SWR Kultur lesenswert - Literatur

SWR
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Jun 15, 2025 • 55min

lesenswert Magazin: Zwischen Matriarchat und Moderne - literarische Reisen und starke Frauengeschichten

Mit Büchern von Louise Kennedy, Barbara Kingsolver und Linn Ullmann
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Jun 15, 2025 • 7min

Barbara Kingsolver – Die Unbehausten

Ein marodes Haus – eine zerbrechende Welt Unter jedem Dach ein Ach. Ja, im Haus der Familie von Willa Knox stapeln sich die Sorgen. Sie hat ihren Job als Journalistin verloren, ihr Mann Ianos hangelt sich als Dozent von Uni zu Uni, Opa Nick ist todkrank und ohne Krankenversicherung, Tochter Tig steht mit einem gebrochenen Herzen wieder vor der Tür und Sohn Zeke ist völlig verzweifelt. Seine Frau hat sich gerade, kurz nach der Geburt ihres gemeinsamen Kindes, das Leben genommen. – Ein schlecht bezahlter Brötchenverdiener und fünf, die von ihm abhängig sind, und das auch noch in einem maroden Haus, das über ihnen einzustürzen droht. Wie konnte es sein, dass zwei hart arbeitende Menschen, die im Leben alles richtig gemacht hatten, in ihren Fünfzigern praktisch mittellos dastanden? […] ‚Wir haben verloren, wofür wir gearbeitet haben, und ich fühle mich betrogen. Manchmal bin ich so wütend, dass ich aus der Haut fahren könnte. Ist es nicht einfach menschlich, immer etwas zu wollen?’ Quelle: Barbara Kingsolver – Die Unbehausten 150 Jahre zuvor, 1874, stürzt im gleichen Haus der Naturkundelehrer Thatcher Greenwood ins Bodenlose. Hier in Vineland, New Jersey, gerät er mit dem Gründer des Örtchens, Charles Landis, aneinander, einer christlichen Freidenker-Kolonie, weil er der neuen Evolutionstheorie von Charles Darwin anhängt. Thatcher soll zum Schweigen gebracht werden. Zwei Zeiten, ein Schicksal – und ein literarisches Wagnis Zwei Zeitebenen: Ein Mensch sagt die Wahrheit und wird dafür geschmäht, auf der einen Seite und zwei Menschen, die ihr Leben lang arbeiten und trotzdem in eine existenzielle Krise geraten auf der anderen. Eine Frage: Was passiert, wenn sich alle Gewissheiten auflösen, alles, woran man immer geglaubt hat, auf einmal anders ist? Davon erzählt Barbara Kingsolver in ihrem Roman „Die Unbehausten“. Kingsolver erzählt: „Ich habe mich für den Paradigmenwechsel interessiert, wenn die alten Regeln, mit denen wir unsere Lebensprobleme gelöst haben, ausgehebelt werden. Wenn sich die Welt so drastisch zu verändern scheint, dass die Menschen ihre gesamte Denkweise ändern müssen, um die Probleme zu begreifen.“ Und um begreifbar zu machen, dass die Welt immer wieder in existenzielle Umbrüche gerät, verwebt Kingsolver die zwei Zeitebenen miteinander. Die Verbindung ist das baufällige Haus, in dem ihre Protagonisten leben. Ein Scharnier und eindrückliche Metapher für eine Welt, die über ihren Köpfen zusammenzubrechen droht. Mit dieser Konstruktion geht Kingsolver ein erzählerisches Risiko ein, immerhin liegen die Ebenen 150 Jahre auseinander. Doch sie beweist sich als geniale literarische Architektin. Der letzte Satz eines Kapitels ist die Überschrift des nächsten. Es entsteht eine Spiegelung, die einen Reflexionsraum eröffnet: Unser Körper, das soziale Gefüge, die Erde selbst, im Grunde wie wir die Welt wahrnehmen, verändert sich ständig. „Ich denke, dass sich die Menschen unter bestimmten Umständen immer auf bestimmte Weise verhalten, egal wo wir uns in der Geschichte befinden,“ meint die Autorin. „Und da ich als Biologin ausgebildet wurde, schien es mir angemessen, auf Darwin zurückzukommen. Wir können uns heute nur schwer vorstellen, wie verwirrend es für Menschen gewesen sein muss, die immer geglaubt haben, dass Gott die Welt so geschaffen hat, wie sie ist und dass er den Menschen an die Spitze der Schöpfung gestellt hat, dass wir der Boss sind.