

SWR Kultur lesenswert - Literatur
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Episodes
Mentioned books

May 9, 2025 • 55min
Keine Panik! – Neue Philippinen-Bücher und eine wüste Poetikvorlesung
Neue Bücher von Archie Oclos, Barbi Marković, Daryll Delgado und Doris Hermanns

May 9, 2025 • 13min
„Frauenbuchläden waren anfangs auch Beratungszentren“: Die Geschichte der Frauen-Buch-Bewegung
In den 1970er Jahre entstanden die ersten Frauenverlage und Frauenbuchläden. Für viele Frauen waren die neuen Bücher und auch neuen Räume eine wunderbare Erfahrung. „Frauenbuchläden waren anfangs auch Beratungszentren“, sagt die Autorin Doris Hermanns. Die Frauen besprachen auch ihre Gewalterfahrungen und merkten, so Hermanns, „dass ihre Probleme nicht persönlich, sondern struktureller Natur“ waren.
Die Frauenbuchläden „Thalestris“ (Tübingen) und „Xanthippe“ (Mannheim)
Der erste deutsche Frauenbuchladen entstanden in München, doch auch in Mannheim, Karlsruhe, Stuttgart, Tübingen oder Freiburg wurden feministische Buchläden gegründet. Die Läden „Thalestris“ in Tübingen und „Xanthippe“ in Mannheim gibt es heute noch.
Zwei Lesetipps von Doris Hermanns
Zwei feministische Klassikerinnen, die Doris Hermanns unbedingt zur Lektüre empfiehlt sind „Das Buch von der Stadt der Frauen“ von Christine de Pizan (AvivA-Verlag) und „Das andere Geschlecht“ von Simone de Beauvoir (Rowohlt).

May 9, 2025 • 5min
Archie Oclos – Die Straßenkatzen von Manila
Straßenkatzen sind in philippinischen Großstädten quasi überall. Sie dürften also einen unverstellten Blick auf die Menschen haben – auf gute wie schlechte Seiten ihres Zusammenlebens. Diesen Blick macht sich der Künstler Archie Oclos zunutze - und sechs dieser Tiere zu Hauptfiguren in seinem Comic-Debüt „Die Straßenkatzen von Manila“.
Dabei erzählt er in fünf Episoden aus dem Alltag einer oder zweier Katzen, im Stil einer Sozialreportage, naturalistisch gezeichnet in grau, schwarz und weiß. In schnappschussartigen Porträts hält er ihre Suche nach Schutz oder Futter fest - oder eine überraschende Begegnung mit Menschen.
Oclos geht dabei ganz anders mit Bildern um als die meisten anderen Zeichner. Er platziert auf die rechte Buchseite jeweils ein ganzseitiges Bild. Auf der linken Seite stehen dazu drei Schlagworte, die es illustrieren oder in einen bestimmten Kontext einbetten. Erst beim Umblättern kommt durch ein neues Bild und neue Schlagworte eine Entwicklung in Gang.
Ungewöhnliche Comicseiten: Ein Bild – drei Schlagworte
„Der Pirat von der Reifenwerkstatt“ in Episode 3 zum Beispiel ist ein kleiner Kater mit hartem Gesicht und nur einem Auge. Zu den Worten
Reifen Luftzug Ordnung
Quelle: Archie Oclos – Die Straßenkatzen von Manila
...sehen wir ihn auf einem Traktorreifen thronen. Dann wird er zum Zeugen, wie ein Politiker in der Reifenwerkstatt ankommt. Ein grinsender Anzugträger mit bewaffneten Leibwächtern. Fünfmal Umblättern später, und es heißt:
Kaltherzig Befehlston Streit
Quelle: Archie Oclos – Die Straßenkatzen von Manila
Im Bild rechts dazu hat der Politiker beim Aufstehen seinen Stuhl und seine Aktentasche umgestoßen - der Kater blickt auf Bündel von Geld, die herausquellen. So erzählt Oclos wie nebenbei von Korruption. Dass im selben Bild auch noch das Handy des Politikers zu Boden fällt, wird einige Seiten später wichtig. In einem der letzten Bilder der Episode sehen wir den kleinen Kater hinter einer Werkzeugkiste hocken. Und die Worte
Spielen Krempel Entdeckung
Quelle: Archie Oclos – Die Straßenkatzen von Manila
...führen den Blick der Lesenden nach links unten, wo auch der Kater hinschielt: zum Boden, aufs klingelnde Handy. Wer in dem Moment anruft, soll nicht verraten werden. Nur so viel: Dass der Anruf ins Leere geht, dürfte für den Politiker unangenehm werden.
