die untrennbar mit Eevas Kampf um ihr Überleben verbunden sind. Und dieser Kampf wiederum zeigt in diesem zutiefst persönlichen Roman der Schriftstellerin in der Gegenwart, wie sie weiterleben kann. Sie muss durchhalten.
undefined
May 18, 2025 • 58min

Zwischen allen Stühlen

Bernardine Evaristo dreht in „Blondes Herz“ die Kolonialgeschichte um und lässt eine weiße Sklavin durch Afrika irren. Ralf Rothmann erzählt in „Museum der Einsamkeit“ neun Geschichten von Würde und Verlorenheit. Maryam Aras schreibt mit „Dinosaurierkind“ einen Essay über Persien, ihren Vater und sich, Ocean Vuong erzählt in „Der Kaiser der Freude“ von Menschen, die sich in Amerika durch’s Leben schlagen. Und Jasna Fritzi Bauer und ihre Frau Katharina Zorn erzählen in „Else“ von einer Frau, die ihren Taxischein in den 60er Jahren macht. Und dazu spielt der Gitarrist und Sänger Nick Drake, über den gerade ein Essay von Jürgen Goldstein erschienen ist.
undefined
May 18, 2025 • 11min

„Politische Trauer“ – Maryam Aras und ihre deutsch-iranische Tochter-Vater-Geschichte | Gespräch

Tochtervater-Geschichte Maryam Aras stammt aus dem Iran. Ihr Vater kam schon in den 60er Jahren nach Deutschland. Sie denkt selbst politisch, das hat viel mit ihrem Leben zu tun, meint Insa Wilke, die Maryam Aras schon länger literarisch begleitet. Der Vater hat in iranischen Studentenverbindungen in Deutschland gegen die Diktatur im Iran politisch gearbeitet. Erinnerung und Gerechtigkeit Für die Tochter heute geht es aber um Gerechtigkeit, um migrantische Perspektiven in Deutschland, um Erinnerungsgeschichte – Insa Wilke meint, es geht um eine Lücke der Anerkennung: Die deutschen 68er-Studierenden haben viel von dem Machtkampf in Persien gelernt, aber wenig über ihre persischen Kommilitonen geredet. Man kann das zu radikal finden, weil es ja doch viele Diskussionen über Politik gab, aber Insa Wilke ist überzeugt, dass da etwas unter den Tisch fiel in der kollektiven Erinnerung an die 68er Rebellion. Politische Trauer Im Iran wurde bis heute keine Demokratie errichtet, in Deutschland wurde keine richtige Erinnerungskultur installiert. Das sind zwei Gründe für politische Trauer, die der Roman in Insa Wilkes Augen durchzieht. Der Vater lebt in Deutschland ein kleines Leben, könnte man meinen, wohnt und arbeitet prekär, lebt immer in der Opposition, erst unter dem Schah, dann unter der Herrschaft der Mullahs. Es sind souveräne Leute, die aus dem Iran nach Deutschland kommen. Beeindruckend findet Insa Wilke den Stil, die Wärme, manches wird dabei nicht erklärt sondern vorausgesetzt, im Hintergrund steckt immer auch das politische Problem, dass die iranische Geschichte auch eine Geschichte amerikanischer und britischer Einflussnahme war. An Maryam Aras schätzt Insa Wilke die Konsequenz, mit der sie die Mehrheitsgesellschaft dazu bringt, mitzugehen, sich selbst via Internet beim Lesen ein Bild zu machen von der damaligen Zeit.
undefined
May 18, 2025 • 7min

Im „Museum der Einsamkeit“ versammelt Ralf Rothmann neun neue Erzählungen | Gespräch

Ein Alterswerk um Altern und Würde Die zentralen Themen sind Altern und Würde, auch wenn die erste Erzählung in den 60er Jahren in einem Lehrlingswohnheim spielt. Die Helden bei Rothmann leben in teilweise beklemmenden, klaustrophobischen Lebensverhältnissen. Ein Junge muss auf seinen verhassten kleinen Bruder aufpassen, eine Frau will nach dem Tod ihres Mannes in ein Altersheim, ein Hilfsarbeiter kann nicht mehr auf die Baustelle. Strahl der Wärme Es ist ein Alterswerk des 72jährigen Schriftstellers. Ralf Rothmann hat sich nie um intellektuelle Moden gekümmert, er ist ein literarischer Autodidakt, der gerade in die Akademie für Sprache und Dichtung aufgenommen wurde. Sprache ist für ihn kein Instrument, sondern hat etwas schwebendes, losgelöstes, Ralf Rothmanns Erzählungen leben auch im neuen Buch von  Alltagsepiphanien, vom Strahl der Wärme, der auch beklemmende Situationen aufhellen kann.
undefined
May 18, 2025 • 6min