“ Evolution, Erschütterung und Erkenntnis Darwin hat die Welt mit seiner Evolutionstheorie auf den Kopf gestellt. Heute ist diese Erkenntnis selbstverständlich. Seit Anbeginn der Geschichte hatte sich wohl jeder Mensch ans Kopfende der Tafel gesetzt. Wenn nun die Tafel umgeworfen wurde, wenn Geschirr und Besteck klirrend zu Boden fielen und der Mensch seinen Platz verlor, war das, als würde der Himmel einstürzen. Thatcher hatte Darwin und seine Lehre noch nie in diesem bedrohlichen Licht betrachtet. […] ‚Lehren Sie sie, die Beweise selbst zu sehen und sich nicht davor zu fürchten. Im hellen Licht des Tages zu stehen, wie Sie mal gesagt haben. Unbehaust.’ Quelle: Barbara Kingsolver – Die Unbehausten Heute muss der Mensch durch den Klimawandel und die Einsicht, dass die Ressourcen der Erde endlich sind, die Welt anders begreifen lernen. Was bedeutet: massive Einschränkungen im Konsumverhalten und folglich Raum für Demagogen, die einem versprechen, die alte Ordnung wiederherzustellen. So lässt Kingsolver auf der Gegenwartsebene einen Präsidentschaftskandidaten auftreten, der Donald Trump zum Verwechseln ähnlich sieht. „Die Unbehausten“ ist eine Reaktion auf Trumps erste Wahl. Nun, nach der Corona-Pandemie, nachdem Russland seinen Angriffskrieg gestartet und Trump seine zweite Amtszeit angetreten hat, ist das Buch immer noch hochaktuell. Hat Barbara Kingsolver nicht das Gefühl: Es wird alles immer schlimmer? „Ich glaube, dass es erst schlimmer werden muss, bevor es besser wird, das denke ich immer wieder über mein Land. Denn wenn die Menschen in Bedrängnis sind, und das thematisiert der Roman, wollen sie sich nicht wirklich verändern, sie machen sich keine Gedanken über die Zukunft. Dabei ist es doch so, dass die Menschen, gerade wenn sie in einer Krise stecken, wenn sie ihren Schutz verlieren, im wahrsten Sinne des Wortes oder psychologisch, dass sie dann lernen, kreativer zu denken und beginnen Gemeinschaften zu bilden.“ Unbehaust - unsheltered – ohne Schutz: so fühlen sich die Figuren dieses Romans. Und jede findet einen Weg mit der Unsicherheit umzugehen. Das macht dieses Buch auch so spannend zu lesen. Für den Lehrer Thatcher bedeutet unbehaust zu sein auch Aufbruch, in dem er es wagt, Darwins Theorien zu folgen. Ursprünglich sollte Darwin auch als Figur vorkommen, erzählt Kingsolver. Doch weil der Roman nur in Amerika spielen sollte, sucht sie nach einer anderen Figur – und findet Darwins reale Kollegin Mary Treat, die mit ihm korrespondierte. Im Buch Thatchers Nachbarin. Sie forscht in ihrem Haus an Spinnen und Venusfliegenfallen. Thatcher ist fasziniert. „Sie war eine goldene Entdeckung. Ich war so glücklich," erzählt Kingsolver. „Ich stieß auf ein Dokument, in dem sie erwähnt wird und fand dieses Archiv mit all ihren Unterlagen in einem kleinen historischen Museum in Vineland, New Jersey. Als ich dort anrief, sagte die Kuratorin: Ich habe auf Ihren Anruf gewartet.“ Hoffnung in Zeiten der Unsicherheit Auf der Gegenwartsebene gräbt Familienoberhaupt Willa Thatchers Geschichte aus, der in ihrem maroden Haus gelebt haben soll. Vielleicht wäre es zu retten, wenn es als historisch bedeutsames Nationaldenkmal eingestuft werden könnte? Und so stoßen die Geschichten im Laufe aneinander. Barbara Kingsolver verhandelt in ihrem großen, abwechslungsreichen und durch viele Dialoge ungemein lebendigen Roman die universalen Fragen im menschlichen Zusammenleben. Daran erinnert sie an den sozialkritischen Literaturnobelpreisträger John Steinbeck. Und auch wenn sie keine Antworten liefert und ihre Protagonisten kämpfen müssen, steckt in „Die Unbehausten“ ein hoffnungsvoller, teilweise sogar humorvoller Ton. Das macht dieses Buch zu einer der erhellendsten und unterhaltsamsten Lektüren dieser Saison.
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Jun 12, 2025 • 4min

