

SWR Kultur lesenswert - Literatur
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Jun 8, 2025 • 2min
Christina Hesselholdt – Venezianisches Idyll
Was passiert, wenn eine dänische Autorin Thomas Manns „Tod in Venedig“ durch den Meta-Fleischwolf dreht, die Erzählung in der Gegenwart verankert und eine Portion nordischer Ironie dazu gibt? Christina Hesselholdts „Venezianisches Idyll“ wagt genau dieses Experiment.
Aus Gustav Aschenbach wird Gustava, eine erschöpfte Psychiaterin Mitte fünfzig. Sie will im norwegischen Tromsø ihrem Leben ein Ende setzen. Nach einem Zusammenbruch (bei dem ein ausgestopfter Eisbär eine Rolle spielt), entscheidet sie sich für das Leben.
Statt Tod folgt – Venedig. Dort sucht sie Erholung, Abstand, vielleicht sogar einen Neuanfang. Ihr Bruder Mikael, ein exzentrischer Einzelgänger, findet ihren Abschiedsbrief und reist ihr hinterher.
Hesselholdt baut ihre Geschichte als Mosaik: wechselnde Perspektiven, eine unzuverlässige Erzählstimme, und immer wieder Referenzen – an Thomas Mann, an Casanova, Visconti, Nietzsche.
Was tragisch beginnt wird zu einer scharfsinnigen Komödie. „Venezianisches Idyll“ ist keine Nacherzählung, sondern eine Umdeutung und eine Hommage – glänzend übersetzt von Ursel Allenstein.
„Über Venedig zu schreiben, ist so, als würde man ein Glas Wasser ins Meer kippen", sagt der Erzähler in Hesselholdts Roman an einer Stelle. Dieser Roman behandelt weder Venedig noch Thomas Mann museal, sondern fährt seinen Vorbildern liebevoll in die Parade – mit Witz, Tiefe und einem klaren Blick auf das moderne Scheitern. Ein Abgesang auf das Überleben.

Jun 8, 2025 • 1min
Thomas Mann als Playmobil-Figur
Und wer jetzt wirklich keine Lust mehr hat Thomas Mann zu lesen, für den kam jetzt gerade eine Playmobil-Figur heraus vom Thomas Mann, zusammen mit dem S. Fischer Verlag und dem Buddenbrooks Haus in Lübeck.
Ich schaue mir das mal an und schüttele sie heraus.
Man hat vier Teile, hat einmal ein Männchen mit einem ockerfarbenem Anzug mit einem Hut, den ich hier jetzt mal aufsetze. Und er hat noch einen Gehstock, naja auch interessant!
Und da gibt es noch hat ein Buch was er in der Hand hält, das sind die Buddenbrooks.
Ich muss zugeben, mit dem Gehstock sieht er etwas alt aus. Aber in Wirklichkeit war er zum Erscheinen der Buddenbrooks Bücher 25 Jahre alt. In 1929 hat er dann auch den Literatur Nobelpreis dafür bekommen.
Das Ganze ist erlaubt für Kinder ab 4 Jahren. Ich weiß nicht, ob die schon Thomas Mann lesen wollen, aber wenn Eltern die Kinder früh zu Thomas Mann bringen wollen, dann schenkt ihnen die Figur. Dann werden sie vielleicht mal später Zauberberg von Thomas Mann lesen!

Jun 8, 2025 • 55min
Spielen mit Thomas Männchen und neue Bücher von Juan S. Guse, Sebastian Haffner, Maureen Duffy und Marlene Streeruwitz
Neue Bücher von Juan S. Guse, Sebastian Haffner, Maureen Duffy und Marlene Streeruwitz

Jun 8, 2025 • 7min
Keine Hymne auf die vielbesungene Stadt: „Auflösungen. New York“
New York als Neustart – verführerischer Gedanke. Nina Wagner, Mitte fünfzig, Lyrikerin aus Wien, hat die Gelegenheit einer Gastdozentur ergriffen, um sich für ein Semester von allem, wie sie es nennt, „abzutrennen“.
Von den traumatischen Erinnerungen an die lieblosen Eltern und die vor langer Zeit gescheiterte Ehe. Von der Tatsache, dass die erwachsene Tochter zum Vater übergelaufen ist. Von der Sehnsucht nach dem Mann, der sich nach der ersten Liebesnacht einfach nicht mehr gemeldet hat.