Archie Oclos' Katzen führen uns hinein ins öffentliche Leben Manilas, in eine Shopping Mall, zu einer Garküche oder an den Busbahnhof. Neben all den Streunern tritt in einer Episode auch eine verwöhnte Hauskatze auf.
Die Perspektive der Tiere konzentriert sich eher auf den Boden, die Menschen in den Bildern sehen wir also häufig ohne Kopf und stumm. Das lenkt den Blick auf ihr Handeln. So hält der Erzähler die Atmosphäre der Bedrohung durch stark bewaffnete Polizisten ebenso fest wie die Armut oder den Wohlstand.
Ein ungeschönter Blick auf die sozialen Verwerfungen Manilas
Dass Oclos Grau als beherrschenden Farbton gewählt hat, ist konsequent. Trübe wirken seine Bilder dadurch nicht, im Gegenteil. Die Bildmotive sind durch starke schwarze Konturen voneinander abgesetzt. Und immer wirken die Katzenporträts dynamisch, als hätte er sie mitten in der Bewegung festgehalten. Hier macht sich bemerkbar, dass Oclos als Street Artist arbeitet. Er ist gewohnt, in Einzelbilder an Häuserwänden das Maximum an Ausdruck zu packen.
Diese Stärke ist gleichzeitig die Schwäche des Comics. Die Kurzgeschichten aus Manilas Straßenleben bleiben Schlaglichter. Weder über den Hintergrund der Katzen noch den der Menschen erfahren wir etwas.
Ein Glück, dass Oclos im Nachwort Informationen zu den einzelnen Episoden liefert. Sonst würden europäische Lesende nicht verstehen, warum in der ersten Geschichte ein weinender Mann in einem Bus, dem sogenannten Jeepney, sitzt. Im Nachwort erfahren wir: Weil die Regierung die billigen Jeepneys durch E-Busse ersetzen will, steht der Fahrer vor dem wirtschaftlichen Aus.
Denn die meisten von ihnen sind Einzelunternehmer, sie kommen gerade so über die Runden und werden sich ein teures neues Fahrzeug niemals leisten können, so dass sie am Ende der Übergangsphase ihren Lebensunterhalt verlieren werden. Daher auch das Plakat „No to Jeepney Phaseout“, das einer der Jeepney-Fahrer in die Höhe hält.
Quelle: Archie Oclos – Die Straßenkatzen von Manila
So wie hier würde man sich auch an anderer Stelle mehr Informationen über Manila und seine Menschen wünschen. Trotzdem: Oclos‘ Momentaufnahmen aus den Philippinen von heute geben einen welthaltigen Einblick in ein uns wenig bekanntes Land. Das Urteil des Musikers Dong Abay lässt sich unterschreiben. Er fasst in seinem Vorwort nach Oclos‘ Methode der drei Schlagworte seine Eindrücke des Comics zusammen. Sie erfassen perfekt, was der Zeichner mit seiner Arbeit anspricht.
Gehirn Auge Herz
Quelle: Archie Oclos – Die Straßenkatzen von Manila

May 9, 2025 • 22min
Immer stärkere Taifune treffen die Philippinen / ENGLISCH
Interview mit Daryll Delgado im englischen Original

May 9, 2025 • 1min
Darren Allen – 33 Mythen des Systems
Radikale Philosophie und Außenseiterliteratur
„Ich schreibe radikale Philosophie und Außenseiterliteratur“, notiert er auf seiner Website. Seine Werke können begeistern, aber auch großen Widerspruch hervorrufen – so oder so rütteln sie ein gemütlich gewordenes Denken ordentlich durch. Sie würden „von vielen gelesen, geliebt, verabscheut und von einigen bemerkenswerten Unruhestiftern großzügig unterstützt“, schreibt Allen mit einigem Humor.