Jörg Baberowski – Die letzte Fahrt des Zaren

Mehr als drei Jahrhunderte regierte der Zarismus Russland. Im Frühjahr 1917 fällt das Zarenreich jedoch innerhalb weniger Tage wie ein Kartenhaus zusammen. „Schon zwei Wochen nach dem Beginn der Brotproteste ist von der alten Welt kaum noch etwas zu spüren“, schreibt Jörg Baberowski. In packenden Geschichten zeichnet er mit dramaturgischem Geschick und erzählerischem Esprit den Zusammenbruch minutiös nach. Einer der Zeitgenossen, dem er über die Schulter blickt, ist der exzentrische Komponist Sergei Prokofjew.   Prokofjew kehrt zum Winterpalast zurück, und von dort läuft er zum Marsfeld. Lastwagen fahren an ihm vorbei, johlende Soldaten mit aufgepflanzten Bajonetten schwenken rote Fahnen und schießen Gewehrsalven in die Luft. Langsam begreift auch Prokofjew, dass die Tage des Friedens gezählt sind, die Revolution kein Geschehen ist, das man einfach ignorieren könnte.  Quelle: Jörg Baberowski – Die letzte Fahrt des Zaren Überfordert von den Geschehnissen    Baberowski folgt dem Geschehen aus der Perspektive einer Vielzahl von Personen. Oft sind die Politiker, Generäle, Höflinge und Revolutionäre weniger Handelnde, sondern mehr Getriebene – mitgerissen vom Strudel der historischen Ereignisse. So faszinierend die detailreiche Darstellung ist, so sehr fordert sie auch die Konzentration der Leser, um in der chaotischen Szenerie nicht – gleichsam wie die historischen Akteure – den Überblick zu verlieren.   Am Anfang vom Ende steht eine massive Versorgungskrise, die sich rasch zur Legitimationskrise auswächst. Während immer mehr Menschen auf die Straße gehen, Brot und ein Ende des Krieges fordern, während die herbeigerufenen Soldaten sich mit den Protestierenden verbünden, versäumt es die Regierung, „im richtigen Augenblick richtige Entscheidungen zu treffen“, notiert Baberowski. Aber auch Sozialisten und Liberale, die den Umbruch propagiert haben, sind überfordert von den Geschehnissen.  Die Ereignisse haben keinen Urheber, es scheint, als vollzöge sich die Revolte unabhängig von den politischen Parteien und ihren intellektuellen Interpreten. Stets haben sie in der Vergangenheit von Reformen und Revolutionen gesprochen, sich damit gebrüstet, es besser zu wissen als die dunkle Masse. Und nun tanzt das Volk auf den Straßen, und niemand weiß, welche Antwort man darauf geben soll.  Quelle: Jörg Baberowski – Die letzte Fahrt des Zaren Erst die Familie, dann das Land  Weil ihm sein Innenminister versichert, alles unter Kontrolle zu haben, verlässt der Zar die kriselnde Hauptstadt. Baberowski zeichnet Nikolai als willens- und antriebsschwachen Menschen, der sich mehr um seine Familie als um das Land sorgt. Widerstandslos willigt er in die Abdankung ein. Seine letzte Zugreise wird zu einer Irrfahrt, die auf dem Abstellgleis endet.  Wo Institutionen verfallen, gewinne persönliche Autorität an Bedeutung zurück, schreibt Baberowski prononciert. Doch auch der Mann, der sich wie kein anderer als Sprachrohr und Führer der Massen in Szene setzt, zögert in den entscheidenden Momenten. Baberowski hält nicht viel von Alexander Kerenski, dem zweiten Ministerpräsidenten der Provisorischen Regierung. Er porträtiert ihn als eitlen, selbstverliebten Mann der billigen Effekte. Ganz anders agiert der aus dem Exil nach Russland zurückgekehrte Lenin. Zielgerichtet und rücksichtslos strebt er an die Macht.  Niemand weiß besser als Lenin, dass die Grausamkeit und die anarchistischen Gefühle des desorientierten Volkes Triebkräfte sind, die sich der revolutionäre Wille zunutze machen kann. Nicht verbrüdern will er sich mit den Massen. Er will sie vielmehr zwingen, dem Ruf der Wissenden zu folgen und sich von sich selbst zu befreien. Auf Technik und Strategie, nicht auf Programm und Überredung kommt es in diesen Tagen an. Quelle: Jörg Baberowski – Die letzte Fahrt des Zaren Jörg Baberowski schildert die revolutiuonären Ereignisse als eine Abfolge von Augenblicken und Situationen, die immer neue Möglichkeiten eröffnen. Das Geschehen folgt keinem Plan und keiner Notwendigkeit. Als seine Henker Nikolai eröffnen, dass er und seine Familie hingerichtet werden, entgegnet er nur erstaunt und fassungslos: „Wie bitte?“
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Jun 11, 2025 • 4min