Von irgendwelchen Shitstorms wegen „Verteidigung der freien Rede“ über die Kriege in der Ukraine und Gaza, die ihr von, so wörtlich, „gesichtslose[n] Verleumder[n]“ den Vorwurf der „Querdenkerei“ eingebracht haben.
Die Menschlichkeit liegt gleich zu Beginn am Boden
Es ist der März 2024. Das New York, das Nina von früheren Besuchen zu kennen glaubt, gibt es so nicht mehr, das wird schon zu Beginn des neuen Romans von Marlene Streeruwitz klar. Die Warteschlange vor dem Immigration Counter am Flughafen schiebt sich an einer leblos daliegenden Frau vorbei, und keiner traut sich zu helfen, auch Nina nicht.
Sie umklammerte ihren Pass. Sie konnte nichts tun. Niemand konnte etwas tun. Niemand durfte etwas tun. Die Bürokratie musste ihren Lauf nehmen. Die Frau musste nachweisen, wirklich krank zu sein. Und jeder, der sich der Frau zubeugen wollte. Es würde eine Komplizenschaft vermutet werden und die Sache noch komplizierter machen. Ein Komplott würde vermutet werden. Alle würden zum Verhör abgeführt werden.
Quelle: Marlene Streeruwitz – Auflösungen. New York
Die Angst vor Migranten. Die Pandemiefolgen. Die Opioidkrise. Schließlich Trump ante portas. Das Buch trägt den Titel „Auflösungen. New York.“ – und genau darum geht es. Irgendwie ist alles in Auflösung begriffen, in Ninas Leben und im Leben der Stadt.
Die ersten dreißig Seiten des Romans sind nur ein Vorgeschmack: Auf dem Weg vom Flughafen setzt ihr Uber-Fahrer sie an einer falschen Adresse ab, vor einem Abbruchhaus. Am Abend ihrer Ankunft gerät sie in den Vortrag einer jungen Wissenschaftlerin, die in Tradwife-Manier nur den männlichen Vertretern der Literaturgeschichte huldigt.
Kurz drauf wird sie Zeugin, wie ein Sicherheitsmann einen wehrlosen propalästinensischen Studenten tasert. Besser wird es nicht.
Ninas desolatem Gefühlszustand, ihrem Hadern mit dem Älterwerden, mit ihren weiblichen Selbstzweifeln und ihrer ökonomisch prekären Existenz entsprechen Alkoholismus, Aids und Altersarmut im Kreis ihrer homosexuellen Künstlerfreunde und Theaterfreundinnen: der Verfall einer ehedem so lebendigen Kulturboheme, die sich ein unfassbar teuer gewordenes New York City einfach nicht mehr leisten kann.
Wo Henry James seinen ersten Roman ansiedelte
Der Roman besteht aus zwei Teilen, genannt Volume 1 und Volume 2. Sie beziehen ihre Titel von Gedichten des früh verstorbenen New Yorker Lyrikers Frank O‘Hara.
Auch ansonsten wird viel Intertextualität geboten, allen voran Bezüge auf Henry James‘ frühen Geld-oder-Liebe-Roman „Washington Square“ von 1881 – was wenig verwundert, ist die Heldin doch untergebracht in einem Hochhausapartment im Washington Square Village, just in dieser vor 150 Jahren so gutbürgerlichen Gegend.
Die O’Hara-Reminiszenzen der Titel, „Standing Still and Walking in New York“ und „Meditations in an Emergency“, setzen den Ton. Im ersten Teil ist Nina tatsächlich immerzu unterwegs, mit der U-Bahn, vor allem aber zu Fuß, in Buchhandlungen, Klamottenläden, Supermärkten, Bars und den Wohnungen der Freunde, mal flanierend, mal joggend bis zur nächsten Pause am Hudson mit Blick auf Staten Island.
Streeruwitz ruft detailliert die Szenerien im vorfrühlingshaften Manhattan auf, aber „Auflösungen. New York“ wird nicht zu einer weiteren Hymne auf die vielbesungene Stadt. Der innere Aufruhr der Protagonistin spiegelt sich in haarsträubend kaputten Straßen voller Menschen ohne Zuhause, in überall weggeworfenen Fast-Food-Containern und aufgeplatzten Müllsäcken.
