SWR Kultur lesenswert - Literatur

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Jun 22, 2025 • 6min

Paul Theroux – Burma Sahib | Buchkritik

Ein Diener, der den großen Fächerwedel bedient, um die schwülheiße Luft erträglich zu machen. Die Bar, an der betrunkene Engländer über die Einheimischen schimpfen, die mal einen Hieb mit dem Bambusstock brauchen. Alltag für den jungen Kolonialbeamten Eric Blair in der britischen Kolonie Burma in den 1920er Jahren.  Es war ein richtiger Club mit Teakholzvertäfelung und dicken Balken, einem Billardzimmer, einer Lounge und einem Punkah-Wallah, der im Speisesaal hockte und mit seiner Schnur den an der Decke befestigten Fächerwedel in Schwingung versetzte, während auf der Veranda Kellner mit Turban und weißer Uniform, roter Schärpe und Kummerbund kalte Getränke servierten. Quelle: Paul Theroux – Burma Sahib Es ist eine ferne, vergangene Welt, die der amerikanische Schriftsteller Paul Theroux in seinem Roman „Burma Sahib“ heraufbeschwört. Als „Sahib“, also „Herr“ oder „Besitzer“, wurden auf dem indischen Subkontinent während der britischen Kolonialzeit Europäer angeredet. Biografie trifft Fiktion Auch Eric Blair wird so angesprochen. Den britischen Polizisten Eric Blair, der fünf Jahre in Burma lebte, gab es wirklich. Er nannte sich später George Orwell und wurde der Autor, den wir alle kennen. Aus der Lebensgeschichte des jungen George Orwell – damals noch Eric Blair - hat der US-Schriftsteller Paul Theroux jetzt einen fesselnden historischen Roman gemacht, der mit der britischen Kolonialherrschaft hart ins Gericht geht.   Fasziniert folgt man den Spuren des jungen Eric Blair zu mehr als einem halben Dutzend verschiedener Einsatzorte quer durch Burma, die der ausgewiesene Reiseschriftsteller Paul Theroux auch sinnlich nachspürbar macht. Die Beschreibungen von Gerüchen, Speisen, Kleiderstoffen, exotischen Tieren und Musik tragen dazu bei, Zugang zur britischen Kolonie Burma und dem zunehmend isolierten Protagonisten in seinen Polizeijahren zu finden. Über seine geheimen Sehnsüchte sprach Blair mit überhaupt niemandem: die nach einer Frau, einem Hund, einer Versetzung.Als die Nacht hereinbrach, stand die Luft. Die Wasseroberfläche des Flusses war spiegelglatt, kein Blatt und kein Grashalm bewegte sich, während die Wildenten zu ihren Nestern glitten, die Krähen mit heiserem Krächzen in ihre Reviere zurückkehrten und Flughunde aus dem oberen Geäst der Bäume in die Dunkelheit flogen, um nach Früchten zu suchen. Er war fasziniert von der Gesellschaft der Tiere, den Entenschwärmen und dem Himmel voller Flughunde. Quelle: Paul Theroux – Burma Sahib Ein unsympathischer Protagonist Eric Blair ist nicht unbedingt eine sympathische Hauptfigur. Der unbeholfene, verunsicherte Bücherwurm macht sich in der klassenbewussten britischen Kolonialgesellschaft mit seinen Kontakten zu Einheimischen bald unbeliebt. Andererseits ist Blair aber auch selbst nicht frei von rassistischen Vorurteilen. Seine eurasische Cousine verleugnet er und auf der Hochzeit eines Schulkameraden mit einer Einheimischen wird ihm klar: „Das könnte ich nie und nimmer.“ Der allwissende Erzähler erweckt im Roman den Eindruck, als kenne er jede Gefühlsregung des jungen Mannes bis ins Detail. Da der Roman aus der Er-Perspektive erzählt wird, sehen wir das koloniale Burma mit den Augen des verunsicherten Protagonisten, der hier keine Zukunft für sich sieht. Der Erzähler weiß im Gegensatz zur Hauptfigur aber, wo der Berufsweg des eifrigen Lesers und zukünftigen Schriftstellers hinführen wird und gibt vorausschauende Hinweise. Als Leserin blickt man deshalb mit gewisser Distanz auf die Hauptfigur und ihre quälenden Selbstzweifel. Zwischen Pflicht und Zweifel Der Erzähler lässt uns teilhaben an den inneren Widersprüchen des Protagonisten. So wird Blair etwa angewiesen, Hassprediger zu überführen, die gegen den „weißen Affenkönig von England“ hetzen und damit die brutale Kolonialherrschaft angreifen. Blair selbst ist als Polizist natürlich Teil des Systems, zieht es aber zunehmend in Zweifel. Tatsächlich steht Britisch-Burma in den 1920er Jahren nach lokalen Aufständen zunehmend auf tönernen Füßen. Man kann es also symbolisch lesen, dass der hochgewachsene weiße Blair bei Ermittlungen in einem buddhistischen Kloster ins Stolpern gerät. Der Sturz hatte ihn schockiert und bei ihm ein Gefühl hinterlassen, als wäre er nicht gestürzt, sondern zu Boden geprügelt worden; und als er hilflos auf den Steinplatten lag, hatten sich kleine, wuselnde Männer auf ihn gestürzt, an ihm gezerrt und gerissen und ihn mit ihren nackten Zehen getreten – die Tritte waren nicht schmerzhaft gewesen, aber hässlich und beleidigend. Als er da vor ihnen auf dem Boden lag, hatte er sich einen Dah in der Hand gewünscht, mit dem er nach ihren dünnen Armen stechen und ihnen die Gesichter aufschlitzen könnte. Noch nie hatte er solche Mordlust empfunden. Quelle: Paul Theroux – Burma Sahib Eric Blairs Dopellleben Paul Theroux entfaltet diese Chronologie eines persönlichen Versagens mit bestechender Präzision. Ein zustimmender Halbsatz zu einem rassistischen Vortrag des Vorgesetzten, Wut auf die Einheimischen, die den uniformierten Briten ihre Verachtung spüren lassen und intime Verhältnisse mit wechselnden burmesischen Hausmädchen, die nach dem nächsten Umzug einfach zurückgelassen werden. All das summiert sich zu Eric Blairs beschämendem Doppelleben, das ihm selbst unerträglich wird. Erleichterung findet er nur noch beim Schreiben.  Neben den biografischen Fakten dichtet Paul Theroux dem jungen Eric Blair ein abenteuerliches Liebesleben mit einer freigeistigen britischen Kaufmannsgattin, devoten burmesischen Dienstmädchen und Bordellbesuchen an. Diese erotischen Altmännerfantasien mag man einem inzwischen 84-jährigen Autor nachsehen, dem mit diesem Alterswerk doch eine Menge gelungen ist: glaubwürdige, lebendige Dialoge, eine spannende Handlung, die über 600 Seiten trägt, und die Beschwörung einer verschwundenen Welt, die aus einem orientierungslosen Polizisten im britischen Kolonialdienst den weltbekannten Schriftsteller George Orwell machte.
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Jun 22, 2025 • 23min