Katharina Zorn und Jasna Fritzi Bauer – Else | Buchkritik

Frankfurt am Main in den 60ern – wilde Zeiten, denn neben Berlin ist die Stadt eine Hochburg der Studentenproteste. Else ist liebevolle Mutter zweier Töchter, verheiratet mit Willy, einem grundsoliden Kerl, der davon träumt, in höhere Kreise aufzusteigen. Und darum geht’s für die ganze Familie am Wochenende auf den Tennisplatz, wo sich Frankfurts bessere Gesellschaft trifft. Der TV 1923 ist ein ehrenwerter Klub. Nur Männer in höheren Anstellungen, Ärzte, Juristen du ihresgleichen, sind hier Mitglieder, von Frauen erst gar nicht zu sprechen. Sie werden an der Seite der Männer geduldet, sie dürfen da sein, um ihre Männer beim Tennis zu bestaunen und auf Platz drei, hinten, wo sie keiner sieht, da dürfen sie seit Neuestem auch ab und an mal spielen. Quelle: Katharina Zorn und Jasna Fritzi Bauer – Else Die Taxilizenz – Ein Stück Selbstbestimmung Else ist eine gute Ehefrau und Mutter, sie hält ihrem Mann den Rücken frei, kümmert sich gerne um Kinder und Haushalt. Doch irgendwas fehlt ihr. Als ihr Mann monatelang auf Geschäftsreise in Indien ist, liest Else zufällig eine Annonce in der Zeitung: da werden Taxifahrer gesucht. Männer natürlich. Aber wer sagt denn, dass Frauen das nicht können? Also macht Else heimlich ihre Taxilizenz und fährt von da an nachts durch Frankfurt. Ihr Mann, ihre Kinder, nicht mal die beste Freundin wissen davon. Und auch die Künstlerin Katharina Zorn hatte lange keine Ahnung - sie hat den Roman „Else“ zusammen mit ihrer Frau, der Schauspielerin Jasna Fritzi Bauer geschrieben. Vorbild für die literarische Else ist Katharina Zorns eigene Oma, von deren Taxifahrerkarriere die Enkelin eher durch Zufall erfuhr, Jahrzehnte später. Katharina Zorn:„Eher so durch einen Nebensatz beim Mittagessen und habe dann natürlich total viele Fragen gehabt und das war wahnsinnig spannend, mit ihr darüber zu sprechen. Und sie hat das so also sie hat das einfach so fallen lassen und irgendwie hat das hat keiner richtig zugehört und da ist mir dann aufgefallen, dass einfach, dass sie vielleicht auch an dieses, sage ich mal Patriarchat irgendwie gewöhnt ist, dass eben der Opa immer so im Vordergrund stand und dass sie gar nicht gesehen hat, was sie eigentlich alles vielleicht auch gemacht hat, und Spannendes erlebt hat." Videoclips begleiten das Romangeschehen „Else“ ist Katharina Zorns und Jasna Fritzi Bauers Debütroman. Die beiden arbeiten schon lange künstlerisch zusammen, immer multimedial. Auch der Roman hat neben der literarischen, noch eine weitere Ebene. Jedem Kapitel ist ein QR-Code vorangestellt, der zu aufwändig produzierten Videoclips im Netz führt. Sie kommentieren und begleiten das Romangeschehen. Es gibt kommentierte Videocollagen, einen Musikmix oder auch Originaltöne aus den 60ern in denen Männer erklären, warum Frauen nicht ans Steuer gehören. So wird die Geschichte lebendig und ermöglicht den Leser:innen, Else noch näher kennenzulernen. Die Geschichte spielt über mehrere Jahrzehnte, springt auch immer wieder in die jüngere Vergangenheit, in der die schon hochbetagte mit ihrer Enkelin durch Frankreich reist. Dabei zeigt sich, wie offen und tolerant Else gegenüber ihrer Enkelin ist, die auf Frauen steht. „Du findest die gut, oder?