Darren Allen war einer der Autoren, die Ilija Trojanow für sein neues Buch „Das Buch der Macht“ mit großem Gewinn gelesen hat. Deswegen empfiehlt er die „33 Mythen des Systems“ auf SWR Kultur zur Lektüre.

May 8, 2025 • 4min
Oliver Hilmes – Ein Ende und ein Anfang
Geschichte ist zäh, trocken, öde – so das unausrottbare Klischee. Bücher wie dieses von Oliver Hilmes beweisen das Gegenteil. Denn „Ein Ende und ein Anfang“ ist alles andere als fad. Wie existierte man in einem Land, von dem die Sieger des Krieges zuvor verlangt hatten, bedingungslos zu kapitulieren?
Wie ernährten sich die Deutschen, die in Trümmern lebten? Wie erlebten aber auch Emigranten die Zeitläufte – jene, die vor der deutschen Diktatur geflohen waren? Hilmes weiß gekonnt zu erzählen – auch von einer Debatte im japanischen Kriegskabinett: Wie sollte Japan reagieren auf die Atombombe von Hiroshima?
Während die sechs Kabinettsmitglieder erbittert streiten, nähert sich ein amerikanischer B-29-Bomber der japanischen Küstenstadt Kokura, die unter dichten Wolken liegt. Major Charles Sweeney, der Pilot des Flugzeugs, unternimmt drei Versuche, seinen Auftrag zu erledigen, ehe er entscheidet, stattdessen das etwa zweihundert Kilometer entfernte Nagasaki anzusteuern. Dort über der Stadt öffnet sich um 11 Uhr 02 ein Schacht unterhalb der Maschine, und eine Plutoniumbombe mit einer Sprengkraft von 22.000 Tonnen TNT rast in Richtung Erde.
Quelle: Oliver Hilmes – Ein Ende und ein Anfang
Anrührende Details aus dem Leben der einfachen Leute
Zusammengehalten wird die Darstellung vom Gang der Ereignisse in Deutschland. Zusammenbruch, Besetzung, schließlich Potsdamer Konferenz der Sieger und Brüche zwischen Ost und West. Die Niederlage Japans bildet einen Nebenstrang.
Eine Stärke des Buches sind anrührende Details: So erzählt Hilmes von dem jüdischen Paar Adolf und Margot Friedländer. Die beiden haben den deutschen Terror überlebt und sind in ein Lager in Deggendorf gekommen. Dort führen Insassen die Operette „Im weißen Rößl“ auf. Hilmes zitiert Margot Friedländer, die sich bis heute – mit 103 Jahren – als Zeitzeugin engagiert:
Das Weiße Rößl war wie eine Heilung, für uns und die Zuschauer.
Quelle: Oliver Hilmes – Ein Ende und ein Anfang
Adenauers Aussöhnungspläne mit Frankreich
An anderer Stelle erinnert Hilmes daran, wie der legendäre Pianist Emil Gilels auf Stalins Geheiß am Rande der Potsdamer Konferenz zu spielen hatte. Er erzählt aber ebenso von der Rettung eines todkranken deutschen Jungen durch Penicillin.
Oder von dem Berliner Restaurantbetreiber Heinz Zellermayer, der gerissen an seine Zutaten kommt: auf dem Schwarzmarkt. Und von noch einem Schlitzohr ist die Rede: Dieser Mann residiert in einem Haus in Rhöndorf über dem Rhein und er macht sich Gedanken über eine Aussöhnung mit Frankreich.
Adenauer knüpft damit an Überlegungen an, die er bereits in der Weimarer Republik entwickelt hat: Eine enge wirtschaftliche und kulturelle Verflechtung der beiden Länder soll dem Sicherheitsbedürfnis der Franzosen entgegenkommen und zugleich überzogenen Reparationsforderungen sowie separatistischen Überlegungen auf französischer Seite entgegenwirken. Im Laufe des Septembers werden Adenauers Kontakte zu französischen Besatzungsbehörden immer enger. Man munkelt sogar von einer streng geheimen Begegnung mit Charles de Gaulle in der Abtei Maria Laach, doch da ist wohl nichts dran.