„Geisterdämmerung“ – Wenn in Taiwan die Untoten umherstreichen | Gespräch

„Geisterdämmerung“ – so heißt der neue Roman von Kevin Chen. Darin kommen nicht nur die Lebenden zu Wort, sondern auch die bereits Verstorbenen. Der Roman spielt im so genannten „Geistermonat“, der in Taiwan alljährlich im siebten Monat nach dem chinesischen Mondkalender zelebriert wird, also ungefähr im August. Im Zentrum steht die Familie Chen mit ihren fünf Töchtern und zwei Söhnen. Der jüngste Sohn heißt Tianhong. Er ist die Hauptfigur in diesem Roman. Autofiktionale Elemente im Roman Ja, sein Roman habe autofiktionale Elemente, erzählt Kevin Chen im „lesenswert Magazin“. Wie Tianhong kommt auch der Autor aus dem Städtchen Yongjing, und wie Tianhong ging er zunächst zum Studium in die Hauptstadt Taipeh und schließlich nach Deutschland. Auch die Namen Chen Shih-Hung (Kevin Chens Geburtsname) und Chen Tianhong (sein Protagonist) haben eine gewisse Ähnlichkeit. Trotzdem gibt es deutliche Unterschiede zwischen Autor und Figur. „Ich liebe Berlin. Und Berlin liebt mich auch!“ Seit 2004 lebt Kevin Chen in Berlin. Hier fühlt er sich wohl. „Berlin ist jetzt mein Zuhause“, sagt Chen, „es ist meine Wahlheimat, und ich bin glücklich hier. In Berlin habe ich so viele Bücher geschrieben. Ich liebe Berlin immer noch, und ich glaube, Berlin liebt mich auch. Wir haben eine gute Beziehung!“ Berlin spielt auch in seinen Büchern gelegentlich eine Rolle. Zumeist aber spielen sie in Taiwan. Auch wenn Kevin Chen seinen Heimatort einst schnellstmöglich verlassen wollte – „ich wollte schreiben, ich wollte Künstler werden, meine Eltern fanden mich schräg!“ –, reist er gerne zu Besuch nach Yongjing. Kriegsrecht und Instant-Nudeln Mit „Geisterdämmerung“ gewann Kevin Chen 2020 den renommierten „Taiwan Literature Award“. Sein Roman wurde bereits in zehn Sprachen übersetzt. Im Gespräch mit Katharina Borchardt erzählt der 49-Jährige von Geistern, Literatur und Politik. Und von einem Nudel-Imperium in Yongjing, das sich in seinem Roman aber auf Kekse spezialisiert hat.
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Jun 18, 2025 • 4min

Hartmut Lange – Der etwa vierzigjährige Mann

Ein Mann steht an der Elbe, umgeben von Wasser. So wie das Uferlinie des Flusses nicht klar zu erkennen ist und sich im überfluteten Sumpfgebiet verliert, verschwimmen bald die Zeiten. Der Mann streift Mantel und Hose ab, zieht eine Tunika an und reist alsbald mit einem vierrädrigen Reisewagen, einer Carruca, fort. Diese bringt ihn nicht nur nach Italien, sondern auch zwei Jahrtausende in die Vergangenheit: Der Mann kommt im antiken Rom an. Dort bewundert er erst die Architektur des Kolosseums, um dann vor dem blutigen Gemetzel der Gladiatorenkämpfe zu fliehen. Der Gegensatz zwischen der Schönheit der Kunst einerseits und der Erfahrung von Gewalt andererseits setzt sich auf der weiteren Reise fort: Der Mann fährt mit seinem Wagen erst ins Florenz der Renaissance-Zeit und schließlich nach Frankreich.  Sinnkrisen als bestimmendes Thema  Dort bestaunt er das Schloss von Versailles, wird aber wenige Jahre nach der Französischen Revolution auch Zeuge der jakobinischen Schreckensherrschaft. Als er schließlich am Grab von Georg Büchner in Zürich steht, ertönt eine Stimme:  Leben und Sterben sind unabänderlich, hörte er plötzlich, und niemand hat das Recht, seine Absichten, und seien sie noch so gut gemeint, mit Feuer und Schwert durchzusetzen. Das erbarmungslose, willkürliche Abschlachten mit einem Fallbeil war noch brutaler als die Unterdrückung durch die französischen Könige. Dafür hat sich die Revolution nicht gelohnt, und so hatte ich allen Grund, mich von der Politik zu verabschieden. Ich habe versucht, mich der Wissenschaft zu widmen, aber ich habe auch, wie sie wissen, Leonce und Lena geschrieben: Mein Leben gähnt mich an wie an wie ein großer, weißer Bogen Papier, den ich vollschreiben soll, aber ich bringe keinen Buchstaben heraus. Quelle: Hartmut Lange – Der etwa vierzigjährige Mann Hartmut Langes Novelle stellt grundsätzliche Fragen: Wie lässt sich das Leben aushalten angesichts von Ödnis, Schrecken und Gewalt? Und welchen Wert hat die Kunst bei all dieser Tristesse? Der Ton der Novellen ist gewohnt leicht, fast beiläufig. Dass deren Protagonisten jeweils um die vierzig sind, mag kein Zufall sein. Denn Hartmut Lange, der zunächst als Dramatiker und Dramaturg in Erscheinung trat, erlebte in diesem Alter selbst eine schwere Sinnkrise, nachdem einige seiner Theaterstücke verrissen worden waren. Fortan schrieb er Novellen, die nicht selten von krisenhaften Momenten handeln und die Berührungspunkte von Wahrheit und Fiktion beschreiben.  Meisterhafte Novellen - und ein Drama nach Schnitzler  Das gilt im neuen Band auch für das kurze Drama „Die Unberührbare“. Es erzählt von einer Frau, deren Mann bei einem Duell stirbt, bei dem er die Ehre seiner Frau verteidigen wollte. Die Witwe schiebt den Tod ihres Gatten ebenso beiseite wie den vermeintlichen Verlust ihres guten Rufs. Den Mann, der ihr den Totenschein ihres Mannes aushändigen will, herrscht sie an:  Mein Freund, sie haben ein Begriff von Ehre, der niederträchtig ist. Und waren wir uns nicht einig, dass das Leben schäbig ist? Also: Ich habe noch keinen Mann umarmt, den ich nicht verachtet hätte. Ich bin absolut unberührbar, dies ist meine Ehre. Und falls Sie es wagen sollten, diese Ehre anzutasten, dann wagen Sie es jetzt. Aber ich prophezeie Ihnen, Sie werden auch diesmal wieder als Verleumder dastehen. Quelle: Hartmut Lange – Der etwa vierzigjährige Mann Ganz in der Tradition von Arthur Schnitzler erzählt das Drama vom Ringen mit gesellschaftlichen Konventionen. Die literarischen Konventionen wiederum – das stellt der Band eindrucksvoll unter Beweis – beherrscht Hartmut Lange meisterhaft. Das trifft auch auf die zweite Novelle des Buchs zu, in der ein Geschäftsmann Rat sucht, weil auch er mit der Trostlosigkeit des Lebens hadert. Alle drei Geschichten handeln von schweren Krisen, verlieren sich aber nicht in Kummer und Verzweiflung. Das liegt auch daran, dass die Literatur und andere schöne Künste bereitstehen, um existenzielle Fragen zu verhandeln. Und diese greift seit Jahren niemand so präzise und elegant auf wie Hartmut Lange.
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Jun 17, 2025 • 4min

