

SWR Kultur lesenswert - Literatur
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Jun 8, 2025 • 4min
Sebastian Haffner – Abschied
Die Uhr tickt, sie tickt erbarmungslos, die machtversessene Tyrannin. Ist es nicht aber doch möglich, ihrem Diktat noch letzte Momente des Glücks abzutrotzen?
Wir sind in Paris, linkes Seine-Ufer, Quartier Latin, Februar 1931. Raimund, Mitte 20, Referendar am Amtsgericht Rheinsberg, ist seit zwei Wochen zu Besuch bei seiner Freundin Teddy, die an der Sorbonne studiert und überhaupt keine Anstalten mehr macht, ins muffige Deutschland zurückzukehren.
Jetzt indes rückt die Stunde des Abschieds immer näher, um 22 Uhr fährt an der Gare du Nord Raimunds Nachtzug nach Berlin. Melancholisch blickt er sich in seinem Hotelzimmer um:
Was war in diesen vierzehn Tagen nicht alles Merkwürdiges in diesem kleinen Zimmer geschehen, das ich nun verließ! Na, um das Zimmer war mir nicht bange. Es hatte sicher schon vorher manches Lustige, Traurige und Merkwürdige gesehen und würde es weiter sehen. Mich aber sah es nun nicht mehr. Ich musste fort nach dem kalten Berlin, ich würde Urteile verfassen, Klavier spielen und auf Briefe warten, und hier in meinem Zimmer wohnte ein anderer, füllte die Luft mit Rauch, schlief, ärgerte sich, freute sich und sah aus dem Fenster die Seine und die Brücke und den weiten Platz dahinter und groß und tausendfältig schimmernd bei Tag und bei Nacht Notre-Dame.
Quelle: Sebastian Haffner – Abschied
Von jungen Männern umschwirrt
Was die Melancholie noch verstärkt und zugleich doch auch erträglicher macht: Nichts ist eindeutig in diesen verspielten Tagen in Paris. Teddy und Raimund ziehen sich an und stoßen sich ab, haben sich lieb und sind immerzu im Streit. Dass sie ein Paar wären – so eine freiheitsberaubende Behauptung würden die beiden, würde vor allem Teddy nie aussprechen.
Die junge Frau, die direkt einem Roman von Irmgard Keun entsprungen scheint, aber wohl, wie wir aus dem schönen Nachwort von Volker Weidermann erfahren, ein reales Vorbild hat – diese Teddy ist also eigentlich immerzu umschwirrt von einem Schwarm junger Männer, Bohèmestudenten unterschiedlichsten Temperaments, Konkurrenten und Verbündete zugleich für Raimund…
Übrigens war ich, glaube ich, der uneleganteste Mann auf dem Ball. Teddy kriegte ich nachher überhaupt nicht mehr zu sehen. Sie tanzte mit weiß ich wem, mit dem ganzen Attachégesindel und mit dem Bayern – bö.“ Franz Frischauer lachte. „Ist das so zum Lachen?“, sagte ich. „Kennen Sie das nicht? Sind Sie nie eifersüchtig? Es ist ein ekelhaftes Gefühl.“ „Schon, schon“, sagte Franz. „Aber man muss doch wissen, auf wen man eifersüchtig ist, wos lohnt. Man ists doch nicht auf all und jeden.“ „Gerade“, sagte ich. „Auf Sie bin ich noch ganz gern eifersüchtig. Aber diese Smokingproleten! Was hat es denn für Zweck, in einer Lotterie mitzuspielen, wo auch so ein Bayer gewinnen kann!
Quelle: Sebastian Haffner – Abschied
Über die Freiheit und Melancholie das Glück zu suchen
Die Zeit wird knapp und knapper, bald geht der Zug, und bis dahin muss Raimund noch möglichst viel von Paris und möglichst oft in Teddys Augen sehen. Temporeich und atemlos einerseits, dann aber auch unheimlich lässig, verspielt und frühlingsduftend erzählt dieser Roman von der Freiheit, in der Melancholie das Glück zu suchen; nebenbei ist er ein fabelhafter Reiseführer durchs Quartier Latin der frühen 1930er:
Weltstadt des Mittelalters, enge Straßen, Höfe wie Fahrstuhlschächte, glorreich verwitterte Fassaden der alten verwanzten Prunkhäuser, mitten dazwischen der Boulevard Saint-Michel mit seinen Lichtern, Cafés und Reklamen, und an den Stätten verschollener Triumphe und Grausamkeiten das Leben der Studenten. In den Straßen war immer, immer noch nach hundert Jahren ein Nachhauch vergangener Festlichkeiten, wie ein Parfum, in der Luft verspritzt.