“ fragt Else ihre Enkelin, die irritiert über ihrer Cappuccino Tasse aufsieht. „Ehm ja, die ist süß...oder? Sie wird dabei ein bisschen rot und sieht Else fragend an. „Ja, Emmchen, ich denke, sie ist ein hübsches Mädchen, wenn sie auch was im Kopf hat, könntet ihr euch ja mal verabreden die Tage?!“ Quelle: Katharina Zorn und Jasna Fritzi Bauer – Else Für Jasna Fritzi Bauer und Katharina Zorn war es wichtig, Else in verschiedenen Lebensstadien zu beschreiben. Als junge Frau, die sich still und heimlich mit dem Taxifahren emanzipiert, im mittleren, aber auch im hohen Alter, denn gerade für die gibt es, so die beiden Autorinnen, einfach viel zu wenig Raum in der Kunst. Die Autorinnen wollten Elses Leben in all seinen Facetten zeigen – von ihrer Jugend bis ins hohe Alter – und damit auch die oft vernachlässigte Rolle der Frau in der Kunst sichtbar machen. Katharina Zorn:„Ein ganz normales Leben, aber auch ein normales Leben hat es eben verdient, irgendwie mal noch mal betrachtet zu werden. Und dann haben wir uns damit beschäftigt. Und ich durfte eben auch noch mal rückblickend in ihr Leben eintauchen und habe meine Großmutter immer erst mal nur als Oma gesehen. Und dann habe ich gemerkt Oh mein Gott, ich, ich, ich sehe die gar nicht als Frau. Wie war sie denn als Schwester, Tochter, Mutter, ähm, eben eigenständige Frau." Jasna Fritzi Bauer:„Wie verändert sich die die Hauptperson? Was gibt ihr die Enkelin? Was lernt sie von ihren Kindern, wenn die erwachsen werden? Ich glaube, da gibt es einfach wahnsinnig viele spannende und interessante Facetten, die man zeigen kann." Ein Roman mit der Ehefrau schreiben – nicht immer einfach Beim Schreiben des Buches haben Katharina Zorn und Jasna Fritzi Bauer sich aufgeteilt, Katharina Zorn hat sich naheliegenderweise aufs Biografische konzentriert, Jasna Fritzi Bauer war für den fiktionalen Anteil des Romans zuständig. Das hat sich ganz gut ergänzt sagen beide, aber mit der Partnerin zusammen an einem Roman zu arbeiten, ist auch nicht immer ganz einfach – Kritikfähigkeit hilft. Katharina Zorn:„Wir haben uns dann abends zusammengesetzt und das war so ein bisschen unser Familienritual dann uns gegenseitig die Texte vorzulesen und dann natürlich auch zu kritisieren und deine Meinung zu teilen. Und das wurde mal so, mal so aufgenommen. Aber das ist ja auch das Schöne an der Kunst, dass man darüber auch mal streiten darf, Und am Ende hat es aber alles auf jeden Fall wahnsinnig Spaß gemacht und es war eine wahnsinnige emotionale Reise." „Else“ erzählt ein ganz normales und gleichzeitig einzigartiges Frauenleben. Durch die Kombination aus literarischer Erzählung und multimedialen Elementen entsteht ein lebendiges und berührendes Porträt einer starken Frau, die sich gegen gesellschaftliche Zwänge auflehnt. „Else“ ist eine schöne Hommage an Hessens erste Taxifahrerin und an alle Frauen, die ihren eigenen Weg gehen. Oder fahren.
undefined
May 15, 2025 • 4min