Konrad Paul Liessmann – Der Plattenspieler

Es ist geradezu eine Offenbarung: Thomas Manns hypochondrischer Held Hans Castorp verbringt schon ein paar Jahre auf dem „Zauberberg“, da wird den Gästen des Sanatoriums ein neuer Apparat zur Unterhaltung präsentiert. Dabei handelt es sich um ein modernes Tischgrammophon, ja, mehr sogar, wie Hofrat Behrens ausführt –  … das ist ein Instrument, das ist eine Stradivarius, eine Guarneri, da herrschen Resonanz- und Schwingungsverhältnisse vom ausgepichtesten Raffinemang! Quelle: Konrad Paul Liessmann – Der Plattenspieler Hans Castorp ist fasziniert von diesem Wunderwerk der Technik, und er wird zum DJ, hört sich durch die Schellack-Bibliothek des Hauses, ist der Hüter eines Plattenschatzes. Bald beherrscht er das „Instrument“ mit…  …geübten, knappen und zarten Bewegungen. Quelle: Konrad Paul Liessmann – Der Plattenspieler Instrument, das alle anderen Instrumente in sich birgt  Diese weltliterarische Episode steht an zentraler Stelle im jüngsten Essay des Wiener Philosophen Konrad Paul Liessmann. „Der Plattenspieler“ ist das schmale Liebhaberwerk überschrieben, und es greift eine wesentliche Erkenntnis aus Thomas Manns „Zauberberg“ auf: Der Plattenspieler ist nicht einfach nur ein technisches Gerät, sondern ein Instrument, das alle anderen Instrumente in sich birgt.  Konrad Paul Liessmann ist ein leidenschaftlicher Musikhörer und Plattensammler. Das erste Gerät brachte der Vater mit nach Hause – es musste aufwändig an das Röhrenradio angeschlossen werden, das Abspielen von Musik wurde regelrecht zelebriert. Die Faszinationskraft hat sich bis heute gehalten. Liessmann lässt uns daran teilhaben und zeichnet nebenbei die Entwicklungsgeschichte des Plattenspielers nach – vom „Phonautographen“ des Erfinders Édouard-Léon Scott de Martinville über Thomas Alva Edisons „Phonographen“ und Emil Berliners „Grammophon“ bis zum High-End-Gerät unserer Gegenwart. Und er stellt ausgewählte theoretische Überlegungen vor, die diese Entstehungsschritte begleitet haben. So stand Theodor W. Adorno dem Grammophon zunächst skeptisch gegenüber, sah es als Symptom einer allgemeineren Tendenz zur „Verdinglichung“ – schließlich musste niemand mehr ein Instrument beherrschen, um sich Musik ins Haus zu holen. Mit Entstehung der LP – also der Möglichkeit, längere Stücke auf Platte zu bannen – wurde auch Adorno gnädiger. Und es eröffneten sich neue technische und inhaltliche Dimensionen.  Für einige Jahrzehnte konnte es so scheinen, als verdichteten sich in der Schallplattentechnologie die sinnlichen Ambitionen und ästhetischen Möglichkeiten unserer Kultur. Quelle: Konrad Paul Liessmann – Der Plattenspieler Wahrnehmung von Musik verändert  Die Schallplatte hat unsere Wahrnehmung von Musik verändert, die Möglichkeit wiederholten Hörens in das Wechselspiel von Erinnerung und Erwartung eingegriffen, schreibt Liessmann. Bei dem Philosophen Günther Anders hat er eine Beobachtung gefunden, die dieses neue Verhältnis klarsichtig beschreibt:  Dass das Publikum immer wieder dasselbe zu hören verlangt, ist nicht, wie es Usus ist, allein dadurch erklärt, dass man Vertrautes liebt, sondern auch dadurch, dass man, Vertrautes hörend, die Chance genießt, vorauszusehen. Die Reproduktionstechnik verwandelt uns in, freilich sehr trivialisierte, Propheten. Quelle: Konrad Paul Liessmann – Der Plattenspieler Die jüngste Vinyl-Renaissance könnte man als Nostalgie abtun. Aber die Abwendung vom Digitalen hin zum Analogen, das eine andere Aufmerksamkeit und Kontemplation erfordert und tiefere ästhetische Erfahrungen ermöglicht, ist vielleicht auch eine Art Widerstand gegen das Flüchtige.   Dinglichkeit als greifbarer Erinnerungsschatz  Wer digitalisierte Musik hört, rechne; wer eine Schallplatte auflegt, philosophiere, so Liessmann. Und tatsächlich besteht darin wohl heute der Reiz der Schallplatte: Sie lässt sich nicht nebenbei hören; man muss sich darauf einlassen und Geduld mitbringen, behutsam mit ihr umgehen, sie auflegen, umdrehen, hegen und pflegen. Der Plattenspieler selbst braucht ebenfalls ein gewisses Maß an Zuwendung und Detailliebe – er muss richtig positioniert, der Tonarm eingestellt, die Nadel sorgsam behandelt werden, und für einen guten Klang braucht es einen angemessenen Verstärker.   Benutzen wir einen Plattenspieler, sind wir für den guten Ton zumindest zu einem Teil selbst verantwortlich. Quelle: Konrad Paul Liessmann – Der Plattenspieler Nichts ist so leicht verfügbar wie gestreamte Musik. Nichts aber wirkt in seiner sofortigen Verfügbarkeit und Immaterialität auch so beliebig und banal. Die Schallplatte bewahrt Spuren und Bilder. Ihre Dinglichkeit wird in einer virtuellen Welt zu einem greifbaren Erinnerungsschatz.
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Jun 16, 2025 • 4min