Nina deutet den Niedergang als Folge einer Weltordnung, in der Männer, ob Präsidentschaftskandidat mit einer Bestechungsklage am Hals oder trunksüchtiger Ex-Mann, immer jemand anderen wissen, der die Schuld hat am eigenen Versagen und Fehlverhalten:
Alltägliche Verschwörungstheorie war das gewesen. Mittlerweile war das die politische Kraft des Internets und nicht anders als jeder andere feudale Entwurf. Immer ein verstörtes männliches Ego im Mittelpunkt.
Quelle: Marlene Streeruwitz – Auflösungen. New York
Unzweifelhaft liegt eine gewisse Ironie darin, dass im Mittelpunkt des Romans ein verstörtes weibliches Ego steht, das ebenfalls eine ganze Reihe von Verantwortlichen für sein eigenes Unglück zu benennen weiß. Zweifelhaft ist jedoch, ob die Autorin, die in ihren Texten seit eh und je durchaus Sinn für Komik zeigt, ausgerechnet diese Ironie beabsichtigt hat.
Plötzlich selbst ohne Geld und ohne Papiere
Jedenfalls lösen sich die vielerlei dunklen Vorausdeutungen aus der ersten Hälfte des Buchs im zweiten Teil aufs Heftigste ein. Nun konzentriert sich die Handlung auf einen einzigen, höllisch heißen Tag.
Nina findet sich mit blutender Platzwunde am Hinterkopf, beraubt und ohne Papiere, in den Fängen eines feindseligen Medizinsystems wieder, wird des Drogenmissbrauchs verdächtigt, entkommt abenteuerlich, sieht sich am Internetpranger und fürchtet um ihren Aufenthaltsstatus.
Die Beklemmung wächst – bis sich am Ende alles in Wohlgefallen auflöst: in einer großen deutsch-amerikanischen Szene mit Ninas hochbetagtem Nachbarinnenpaar.
Sie nahm das Glas. Sie konnte nicht antworten. War überwältigt. Alles anders, als gedacht. […] ,Now Nina. How are your affairs coming along?’ […] Norma schaute sie freundlich verlegen an. ,We are helplessly romantic. You know. We cannot think of other motives than love affairs.‘ And in the end. We are right. Usually. You know.‘ […] Konnte das sein? War sie in die Mitte einer Fernsehserie geraten?
Quelle: Marlene Streeruwitz – Auflösungen. New York
Das ist genau die Frage, die sich der Leserin aufdrängt. Ist die Wendung hin zu Friede, Freude, Eierkuchen, schwarze Schlusspointe eingeschlossen, nicht arg willkürlich? Soll diese freundliche kleine Insel gegenseitiger Fürsorge tatsächlich die Schrecknisse im Kosmos des Öffentlichen aufwiegen?
Marlene Streeruwitz‘ Roman, der so vieles behauptet, gibt darauf keine überzeugende Antwort.

Jun 8, 2025 • 6min
Warum unbedingt Podcasts? Literaturvermittlung zum Anhören
Statt Beifall gibt es am Ende jedes Vortrags ein Klopfen auf den Tisch – wie ihren Heimat-Universitäten Stuttgart, Tübingen und Bamberg nach einer Vorlesung üblich. Rund 30 Studierende sitzen an diesem Donnerstagnachmittag im modernen Konferenzraum des Literaturarchivs Marbach. Bei einer Tagung, die sich ganz dem Thema Literatur und Podcast widmet.
Studentin Antonia stellt einen Podcast in ihrem knapp 30-minütigen Vortrag vor.
Praxis und Theorie kombiniert
Wir sind im wissenschaftlichen Teil der Studierendentagung, zu der das Literaturarchiv die jungen Podcasthörer und -macher geladen hat. An zwei Tagen treffen sie sich in Marbach.
Heike Gfrereis ist Honorarprofessorin am Deutschen Literaturarchiv und hat die Tagung mitorganisiert. Für sie stehen heute zwei Dinge im Fokus:
„Zum einen literaturwissenschaftliche Vorträge: Was passiert, wenn ein Fach wie die Germanistik sich diesem neuen Medium Podcast – und zwar Podcast über Literatur und Podcast als Literatur annimmt?