Detlef Pollack – Große Versprechen

Die Gesellschaften der westlichen Moderne sehen sich einer Reihe von Krisen gegenüber: Russlands Krieg gegen die Ukraine, der Aufstieg rechtspopulistischer Parteien und die Klimaveränderung stellen die lange gewachsene Vorstellung vom unaufhaltsamen Fortschritt infrage. Das große Versprechen der Moderne sei brüchig geworden, konstatiert der Soziologe Detlef Pollack. Die westlichen Gesellschaften hätten sich polarisiert, die öffentliche Diskussion sei von Häme und Herabsetzung gekennzeichnet, „moralisierender Alarmismus“ die falsche Antwort auf die Probleme der Gegenwart. Pollacks Anspruch ist es, die Kontroversen zu versachlichen, indem er die Grundstrukturen moderner Gesellschaften rekonstruiert, um so Argumente gegen das herrschende Unbehagen in der Kultur zu gewinnen.   Ernüchterung gegenüber utopischem Denken in der Moderne  Aus einem historischen Rückblick gewinnt Pollack die Einsicht, dass die Moderne schon in ihren Ursprüngen zur Zeit der französischen Revolution nicht nur durch das Versprechen auf Verbesserung des menschlichen Lebens gekennzeichnet gewesen sei, sondern ebenso durch eine deutliche Ernüchterung gegenüber dem utopischen Denken.   Bei allem Streben nach dem Ganzen, Notwendigen und Absoluten betreibt die Aufklärung auch die Suche nach dem rechten Maß der Mitte, bemüht sie sich um eine Praxis der Verhältnismäßigkeit und entwickelt sie zunehmend eine Skepsis gegenüber dem Prinzipiellen. Quelle: Detlef Pollack – Große Versprechen Pollack gibt dafür einige Beispiele, überhaupt zeichnet sich sein Buch dadurch aus, dass abstrakte Theoreme immer anschaulich gemacht werden: Auf die Entfesselung der Wirtschaft, die zu exzessivem Ressourcenverbrauch und Umweltproblemen führt, reagieren moderne Gesellschaften u.a. durch Bepreisung von CO2. Kapitalistische Finanzmärkte werden reguliert, der Sozialstaat dämpft Ungleichheit durch Umverteilung ab, internationale Konflikte werden durch Diplomatie eingedämmt usw.   Moderne nicht apokalyptisch denken  Pollack positioniert sich explizit gegen apokalyptische Theorien der Moderne, etwa der Kritischen Theorie, des Postkolonialismus und Poststrukturalismus, die eine generelle Entfremdung des Menschen, die Zerstörung der Natur, Ausbeutung und Unterdrückung diagnostizieren.   Ohne die Leistungen der kapitalistischen Marktwirtschaft könnten (…) Familien ihren Lebensunterhalt nicht bestreiten. Die Ausgaben des Sozialstaats befördern das familiäre Zusammenleben; die Ausweitung wissenschaftlicher Einsichten ist die Voraussetzung für eine gute medizinische Versorgung; die Einnahme von Steuern garantiert eine gute Schulbildung.  Quelle: Detlef Pollack – Große Versprechen Zwar sei das Krisenmanagement moderner Gesellschaften oft mangelhaft, zum Beispiel hätten sie zu spät und zu langsam auf die Klimakrise oder die militärische Bedrohung durch Russland reagiert. Dennoch – und das ist die aktuelle politische Pointe von Pollacks Argumentation – seien die westlichen Demokratien, auch weil sie von starken Zivilgesellschaften bestimmt sind, besser geeignet, Wohlstand, Gesundheit, Freiheit und Würde der Menschen zu gewährleisten als autoritäre Staaten. Aber wenn das so ist, woher kommt dann der Aufschwung rechtspopulistischer Parteien?   Ursachen des Rechtspopulismus  Pollack erklärt das weniger durch ökonomische Entwicklungen, die zu sozialer Ungleichheit und Statusverlust führen. Entscheidender seien Verunsicherung durch die fortschreitende Globalisierung, mangelnde gesellschaftliche Anerkennung und zunehmende Fremdenangst, die bei den Betroffenen zu Ohnmachtsgefühlen, Ressentiments und nostalgischen Reaktionen führen:  Es soll wieder so werden, wie es angeblich einmal war, als Deutschland noch den Deutschen gehörte, als Leistung belohnt wurde, als es noch keine Gendersternchen gab und jeder das essen konnte, was ihm schmeckte. Quelle: Detlef Pollack – Große Versprechen Weder eine generelle Ablehnung der Moderne noch deren blinde Befürwortung sind nach Detlef Pollacks Ansicht richtige Antworten auf die kumulierten Krisen der Gegenwart. Man solle die großen Erwartungen an die Zukunft nicht aufgeben, müsse sich vielleicht aber damit abfinden, dass die Umsteuerung und Selbstkorrektur komplexer westlicher Gesellschaften nicht immer schnell genug funktionierten. Das klingt bei allem theoretisch behaupteten Optimismus am Ende doch etwas ratlos.
undefined
May 14, 2025 • 4min