Herta Lueger, Patricia Lueger – Bardame gesucht. Zimmer vorhanden

Anfang der Neunzigerjahre stand Herta Lueger in München vor Gericht, wegen Zuhälterei. Damals war Sexarbeit in Deutschland noch verboten, offiziell war Bayerns Landeshauptstadt ein einziger Sperrbezirk. Doch die Münchner Sexclub-Betreiberin und Stardomina hatte Glück. Unter der Auflage, aus dem Geschäft auszusteigen, kam sie mit 15 Monaten Bewährung davon. Und hatte so die Gelegenheit, sich noch einmal neu zu erfinden: mit einem Friseursalon für Münchens High Society und als Visagistin von Stars wie Hildegard Knef. Dass sie zuvor 20 Jahre lang führend in der Szene gewesen war, war dem Richter offenbar nicht bekannt gewesen – er hätte es der damaligen Mittvierzigerin wohl auch nicht zugetraut. Schließlich rätselte er noch bei der Urteilsverkündung, wie eine wie sie denn nur ins Milieu gekommen sei. Es müsse ihr doch schwergefallen sein?  Das gängige Vorurteil besagt, dass die meisten Frauen in diesem Geschäft schwache Menschen sein müssen. Doch ich habe mich nie als Opfer empfunden. Ich dachte eher, wenn die anderen das können, kann ich es auch. Quelle: Herta Lueger, Patricia Lueger – Bardame gesucht. Zimmer vorhanden Besonderer Fall weiblicher Selbstermächtigung  „Bardame gesucht, Zimmer vorhanden“: Unter diesem Titel hat Herta Lueger nun ihre Autobiografie vorgelegt. Geschrieben hat sie sie mithilfe ihrer Tochter, der Schauspielerin Patricia Lueger. Erschienen ist das 250-Seiten-Werk im renommierten Verlag Matthes und Seitz, und das durchaus zurecht: Schließlich geht es hier um einen faszinierenden Einblick in ein Stück deutscher Sitten- und Milieugeschichte. Und zugleich um einen besonderen Fall weiblicher Selbstermächtigung.   Erstaunlich ist Herta Luegers Lebensweg auch mit Blick auf ihre Herkunft: Geboren 1947 im österreichischen Burgenland, sei für sie als Frau ein ganz anderes Leben vorgesehen gewesen, erinnert sich die heute 78-Jährige: Schuften auf dem Rübenacker, früh heiraten und Kinder kriegen. So kam es denn zunächst auch, nur dass sie anstelle des Ackers den Friseursalon wählte. Doch nach ihrer Scheidung von ihrem ersten Mann, einem Alkoholiker, versuchte sie 1972 ihr Glück in München, wo sie aus Zufall einen Job als Bardame fand. Um als damals noch naive junge Frau vom Land aus dem Staunen nicht mehr herauszukommen. Das Geschäft als Domina lernte Herta Lueger über eine Freundin kennen und fand rasch Gefallen daran: nicht nur, weil hier Berühren verboten war. Sondern auch, weil sie mit ihrer Peitsche ein Ventil für ihren Frust über die patriarchalen Verhältnisse fand.   Im richtigen Leben empfand ich mich als liebevolle Ehefrau und Mutter, im Studio war ich wie ausgewechselt. Aus meiner Zeit im Burgenland hatte ich noch eine Menge Wut auf manche Männer, und die ließ ich im Studio raus. Quelle: Herta Lueger, Patricia Lueger – Bardame gesucht. Zimmer vorhanden Augenarzt spielte Zofe  Zu ihren Gästen zählten Banker, Landwirte, Anwälte und erstaunlich viele Ärzte. Wie jener Augenarzt, der sich immer als Zofe verkleiden wollte. In ihrem eigenen Club herrschte, wie überall im Milieu, die Kunst der Illusion: Freiern wurde Sex vorgegaukelt, der real gar nicht stattfand; eine „heiße Spanierin“ stammte in Wahrheit aus Niederbayern, und auch im SM-Studio musste die Inszenierung perfekt sein. Und zwar bis zuletzt. Einmal habe sie einem älteren Gast beim Abschied in den Mantel geholfen: ein fataler Fehltritt einer „Herrin“ gegenüber ihrem „Sklaven“, so Lueger.  Ihre Autobiografie ist eingängig geschrieben, unterhaltsam zu lesen und randvoll mit komischen Anekdoten. Doch bleibt einem das Lachen mehr als einmal im Halse stecken. Denn auch wenn man über die Schattenseiten des Milieus gern noch mehr erfahren hätte, verschwiegen werden sie nicht, im Gegenteil: Gleich das erste Kapitel erinnert an eine junge Prostituierte, die ermordet wurde. Sie selbst sei immer „wie auf Wolken über allen Gefahren geschwebt“, erinnert sich Herta Lueger. Wie viel Glück sie zeitlebens hatte, ist der heute 78-Jährigen also wohl bewusst.
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Jun 15, 2025 • 7min