Quelle: Sebastian Haffner – Abschied
Die Uhr tickt, sie tickt erbarmungslos. Es ist Februar 1931; nicht mehr lang, und das Glück und die Freiheit sind verweht. Aber das Schöne lässt sich nicht bezwingen.

Jun 4, 2025 • 4min
Rebecca K Reilly - Greta & Valdin | Buchkritik
Greta und Valdin teilen eine Menge. Zum Beispiel: einen komplizierten Nachnamen.
Vla« wie »bla«, nur mit V. »Dis« wie in Radieschen. »Sav« wie die Automarke »Saab«, nur mit V. »Ljev« wie Lyev Himmelsritter, die Figur aus Magic: The Gathering. Und »Vic« reimt sich auf Bitch.
Quelle: Rebecca K Reilly – Greta & Valdin
Die Geschwister Vladisavljević wohnen zusammen in Auckland, Neuseeland. Greta ist Masterstudentin der russischen Literatur. Valdin hat gerade seine akademische Karriere als Astrophysiker an den Nagel gehängt und moderiert jetzt eine Reisesendung im TV.
Geschwister mit Liebeskummer
Was die beiden noch verbindet? Liebeskummer. Greta ist unglücklich in ihre Kommilitonin Holly verliebt, die ihr widersprüchliche Signale sendet. Valdin hingegen trauert seiner Beziehung zum älteren Xabi hinterher. Nach dem Liebesaus ist der nach Argentinien ausgewandert – und die Lücke, die er hinterlassen hat, fühlt sich für Valdin unüberwindbar an.
Ich versuche seinen Namen nicht zu denken oder laut auszusprechen, ersetze ihn durch ein ehemaliger Bekannter oder dieser Typ, den ich mal gedatet habe.
Quelle: Rebecca K Reilly – Greta & Valdin
Rebecca K. Reilly erzählt in ihrem Debütroman „Greta & Valdin“ ein Jahr im Leben der Geschwister. Ein Jahr voller Fragen und zaghafter Neuanfänge. Dabei unterstützt die beiden ihre exzentrische, kulturell vielfältige Großfamilie, die maorische, russische und katalanische Wurzeln mitbringt.
Greta und Valdins Perspektive wechselt kapitelweise. Auf der Suche nach Liebe und Selbstbestimmung erleben die beiden queere Krisen, familiäre Zwänge und den Wunsch, dazuzugehören.
Reilly schreibt das mit großer Sympathie für ihre Figuren, schnellem Witz und scharfem Blick. Ihre Dialoge sind pointiert, oft komisch und warmherzig.
Beziehungsprobleme verschiedener Generationen
Eine besondere Qualität ihres Romans ist, dass sie die Herausforderungen verschiedener Generationen im modernen Beziehungsleben mit einem Augenzwinkern einfängt.
Etwa, wenn der siebzehnjährige Neffe Tang seine sexuelle Identität entdeckt:
O Gott, Tang, hast du etwa eine queere Krise? Ich dachte, ihr Jugendlichen seid heutzutage alle total chill und pansexuell, und nur alte Millennials wie Ell drehen durch und schneiden sich die Haare ab, wenn sie mit sechsundzwanzig zum ersten Mal eine Brust anfassen.
Quelle: Rebecca K Reilly – Greta & Valdin
Obwohl Reilly über queere Beziehungen schreibt, stellt sie die Queerness selbst nicht plakativ in den Vordergrund. Ihre Figuren definiert sie nicht über deren Sexualität – sie sind einfach junge Menschen, die auf ganz normale, manchmal verrückte, manchmal schmerzhafte Weise nach Liebe suchen.