Amitav Ghosh – Rauch und Asche | Buchkritik

Und wieder steht ein Akteur aus der Pflanzenwelt im Zentrum des Geschehens. Nach „Der Fluch der Muskatnuss“ widmet sich der indische Romancier und Essayist Amitav Ghosh in seinem neuen Buch dem Schlafmohn und damit einer der wirkmächtigsten Pflanzen der Menschheitsgeschichte.   Opium als Stütze des britischen Kolonialregimes  In „Rauch und Asche“ beleuchtet Ghosh die kolonialen Hintergründe der Opiumerzeugung in Indien und beschreibt, wie Großbritannien den chinesischen Markt im 18. und frühen 19. Jahrhundert illegal mit dem verderbenbringenden Handelsgut überschwemmte, um sein Handelsdefizit auszugleichen.   Es gibt möglicherweise keine Wirtschaftspolitik, die jemals erfolgreicher umgesetzt worden ist als das Opiumprogramm des britischen Empire. Genau wie geplant lösten diese Maßnahmen innerhalb weniger Jahrzehnte das Zahlungsbilanzproblem der East India Company: Anstatt dass riesige Silbermengen von England nach China flossen, bewegten sich nun massenhaft Goldbarren in die andere Richtung. Quelle: Amitav Ghosh – Rauch und Asche Opiumgeld für Aufbau von US-Infrastruktur  Nicht nur die Briten profitierten vom Opiumschmuggel. Rasch nach der Unabhängigkeitserklärung stiegen auch blutjunge US-amerikanische Kaufleute in den chinenischen Drogenhandel ein. Nach ihrer Rückkehr aus Kanton investierten diese „Brahmanen von Boston“ ihre kolossalen Gewinne in die entstehende Industrie und in die Eisenbahn. Sie gründeten und finanzierten Schulen, Bibliotheken und Krankenhäuser.   Im Wesentlichen hatte der Kolonialismus eine Machtstruktur geschaffen, der zufolge die aus Europa kommenden Eliten und ihre Verbündeten unter den europäisch stämmigen Diasporagruppen eine derart absolute Vorherrschaft genossen, dass es tugendhaften jungen Amerikanern möglich war, in fernen Ländern Verbrechen zu begehen, mit sauberen Händen in ihre Heimat zurückzukehren und sich dort als Helden für ihre Rolle beim Aufbau der amerikanischen Wirtschaft feiern zu lassen. Mit anderen Worten, sie konnten mithilfe des weltweiten Kolonialismus das verwirklichen, wonach Drogenbarone wie Lucky Luciano und Pablo Escobar sich immer gesehnt hatten: endlich »legal« zu werden.   