Barbara Kingsolver – Die Unbehausten

Ein marodes Haus – eine zerbrechende Welt Unter jedem Dach ein Ach. Ja, im Haus der Familie von Willa Knox stapeln sich die Sorgen. Sie hat ihren Job als Journalistin verloren, ihr Mann Ianos hangelt sich als Dozent von Uni zu Uni, Opa Nick ist todkrank und ohne Krankenversicherung, Tochter Tig steht mit einem gebrochenen Herzen wieder vor der Tür und Sohn Zeke ist völlig verzweifelt. Seine Frau hat sich gerade, kurz nach der Geburt ihres gemeinsamen Kindes, das Leben genommen. – Ein schlecht bezahlter Brötchenverdiener und fünf, die von ihm abhängig sind, und das auch noch in einem maroden Haus, das über ihnen einzustürzen droht. Wie konnte es sein, dass zwei hart arbeitende Menschen, die im Leben alles richtig gemacht hatten, in ihren Fünfzigern praktisch mittellos dastanden? […] ‚Wir haben verloren, wofür wir gearbeitet haben, und ich fühle mich betrogen. Manchmal bin ich so wütend, dass ich aus der Haut fahren könnte. Ist es nicht einfach menschlich, immer etwas zu wollen?’ Quelle: Barbara Kingsolver – Die Unbehausten 150 Jahre zuvor, 1874, stürzt im gleichen Haus der Naturkundelehrer Thatcher Greenwood ins Bodenlose. Hier in Vineland, New Jersey, gerät er mit dem Gründer des Örtchens, Charles Landis, aneinander, einer christlichen Freidenker-Kolonie, weil er der neuen Evolutionstheorie von Charles Darwin anhängt. Thatcher soll zum Schweigen gebracht werden. Zwei Zeiten, ein Schicksal – und ein literarisches Wagnis Zwei Zeitebenen: Ein Mensch sagt die Wahrheit und wird dafür geschmäht, auf der einen Seite und zwei Menschen, die ihr Leben lang arbeiten und trotzdem in eine existenzielle Krise geraten auf der anderen. Eine Frage: Was passiert, wenn sich alle Gewissheiten auflösen, alles, woran man immer geglaubt hat, auf einmal anders ist? Davon erzählt Barbara Kingsolver in ihrem Roman „Die Unbehausten“. Kingsolver erzählt: „Ich habe mich für den Paradigmenwechsel interessiert, wenn die alten Regeln, mit denen wir unsere Lebensprobleme gelöst haben, ausgehebelt werden. Wenn sich die Welt so drastisch zu verändern scheint, dass die Menschen ihre gesamte Denkweise ändern müssen, um die Probleme zu begreifen.“ Und um begreifbar zu machen, dass die Welt immer wieder in existenzielle Umbrüche gerät, verwebt Kingsolver die zwei Zeitebenen miteinander. Die Verbindung ist das baufällige Haus, in dem ihre Protagonisten leben. Ein Scharnier und eindrückliche Metapher für eine Welt, die über ihren Köpfen zusammenzubrechen droht. Mit dieser Konstruktion geht Kingsolver ein erzählerisches Risiko ein, immerhin liegen die Ebenen 150 Jahre auseinander. Doch sie beweist sich als geniale literarische Architektin. Der letzte Satz eines Kapitels ist die Überschrift des nächsten. Es entsteht eine Spiegelung, die einen Reflexionsraum eröffnet: Unser Körper, das soziale Gefüge, die Erde selbst, im Grunde wie wir die Welt wahrnehmen, verändert sich ständig. „Ich denke, dass sich die Menschen unter bestimmten Umständen immer auf bestimmte Weise verhalten, egal wo wir uns in der Geschichte befinden,“ meint die Autorin. „Und da ich als Biologin ausgebildet wurde, schien es mir angemessen, auf Darwin zurückzukommen. Wir können uns heute nur schwer vorstellen, wie verwirrend es für Menschen gewesen sein muss, die immer geglaubt haben, dass Gott die Welt so geschaffen hat, wie sie ist und dass er den Menschen an die Spitze der Schöpfung gestellt hat, dass wir der Boss sind.“ Evolution, Erschütterung und Erkenntnis Darwin hat die Welt mit seiner Evolutionstheorie auf den Kopf gestellt. Heute ist diese Erkenntnis selbstverständlich. Seit Anbeginn der Geschichte hatte sich wohl jeder Mensch ans Kopfende der Tafel gesetzt. Wenn nun die Tafel umgeworfen wurde, wenn Geschirr und Besteck klirrend zu Boden fielen und der Mensch seinen Platz verlor, war das, als würde der Himmel einstürzen. Thatcher hatte Darwin und seine Lehre noch nie in diesem bedrohlichen Licht betrachtet. […] ‚Lehren Sie sie, die Beweise selbst zu sehen und sich nicht davor zu fürchten. Im hellen Licht des Tages zu stehen, wie Sie mal gesagt haben. Unbehaust.’ Quelle: Barbara Kingsolver – Die Unbehausten Heute muss der Mensch durch den Klimawandel und die Einsicht, dass die Ressourcen der Erde endlich sind, die Welt anders begreifen lernen. Was bedeutet: massive Einschränkungen im Konsumverhalten und folglich Raum für Demagogen, die einem versprechen, die alte Ordnung wiederherzustellen. So lässt Kingsolver auf der Gegenwartsebene einen Präsidentschaftskandidaten auftreten, der Donald Trump zum Verwechseln ähnlich sieht. „Die Unbehausten“ ist eine Reaktion auf Trumps erste Wahl. Nun, nach der Corona-Pandemie, nachdem Russland seinen Angriffskrieg gestartet und Trump seine zweite Amtszeit angetreten hat, ist das Buch immer noch hochaktuell. Hat Barbara Kingsolver nicht das Gefühl: Es wird alles immer schlimmer? „Ich glaube, dass es erst schlimmer werden muss, bevor es besser wird, das denke ich immer wieder über mein Land. Denn wenn die Menschen in Bedrängnis sind, und das thematisiert der Roman, wollen sie sich nicht wirklich verändern, sie machen sich keine Gedanken über die Zukunft. Dabei ist es doch so, dass die Menschen, gerade wenn sie in einer Krise stecken, wenn sie ihren Schutz verlieren, im wahrsten Sinne des Wortes oder psychologisch, dass sie dann lernen, kreativer zu denken und beginnen Gemeinschaften zu bilden.“ Unbehaust - unsheltered – ohne Schutz: so fühlen sich die Figuren dieses Romans. Und jede findet einen Weg mit der Unsicherheit umzugehen. Das macht dieses Buch auch so spannend zu lesen. Für den Lehrer Thatcher bedeutet unbehaust zu sein auch Aufbruch, in dem er es wagt, Darwins Theorien zu folgen. Ursprünglich sollte Darwin auch als Figur vorkommen, erzählt Kingsolver. Doch weil der Roman nur in Amerika spielen sollte, sucht sie nach einer anderen Figur – und findet Darwins reale Kollegin Mary Treat, die mit ihm korrespondierte. Im Buch Thatchers Nachbarin. Sie forscht in ihrem Haus an Spinnen und Venusfliegenfallen. Thatcher ist fasziniert. „Sie war eine goldene Entdeckung. Ich war so glücklich," erzählt Kingsolver. „Ich stieß auf ein Dokument, in dem sie erwähnt wird und fand dieses Archiv mit all ihren Unterlagen in einem kleinen historischen Museum in Vineland, New Jersey. Als ich dort anrief, sagte die Kuratorin: Ich habe auf Ihren Anruf gewartet.“ Hoffnung in Zeiten der Unsicherheit Auf der Gegenwartsebene gräbt Familienoberhaupt Willa Thatchers Geschichte aus, der in ihrem maroden Haus gelebt haben soll. Vielleicht wäre es zu retten, wenn es als historisch bedeutsames Nationaldenkmal eingestuft werden könnte? Und so stoßen die Geschichten im Laufe aneinander. Barbara Kingsolver verhandelt in ihrem großen, abwechslungsreichen und durch viele Dialoge ungemein lebendigen Roman die universalen Fragen im menschlichen Zusammenleben. Daran erinnert sie an den sozialkritischen Literaturnobelpreisträger John Steinbeck. Und auch wenn sie keine Antworten liefert und ihre Protagonisten kämpfen müssen, steckt in „Die Unbehausten“ ein hoffnungsvoller, teilweise sogar humorvoller Ton. Das macht dieses Buch zu einer der erhellendsten und unterhaltsamsten Lektüren dieser Saison.
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Jun 15, 2025 • 7min