Quelle: Oliver Hilmes – Ein Ende und ein Anfang
Alle Quellen genau benannt
Hier könnte Hilmes einen Tick präziser sein: Es war tatsächlich nichts dran. Aber in puncto Präzision hat sein Buch eng verwandten Darstellungen wie dem unlängst erschienenen „1945“ von Volker Heise etwas voraus: Hilmes hat alle seine Quellen im Anhang genau benannt.
Eine Einladung zum Weiterlesen. Zwei Schwachpunkte teilt Hilmes wiederum mit Heise: Diese anekdotische Geschichtserzählung macht zwar neugierig. Sie zeigt, wie große Politik und Alltag parallel abliefen. Aber historische Zusammenhänge erklärt sie nur sehr begrenzt.
Und: Sobald es um Deutschland geht, erzähle auch Hilmes mit einer geradezu penetranten Berlin-Zentrierung. Dadurch sind auch ihm anrührende Geschichten entgangen. Die Welt war eine andere nach diesem Sommer – wie Hilmes im Untertitel sagt –, aber viel Bezeichnendes geschah auch weitab von Berlin.

May 7, 2025 • 4min
Douglas Rushkoff – Survival of the Richest
Douglas Rushkoffs Buch „Survival of the Richest“ erinnert an einen dystopischen Film des schwedischen Regisseurs Ruben Östlund, der 2022 in Cannes die Goldene Palme gewann. „Triangle of Sadness“ handelt von Superreichen, die sich auf einer Luxusyacht zu Tode amüsieren, während sie direkt in ihr Verderben steuern.
Bei Rushkoff ist die Lage umgekehrt: Seine Superreichen möchten sich für eine immer wahrscheinlicher werdende globale Katastrophe absichern und suchen, um zu überleben, einen möglichst komfortablen Unterschlupf.
Die Super-Prepper schrecken vor nichts zurück
Alles beginnt damit, dass fünf Tech-Milliardäre, die ungenannt bleiben, Rushkoff in ein Luxusspa einladen – für ein Honorar, das einem Drittel seines Jahresgehalts entspricht.
Doch anders als erwartet wollen die Superreichen keine Anlagetipps für Zukunftstechnologien von dem Medientheoretiker und Experten für Digitalökonomie, sondern befragen Rushkoff zum Überleben nach einer möglichen Katastrophe, die sie nur „das Ereignis“ nennen.
Soll man nun nach Alaska, nach Neuseeland oder auf den Mars fliehen, wo Elon Musk, der reichste Mensch der Welt, Kolonien anlegen will? Die Super-Prepper kennen offenbar keine Skrupel, wie Rushkoff schildert:
Die Milliardäre spielten mit dem Gedanken, die Lebensmittelvorräte mit speziellen Schlössern zu sichern, deren Kombinationen nur sie kennen. Oder sie wollten ihren Leibwächtern als Gegenleistung für deren Überleben an ihrer Seite eine Art Disziplinarhalsband anlegen. Vielleicht könnte man auch Roboter bauen, die sich als Leibwächter oder Arbeitskräfte einsetzen ließen.
Quelle: Douglas Rushkoff – Survival of the Richest
Geheime Luxus-Resorts teilweise schon Realität
Rushkoff beschreibt ausführlich, wie weit solche eskapistischen Phantasien bereits gediehen sind. Längst sind Unternehmen aus aller Welt im Geschäft. Vor ein paar Jahren machte die Seasteading-Bewegung von sich reden. Dabei wollen sogenannte Aquapreneure schwimmende Siedlungen, ja mittelfristig sogar ganze Staaten im Ozean gründen.
Von den Fesseln des rückständigen Nationalstaats befreit, wollen die Aquapreneure eine Zivilisation errichten, die ein ultralibertäres Experiment sein wird. Sie werden rasch neue Regierungsmechanismen entwickeln und festlegen, welche (...) Zugeständnisse an den Gemeinsinn oder den Kollektivismus erforderlich sind – sofern sie überhaupt erforderlich sind.