Quelle: Amitav Ghosh – Rauch und Asche Fokus auf Verlierer des ungleichen „Handels“  Hier klingt an, wo Ghoshs Sympathien beheimatet sind. Er interessiert sich für die Verlierer dieses ungleichen, mit Waffengewalt durchgesetzten „Handels“. Für die abhängigen Bauern in Indien, für die der Mohnanbau ein katastrophales Verlustgeschäft war. Für die Verheerungen in China, das sich in zwei Opiumkriegen vergeblich gegen den Schmuggel zur Wehr setzte. Und für die langfristigen wirtschaftlichen und sozialen Folgen, die bis in die Gegenwart reichen. Die sogenannte Opioid-Krise in den USA interpretiert Ghosh als trauriges „Echo" auf die Erfahrungen Chinas im 19. Jahrhundert. Millionen US-Amerikaner sind süchtig nach jahrzehntelang leichtfertig verschriebenen opioidhaltigen Schmerzmitteln, Überdosierungen – zuletzt vor allem von Fentanyl – fordern jährlich zehntausende Menschenleben. Ghosh stellt sich gegen die scheinheilige Behauptung der Drogenhändler des 19. und der Pharmaunternehmer des 21. Jahrhunderts, wonach sie lediglich eine ungedeckte Nachfrage bedienen würden.   Eine sonnenklare Tatsache ist, dass bei Opioiden nicht die Nachfrage, sondern das Angebot der verantwortliche Faktor für den steigenden Konsum ist. Wenn Opioide im Überfluss vorhanden sind, schaffen sie ihre eigene Nachfrage: Und das ist genau der Grund, warum Opium als eine eigenständige historische Kraft betrachtet werden muss.  Quelle: Amitav Ghosh – Rauch und Asche Lange hat Ghosh gezögert, ob er die Geschichte dieser „abscheulichen Gemeinheit“ erzählen solle, wie er unumwunden zugibt. Dieses Zaudern ist dem Text stellenweise anzumerken. Er ist weniger zwingend und kohärent als „Der Fluch der Muskatnuss“ und mit seinen zahlreichen Verweisen auf sein eigenes literarisches Œuvre bisweilen ein wenig selbstreferenziell. Aber wieder beeindruckt Ghoshs Sinn für den großen Bogen und sein Talent für mutige Parallelen. „Rauch und Asche“ ist ein schonungsloses Manifest gegen die Heuchelei und gegen das Unter-den-Teppich-Kehren der dunklen Geschichten hinter dem Siegeszug des globalen Kapitalismus.
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Jun 10, 2025 • 4min