Linn Ullmann – Mädchen, 1983

Januar 1983, das Mädchen ist sechzehn. Eigentlich ist es auf dem Sprung zur jungen Frau, hat schon einiges erlebt, Alkohol, Lügen, Sex, Sich-Ausprobieren. Sie lebt in New York mit ihrer Mutter, einer berühmten norwegischen Schauspielerin. Ein angesagter Modefotograf, genannt A, hat sie nach Paris eingeladen, will sie für die „Vogue“ fotografieren. Ich bin sechzehn Jahre alt und lege meine verschränkten Arme auf den hohen Tisch vor mir, lasse die Wange auf einem Arm ruhen und schaue in die Kamera. Auf dem Foto, das es nicht mehr gibt und an das sich außer mir wohl niemand erinnert, sieht man ein wenig von meinen nackten Schultern. Ich glaube, der Sinn des Fotos ist, Nacktheit anzudeuten, und dass alles, was eine junge Frau tragen muss, wenn sie in die Welt hinauswill, ein Paar lange Ohrringe ist. Quelle: Linn Ullmann – Mädchen, 1983 Die Mutter des Mädchens hat das anders gesehen. Gegen deren Willen ist die Sechzehnjährige nach Paris gereist. Prompt erlebt sie einen verstörenden ersten Abend in den Kreisen der eifrig koksenden Mode-Boheme, und prompt steht sie mitten in der Nacht in blauem Wollmantel, roter Mütze und geliehenem kurzen Kleidchen frierend auf der Straße, weiß ihr Hotel nicht mehr, landet schließlich bei A. Und in seinem Bett. A ist vierundvierzig. Alles andere als eine einfache Geschichte Eine simple Story? Nicht bei Linn Ullmann. In allen Romanen der norwegischen Autorin spielen Verschweigen, Vergessen und Erinnerung eine zentrale Rolle, die Dynamiken, denen sie unterworfen sind und die von ihnen ausgelöst werden. So ist es auch in ihrem neuen Buch, „Mädchen, 1983“, ihrem zweiten offen autofiktionalen Roman nach dem Vorgänger „Die Unruhigen“. Ullmann geht es dieses Mal nicht um den Vater, den epochalen Filmemacher Ingmar Bergman, und sein Abgleiten ins Vergessen, sondern um die eigenen weißen Flecken. Um das eigene Sich-nicht-mehr-Erinnern. Das macht die Sache offenkundig schwer. „Wann immer ich begonnen habe, an einem neuen Buch zu arbeiten, habe ich jedes Mal gedacht, dass es von der Fotografie handeln soll, die A im Januar 1983 von mir machte, ich habe über die Zeit schreiben wollen, bevor sie gemacht wurde, die Tage in Paris, und die Zeit danach, aber dann schrieb ich mich stattdessen in andere Geschichten hinein. Mir wird schlecht davon, an die Geschichte des Bildes zu denken, es ist eine Scheißgeschichte, die ich eintausend und einmal aus eintausend und eins Gründen verworfen habe.“ Quelle: Linn Ullmann – Mädchen, 1983 Ullmann beginnt das Buch denn auch über einen Umweg, der vielleicht gar keiner ist: mit einer unsichtbaren „Schattenschwester“, einer Fantasie, die sie als Kind begleitete, die für viele Jahre verschwand und irgendwann plötzlich wieder aufgetaucht ist. Es läge nahe, dieses ungreifbare Wesen als Ausdruck eines traumatischen Übergriffs zu deuten und die schwere Depression der längst erwachsenen Erzählerin als Folge dieses Traumas. Aber das wäre zu kurz gegriffen. Schmierige Typen, blutjunge Models Obwohl Linn Ullmann ganz nüchtern Szenen schildert, in denen schmierige Typen blutjunge Models begutachten und begrabschen, vermeidet sie es, die Thematik auf einfache Begriffe wie ‚Hashtag MeToo‘ zu bringen. Vielmehr versucht sie, dem Mädchen, das sie war, auf die Spur zu kommen: dessen Erfahrung, plötzlich anders angeschaut zu werden, dessen Wunsch, begehrenswert zu erscheinen, dessen Blick auf den im Schlaf erschlafften Körper des älteren Mannes – einen Blick der Selbstermächtigung. Dieser Ambivalenz entsprechend, nähert sich die Erzählerin den Geschehnissen des Winters 1983 auf Umwegen: über Spaziergänge mit der eigenen Tochter im Osloer Torshovpark, Telefonate mit der unterdessen hochbetagten Mutter in Massachusetts, Fotofunde in deren Sommerhaus am Meer, über die von Corona-Einsamkeit und Maskentragen geprägte Gegenwart des im Original 2021 erschienenen Buchs. Über die leitmotivischen Farben blau, rot und weiß, nach denen seine drei Teile benannt sind. Und über die Auseinandersetzung mit dem eigenen Schreiben, die Paradoxie des Erzählens von etwas, das vergessen ist. Jemand sagt, es sei Unsinn, mein voriges Buch einen Roman zu nennen, wenn er auf wirklichen Ereignissen basiere. Ich weiß nicht. Als ich ihn schrieb, beschäftigte mich am meisten, in welcher Reihenfolge ich die Ereignisse anordnen sollte, sowohl diejenigen, an die ich mich erinnerte, als auch jene, die ich vergessen hatte und mir deshalb vorstellen musste. Es ist die Reihenfolge, die mich auch jetzt beschäftigt. Quelle: Linn Ullmann – Mädchen, 1983  „Mädchen, 1983“ erzählt die wesentlichen Augenblicke von damals in immer neuen Variationen der Blickrichtung, der Einzelheiten, der Dialogfetzen. Sie machen die Atmosphäre jener irren Jahre der Modeindustrie ebenso spürbar wie das Verhältnis zur Mutter, eine Verdrängungsvirtuosin auch sie. Linn Ullmann spielt dabei buchstäblich mit ihrem Leben – im literarischen Sinn. Im roten Jeep etwa, mit dem im Vorgängerbuch der Vater über seine Färöer-Insel zu brausen pflegte, wird das Mädchen nun vom Kurzzeit-Liebhaber A durch Paris kutschiert. Die angeblich verlorengegangene Fotografie des Mädchens mit den langen Ohrringen vom Januar 1983 wiederum existiert, sie zeigt tatsächlich die sechzehnjährige Linn Ullmann und schmückt sogar das Cover des Buchs. Aber aufgenommen hat dieses Porträt nicht jener ältere Mann, sondern eine Frau, die Fotografin Albane Navizet, in den Siebzigern selbst Model und Schauspielerin – was die Perspektive nochmals bricht. Eine Lektüreanstrengung, die Lust macht auf mehr Mit allen Mitteln löst Linn Ullmann das scheinbar so Eindeutige in vieldeutige Situationen und Beobachtungen auf, zieht Fäden und Flicken heraus, die die Leserin selbst verknüpfen und vernähen kann – und muss. Leicht ist das nicht zu haben. Wie es so ist mit der Wiederkehr des Verdrängten, mit Erinnerungen, die sich nur in Bruchstücken einstellen und niemals ein abgeschlossenes Ganzes ergeben. Nicht umsonst hat Ullmann nach eigenen Angaben 25 Jahre gebraucht, bis sie dieses Buch schreiben konnte. Aber die Leseanstrengung lohnt sich. Wie schon „Die Unruhigen“ macht „Mädchen, 1983“ Lust auf Fortsetzung, und tatsächlich hat Linn Ullmann angekündigt, einen dritten Roman über Vergessen und Sich-Erinnern schreiben zu wollen. Ob und wann sie es tun wird, steht auf einem anderen Blatt.
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Jun 15, 2025 • 5min