Und: Was uns besonders interessiert, welche Ideen haben die Studierenden wenn sie selber Podcasts machen dürfen? Das heißt, was lesen die, wie lesen die, wie realisieren sie dieses Medium? Das ist auch für uns spannend, weil es nochmal eine andere Generation ist, die damit umgeht, die einen anderen Literaturbegriff hat. Wie wir heute gesehen haben – mit ganz ungewöhnliche und tolle Ideen bei der Umsetzung.“
Podcast als Literaturvermittlung
Podcasts sind längst kein Nischenphänomen mehr. Für viele ist das Medium ein neuer Weg, Literatur jenseits der klassischen Kritik zu erleben. Eine Studentin meint:
„Da ist der Podcast wahrscheinlich eine gute Möglichkeit auch jüngere Leute anzusprechen. Auch mit dem, was sie lesen, dass sie sich da eben mehr repräsentiert fühlen.“
Man ist sich einig. Die Landschaft der Literaturvermittlung befindet sich im Wandel. Digitale Formate werden immer beliebter. Wie sieht die Zukunft der Podcasts aus? Können sie bei der literarischen Vermittlung den traditionellen Formen den Rang ablaufen?
Ja – sagt diese Studierenden: „Auf jeden Fall. Also, ich würde auch sagen, das ist auf jeden Fall das neue Medium. Wer hat noch Zeit wirklich aktiv zu lesen, es ist viel einfacher zu hören. Man kann nebenbei Sport machen, Haushalt... Deswegen würde ich schon sagen, Podcasts erobern das Feld.“
Experimentieren mit neuen Podcast-Ideen
Die eigenen Podcast-Ideen haben die Teilnehmer bereits am Mittag in kleinen Gruppen erarbeitet.
Nancy Hünger, Mit-Organisatorin und Leiterin des Studios Literatur und Theater an der Universität Tübingen ist von den ersten Entwürfen begeistert.
„Das sind ganz unterschiedliche Formate, die Studenten haben quasi auch nach Leerstellen gesucht. Was interessiert sie, was gibt es noch nicht? Es gibt z.B. die Idee für einen „Nature Writing Podcast“, wo jetzt schon eine erste Folge konzipiert wurde.
Es gibt einen Podcast, der heißt „Verstehst du mich?“ Da geht es um Muttersprache, Fremdsprache, aber auch verschiedene Ebenen der Kommunikation und des Verstehens. Dann haben wir eine Literaturpodcast, der versucht die Literaturwissenschaften besser zu vermitteln. Also ist das, was für alle? Was können die Leute lernen im Umgang mit Literatur?
Dann gibt’s die Idee für einen Schullektüre begleitenden Podcast, der für Schüler quasi die gängigen Schulbücher aufschlüsseln kann. Kapitel für Kapitel, damit sie quasi Lust aufs Lesen bekommen haben.“
Podcasts machen Literatur nahbar
Lyrikerin Carolin Callies steht mit in der Runde und lacht. Sie gehört ebenfalls zum Organisationsteam.
Als Host des Podcasts „Kapriolen“, den sie gemeinsam mit dem Literaturhaus Stuttgart produziert, weiß sie was den Reiz an diesem relativ neuen Medium ausmacht:
„Warum unbedingt Podcasts? Weil ich finde es ist ein unglaublich nahbares Erleben miteinander über Literatur zu sprechen. Es ist ein sehr intimes Sprechen, was man auf sein Ohr bekommt, wenn sich zwei Leute über Literatur unterhalten.
Es macht Lust, es ist ein sehr persönliches Sprechen, es ist ein sehr persönlicher Zugang, mit anderen Menschen sich über Literatur auszutauschen und insofern etwas, das die Literatur vom hohen Ross runterholt und nahbar macht. Und deswegen sollte man ganz viel hören und vielleicht sogar selbst machen.“
Das Digitale hält schon länger Einzug ins Deutsche Literaturarchiv Marbach. Und Podcasts? Sie werden in Zukunft eine deutlich größere Rolle bei der Arbeit im Literaturarchiv einnehmen.
Vom Austausch profitieren also sowohl die Gastgeber als auch die Studierenden.