Quelle: Douglas Rushkoff – Survival of the Richest
Spielermentalität statt utopische Gegenkultur
Rushkoff hält jegliche Zufluchtsstätte für illusorisch, daran lässt er keinen Zweifel. Der erklärte Marxist kritisiert, dass es teilweise dieselben Akteure waren, die Anfang der 1990er Jahre noch von mehr Partizipation durch den Cyberspace träumten.
Früher überhäuften diese Leute die Welt mit abstrus optimistischen Business-Plänen, die der Gesellschaft großartigen Nutzen versprachen. Mittlerweile haben sie den gesellschaftlichen Nutzen auf ein Videospiel reduziert. Wer gewinnt? Bezos, der ins All umzieht? Thiel, der sich in seine Anlage in Neuseeland verkriecht? Zuckerberg, der im virtuellen Metaverse Zuflucht findet?
Quelle: Douglas Rushkoff – Survival of the Richest
Eine besonders bittere Pointe liegt darin, dass ausgerechnet die Tech-Unternehmer, deren neokoloniale Produktionsbedingungen ganze Kontinente ruinieren, sich dem abgehängten Rest der Menschheit nun durch Flucht entziehen wollen. Ihre Exzentrik schildert Rushkoff in seinem Buch in filmreifen Szenen, die leider Realität sind.
Rushkoffs Analyse enthält dagegen wenig Neues. Da er viele Themen nur anreißt, wirkt die Kapitalismuskritik des ehemaligen Cyberpunks und Vertreters der Gegenkultur oberflächlich.
Es erscheint etwas naiv, wenn er am Schluss für einen – Zitat – „sanftmütigeren, offeneren und verantwortungsbewussteren Umgang miteinander“ plädiert – und klingt fast schon ein bisschen nach Kapitulation.

May 6, 2025 • 4min
Kaveh Akbar – Märtyrer!
Cyrus Shams leidet am Leben. Um seinen Kummer irgendwie erträglich zu machen, hat sich der Protagonist des Romans von Kaveh Akbar regelmäßig zugedröhnt. Mittlerweile nimmt der knapp dreißigjährige, tieftraurige Dichter, der nicht mehr als ein paar Verse veröffentlich hat, keine Aufputschmittel mehr und geht stattdessen zu den Treffen der Anonymen Alkoholiker.
Aber sein Leben wirkt jetzt noch trostloser und beliebiger. Während er früher wenigstens damit prahlen konnte: „Ich lebe die Gedichte, die ich nicht schreibe“, ist die Nüchternheit nur ernüchternd.
Ein großer Teil seiner psychischen Energie ging für widersprüchliche Gedanken über politische Haltungen drauf. Die Ethik von Mandelmilch. Die Moralität von Yoga. Die politische Aussage von Sonetten.
Quelle: Kaveh Akbar – Märtyrer!
Die depressive Grundgestimmtheit hat verschiedene Gründe. Am schwersten wiegt die eigene Familiengeschichte. Auf dieser liegt der Fokus des sprachmächtigen Romans, der im Jahr 2017 spielt, aber immer wieder in die Vergangenheit springt und in fesselnden Szenen die Kindheit von Cyrus in Indiana im mittleren Westen der USA und das Leben seiner Eltern aus deren Perspektive in den 80er Jahren im Iran Revue passieren lässt.
Dazwischen gibt es surreale Traumsequenzen, in denen etwa ein an Donald Trump erinnernder Präsident, die Comic-Figur Lisa Simpson und der persische Dichter Rumi auftauchen.
Lähmender Zwang
Es ist vor allem der frühe Tod der Mutter, der Cyrus nachhaltig erschüttert. Diese kommt ums Leben, als 1988 gegen Ende des Iran-Irak-Kriegs eine fehlgeleitete amerikanische Rakete ihr Flugzeug trifft.
Sein Vater, betäubt von seinem Zorn, will alles hinter sich lassen und wandert mit dem Kind ausgerechnet in die USA aus, um auf einer Hühnerfarm zu schuften. Vater und Sohn bleiben Außenseiter im neuen Land.
Akbar schildert eindrücklich typische Migrantenbiografien, die vom „lähmenden Zwang“ bestimmt sind, andere keinesfalls zu verärgern. Als Cyrus erwachsen ist, stirbt sein Vater an einem Schlaganfall, so als hätte er gerade nur so lange wie nötig durchgehalten.