Friederike Oertel – Urlaub vom Patriarchat. Wie ich auszog, das Frausein zu verstehen

[…] ‚Ein Matri-, was soll das sein?“ hakt sie nach und sieht mich fragend an. ‚Ein Matriarchat‘, sage ich. Sie runzelt die Stirn und überlegt kurz. Dann zieht sie die Schultern hoch. ‚Tut mir leid, ich weiß nicht, was das sein soll‘. Quelle: Friederike Oertel – Urlaub vom Patriarchat Zwischen Mythos und Realität: Das vermeintliche Matriarchat von Juchitán Die Reaktion der jungen Verkäuferin aus Juchitán irritiert die deutsche Journalistin Friederike Oertel. Denn angeblich ist die 100.000-Einwohner-Stadt im Süden Mexikos eines der letzten Matriarchate. Genau deshalb ist Oertel hierhergekommen: Sie will wissen, wie ein Leben jenseits patriarchaler Strukturen aussehen kann und den Alltag in Juchitán erleben. Sie wohnt dort bei einer Gastfamilie und spricht mit Männern, Frauen und „Muxe“: Muxe, das sind Angehörige des dritten Geschlechts, seit jeher fester Bestandteil der indigenen Gesellschaft Juchitáns. Vor Diskriminierung sind Muxe trotzdem nicht geschützt, und auch sonst ist nicht alles rosig im Matriarchat: [Es] wäre zynisch zu behaupten, in Juchitán würden Frauen den öffentlichen Raum dominieren. Nachts allein unterwegs zu sein, kann für Frauen lebensgefährlich sein. Kommunale Institutionen wie das Rathaus werden von Männern beherrscht, und die ersten Wochen in Juchitán haben mir gezeigt: Haushalt ist Frauensache. Quelle: Friederike Oertel – Urlaub vom Patriarchat Juchitán ist also weder ein ‚queeres Paradies‘ noch eine ‚Femitopia‘. Aber: Tatsächlich gibt es mehr öffentliche Bereiche, die weiblich dominiert sind, als zum Beispiel in Deutschland. In Juchitán bestimmen Frauen den regionalen Handel und die Finanzgeschäfte. So hat Oertel auf dem Markt erstmals das Gefühl, am richtigen Ort für ihre Recherchen angekommen zu sein: Je näher wir dem Markt kommen, desto dichter werden Menschenmenge und Geräuschpegel. Frauen auf Lastenrädern fahren an uns vorbei in Richtung Zentrum, andere kehren mit Einkaufstaschen voller Eier, Avocados und Wurst zurück. […] Es sind fast nur Frauen unterwegs […] Das muss er sein, denke ich, der Ort, an dem die Frauen das Sagen haben. Quelle: Friederike Oertel – Urlaub vom Patriarchat Märkte, Feste und die Bühne der Frauen Ein wichtiger Faktor für die Wirtschaft in Juchitán sind auch die täglichen Feste. Organisiert werden sie von ausschließlich weiblich besetzten Komitees: Hier also gehört den Frauen die Bühne. Auf der Tanzfläche raffen Frauen und Muxe ihre Röcke und beginnen eine Art langsamen Walzer zu tanzen, aufrecht und mit ernster Miene drehen sie sich im Kreis und umeinander. Mit jeder Minute, die vergeht, wird der Rhythmus der Musik schneller. […] Quelle: Friederike Oertel – Urlaub vom Patriarchat ‘Das hier ist unser Auftritt‘, sagt die Frau. Ich streiche über den samtenen Stoff meiner enagua. […] In einem Rock kann man tanzen, Berge besteigen, rennen. […] Der Wickelrock macht jede Gewichtsschwankung mit, er will weder Körperform noch Körpermaße bestimmen. Ich finde, das passt zu diesem Ort, an dem Körperfülle ein Statussymbol ist, ein Zeichen von Wohlstand. […] [Die Philosophin] Stefanie Graul sieht in ‚der machtvollen Besetzung des realen Körperraumes‘ auch eine Form von Empowerment. Quelle: Friederike Oertel – Urlaub vom Patriarchat Geschickt verknüpft Oertel ihren Reisebericht mit theoretischen Hintergründen und allgemeinen Erkenntnissen zum Thema Frausein. Auch auf ihre eigene Biografie nimmt die Autorin Bezug. Seit ich denken kann, habe ich versucht, in der Öffentlichkeit möglichst wenig Raum einzunehmen. […] Ich habe meinen Körper geschrumpft, wie so viele Frauen, die ich kenne. Es waren die frühen Nullerjahre und ich ein Teenager auf der Suche nach mir selbst. Ich wollte schön sein und in dieser Welt bedeutete das vor allem: dünn sein. Quelle: Friederike Oertel – Urlaub vom Patriarchat Erstaunlich offen erzählt Friederike Oertel von ihrer überwundenen Essstörung, von kritischen Momenten in Partnerschaften und Familiendiskussionen. Doch es handelt sich nicht um ihre persönliche Vergangenheitsbewältigung: Die intimen Einblicke zeigen, wie sehr sich Geschlechterrollenbilder auf das Leben eines einzelnen Menschen auswirken können. Oertel verbindet ihren Praxisbericht mit historischen Rückblenden, ordnet wissenschaftliche Erkenntnisse kritisch ein und vergleicht auffallend wertfrei Kulturen aus aller Welt. So spannend die Einblicke in vergangene Epochen und fremde Kulturen sind, so überflüssig scheinen die Passagen zu den gesellschaftlichen Diskussionen in Deutschland, etwa über die ungleiche Verteilung von Care-Arbeit. Denn hier arbeitet sich die Autorin an altbekannten Statistiken und Argumenten ab. „Urlaub vom Patriarchat“ ist keine seichte Urlaubslektüre, sondern eine inspirierende Einladung, die eigenen Vorstellungen von Geschlecht, Macht und Zusammenleben zu überdenken. Friederike Oertel gelingt es, die Lesenden für die Vielschichtigkeit sozialer Ordnungen zu sensibilisieren. Sie widerlegt romantisierende Vorstellungen und zeigt, wie komplex die Realität jenseits einfacher Zuschreibungen ist.
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Jun 15, 2025 • 6min