Patricia Holland Moritz – Drei Sommer lang Paris

Zugegeben: Es ist ein ungewöhnlicher Ansatz, vom deutschen Herbst 1989 von Paris aus zu erzählen, und eben nicht aus der DDR. Aber Patricia Holland Moritz hat aus der Begegnung einer gelernten DDR-Bürgerin mit der Stadt des Lichts einen Roman mit mehreren Ebenen geschaffen: eine Geschichte vom Einwandern, eine kleine Liebesgeschichte – einen scharfen Blick auf den Umbruch in der DDR und zugleich eine feinfühlige Skizze der Metropole.   Die Stadt war ein Kinosaal, in dem ein Film in Endlosschleife lief und ich kommen und gehen konnte, wann ich wollte. In Paris redete jede Straßenecke zu dem, der die Geschichten hören wollte. Besonders laut tuschelten die Gässchen mit ihren eingerückten Mauern. Quelle: Patricia Holland Moritz – Drei Sommer lang Paris Pariser Kulturgeschichte - individuell erkundet  Es sind besondere Pariser Geschichten, für die sich Ulrike interessiert. Sie ist von jeher eine begeisterte Leserin; und jetzt spürt sie teils jung verstorbenen Schriftstellern und Künstlern nach, die einst hier arbeiteten: Gertrude Stein und Ernest Hemingway - James Joyce - Samuel Beckett, aber auch Jim Morisson, Frédéric Chopin. Deren Welt entdeckt sie auf eigenwillige Art: mit einer alten Kamera, einer stilechten Rolleiflex, auf deren Mittelformat-Film gerade einmal zwölf Aufnahmen passen. Das totale Gegenteil der digitalen Bilderflut von heute.  Die Fotos waren von der schwarz-weißen Eleganz der Vergangenheit. Selbst beim Betrachten verspürte ich noch jenen seltsamen, fast morbiden Reiz, an denselben Orten zu stehen, dieselbe Luft zu atmen, in denselben Himmel zu schauen wie jene, deren Zeitfaden zu früh abgerissen war. Tragische und kurze Leben riefen in mir das Gefühl verpasster Möglichkeiten hervor. Der flüchtige Kontakt mit den Verstorbenen ließ mich glauben, ich könne einen Teil ihres Mythos berühren und mich gegen verpasste Möglichkeiten wappnen. Quelle: Patricia Holland Moritz – Drei Sommer lang Paris Der Umbruch in der DDR - distanziert betrachtet  Denn Ulrike selbst hat sich in den Kopf gesetzt, einen Paris-Roman zu schreiben. Den beginnt sie auf der letzten Seite des Buches, und herausgekommen ist natürlich jener Roman, den man jetzt in der Hand hält. Ulrike hat sich zwar mit Haut und Haaren ins Leben in Paris gestürzt; was gerade in der DDR passiert, das nimmt sie nur aus der Distanz wahr. Aber ihr Zorn erwacht: auf die Diktatur – zugleich darauf, wie die von ihr so lange Gegängelten mit der neuen Freiheit umgehen. Und darauf, wie jene Gegängelten jetzt von den bislang unverdient Privilegierten der Geschichte – den Westlern – behandelt werden. Das ist keine Ex-Post-Besserwisserei der Autorin – wer es denn wollte, der konnte die Probleme schon Anfang 1990 heraufziehen sehen. Die neuen deutsch-deutschen Brüche, auch den damaligen Blick des Auslands auf den Wandel in Deutschland – all dies hat die Autorin souverän in Dialoge zwischen ihren Figuren gegossen.   Paris hautnah und authentisch  Gewürzt wird es mit feinem ironischem Humor und mit liebevollen Detailschilderungen: wenn Ulrike etwa zur tiefgründigen Ballade Nantes der Chansonnette Barbara langsam über die Stadtautobahn Péripherique fährt; und dass einmal in Ulrikes Großraumbüro die ungemein tanzbare Zouk-Musik aus der Karibik ertönt, verrät, wie 'tief drin' Patricia Holland Moritz damals in Paris gelebt hat. Wohl sind ein paar sprachliche Details a-historisch geraten; und etwas ärgerlich, dass der Autorin ausgerechnet in einem ihrer elegantesten Dialog-Sätze gegen Ende ein Grammatikfehler unterläuft: Aber wenn man auf einer Sache besteht, dann stand diese Sache jedenfalls 1989 im Dativ. Immerhin, diese abschließenden dreißig Seiten bringen noch eine überraschende, dabei aber schlüssige und vor allem ganz und gar zeittypische Wendung. Dieser Roman bleibt bis zuletzt spannend und birgt trotz seiner über vierhundert Seiten keinerlei Leerlauf. Eine feinfühlige, authentische und dabei vielschichtige Erzählung über Paris und über eine junge Ostdeutsche vor 35 Jahren.
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Jun 8, 2025 • 2min

