Sie hat gehört, es gibt eine Sprache, die hat ein Wort für jene Stille, die eintritt, nachdem der Besuch gegangen ist.
Quelle: Katharina Hagena – Flusslinien
Das ist der erste Satz des
Romans „Flusslinien“ von Katharina Hagena. Und er trifft. Jeder weiß, wie sich diese Stille anfühlt. Es hat auch was Paradoxes: Jedes Wort zerstört die Stille schließlich. Die Heldin in Katharina Hagenas Roman „Flusslinien“ denkt über so etwas nach.
Sie hat die Zeit. Margrit ist stolze 102 Jahre, wohnt in einem Altersheim, pardon, einer Seniorenresidenz. Früher war sie Sprech- und Stimmtrainerin. Jetzt ist sie fast taub und abhängig von den kleinen Schweinchen, wie sie ihre Hörgeräte nennt.
Regelmäßig bekommt sie Besuch von ihrer Enkelin Luzie, die beiden haben ein beneidenswert vertrautes Verhältnis, das sie im Roman dringend brauchen, denn Luzie wurde von ihrem Exfreund im Austauschjahr in Australien vergewaltigt und hat traumatisiert nach der Rückkehr die Schule geschmissen.
Jetzt bringt sie sich das Tätowieren bei, ihre Großmutter bietet ihren Körper zu Übungszwecken an:
Das mach ich nicht, eine Tätowierung ist schließlich für immer.“ „Glaub mir, Kind, mein für immer ist eine sehr absehbare Zeit. Das einzige Risiko wäre, dass ich sterbe, bevor Du fertig bist.
Quelle: Katharina Hagena – Flusslinien
Die römischen Gärten der Familie Warburg
Luzie wohnt am Elbstrand in einer Rettungsschwimmerhütte, und nebendran Arthur, der Fahrer der Seniorenresidenz. Auch er ist belastet nach dem Tod seines Zwillingsbruders, er läuft als Schatzsucher durch die Gegend – und verdient Geld als professioneller Entwickler von Kunstsprachen für Computerspiele,
Die drei begleitet der Roman über 12 Frühsommertage am Hamburger Elbufer. Immer wieder begibt man sich in den römischen Garten, angelegt von Elsa Hoffa, der einzigen Frau des Romans die so wirklich gelebt hat – Gärtnerin der Bankiersfamilie Warburg, die mit dem römischen Garten ein verstecktes Paradies geschaffen hat.
Mythologie ist eine Art Motor im Keller des Buchs
Beim Lesen taucht das Bild einer gemeinsamen Reise auf, man kann sich einen Odysseus vorstellen, der am Ort bleibt, der kein Meer überquert, sondern dem Wasser in einem Fluss beim Vorbeifließen zuschaut.
Katharina Hagena hat über James Joyce promoviert. Dessen Roman „Ulysses“ macht etwas, was sich auch in Katharina Hagenas Roman findet: Er sucht Bilder der griechischen Sagenwelt in der Welt, in der wir leben. Der Held bei James Joyce erlebt an einem Tag Rasur, Toilettengang und Mittagessen als Abenteuer, eine Art ziemlich profaner Odysseus.
Katharina Hagena hat davon gelernt, ihr Arthur ist ein antiker Fährmann, hat auch was von Herkules, wenn es um den toten Zwilling geht. Der Römische Garten wird sogar als Elysium bezeichnet. Mythologie ist eine Art Motor im Keller des Buchs, gibt die Energie, auf eine federleichte Weise riesige Fragen zu stellen.
An allen Ecken schlummern Tod, Vergessen, Sprache und die Mythen der Menschheit. Und immer auch die Frage, ob diese Fragen nicht eigentlich unwichtig sind, wenn man nur den Pflanzen im Garten zuschauen kann, oder in den Menschen um sich rum auf einmal Freunde findet.
Frauen dominieren die Handlung deutlich
„Flusslinien“ schließt in vielen Motiven an Katharina Hagenas großen Erfolg „Der Geschmack von Apfelkernen“ an, ein Buch, das mehr als eine Million Mal verkauft wurde.
Auch da dominierten die Frauen die Handlung deutlich, auch da spielte Naturnähe eine ganz zentrale Rolle, auch da ging es um Erinnern und Vergessen, um Demenz und die Frage, wie Sprache unsere Wahrnehmung prägt.
Die Stärke des Buchs ist es wieder einmal, sich in poetischen, immer stilsicheren Bildern um Dinge zu kümmern, die sich der Sprache entziehen. Auf eine sehr, sehr angenehme Weise denkt „Flusslinien“ unaufgeregt nach über die Welt von heute.