
SWR Kultur lesenswert - Literatur Felix Bohr – Vor dem Untergang. Hitlers Jahre in der Wolfsschanze | Buchkritik
Jul 10, 2025
04:09
Den meisten dürfte der Begriff „Wolfsschanze“ im Zusammenhang mit Stauffenbergs Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 schon einmal begegnet sein: Die Bombe explodierte; doch Hitler wurde nur leicht verletzt.
Von dem Attentat einmal abgesehen, spiele die Wolfsschanze in der deutschen Erinnerung keine Rolle, es gebe kaum Forschungsliteratur, sagt der Historiker Felix Bohr, Autor von „Vor dem Untergang. Hitlers Jahre in der Wolfsschanze“:
Die Wolfsschanze war ja nach dem Krieg hinter dem Eisernen Vorhang. Anders als der Berghof in Berchtesgaden, wo schon 1945 Ewiggestrige und Touristen hinpilgerten, war die Wolfsschanze abgeschnitten, von der westdeutschen Öffentlichkeit zumindest. Auch deswegen wurde dieser deutsche Täterort in Polen nie wissenschaftlich fundiert aufgearbeitet. Ein Indiz dafür ist, dass im letzten Jahr Skelette gefunden wurden unter dem ehemaligen Bunker von Göring.Quelle: Felix Bohr
Bollwerk gegen die Sowjetunion
Im sogenannten Führerhauptquartier Wolfsschanze – der Name stammt von Hitler persönlich – hielt sich der Diktator mit seiner Entourage seit Juni 1941, also seit dem Überfall auf die Sowjetunion, insgesamt 800 Tage auf, so lang wie an keinem anderen Ort bis Kriegsende. Über 40 Bunker und drei Sicherheitsringe mit bewaffneten Wachen schirmten die nationalsozialistische Elite dort ab. Warum wurde gerade Ostpreußen als Standort ausgewählt?Ostpreußen, der ehemalige Ordensstaat, galt immer als Bollwerk gegen das Slawentum und später gegen die Sowjetunion. Das war symbolisch aufgeladen, dass er diesen Ort ausgesucht hat, diese Niederringung des jüdischen Bolschewismus, wie das damals hieß, und des sowjetischen Untermenschen, möglichst in Frontnähe.Quelle: Felix Bohr
Zweite Hauptstadt des NS-Staates im Osten
In Ostpreußen gab es nicht nur die Wolfsschanze, sondern einen ganzen Ring von NS-Festungen. Das heutige Masuren wurde zu einem Dreh- und Angelpunkt des NS-Regimes, sagt Felix Bohr.Alle NS-Größen hatten dort ihre Sitze. Das war sowas wie die Wilhelmstraße plötzlich, also das Machtzentrum wurde für 3,5 Jahre nach Ostpreußen verlegt. Das Auswärtige Amt saß noch in Berlin. Ribbentrop saß in Ostpreußen auf einem Gut in der Nähe der Wolfsschanze. Göring hatte ein paar Kilometer weiter ein riesiges Jagdgut.Quelle: Felix Bohr
Rekonstruktion des Lebens in der „Wolfsschanze“
Den Alltag im nationalsozialistischen Mikrokosmos mitten im Wald hat Felix Bohr auch auf Basis einer kritischen Sichtung von Ego-Dokumenten rekonstruiert, den oft beschönigenden Erinnerungen etwa von Hitlers Kammerdiener, seinen Sekretärinnen oder ehemaligen NS-Größen wie Albert Speer. Zu den interessantesten Quellen gehören die heimlichen Aufzeichnungen des noch sehr jungen Historikers Felix Hartlaub, der in der Wolfsschanze das offizielle Kriegstagebuch des Oberkommandos der Wehrmacht mitverantwortete.Felix Hartlaub war der Einzige, der zeitgenössisch, nicht erst in der Rückschau, den Alltag in der Wolfsschanze sehr kritisch beobachtet hat. Er hat diese Führerfigur zum Teil lächerlich gemacht in seinen literarischen Skizzen, das ganze traditionelle nationalsozialistische Weltbild.Felix Bohrs chronologisch erzähltes Buch liefert einzigartige Einblicke in Hitlers Privatleben, seine Marotten, wie das Ausschlafen bis elf Uhr und die Vorliebe für dünne vegetarische Süppchen, das obsessive Spielen mit Wolfshund Blondi und die Potenzspritzen, die er sich vor Besuchen von Eva Braun verabreichen ließ. Gegen Kriegsende war Hitler, der seinen Privatbunker nicht mehr verließ, ein Wrack, komplett abhängig von seinem Leibarzt Theo Morell. Dankenswerterweise verliert sich Bohr in seinem Buch nie in Schlüssellochperspektiven, sondern stellt die Situation in Ostpreußen immer in den Zusammenhang mit dem Kriegsgeschehen und dem Holocaust, sodass die Monstrosität Hitlers und seiner Verbrechen keine Sekunde in Vergessenheit gerät.Quelle: Felix Bohr