Die queere Identität ist dabei selbstverständlicher Teil ihres Lebens, aber nie ihr einziges Erkennungsmerkmal.
Gesellschaftliche Themen sind in der Handlung verankert
Ähnlich geht Rebecca K. Reilly mit gesellschaftlichen Themen wie Rassismus, Kolonialismus und kultureller Identität der Maori in Neuseeland um. Sie verhandelt die Dinge im Hintergrund, integriert sie in der Lebensrealität der Figuren – ohne erhobenen Zeigefinger.
Diese selbstverständliche Verankerung im Alltag, das beiläufige, aber nie verharmlosende Einweben sozialer Konflikte, macht den besonderen Ton ihres Romans aus.
Rebecca K. Reilly ist selbst Maorin, und hat unter anderem Kreatives Schreiben, European Studies und Deutsch studiert.
Ein charmantes Gimmick für deutschsprachige Leserinnen und Leser ist, dass Reilly ihre eigene Vorliebe für deutsche Literatur in die Geschichte einflicht: Valdin liest etwa „Sommerhaus später" von Judith Hermann.
Und Greta? Greta bringt ihre Skepsis gegenüber der deutschen Hauptstadt wunderbar ironisch auf den Punkt:
Du kannst Berlin doch gar nicht leiden. Du sagst immer, da laufen die ganzen nervigen Leute rum, die es in Melbourne zu nichts gebracht haben.
Quelle: Rebecca K Reilly – Greta & Valdin
„Greta & Valdin“ ist ein lebenskluger und herzenswarmer Roman, voller Witz, voller Fragen, voller echter Gefühle. Und das ist vor allem: extrem unterhaltsam.

Jun 2, 2025 • 4min
Galten Thomas Manns heimliche Träume und Phantasien Männern?
Thomas Manns Homoerotik war für die eingeweihte Leserschaft lange ein prickelndes Thema, wurde aber meist mit einer gewissen Diskretion behandelt. Damit will Tilmann Lahme in seiner Biografie „Thomas Mann. Ein Leben" nun endgültig aufräumen.
Ein aufschlussreicher Briefwechsel
Als Schlüsseldokumente zu diesem Zweck dienen ihm zwei lange verschollene Briefe an den Lübecker Jugendfreund Otto Grautoff. Daraus geht hervor, dass schon der 21-jährige Thomas Mann seine geschlechtliche Orientierung als, wie er sagte, „wacklig" empfand, und sich in der neuesten wissenschaftlichen Literatur darüber informierte.
Vor allem aber ließ er durchblicken, dass er seine Neigung akzeptieren wollte und erklärte:
Ich bin immerhin noch im Stande, meine »Anomalien« mit literarischen Augen anzusehen, Philosophie hineinzubringen und mit einer in guten Stunden heiteren Objektivität mein Sein und Wesen zu betrachten.
Quelle: Tilmann Lahme – Thomas Mann. Ein Leben
Homoerotische Maskenspiele im Werk
Thomas Mann verbrachte sein Leben als Ehemann und Oberhaupt einer kinderreichen Familie, doch seine heimlichen Träume und Phantasien galten Männern. Das ist bekannt und er hat es selbst vielfach fiktional verkleidet in seinem Werk thematisiert. Der Biograf Lahme verfolgt nicht als Erster diese Spuren in ausführlichen Werkinterpretationen. Er schreibt:
Mit Tonio Krögers Liebe zu Hans Hansen schafft Thomas Mann die erste offen homoerotisch fühlende Figur in seinem Werk. Thomas Mann macht keinen Hehl daraus, dass diese Jugendliebe seine eigene ist.
Quelle: Tilmann Lahme – Thomas Mann. Ein Leben
Lahme will seinen Thomas Mann, ungeachtet der dafür fehlenden Lebenspraxis, als waschechten Homosexuellen darstellen. Für diese Beweisführung verwendet er viel Raum und beschreitet manchen Nebenweg, wenn er etwa an eine Erzählung der jungen Susan Sontag über einen Besuch beim Verfasser des „Zauberberg" weit hergeholte Spekulationen anschließt.