Tor Ulven - Grabbeigaben

„Grabbeigaben“ setzt auf unkonventionelle Weise ein. Es wird suggeriert, dass wir alle tagtäglich auf einer Menge von Gegenständen herumgehen – seien es „Hähnchenreste“, „Tonscherben“, oder „Meerschildkröten“.   Vergänglichkeit des Irdischen  Gleich im nächsten Absatz lauscht jemand der Tonaufnahme von Brahms „Tragischer Ouvertüre“, dirigiert von Arturo Toscanini. Die Aufnahme stammt vom 22. November 1953. Der Zuhörende sinniert über die Vergänglichkeit alles Irdischen.  Und den Plattenrillen entsteigen die Töne wie Seelen, gleichsam erlöst von der irdischen Hölle, aber außerstande, sich dem Himmel zu nahen; wieder und wieder mögen sie emporfliegen aus dem schwarzen Vinyl in einem verzweifelten Versuch, jenes Konzert vom 22. November zu verewigen, doch stattdessen hört man nur, wie unendlich weit weg es ist, immer weiter sich entfernt in eine unendliche Vergessenheit. Quelle: Tor Ulven – Grabbeigaben Was diese zwei Textstellen verbindet, ist eben die Vergänglichkeit des Irdischen. Auf der einen Seite ist es wahr, dass unter unseren Füßen eine Menge längst vergangener Gegenstände ruhen: etwa Reste uralter Klöster bis hin zu versunkenen Städten der Maya-Kultur. In Tor Ulvens Prosatext wird auch von Ausgrabungen von Gegenständen aus der Prähistorie berichtet: etwa von bronzezeitlichen Blasinstrumenten – so genannten „Luren“. Archäologisch gesehen sind die Instrumente gesichert, doch ihr Klang, ihre Musik ist entschwunden – und damit ebenso vergänglich wie die Tonaufnahme von Brahms „Tragischer Ouvertüre“ dirigiert von Toscanini. Das heißt: Alles, was wir aus der Vergangenheit ausgraben, sind letztlich Grabbeigaben für die Geschichte der Menschheit.  Drei Erzählperspektiven und ein Garten  „Grabbeigaben“ ist aus drei Perspektiven erzählt: Ein Ich- und ein Er-Erzähler, sowie eine Sie-Erzählerin. Diese Vorgehensweise gibt den recht unterschiedlichen Passagen eine gewisse Struktur. Doch Ulven bietet keine inhaltliche fortschreitende Erzählung. Es sind viel mehr Erzähl-Mosaike, die durch stets wiederkehrende Motive zusammengehalten werden – etwa Gedanken über Vergänglichkeit und Tod, über Musik, über Sex und über Gegenstände des Alltags. Das Mosaik-Ensemble soll aber keineswegs ein statisches Gesamtbild ergeben. „Fragmentarium“ lautet der Untertitel von „Grabbeigaben“. Zu den wiederkehrenden Motiven in „Grabbeigaben“ gehört auch der Garten.   Sie empfand eine immense Sehnsucht nach diesem Garten, sogar jetzt noch, da das Bild nur noch Erinnerung war, nicht weil der Garten sie an einen wirklichen Garten erinnerte, den sie selbst gesehen oder besucht hatte, sondern, im Gegenteil, weil es ein nie gesehener, für immer unrealisierter, unzugänglicher war, wie ein unsichtbarer Garten in einem Samen, der nie aufkeimen wird. Quelle: Tor Ulven – Grabbeigaben Der Garten – „locus amoenus“, der liebliche Ort in der Natur, künstlerisch ausgestaltet seit der Antike bis in unsere Zeit. Der Garten Eden – Ort der Eintracht mit Gott und den himmlischen Mächten. Ort, aus dem der Mensch für immer vertrieben wurde. Dieser Garten ist Erinnerungs- wie Sehnsuchtsort – ein Ort, ohne Chance auf Erfüllung. Tor Ulven, der als Lyriker zu publizieren begann, zitiert ein einziges Gedicht in „Grabbeigaben“. Es ist „Ein Dröhnen“ von Paul Celan. Darin ist das Wort „Metapherngestöber“ gesetzt. Ob Abstraktion oder Konkreta, viele der Wörter, die wir verwenden, sind Metaphern, Bilder, die unsere Erinnerung leiten. Sicherlich ordnen sie das Leben, doch hinter der Berechenbarkeit des Alltags steht stets das „Gestöber“ des Seins. So sieht es zumindest Tor Ulven.   Intensität der Sprachbilder  Zugegeben, „Grabbeigaben“ ist alles andere als ein hoffnungsreicher Text. Doch Ulvens Sprachkunst, die Dichte und die Intensität seiner Sprachbilder sind einzigartig zu nennen. Dass dies einer deutschsprachigen Leserschaft zugänglich gemacht wird, verdankt man der großen Übersetzungsleistung von Bernhard Strobel. Man kann „Grabbeigaben“ auch mit einem Schuss Ironie interpretieren: Im Leben wie im Lesen arbeiten wir im Gestöber unserer Erinnerungsbilder am Mausoleum der Menschheitsgeschichte.
undefined
May 13, 2025 • 4min