Meine Mom ist völlig sinnlos gestorben. Ein Rundungsfehler. Sie musste sich ihren Tod mit dreihundert anderen Leuten teilen. Und mein Dad ist sang- und klanglos gestorben, nachdem er jahrzehntelang auf einer Geflügelfarm Hühnerscheiße weggemacht hat. Mein Leben – mein Tod – soll mehr bedeuten.
Quelle: Kaveh Akbar – Märtyrer!
Death-Speak
Die seltsam überdrehte Idee, dass ein besonderer Tod dem Leben Bedeutung geben soll, führt Cyrus auf die Spur historischer Märtyrer. Seine Wohnung hat er mit Bildern von Jeanne d’Arc tapeziert. Unklar ist allerdings, ob er ein Buch über Märtyrer schreiben oder selbst einer werden will.
Seine Suche führt ihn nach New York, wo die krebskranke Künstlerin Orkideh in einem Museum zum „Death-Speak“ einlädt. Für die Todesbesessenheit ihres Besuchers hat sie nur leisen Spott übrig.
Als die Welt eine Scheibe war, sind andauernd Menschen vom Rand gesprungen. Es ist nichts Bemerkenswertes daran, so zu sterben wie ich jetzt, aber ich hoffe, ich habe aus meinem Leben etwas Interessantes gemacht. Ein Alphabet besteht, genau wie ein Leben, aus einer endlichen Anzahl von Formen. Man kann daraus fast alles machen.
Quelle: Kaveh Akbar – Märtyrer!
Die Begegnung wird zum Wendepunkt für Cyrus, der seine destruktive Weltsicht infrage stellt. Stattdessen wächst sein Glaube, dass sich auch aus einer zerbrochenen Biografie etwas machen lässt.
Man kann gegen diesen hochemotionalen Roman manches einwenden. Zum Beispiel, dass sich die manifeste Lebenskrise des Protagonisten etwas zu leicht und zuletzt begleitet von ganz unwahrscheinlichen Zufällen auflöst.
Auch seine Besessenheit von Märtyrern wird nicht gänzlich plausibel. Großartig ist der Roman jedoch dort, wo er in vielen Begebenheiten und Geschichten von einer Familie auf zwei Kontinenten erzählt, wo er die erbarmungswürdige Zerrissenheit und gequälte Identitätssuche seiner Hauptfigur präzise und einfühlsam erfahrbar macht.

May 5, 2025 • 4min
Volker Reinhardt – Esprit und Leidenschaft
Ein Buch, das verspricht 1000 Jahre französischer Kulturgeschichte Revue passieren zu lassen, erweckt zunächst einmal Argwohn. Die Skepsis verfliegt aber bereits nach wenigen Seiten von „Esprit und Leidenschaft“, dem neuen Buch des Neuzeit-Historikers Volker Reinhardt. Das liegt unter anderem an der Struktur des Werks.
Reinhardt geht es nämlich nicht um eine ohnehin unmöglich zu leistende Gesamtdarstellung aller künstlerischen und geistigen Strömungen Frankreichs. In rund 70 Kapiteln wirft er viel mehr Schlaglichter auf bestimmte Personen und Werke, die einen maßgeblichen Einfluss auf die kulturellen Entwicklungen nahmen.
Vom Rolandslied zu den Prestigebauten Mitterrands
Die Bandbreite der behandelten Themen ist gewaltig. Sie beginnt beim mittelalterlichen Rolandslied, führt über die Werke der Aufklärer und endet bei den Prestigebauten, die François Mitterrand in Paris errichten ließ.
Dazwischen geht es unter anderem um die Neuerfindung des Briefes durch Madame de Sévigné im 17., die Phantasien des Marquis de Sade im 18., oder die Revolution der Mode durch Coco Chanel im 20. Jahrhundert. In diesen Kapiteln, die kaum einmal länger als zehn Seiten sind, vollzieht sich ein erzählerisches Wunder.
Über den großen Historiker Fernand Braudel schreibt Reinhardt, dass dieser in einer „sehr französischen Tradition“ als Erzähler brilliere, „der aus scheinbar unbedeutenden Episoden Sinn in Form von ‚historischen Tiefenstrukturen‘ zu filtern“ vermöge.