Um das Lebensdrama von Thomas Manns Sexualität restlos offen zu legen, so die vornehme Begründung, druckt Lahme auf zwei Seiten jene Tagebucheinträge ab, die bislang rücksichtsvoll ausgelassen wurden. Sie protokollieren Selbstbefriedigung, unwillkürliche Samenergüsse, ehelichen Beischlaf, aber auch allerlei Unterleibsbeschwerden.
Bekanntes Porträt mit stärker betonten Zügen
Trotzdem finden auch jene, die Thomas Mann nicht primär sexualwissenschaftlich betrachten wollen, in Lahmes Beschreibung der Werke und Lebensstationen viel Bemerkenswertes. Zu den nach wie vor interessantesten Aspekten gehört es, wie der vom deutschnationalen Konservativen zum Demokraten geläuterte Schriftsteller in seinem Faustus-Roman den deutschen Sonderweg in die Barbarei darstellte.
Und wie sehr er bald darauf auch die USA im beginnenden Kalten Krieg auf einem gefährlichen Weg nach rechts sah. Was das persönliche Schicksal des berühmtesten Schriftstellers seines Jahrhunderts angeht, zieht der Biograf folgendes Fazit:
Sein Leben, seine Literatur und seine Tagebücher erzählen die fesselnd-traurige Geschichte eines Mannes, der nicht lieben darf.
Quelle: Tilmann Lahme – Thomas Mann. Ein Leben
Tilmann Lahme zeichnet das Porträt Thomas Manns nicht neu, aber er arbeitet manche Züge markanter und mit einigem Enthüllungseifer heraus. Seine Biografie liefert zum 150. Geburtstag eine profunde Lektüre, in der auch einiger Stoff für Kontroversen steckt.

Jun 1, 2025 • 17min
Urszula Honek: Die weißen Nächte
13 Erzählungen aus den Beskiden, untereinander verknüpft durch ein Beziehungsnetz der Figuren. Ein Dorf, in dem die Menschen ihren Sehnsüchten, Ausbruchsfantasien, Illusionen nachgehen. Düstere, schwebende Texte.

Jun 1, 2025 • 16min
Tarjei Vesaas: Frühlingsnacht
Zwei Geschwister, die eine Nacht lang allein zu Hause sind. Eine Gruppe von Fremden, die vor der Haustür steht und um Einlass bittet. Aus dieser Konstellation entwickelt Vesaas ein dunkles Kammerspiel von buchstäblich unheimlicher Qualität.

Jun 1, 2025 • 1h 13min
SWR Bestenliste Juni im Künstlerhaus Edenkoben
Freude des Lobs: Jutta Person, Nicola Steiner und Christoph Schröder diskutierten im gut besuchten Künstlerhaus Edenkoben vier Werke, die auf die vorderen Plätze der SWR Bestenliste im Juni gewählt worden sind. Auf dem Programm standen: Urszula Honeks Prosadebüt „Die weißen Nächte“, Ralf Rothmanns Erzählband „Museum der Einsamkeit“, der Roman „Frühlingsnacht“ von Tarjei Vesaas und Nell Zinks Roman „Sister Europe“.
Selten war die Stimmung der Jury-Runde so heiter, selbst wenn oder gerade weil die besprochenen Texte oft vom Sterben handeln. In Urszula Honeks „Die weißen Nächte“ (Suhrkamp) lauert der Tod an jeder Ecke. Die polnische Autorin, die vor allem als Lyrikerin bekannt ist, lässt in ihrem Prosadebüt dreizehn Einzelgeschichten in einem Dorf am Rand der Beskiden spielen und verwebt sie zu einem Romanmosaik, in dem Zeiten, Epochen und Figurenperspektiven ständig wechseln. Schwebende Prosa, urteilte die Jury, ein Buch als literarisches Versprechen.