„Revolutionärinnen. Frauen, die Geschichte schrieben" von Alexandra Bleyer

Ob Olympe de Gouges ahnte, welche Bedeutung ihre „Erklärung der Frauen und Bürgerinnenrechte“ einmal erlangen würde? Als Wegbereiterin der feministischen Bewegung steht sie mit ihrer Biografie am Anfang des Buches. Von Amerika bis Ägypten: Frauen kämpften weltweit für Gleichberechtigung  In 19 Kapiteln beleuchtet die Autorin den Werdegang feministischer Ikonen wie George Sand oder Rosa Luxemburg. Aber auch hierzulande weniger bekannte Figuren, wie beispielsweise die ägyptische Frauenrechtlerin Hudā Sha’rāwī stellt uns die Autorin vor.   Dabei bietet sie spannende Einsichten in die landes- und kulturspezifischen Kontexte, in denen sich die Frauen bewegten. Im Kapitel über die türkische Frauenrechtlerin Emine Semiye geht es auch um die gravierenden politischen Umbrüche im Osmanischen Reich. Und im Kapitel über die chinesische Dichterin und Feministin Qui Jin erfahren wir, was es mit dem ‚Füßebinden‘ in der Qing-Dynastie auf sich hat: Dabei werden jungen Mädchen in einer qualvollen Prozedur die Füße gebunden, um das Schönheitsideal winziger „Gold-Lotus“-Füße zu erreichen.   Die promovierte Historikerin orientiert sich eng an den Fakten: Jede Passage wird mit einer wissenschaftlichen oder historischen Quelle belegt. Häufig zitiert sie aus Reden, Tagebüchern oder Briefen. Abigail Adams etwa, „First Lady“ der Vereinigten Staaten und wichtige Ratgeberin ihres Mannes John Adams – schreibt an ihre Schwester Elizabeth:  Ich werde es nie gutheißen, dass unser Geschlecht als minderwertig gilt. […]  Wenn der Mann der Herr ist, ist die Frau die Herrin – dafür setze ich mich ein, und auch wenn keine Frau die Zügel des Staates in der Hand hält, sehe ich doch nicht ein, warum sie sich dazu nicht äußern können soll. Quelle: Alexandra Bleyer – Revolutionärinnen. Frauen, die Geschichte schrieben Kritik und Schikanen gegen die Frauenrechtsbewegung sind nicht neu  Beim Lesen fällt auf, dass die Frauen trotz ihrer unterschiedlichen Lebenssituationen Ähnliches forderten. Vor allem ging es ihnen um Selbstbestimmung und politische Teilhabe. Zugleich waren die Bewegungen in mancher Hinsicht tief gespalten, wie etwa ein ausgewähltes Zitat der türkischen Autorin Pakize Sadri verdeutlicht. Mit Blick auf die militanten britischen Suffragetten stellt sie fest:   Für Halbverrückte, die für ihre Rechte mit Bomben arbeiten, und für auserwählte Frauen, die mit passiver Perfektion ihren Wohlstand in Zukunft vorbereiten, wird leider der gleiche Begriff verwendet: Feminismus! Quelle: Alexandra Bleyer – Revolutionärinnen. Frauen, die Geschichte schrieben Auch auf äußere Widerstände stießen die Feministinnen. Hier zeigt Bleyer, dass neben inhaltlicher Kritik auch böswillige Schikanen auf der Tagesordnung standen: Der Japanerin Kishida Toshiko wurde vorgeworfen, sie sei nur in der Bürgerrechtsbewegung aktiv, um Männern nachzustellen und die Russin Alexandra Kollontai geriet in Verruf, weil sie mit einem 17 Jahre jüngeren Mann liiert war.   Solche Diffamierungen, aber auch einige der im Buch thematisierten Forderungen, wie die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, prägen auch heutige Diskurse. Diese deutlichen Bezüge zur Gegenwart werden von der Autorin allerdings nicht weiter kommentiert.   Wissenschaftliche Präzision und lockerer Schreibstil  Umso mehr Raum bleibt für die Nacherzählung historischer Ereignisse: Gesetzesänderungen, Parlamentsdebatten, Protestaktionen, Weltkongresse – Bleyer behält die einzelnen Entwicklungsschritte ebenso im Blick wie die komplexen Verbindungen zwischen den Akteurinnen. Dem zu folgen erfordert ein hohes Maß an Aufmerksamkeit. Und doch ist die dichte Lektüre dank vieler anschaulich erzählter Anekdoten recht kurzweilig.  Meist gelingt der Sachbuch- und Krimiautorin die Gratwanderung zwischen unterhaltsamer Erzählung und wissenschaftlicher Betrachtung, auch wenn ihr manche Formulierungen etwas zu salopp geraten, etwa wenn sie schreibt, die Gefängnisaufenthalte der Suffragetten seien „kein Honigschlecken“ gewesen.  Leider endet die durchaus bereichernde Lektüre in einem eher enttäuschenden Schlusskapitel. Unter der Überschrift „Was bleibt“ verweist Bleyer auf nur einer Seite auf das ohnehin Offensichtliche: Bildung und öffentliche Aufmerksamkeit sind wichtig, um Veränderungen zu bewirken, und Gewalt ist nicht die Lösung. Dabei steckt so viel mehr in den sorgfältig recherchierten und abwechslungsreich erzählten Kapiteln, die zeigen, wie leidenschaftlich und aufopferungsvoll jede der Frauen auf ihre eigene Art um ihre Rechte kämpfte.
undefined
May 11, 2025 • 6min