Heinz Strunk – Zauberberg 2

Schon zweimal habe ich versucht, Thomas Manns "Zauberberg" zu lesen. Nie habe ich durchgehalten, der dicke Wälzer mit seinen scheinbar endlosen detaillierten Beschreibungen war mir einfach zu langatmig – Weltliteratur hin oder her. Zum Glück gibt es einen kuriosen, literarischen Brückenschlag in die Gegenwart: "Zauberberg 2" von Heinz Strunk. Ja, genau – der Heinz Strunk, der sonst für tragik-komische Alkoholiker-Romane bekannt ist. Und doch funktioniert es. Denn Strunk nimmt nicht einfach das Original von 1924 auseinander, sondern überträgt dessen Grundstimmung in unsere Zeit. Statt Davoser Höhenluft: mecklenburgische Provinz. Statt Thomas Manns Hans Castorp: Jonas Heidbrink – ein depressiver Start-up Millionär, ohne Lebenssinn, der sich freiwillig in ein mecklenburgisches Sanatorium einweist. Dort trifft er auf andere seelisch Versehrte, erlebt Therapiesitzungen und Albträume – und wird, wie schon Castorp, zum Beobachter einer Welt, in der die Zeit stillsteht. Strunks Version ist düster, schräg und manchmal sehr komisch. Wer also, wie ich, an 1000 Seiten Thomas Mann gescheitert ist, aber dennoch ein Gefühl für die Fragen des Original- "Zauberbergs" bekommen will – denen nach Krankheit, Zeit, Tod und Sinn, der soll es ruhig mal mit der Strunk‘ schen - der findet in "Zauberberg 2" eine überraschend respektvolle und eigenständige Alternative. Und wer weiß – vielleicht ist das ja der Startschuss, sich doch nochmal an den Klassiker zu wagen. Wer’s durchhält…
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Jun 8, 2025 • 2min

Christina Hesselholdt – Venezianisches Idyll

Was passiert, wenn eine dänische Autorin Thomas Manns „Tod in Venedig“ durch den Meta-Fleischwolf dreht, die Erzählung in der Gegenwart verankert und eine Portion nordischer Ironie dazu gibt? Christina Hesselholdts „Venezianisches Idyll“ wagt genau dieses Experiment. Aus Gustav Aschenbach wird Gustava, eine erschöpfte Psychiaterin Mitte fünfzig. Sie will im norwegischen Tromsø ihrem Leben ein Ende setzen. Nach einem Zusammenbruch (bei dem ein ausgestopfter Eisbär eine Rolle spielt), entscheidet sie sich für das Leben. Statt Tod folgt – Venedig. Dort sucht sie Erholung, Abstand, vielleicht sogar einen Neuanfang. Ihr Bruder Mikael, ein exzentrischer Einzelgänger, findet ihren Abschiedsbrief und reist ihr hinterher. Hesselholdt baut ihre Geschichte als Mosaik: wechselnde Perspektiven, eine unzuverlässige Erzählstimme, und immer wieder Referenzen – an Thomas Mann, an Casanova, Visconti, Nietzsche. Was tragisch beginnt wird zu einer scharfsinnigen Komödie. „Venezianisches Idyll“ ist keine Nacherzählung, sondern eine Umdeutung und eine Hommage – glänzend übersetzt von Ursel Allenstein. „Über Venedig zu schreiben, ist so, als würde man ein Glas Wasser ins Meer kippen", sagt der Erzähler in Hesselholdts Roman an einer Stelle. Dieser Roman behandelt weder Venedig noch Thomas Mann museal, sondern fährt seinen Vorbildern liebevoll in die Parade – mit Witz, Tiefe und einem klaren Blick auf das moderne Scheitern. Ein Abgesang auf das Überleben.
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Jun 8, 2025 • 11min

Glücksspiel mit ideologischem Impetus? Autor und Soziologe Juan S. Guse im Krypto-Kosmos