Auch im Dissens wird an diesem Abend viel gelacht. Worin zeigen sich die literarischen Stärken der neuen Erzählungen von Ralf Rothmann? „Das Museum der Einsamkeit“ (Suhrkamp) beschreibt existentielle Krisen in Lebensläufen und die Suche der Figuren nach verlorener Würde. Ist die Prosa in den Passagen mit 50er-Jahre-Patina „überorchestriert“, wie Jutta Person meint, oder sind gerade die Geschichten aus dem Arbeitermilieu der alten Bundesrepublik authentisch und lebensnah, wie Nicola Steiner argumentiert? Die scharfe Kritik, die der beim Publikum beliebte Schriftsteller zuweilen im Feuilleton einstecken muss, erklärt sich Christoph Schröder mit der Verachtung der bildungsbürgerlichen Elite gegenüber einer nichtakademischen Literaturposition.
So düster wie skurril ist auch die Handlung im Roman „Frühlingsnacht“ des norwegischen Autors Tarjei Vesaas, den die Jury unisono als Meisterwerk feierte. Ein Geschwisterpaar ist zum ersten Mal allein daheim, die Eltern sind über Nacht verreist. Plötzlich steht eine Gruppe fremder Leute vor der Tür und bittet um Einlass. Ein Kind wird geboren, ein Mensch stirbt und ein Junge wird erwachsen. Ein zeitlos schönes Buch, hieß es in der Diskussion.
Hochaktuell ist hingegen Nell Zinks dialogschnelle Satire auf Identitätsdebatten und den hiesigen Kulturbetrieb. „Sister Europe“ schildert eine Zufallsgemeinschaft in Berlin, die eine Literaturpreisverleihung besucht, parlierend durch die Hauptstadt zieht und schließlich in einem modernistischen, nahezu sprichwörtlichen Glashaus landet. Aber tritt das brillante Diskurstheater in der Mitte des Romans auf der Stelle, wie Christoph Schröder meint? Jutta Person und Nicola Steiner verweisen auf die gewitzte Verschränkung von Hochkultur und Trash, die sich zu einer Feier der Narration entwickeln würde, in der es immer neue Erzählschichten und Verweise zu entdecken gelte.
Aus den vier Büchern lasen Antje Keil und Johannes Wördemann. Durch den Abend führte Carsten Otte.

Jun 1, 2025 • 20min
Nell Zink: Sister Europe
Klug, abgründig und hochkomisch – so sind die Romane der in Brandenburg lebenden Amerikanerin Nell Zink. In ihrem neuen Roman will sie einen realistischen Ausschnitt von Deutschland zeigen. Ihr Blick ist gnadenlos und bitterböse.

Jun 1, 2025 • 20min
Ralf Rothmann: Museum der Einsamkeit
Unbeirrt und auf höchstem Niveau schreibt Ralf Rothmann seine Ästhetik des romantischen Realismus fort. Seine neuen Erzählungen sind gleichermaßen sprachlich authentisch wie einfühlsam.

May 27, 2025 • 4min
Hilmar Klute – Im Traum suche ich immer das Weite
Junger Mann mit hochfliegenden Plänen zieht hinaus in die Welt – und findet, nach diversen Abenteuern, seinen Platz im Leben: So verläuft der klassische Bildungsroman. Der SZ-Journalist Hilmar Klute aber stellt dieses Erzählschema in seinem neuen Roman auf den Kopf. Denn sein Jungautor Volker Winterberg hat gleich zu Beginn seinen Aufbruch in West-Berlin abgebrochen – und ist in seine Heimatstadt Bochum zurückgekehrt. Oder wie der 21-Jährige selbst zerknirscht bekennt:
Ich hätte abhauen sollen. Aber ich war zu träge gewesen oder zu feige oder beides, keine Ahnung. Und ich wollte meinen sterbenden Großvater nicht zurücklassen, weil er mir, als ich ein Kind war, die schönsten Geschichten erzählt hatte.
Quelle: Hilmar Klute – Im Traum suche ich immer das Weite
Tagträumerei und Biertrinken
Der eigentlich genretypisch nach fernen Abenteuern dürstende Aufbruchsheld bleibt in Klutes Coming-of-Age-Roman also im Nest hocken – und sträubt sich im Jahr 1987 erst einmal lange gegen die eigene Schreibberufung. Etwas arg lange, sollte man an dieser Stelle vielleicht schon mal sagen. Denn lebens- und entscheidungsscheu verbringt der junge Winterberg erst einmal einen längeren Zeitraum mit Vermeidungsstrategien.