Diskussionsrunde zum Abschluss
Am Abend: Vortrag und Diskussion. Literaturwissenschaftler und Journalist Johannes Franzen, Podcasterin und Literaturkritikerin Linn Penelope Rieger sowie Markus Gottschling vom Seminar für Allgemeine Rhetorik in Tübingen nehmen an der Stirnseite der Diskussionsrunde Platz.
Gut 90 Minuten geht es um die Zukunft der Literaturkritik, praktische Podcasts-Tipps und persönliche Erfahrungen der Teilnehmer.
Johannes Franzen resümiert: „Ich finde, es ist sehr schön gelaufen. Die Stimmung ist sehr produktiv, es kommen viel Fragen, aber das liegt natürlich auch daran, dass es eine Studientagung ist. Ich denke, da sind interessante Impulse dabei rumgekommen.
Es ist auf jeden Fall so, dass ich selbst begeistert Podcasts höre und ich viele Menschen kenne, die das tun. Dementsprechend bin ich tatsächlich zuversichtlich, was zumindest diese Form von kultureller Betätigung angeht.“
Ein langer, aber interessanter Tag geht zu Ende. Und weil jetzt auch keine Tische mehr aufgebaut sind, gibt’s dann ganz zum Schluss von allen Teilnehmern statt Klopfen doch noch Applaus.

Jun 8, 2025 • 13min
„Ein Zeugnis davon, dass es queere Erzählungen immer schon gegeben hat“: Miku Sophie Kühmel über „Kind der Liebe“
Ein flirrend heißer italienischer Sommer, geheimnisvolle Affären und ein Teenager mit messerscharfer Beobachtungsgabe – in Maureen Duffys Roman „Kind der Liebe“ trifft all das aufeinander.
Der Coming-of-Age-Roman erschien 1971 in Duffys Heimat Großbritannien. Jetzt – über fünfzig Jahre später – gibt der Reclam Verlag „Kind der Liebe“ erstmals auf Deutsch heraus, in der Übersetzung von Katharina Herzberger.
Miku Sophie Kühmel über die literarische Wiederentdeckung
Das Nachwort zu dieser literarischen Wiederentdeckung stammt von der Schriftstellerin Miku Sophie Kühmel. Im „lesenswert Magazin“ erzählt Kühmel von diesem britischen Sommerroman in dessen Mittelpunkt der Teenager Kit steht.
Kit ist eifersüchtig auf die Affäre der Mutter, Aias – oder auf die Mutter selbst? Kits eigensinnige Familie begleiten wir durch einen Sommer in einem fiktiven italienischen Fischerdorf.
Ein Lehrstück über nicht-binäres Erzählen und eine Sommerlektüre
Dabei wendet Duffy einen besonderen erzählerischen Kniff an – und dieser mache den Roman heute wieder besonders zeitgemäß, meint Kühmel. Weder der Hauptfigur Kit, noch Aias, gibt Duffy eine geschlechtliche Zuschreibung.
Doch „Kind der Liebe“ ist nicht nur ein Lehrstück über nicht-binäres Erzählen. Der Roman ist eine stimmungsvolle Sommerlektüre – irgendwo zwischen „Bonjour Tristesse“, „Saltburn“ und „Call Me By Your Name“.

Jun 8, 2025 • 2min
Neue Rundschau 2025/1 – Thomas Manns 150. Geburtstag
136. Jahrgang heißt es bescheiden-stolz auf dem jüngsten Heft der Neuen Rundschau. Es ist zum 150. Geburtstags Thomas Mann gewidmet, der selbst in der Neuen Rundschau, der Literaturzeitschrift des S. Fischer Verlags, noch veröffentlicht hat.
Was wäre zu Thomas Mann denn noch zu sagen?
Die Neue Rundschau erinnert an den Migrationshintergrund von Thomas Mann, daran, dass seine für ihn wichtige Mutter aus Brasilien stammt, daran, dass Thomas Mann unter einer scheinbar gefestigten bürgerlichen Fassade ein Zerrissener war, ein Außenseiter, nicht nur aufgrund seiner Herkunft, sondern auch, weil er seine Homosexualität zeitlebens unterdrückt hat.