Diese Beschreibung trifft auch auf Reinhardts eigene Darstellungskunst zu, wie ein kurzer Auszug aus einem Kapitel über die höfische Kultur des 18. Jahrhunderts veranschaulicht:
„Obwohl er nicht mehr im Schlafzimmer seines Urgroßvaters nächtigte, begab sich Ludwig XV. jeden Morgen nach dem Aufwachen im höchster Eile dorthin, um wie dieser das lever, das ritualisierte Aufstehen und Sich-Ankleiden bzw. Sich-Ankleiden-Lassen zu vollziehen. Ihm war bewusst, dass diese einst über Rang und Status, Wohl und Wehe der Höflinge entscheidende Handlung ihre politische Dimension eingebüßt hatte und dadurch banal, schlimmer noch: unfreiwillig komisch und kontraproduktiv geworden war. Da er keine zeitgemäße Alternative an die Stelle dieser Zeremonie zu stellen wusste, um das Amt des Monarchen neu zu erfinden, fühlte er sich als Gefangener einer übermächtigen Vergangenheit, dazu verdammt, diese um jeden Preis fortzusetzen. Alles andere hätte für ihn und seinen Hof das Eingeständnis des Versagens, ja Selbstaufgabe bedeutet.“
Enzyklopädie ohne Anspruch auf Vollständigkeit
Die von feiner Ironie getragenen Kapitel stehen jeweils für sich und können trotz vieler Querverweise auch unabhängig und in beliebiger Reihenfolge gelesen werden. So entsteht eine Art Enzyklopädie.
Eine Enzyklopädie ohne Anspruch auf Vollständigkeit, die den kulturellen Kanon zwar ehrt, die unterbelichtete Rolle von Frauen aber auszugleichen versucht. Reinhardt interessiert sich nicht nur für die sogenannte Hochkultur.
Über Asterix-Bände oder die Tour de France schreibt er ebenso leidenschaftlich und sachkundig wie über die Gemälde von Antoine Watteau. Da wie dort stellt er erhellende Analysen an, die das Heute nie ganz aus dem Auge verlieren.
Insgesamt entspricht das Tour[-de-France]-Geschehen nicht dem Bild einer demokratischen Gesellschaft, sondern dem Gefüge der Klientel und ihrem Abhängigkeitsverhältnis, in dem die „Kreatur“ dem „Patron“ unbegrenzten Gehorsam schuldet. Als ein solcher Krieg der Netzwerke kommt das französischste aller Sportereignisse der sozialen und politischen Realität Frankreichs nach Auffassung kritischer BeobachterInnen sehr nahe.
Quelle: Volker Reinhardt – Esprit und Leidenschaft
Voller Esprit und ohne jede Bildungsschwere
Ausgestattet mit einem untrüglichen erzählerischen Gespür schlägt Reinhardt Schneisen in das unüberschaubare Dickicht des französischen Geisteslebens der letzten Tausend Jahre. Pointiert, voller Esprit und ohne jede Bildungsschwere: Für an Frankreich Interessierte führt kein Weg an diesem Buch vorbei.

May 2, 2025 • 4min
Reiner Burger – Marlene Dietrich an der Front
Musik: „The Boys in the Backroom” (aus: “Der große Bluff“): „See what the boys in the backroom will have, and tell them, I’m having the same …”
„The Boys in the Backroom“ war der Song zu einer Filmrolle, in der die glamouröse Diva Marlene Dietrich sich auch in Hollywood von ihrer komischen, ihrer Berliner Seite zeigen konnte. Das war Ende 1939, im Western „Der große Bluff“.
Guck einfach, was die Jungs im Hinterzimmer trinken, und sag ihnen: Ich seufze ... ich heule ... und ich sterbe von demselben Zeug.
Quelle: Reiner Burger – Marlene Dietrich an der Front
Musik: s.o. „... Just see what the boys in the backroom will have, and tell them I sighed, and tell them I cried, and tell them I died of the same.”