Barbi Marković – Stehlen, Schimpfen, Spielen

Wenn ein Buch erst einmal vorliegt, ist von den Schwierigkeiten des Schreibens nicht mehr viel zu bemerken. Es ist redigiert und lektoriert – also: fertig. Ganz anders im neuen Buch von Barbi Marković. Da braut sich gleich im ersten Kapitel schon die dunkle Wolke des Zweifelns zusammen: Ob das hier wohl gelingen kann? Es geht um den Auftrag, eine Poetikvorlesung zu verfassen, also über die eigene literarische Arbeit umfassend Auskunft zu geben. Barbi Marković hat den Auftrag angenommen und sich ein humorvolles Konzept überlegt: Der Bericht über die Entstehung der Poetikvorlesung ist zugleich die Vorlesung selbst. Doch trotz dieses schönen Plans ist sie, wie immer beim Schreiben, hin und hergerissen: Diese Gemütsschwankungen zwischen Größe und Armseligkeit sind die Wellen, die mich immer durch das Schreiben und Leben tragen. Sodass ich genug Momente der Hybris habe, um überhaupt etwas zu produzieren, aber nie vergesse, was für ein nichtiges Wesen ich eigentlich bin. Jetzt ist es zu spät abzusagen. Meine einzige Chance ist eine verrückte, eine unordentliche Vorlesung. Quelle: Barbi Marković – Stehlen, Schimpfen, Spielen Ein Kraftakt voller panischer Selbstprüfungen Zwei Jahre zuvor, als die Anfrage kam, war noch viel Luft für Aufschieberitis, doch die Zeit ist vergangen und jetzt muss in zwei Wochen ein erstklassiger Vortrag in die Tasten gehämmert werden. Das ist ein Kraftakt voller panischer Selbstprüfungen, über dem bedrohlich die Frage schwebt: Wird Barbi Marković es schaffen, die bedeutsame Selbstauskunft rechtzeitig fertig zu stellen? Sie wird, so viel sei verraten. Und darüber hat sie den Titel „Stehlen, Schimpfen, Spielen" gesetzt. Spannend bleibt es aber trotzdem, denn Barbi Marković hat für ihre Vorlesung die Form des Countdown gewählt. Das heißt, im Herunterzählen der Arbeitstage von 13 bis Zero wächst der Text bis zur Vollendung. Harter Lebensstoff in komischer Form Dazu muss man wissen: Solch eine Kontrastspannung zwischen Form und Inhalt gehört zu den charakteristischen Kunstgriffen der serbisch-österreichischen Autorin. Sie verhandelt in ihren Büchern stets harten Lebensstoff, doch Plot, Figurenzeichnung und Dramaturgie sind zugleich durch Comics, Slapstick, Videospiele und andere Medien-Genres inspiriert. In den Titeln ihrer Romane „Superheldinnen" und „Minihorror" klingt das schon an. Und bei der Suche nach Identifikationsfiguren für letzteres Romanprojekt kam Mickey Mouse ins Spiel. Dort, wo in meinen Texten bisher ich war, frohlockten jetzt Miki und Mini. Und die Leser:innen entdeckten in ihnen sich selbst. Jetzt konnte ich über alles schreiben. Quelle: Barbi Marković – Stehlen, Schimpfen, Spielen