Er schreibt sich für ein Germanistikstudium an der Bochumer Universität ein, obwohl er von wissenschaftlicher Textanalyse nichts hält. Er tändelt unschlüssig mit seiner West-Berliner Gelegenheits-Geliebten Katja herum, obwohl er längst weiß, dass er nicht in sie verliebt ist.
Und: Er entflieht den notwendigen Risiko-Entscheidungen seines Lebens mit viel Tagträumerei und viel Biertrinken in Bochumer Kneipen, begleitet vom besten Freund Leo:
Die Abende verliefen stets nach dem gleichen Muster. (…) Irgendwie saßen wir beide in einer Art Zeitschleife fest, Leo und ich.
Quelle: Hilmar Klute – Im Traum suche ich immer das Weite
Jugendliche Verpeiltheit
Am Anfang von Klutes Roman herrscht also viel Leerlauf dank jugendlicher Verpeiltheit. Das aber ist nicht das dramaturgische Problem der ersten hundert Seiten, sondern eher die auffällige Leidenschaftslosigkeit des Helden.
Denn so sehr Winterberg auch ständig von anderen für seine Texte gelobt und zum Weiterschreiben ermuntert wird, so mut- und visionslos verharrt er doch zunächst in Lethargie. Seine Freundin Katja bringt diese rätselhaft teilnahmslose Haltung einmal so auf den Punkt:
An Tatsachen bist du nicht interessiert, aber an Träumen irgendwie auch nicht. Und an mir am bist du am allerwenigsten interessiert.
Quelle: Hilmar Klute – Im Traum suche ich immer das Weite
Glücklicherweise aber hat Klute diese nicht unbedingt sympathische Oblomov-Trägheit seines autofiktionalen Helden offenbar selbst gespürt – und ihm darum gleich zwei aufrüttelnde Spiegelfiguren an die Seite gestellt.
Zum einen Winterbergs Malocher-Großvater: Einen unheilbar an Staublunge erkrankten ehemaligen Kohlekumpel, der für den Enkel zum Memento Mori wird. Und zum anderen den abenteuerlustigen Leo, der seinen Zauder-Freund schließlich zur Interrail-Tour überreden kann.
Interrail-Trip als Erweckungsfahrt
Diese Zugreise quer durch das noch politisch geteilte Europa vor dem Mauerfall bringt nicht nur den Plot wohltuend in Schwung, weil die beiden Freunde es bis ins sozialistische Ungarn schaffen – und dort Begegnungen mit weniger privilegierten Europäern machen.
Der Interrail-Trip wird für den gehemmten Winterberg auch vor allem seelisch zur Erweckungsfahrt, bei dem er endlich erkennt, dass man beim Kampf für einen Lebenstraum aufs Ganze gehen muss und keine Angst vor Blamagen haben darf. Von daher entwickelt der Zauderer nun endlich jenen ungestümen Elan, den visionäre Künstler doch so dringend brauchen – und der sie so ungemein betörend macht.
Und spätestens, wenn Winterberg dann kurz vor Schluss von einem hinreißend knarzigen Jugendbuch-Autor Michael Ende endgültig der verblasene Kopf gewaschen wird, verzeiht man ihm und seinem Schöpfer den schniefig verstolperten Anfang.

May 26, 2025 • 4min
Matthias Politycki – Mann gegen Mann
Matthias Politycki ist ein Autor, der gerne gegen den Mainstream anschreibt. So auch in seinem neuen umfangreichen Essay „Mann gegen Mann. Von alten und von neuen Tugenden“. Er stellt schlicht die Frage „Wann ist ein Mann ein Mann?“, um den Refrain von Herbert Grönemeyers Kultlied „Männer“ aus den 1980er Jahren zu bemühen.