Thomas Mann also gleichsam ein diverser Autor im Ringen um Identität, eine Spannung, die darum in seinem Werk nie Gemütlichkeit aufkommen lässt, sondern mit Spott und Ironie genau die Schmerzpunkte berührt, die ihm am nächsten waren.
Dass Thomas Mann auch selbst als Rollenmodell einer um Form ringenden Adoleszenz taugen kann, erzählt der Schriftsteller und bekennende Fan Eckart Nickel.
Plötzlich ist Thomas Mann nicht nur ein nachahmenswerter Dichter, sondern eine Gesamterscheinung, die durch Verfilmungen gespiegelt wird, der „Zauberberg“ von Hans W. Geißendörfer lief 1984 im ZDF, Dresscodes, aber auch Tics und Allüren anbietet, um sich von denen abzugrenzen, die sich - wie ich - langhaarig und in zerrissenen Jeans auf Friedens- und Ökodemos herumtrieben.
Also Form gegen Formlosigkeit, würde man aus heutiger Sicht sagen. Aber die Form von Thomas Mann ist nur darum so aufregend, weil er sie seinem inneren Chaos abringt.

Jun 8, 2025 • 2min
Inger-Maria Mahlke – Unsereins
Ich erinnere mich noch an ein paar sehr schöne Tage, als ich die Buddenbrooks las.
Es war eskapistische Lektüre, es ging um den Abstieg einer reichen Familie in einer fernen Zeit in Norddeutschland – Thomas Mann mit seinem Bessere Leute-Setting hat eine Familiengeschichte geschrieben, aus der ich mitnahm, dass es auch reiche Menschen nicht leicht haben.
Heute könnte das nicht mal Martin Mosebach noch so sozial blind erzählen. Und jetzt kam im vergangenen Jahr Inger-Maria Mahlke, „Unsereins“ – schon vom Titel ist das zugewandter.
Mahlke erzählt die Welt, in der die Buddenbrooks leben aus der Perspektive derer, die nicht die Buddenbrooks sind, aus der Sicht des Ratsdieners, der einmal im Monat zur Prostituierten geht, des Dienstmädchens, das langsam begreift wie sozial abgehängt sie ist und aus der Sicht der Lindhorsts, in vielem ganz ähnlich zu den Buddenbrooks, aber jüdisch.
Sie halten sich für assimiliert, bis ein Schlüsselroman, eben die Buddenbrooks ihnen vor Augen hält, dass sie nie dazugehört haben. „Unsereins“ kann man auch dann gut lesen, wenn man von den Buddenbrooks nur noch den fernen Schatten der jugendlichen Lektüre oder der Filme vor Augen hat.
Thomas Mann könnte heute aus dem Roman von Mahlke mitnehmen, dass die Verfallsgeschichte der Buddenbrooks in Wirklichkeit auch der zaghafte (und dann vom Faschismus brutal unterbrochene) Beginn des bürgerlich-liberalen Zeitalters war.

Jun 8, 2025 • 4min
Sebastian Haffner – Abschied
Die Uhr tickt, sie tickt erbarmungslos, die machtversessene Tyrannin. Ist es nicht aber doch möglich, ihrem Diktat noch letzte Momente des Glücks abzutrotzen?
Wir sind in Paris, linkes Seine-Ufer, Quartier Latin, Februar 1931. Raimund, Mitte 20, Referendar am Amtsgericht Rheinsberg, ist seit zwei Wochen zu Besuch bei seiner Freundin Teddy, die an der Sorbonne studiert und überhaupt keine Anstalten mehr macht, ins muffige Deutschland zurückzukehren.
Jetzt indes rückt die Stunde des Abschieds immer näher, um 22 Uhr fährt an der Gare du Nord Raimunds Nachtzug nach Berlin. Melancholisch blickt er sich in seinem Hotelzimmer um:
Was war in diesen vierzehn Tagen nicht alles Merkwürdiges in diesem kleinen Zimmer geschehen, das ich nun verließ! Na, um das Zimmer war mir nicht bange. Es hatte sicher schon vorher manches Lustige, Traurige und Merkwürdige gesehen und würde es weiter sehen. Mich aber sah es nun nicht mehr. Ich musste fort nach dem kalten Berlin, ich würde Urteile verfassen, Klavier spielen und auf Briefe warten, und hier in meinem Zimmer wohnte ein anderer, füllte die Luft mit Rauch, schlief, ärgerte sich, freute sich und sah aus dem Fenster die Seine und die Brücke und den weiten Platz dahinter und groß und tausendfältig schimmernd bei Tag und bei Nacht Notre-Dame.