Was allerdings ein kleines Nachspiel hatte. Denn als Barbi Marković 2024 für „Minihorror" den Preis der Leipziger Buchmesse erhielt, gab Mini eine zweifelhafte Figur ab, wie durch den Mund der Autorin zu erfahren war. Schließlich ist auch das Scheitern in ihren Büchern ein zentrales Thema. Barbi Marković:„Mini bekommt den Preis der Leipziger Buchmesse, aber sie hat keine Rede geschrieben. Alle schauen erwartungsvoll, sie hoffen doch noch auf eine sehr gute Rede, die alle Probleme der Gegenwart lösen wird. Minis Rede ist ein schreckliches Debakel und sie wird sofort aus der Literatur rausgeworfen." Die Kleinsten sollen die Größten sein Zurück zur Poetikvorlesung! Durch die Form des Countdown kann die Leserschaft am schmerzensreichen Verfertigen des Vortrags unmittelbar teilhaben. Und, oh Wunder!, am Ende ist alles Entscheidende über „Stehlen, Schimpfen, Spielen" gesagt. Gestohlen hat die Autorin, wie sie sich ironisch selbst beschuldigt, als sie sich für die Beschreibung des Belgrader Clublebens der Stileigenheiten von Thomas Bernhard bediente. Das Schimpfen bestimmt in ihrem Roman „Die verschissene Zeit" den Sound der brutalen Wortgefechte einer von den Jugoslawienkriegen verstörten Jugend. Und ums Spielen ging es, als derselbe Roman von der Autorin in das Regelwerk eines Videospiels, das dem Buch beiliegt, umformatiert wurde. Trotz ihrer Vorliebe für Pop zieht Barbi Marković zwischen E und U, zwischen klassischer und populärer Kultur keine Grenze. Sie greift auf, was ihr für die literarische Selbstbehauptung brauchbar erscheint und erklärt kämpferisch: Ich lasse mich nicht einschüchtern und mache hier, was ich will! Weil Literatur ein pauschaler Racheakt der kleinen, in die Ecke gedrängten Seelen ist. Die Kleinsten sollen die Größten sein. Quelle: Barbi Marković – Stehlen, Schimpfen, Spielen Alles Entscheidende ist gesagt Als der Tag Zero anbricht und der Vorlesungstext bereit ist zum Abschuss in die Öffentlichkeit, steht alles Wesentliche auf dem Papier. Trotzdem hat die Autorin ihre Zweifel nicht völlig überwunden. Ich wollte eine kluge, ernste Poetikvorlesung. Ich wollte eine Poetikvorlesung schreiben, die so gut ausgeführt ist, dass man sich denkt: Das ist keine Poetikvorlesung. Quelle: Barbi Marković – Stehlen, Schimpfen, Spielen Die Bedenken von Barbi Marković in Ehren, aber tatsächlich hat doch alles prima geklappt: mit dem spannenden Countdown, dem klugen Ernst, der durch Leichtigkeit glänzt, und mit der Poetikvorlesung, die so gut rüberkommt, als wäre sie gar keine.

The AI-powered Podcast Player

Save insights by tapping your headphones, chat with episodes, discover the best highlights - and more!
App store bannerPlay store banner
Get the app