Wenige Jahre später sollte sie den Song wieder und wieder singen, vor immer neuen, sie bejubelnden US-amerikanischen Soldaten, die in Europa gegen die Achsenmächte kämpften. 1944 war Marlene Dietrich Teil der kulturellen Truppenbetreuung und absolvierte zwei wochenlange Tourneen in Italien und im umkämpften deutsch-belgischen Grenzgebiet.
Leben mit den „Boys“, schlafen mit den Ratten
Und sie schaute nicht nur für einen schnellen Auftritt in den Lagern und Lazaretten vorbei. Wie ihre Künstlerkollegen war Marlene offiziell Soldatin der US-Army im Rang eines Captain, sie teilte das Leben der Männer, die sie ihre „Boys“ nannte. Trug Khaki wie sie, aß mit ihnen Feldverpflegung, wusch sich mit Schneewasser, logierte in zerbombten Gebäuden voller Ratten.
Man liegt auf dem Boden in seinem Schlafsack, die Decke bis zum Kinn hochgezogen, und diese Biester rasen einem übers Gesicht mit ihren kalten Pfoten. Sie erschrecken einen zu Tode. Da man außerdem durch die Bomben in Angst und Schrecken versetzt wird, kann man sich fragen, was man bevorzugen soll: V1, V2 – oder die Ratten.
Quelle: Reiner Burger – Marlene Dietrich an der Front
Diese Geschichte erzählt der FAZ-Journalist Reiner Burger kenntnisreich und lebendig im Bild-Text-Band „Marlene Dietrich an der Front“, und er erzählt sie nicht nur auf Basis historischer Quellen und Lebenszeugnisse, sondern auch anhand einer Fülle vielsagender Fotos aus Marlene Dietrichs Nachlass: die Schauspielerin posierend vor Panzern und auf provisorischen Bühnen, in Schürze vor der Feldküche, beim Eintopfessen mit Kommandeuren und, ein besonders eindrucksvolles Bild, vor Scharen von Fallschirmen, die während eines Manövers vom Himmel schweben.
Gute Figur auch in Feldmontur
Bis heute fasziniert die Ausstrahlung einer Frau, die in Feldmontur ebenso gute Figur machte wie im Paillettenkleid. Auf Schnappschüssen wie auf offenkundig gestellten Fotos wirkt Marlene immer zugleich selbstbewusst und authentisch. Von manchen der Fotos wird hier auch die Rückseite gezeigt, von ihr eigenhändig beschriftet während der letzten Lebensjahre in der Pariser Matratzengruft. Die Monate mitten im Krieg waren keine bloße Episode. Nicht nur für Marlene.
Kriegsmonate, die das Leben prägten
Sich in der Nachkriegswelt zurechtzufinden, war die Herausforderung. Ihrem Freund Ernest Hemingway etwa gelang das wesentlich schlechter als ihr. Sie beide hatten die monatelange blutige Hürtgenwald-Schlacht in den Ardennen erlebt, sie als Truppenunterhalterin, er als Kriegsbericherstatter an vorderster Front. Was er zu ihr gesagt hatte, bevor er sich 1961 umbrachte, ließ sie nicht los.
Ich werde niemals seinen Satz, 'es war einfacher im Hürtgenwald‘ vergessen.
Quelle: Reiner Burger – Marlene Dietrich an der Front
Die Schrecken des Krieges hatten ihn traumatisiert, und im Frieden kam er nicht klar. Marlene Dietrich zog eine andere Bilanz der Zeit, als sie nicht nur zur Stärkung der Moral ihrer „Boys“ unterwegs war, sondern auch im Dienst der Anti-Nazi-Propaganda des US-Geheimdienstes. Ihren Einsatz nannte sie wörtlich „das einzig Wichtige, was ich je getan habe.“
Zugleich war es der Wendepunkt ihrer Karriere, auch das wird in diesem lesens- und betrachtenswerten Buch deutlich. Die Erfahrung, live vor begeistertem Publikum aufzutreten, motivierte sie, Anfang der Fünfziger vom Film auf Gesangsshows umzusatteln. Zwanzig Jahre lang hatte sie phänomenalen Erfolg – mit den Songs, die sie für die Soldaten gesungen hatte.
Aus “Marlene Dietrich speaks to American GI's during WW II”): „ …to a speedy victory. Good bye, good luck, godspeed.“