Quelle: Sebastian Haffner – Abschied
Von jungen Männern umschwirrt
Was die Melancholie noch verstärkt und zugleich doch auch erträglicher macht: Nichts ist eindeutig in diesen verspielten Tagen in Paris. Teddy und Raimund ziehen sich an und stoßen sich ab, haben sich lieb und sind immerzu im Streit. Dass sie ein Paar wären – so eine freiheitsberaubende Behauptung würden die beiden, würde vor allem Teddy nie aussprechen.
Die junge Frau, die direkt einem Roman von Irmgard Keun entsprungen scheint, aber wohl, wie wir aus dem schönen Nachwort von Volker Weidermann erfahren, ein reales Vorbild hat – diese Teddy ist also eigentlich immerzu umschwirrt von einem Schwarm junger Männer, Bohèmestudenten unterschiedlichsten Temperaments, Konkurrenten und Verbündete zugleich für Raimund…
Übrigens war ich, glaube ich, der uneleganteste Mann auf dem Ball. Teddy kriegte ich nachher überhaupt nicht mehr zu sehen. Sie tanzte mit weiß ich wem, mit dem ganzen Attachégesindel und mit dem Bayern – bö.“ Franz Frischauer lachte. „Ist das so zum Lachen?“, sagte ich. „Kennen Sie das nicht? Sind Sie nie eifersüchtig? Es ist ein ekelhaftes Gefühl.“ „Schon, schon“, sagte Franz. „Aber man muss doch wissen, auf wen man eifersüchtig ist, wos lohnt. Man ists doch nicht auf all und jeden.“ „Gerade“, sagte ich. „Auf Sie bin ich noch ganz gern eifersüchtig. Aber diese Smokingproleten! Was hat es denn für Zweck, in einer Lotterie mitzuspielen, wo auch so ein Bayer gewinnen kann!
Quelle: Sebastian Haffner – Abschied
Über die Freiheit und Melancholie das Glück zu suchen
Die Zeit wird knapp und knapper, bald geht der Zug, und bis dahin muss Raimund noch möglichst viel von Paris und möglichst oft in Teddys Augen sehen. Temporeich und atemlos einerseits, dann aber auch unheimlich lässig, verspielt und frühlingsduftend erzählt dieser Roman von der Freiheit, in der Melancholie das Glück zu suchen; nebenbei ist er ein fabelhafter Reiseführer durchs Quartier Latin der frühen 1930er:
Weltstadt des Mittelalters, enge Straßen, Höfe wie Fahrstuhlschächte, glorreich verwitterte Fassaden der alten verwanzten Prunkhäuser, mitten dazwischen der Boulevard Saint-Michel mit seinen Lichtern, Cafés und Reklamen, und an den Stätten verschollener Triumphe und Grausamkeiten das Leben der Studenten. In den Straßen war immer, immer noch nach hundert Jahren ein Nachhauch vergangener Festlichkeiten, wie ein Parfum, in der Luft verspritzt.
Quelle: Sebastian Haffner – Abschied
Die Uhr tickt, sie tickt erbarmungslos. Es ist Februar 1931; nicht mehr lang, und das Glück und die Freiheit sind verweht. Aber das Schöne lässt sich nicht bezwingen.

Jun 4, 2025 • 4min
Rebecca K Reilly - Greta & Valdin | Buchkritik
Greta und Valdin teilen eine Menge. Zum Beispiel: einen komplizierten Nachnamen.
Vla« wie »bla«, nur mit V. »Dis« wie in Radieschen. »Sav« wie die Automarke »Saab«, nur mit V. »Ljev« wie Lyev Himmelsritter, die Figur aus Magic: The Gathering. Und »Vic« reimt sich auf Bitch.
Quelle: Rebecca K Reilly – Greta & Valdin
Die Geschwister Vladisavljević wohnen zusammen in Auckland, Neuseeland. Greta ist Masterstudentin der russischen Literatur. Valdin hat gerade seine akademische Karriere als Astrophysiker an den Nagel gehängt und moderiert jetzt eine Reisesendung im TV.