Politicky bewegt sich aber ganz in der Jetztzeit: Auf der einen Seite haben wir die Genderdebatten und LGBTQ-Manifestationen. Auf der anderen Seite betreten wieder echte Männer die Weltbühne: Wladimir Putin und Donald Trump. Die Europäische Union wiederum will enorm aufrüsten. Und in Deutschland wird neuerdings über die Wehrpflicht diskutiert. Das Soldatische, das Mannhafte ist plötzlich wieder ein Thema.
Wann ist ein Mann ein Mann?
Neue Männer braucht das Land, Verteidiger unserer Kultur und ihrer Werte. Oder besser: Menschen mit alten, traditionell den Männern zugeschriebenen Tugenden braucht das Land, welchen Geschlechts auch immer. Ja, wir brauchen Männer, die sich klassischer Rollenmuster erinnern und dennoch die neuen Interpretationen der Geschlechterrolle nicht preisgeben.
Quelle: Matthias Politycki – Mann gegen Mann
So ganz klar ist die Botschaft Politickys nicht: Will er alle Menschen, auch jene, die sich LGBTQ zugehörig fühlen, viril aufrichten? In einem Punkt muss man wohl – oder auch übel! – dem Autor Recht geben: Gender-Diskurse eignen sich wenig zur Verteidigung der Demokratie.
Was ist, wenn es dazu käme, dass man unser Land, Europa, also die westliche Wertegemeinschaft mit der Waffe beschützen müsste? Sind dann wieder die Männer am Zug? Und wenn ja – welche? Politicky umschifft in seinem Essay eine klare Antwort und sucht in der Literatur Verbündete. Es sind Jorge Luis Borges und Ernest Hemingway. Es geht um die Mannhaftigkeit der beiden Autoren.
Borges, Hemingway und die Männer-Literatur
Borges und Hemingway, so sah ich’s da plötzlich, das sind zwei Seiten ein und derselben Medaille. Was die beiden verbindet, ist ihre lebenslange Sehnsucht nach einer archaischen Männlichkeit.
Quelle: Matthias Politycki – Mann gegen Mann
Mit dieser archaischen Männlichkeit verbindet Politicky eine gewisse Ablehnung von Intellektualität. Gemeint ist das Zerreden von Sachverhalten, gemeint ist die von ihm gescholtene „Gelehrtenliteratur“.
Freilich – in der Politik wie in der Literatur kann alles und jedes ohne Ergebnis hin und her diskutiert werden. Doch gerade in schwierigen Zeiten der Weltpolitik sind intellektuell wache Geister bei diplomatischen Bemühungen gefragt. Scharfe Intellektualität ist weder männlich noch weiblich noch divers, sondern sexy.
Von einer Sache ist der Autor fasziniert, so dass sie im Essay öfters besprochen wird: Der Messer- oder Schwertkampf, Mann gegen Mann. Ob bei Borges oder Hemingway oder gar in den mittelalterlichen Epen – die kleinen wie die großen Helden sind männlich.
Anders als bei den Messerhelden, die nur für ihre eigenes Ego kämpfen, kämpfen die Krieger in einer Schlacht für ihr Vaterland, ihren König, ihren Anführer. Das ist sehr wohl eine Idee, eine ziemlich große sogar.
Quelle: Matthias Politycki – Mann gegen Mann
Verteidigung der Werte der westlichen Welt
Die Idee, für ein „Vaterland“ zu kämpfen, müsste man wohl heute um die Idee der Verteidigung der Werte der westlichen Welt erweitern. Aber egal. Kampf, Krieg sind nicht nur Ideen, sondern meinen ganz konkret: Leben und vielleicht Sterben auf dem Schlachtfeld.
Am Ende seines Essays wünscht sich Politicky einen offenen Diskurs hinsichtlich einer „neuen, zeitgemäßen Männlichkeit“. Borges wie Hemingway sind dabei nicht unbedingt überzeugende Argumentgeber.
Der Autor hat aber ohne Zweifel den Finger in eine Wunde unserer Gesellschaft gelegt. Wer von uns – egal ob Mann, Frau oder Divers – wäre bereit, demokratische Werte mit seinem eigenen Leben zu verteidigen? Matthias Politickys Essay „Mann gegen Mann“ bietet genügend Zündstoff, um eine solche Debatte zu befeuern.