Plötzlich stinkreich sein. Das ist der Plot einiger Hollywoodfilme und Stoff für so manchen Tagtraum. Juan S. Guse hat sich für sein neues Buch mit Männern getroffen, denen das gelungen ist, denn sie machen Millionen: mit Krypto. Was sagt der Krypto-Boom über unsere Gegenwart aus? Was ist das für eine Welt, in der Millionen quasi aus dem Nichts entstehen – und genauso schnell wieder verschwinden? Und was macht sie mit den Menschen, die sie betreten? In „Tausendmal so viel Geld wie jetzt“ begleitet er vier Männer in ihrem Alltag, die eine Menge Geld mit Kryptowährung gemacht haben. Im „lesenswert Magazin“ erzählt Guse, was ihn an der Welt der Kryptowährungen gereizt hat, was der Begriff „Sleeper“ meint und was der Krypto-Boom über unsere Gegenwart aussagt. Zwischen Feldstudie, Reportage und Roman Dabei changieren seine Beobachtungen stets zwischen Wahrheit und Fiktion. Schon in Roman „Miami Punk“ (2019) widmete er sich der digitalen Welt. Gaming spielt eine zentrale Rolle. Juan S. Guse ist Soziologe und studierte am Literaturinstitut Hildesheim. Außerdem gewann er den Literaturwettbewerb „open mike“ und las beim Bachmannpreis 2022 in Klagenfurt.
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Jun 8, 2025 • 2min

Thomas Mann – Der Zauberberg als Hörbuchfassung

Was könnte man alles in 38 Stunden und 36 Minuten tun? Zum Beispiel zweimal mit dem Auto von Hamburg nach Davos und wieder zurück fahren. Oder mit dem Flugzeug nach Neuseeland fliegen. Oder einen Monat lang das Geschirr täglich mit der Hand spülen und dazu Thomas Sarbachers „Zauberberg“-Lesung anhören. Wir kennen den „Zauberberg“ in der umscheichelnden Sprechstimme des großen Mann-Interpreten Gert Westphal. Thomas Sarbacher aber hat Thomas Manns Roman nun erstmals ungekürzt eingesprochen. 38 Stunden, 36 Minuten, 20 Stunden länger als die Westphal-Lesung. Und das klingt so: Einer Stimme über einen langen Zeitraum zuzuhören, ist auch Gewöhnungssache. Einen Versuch wäre es zumindest wert.
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Jun 8, 2025 • 13min

„Ein Zeugnis davon, dass es queere Erzählungen immer schon gegeben hat“: Miku Sophie Kühmel über „Kind der Liebe“

Ein flirrend heißer italienischer Sommer, geheimnisvolle Affären und ein Teenager mit messerscharfer Beobachtungsgabe – in Maureen Duffys Roman „Kind der Liebe“ trifft all das aufeinander. Der Coming-of-Age-Roman erschien 1971 in Duffys Heimat Großbritannien. Jetzt – über fünfzig Jahre später – gibt der Reclam Verlag „Kind der Liebe“ erstmals auf Deutsch heraus, in der Übersetzung von Katharina Herzberger. Miku Sophie Kühmel über die literarische Wiederentdeckung Das Nachwort zu dieser literarischen Wiederentdeckung stammt von der Schriftstellerin Miku Sophie Kühmel. Im „lesenswert Magazin“ erzählt Kühmel von diesem britischen Sommerroman in dessen Mittelpunkt der Teenager Kit steht. Kit ist eifersüchtig auf die Affäre der Mutter, Aias – oder auf die Mutter selbst? Kits eigensinnige Familie begleiten wir durch einen Sommer in einem fiktiven italienischen Fischerdorf. Ein Lehrstück über nicht-binäres Erzählen und eine Sommerlektüre Dabei wendet Duffy einen besonderen erzählerischen Kniff an – und dieser mache den Roman heute wieder besonders zeitgemäß, meint Kühmel. Weder der Hauptfigur Kit, noch Aias, gibt Duffy eine geschlechtliche Zuschreibung. Doch „Kind der Liebe“ ist nicht nur ein Lehrstück über nicht-binäres Erzählen. Der Roman ist eine stimmungsvolle Sommerlektüre – irgendwo zwischen „Bonjour Tristesse“, „Saltburn“ und „Call Me By Your Name“.

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