Geschwister mit Liebeskummer
Was die beiden noch verbindet? Liebeskummer. Greta ist unglücklich in ihre Kommilitonin Holly verliebt, die ihr widersprüchliche Signale sendet. Valdin hingegen trauert seiner Beziehung zum älteren Xabi hinterher. Nach dem Liebesaus ist der nach Argentinien ausgewandert – und die Lücke, die er hinterlassen hat, fühlt sich für Valdin unüberwindbar an.
Ich versuche seinen Namen nicht zu denken oder laut auszusprechen, ersetze ihn durch ein ehemaliger Bekannter oder dieser Typ, den ich mal gedatet habe.
Quelle: Rebecca K Reilly – Greta & Valdin
Rebecca K. Reilly erzählt in ihrem Debütroman „Greta & Valdin“ ein Jahr im Leben der Geschwister. Ein Jahr voller Fragen und zaghafter Neuanfänge. Dabei unterstützt die beiden ihre exzentrische, kulturell vielfältige Großfamilie, die maorische, russische und katalanische Wurzeln mitbringt.
Greta und Valdins Perspektive wechselt kapitelweise. Auf der Suche nach Liebe und Selbstbestimmung erleben die beiden queere Krisen, familiäre Zwänge und den Wunsch, dazuzugehören.
Reilly schreibt das mit großer Sympathie für ihre Figuren, schnellem Witz und scharfem Blick. Ihre Dialoge sind pointiert, oft komisch und warmherzig.
Beziehungsprobleme verschiedener Generationen
Eine besondere Qualität ihres Romans ist, dass sie die Herausforderungen verschiedener Generationen im modernen Beziehungsleben mit einem Augenzwinkern einfängt.
Etwa, wenn der siebzehnjährige Neffe Tang seine sexuelle Identität entdeckt:
O Gott, Tang, hast du etwa eine queere Krise? Ich dachte, ihr Jugendlichen seid heutzutage alle total chill und pansexuell, und nur alte Millennials wie Ell drehen durch und schneiden sich die Haare ab, wenn sie mit sechsundzwanzig zum ersten Mal eine Brust anfassen.
Quelle: Rebecca K Reilly – Greta & Valdin
Obwohl Reilly über queere Beziehungen schreibt, stellt sie die Queerness selbst nicht plakativ in den Vordergrund. Ihre Figuren definiert sie nicht über deren Sexualität – sie sind einfach junge Menschen, die auf ganz normale, manchmal verrückte, manchmal schmerzhafte Weise nach Liebe suchen.
Die queere Identität ist dabei selbstverständlicher Teil ihres Lebens, aber nie ihr einziges Erkennungsmerkmal.
Gesellschaftliche Themen sind in der Handlung verankert
Ähnlich geht Rebecca K. Reilly mit gesellschaftlichen Themen wie Rassismus, Kolonialismus und kultureller Identität der Maori in Neuseeland um. Sie verhandelt die Dinge im Hintergrund, integriert sie in der Lebensrealität der Figuren – ohne erhobenen Zeigefinger.
Diese selbstverständliche Verankerung im Alltag, das beiläufige, aber nie verharmlosende Einweben sozialer Konflikte, macht den besonderen Ton ihres Romans aus.
Rebecca K. Reilly ist selbst Maorin, und hat unter anderem Kreatives Schreiben, European Studies und Deutsch studiert.
Ein charmantes Gimmick für deutschsprachige Leserinnen und Leser ist, dass Reilly ihre eigene Vorliebe für deutsche Literatur in die Geschichte einflicht: Valdin liest etwa „Sommerhaus später" von Judith Hermann.
Und Greta? Greta bringt ihre Skepsis gegenüber der deutschen Hauptstadt wunderbar ironisch auf den Punkt:
Du kannst Berlin doch gar nicht leiden. Du sagst immer, da laufen die ganzen nervigen Leute rum, die es in Melbourne zu nichts gebracht haben.
Quelle: Rebecca K Reilly – Greta & Valdin
„Greta & Valdin“ ist ein lebenskluger und herzenswarmer Roman, voller Witz, voller Fragen, voller echter Gefühle. Und das ist vor allem: extrem unterhaltsam.