Béla Rothenbühler – Polyphon Pervers

„Polyphon Pervers“: das ist ein bisschen irrwitzig. Als Projekt, von dem erzählt wird, sowie als Buch, in dem erzählt wird. Ich habe das direkt gemerkt, in den ersten Zeilen: Man könne easy sagen, das sei alles die Sabin gewesen. Wie die Sabin ja am Anfang noch der Kopf von Polyphon Pervers gewesen ist. Oder allgemein: Die Sabin ist genau son Mensch gewesen, von dem man gerne sagt, er wär der Kopf von irgendwas. Oder das Hirn hinter was. Also wenn man Fan von so markigen Metaphern ist. Quelle: Béla Rothenbühler – Polyphon Pervers Der Sound, sie merken es, bleibt im Ohr: Eine irre verschwafelte und halbgenaue Erzählerstimme, die nicht richtig festgelegt werden will, mit ihrer unendlichen indirekten Rede und ihrem leichten Dauerspott erinnert sie an das Maul in den Krimis von Wolf Haas oder an einen bekifften Thomas Bernhard. Die Handlung: Ein Schelmen- und Hochstaplerroman, wie ich ihn lange nicht gelesen habe. Am Anfang stehen eine Unitheatergruppe in Luzern, ein Kiffer, ein etwas uninspirierter Regisseur und eine ehrgeizige Managerin: Irgendwas müsse man ja machen, hat die Sabin gesagt. Irgendwas müsse man machen, sonst gehe man kaputt. Und wenn man schon was mache, dann könne mans auch gleich gut machen, oder, wenn möglich sogar mega gut. Wenn man schon was mache, dann könne man auch gleich nach den Sternen greifen, hat Sabin gemeint. Quelle: Béla Rothenbühler – Polyphon Pervers Kultur als Vorwand – und Geschäftsmodell Und ab da mischt die Truppe die bürgerliche Kulturszene der Schweiz auf. Polyphon Pervers. Verein für Unterhaltung – so nennen sie sich. Denn um Kultur geht es eigentlich gar nicht, Kunst und Kultur sind in diesem Buch längst erledigte Fälle, werden von jedem beliebig verwässert, als gäbe es nur noch Volkskultur, Trinkkultur und Fankultur. Das sei mega vage, da könne man nächtelang drüber streiten, was das überhaupt bedeute: Kunst. Und so Wörter, Wo die Philosoph:innen schon seit paar Tausend Jahren drüber streiten, was sie eigentlich bedeuten, die solle man am besten gar nicht in den Mund nehmen, hat die Sabin gesagt. Quelle: Béla Rothenbühler – Polyphon Pervers Vom Drogendealer zum Dramaturgen Es nimmt Fahrt auf, als Sabin den Stammdealer der Truppe scheinbar als Dramaturg anstellt, damit der endlich legal in die Rentenversicherung einzahlen kann – sein Drogengeld wird übers Theater gewaschen, wo eh keiner mitbekommt, wie viele Zuschauer kommen. Finden seine Kollegen auch super, also hat das Theater bald ziemlich viele Dramaturgen, die werden outgesourced und als Performancetruppe unter dem sprechenden Namen „Cash Washer“ durchs Land geschickt, wo sie dann bekifft vor Publikum Marvel Superhelden-Filme angucken. Wirklich, mehr passiert nicht, aber ein paar Zuschauer finden sie damit natürlich – das gilt dann als Kunstperformance und ist steuerrechtlich nicht nachzuvollziehen. Und als zweites ökonomisches Standbein stellt man Förderanträge. Kultursubventionen gibt es in der Schweiz wie in Deutschland natürlich für quasi jeden. Das ganze Buch dreht sich darum, wie man gut leben kann, indem man Kultur vortäuscht. Die Truppe kommt damit drei Jahre lang durch, wird sogar wohlhabend, bis die Coronakrise …. So, reicht, mehr an Handlung verrate ich jetzt nicht, obwohl es sehr viel mehr zu verraten gäbe, auch einen wirklich brillanten Showdown. Von der Hochstapelei zur echten Kunst Bela Rothenbühlers Roman „Polyphon pervers“ hat übrigens in seiner ursprünglichen Schweizerdeutschen Fassung 2025 den Schweizer Literaturpreis gewonnen. Könnte sein, dass der Roman so auch lustig ist, aber davon merkt in Deutschland halt keiner was. Deswegen hat es Uwe Dethier ins Hochdeutsche übersetzt oder übertragen. Die Mundart-Herkunft hat aber die Handlung geprägt – es ist ein Heimatroman geblieben, nur halt in einer ziemlich schrägen Szene.  Statt Almödis beschreibt Rothenbühler bauernschlaue Hanfbauern. Ihm ist damit was gelungen. In der Mundartliteratur haben es fiktionale Stoffe nicht ganz leicht, denn der Markt ist klein, und gilt als ein bisschen konservativ. Wer da sowas Nischiges schreibt, hat keine Chance auf große Auflagen. Manchmal aber gibt es da so einen Mut der Verzweiflung. Wenn’s eh keiner mitbekommt, kann man seine Spottlust und Experimentierfreude auch ungebremst ausleben und der Welt einen Spiegel vorhalten. Die Botschaft des Buches ist so böse, dass man sie schon wieder gut finden muss: Das, was wir unter Kultur verstehen, ist kaputt, ein System, ein Selbstbedienungsladen für die, die geschickt Anträge formulieren können. Steuerbetrug ist gang und gäbe. Gleichzeitig gibt es eine Dialektik: Die ziemlich skrupellose Ausnutzung des Systems produziert nun aber in diesem Buch und vielleicht auch im echten Leben echtes Theater, es kommen auch immer mehr Leute, die sich für die frechen und unbekümmerten Performances der Cash Washer interessieren. Es muss kein Geld verdient werden, sondern hier ist die Kunst endlich frei. Irgendwann gibt es im Buch eine Performance, die heißt „Raubkunst“, und die Cashwasher klauen ein Kunstwerk aus einem Museum und schicken es vor laufenden Kameras in den Benin. „Der Kunstraub ist großartig geworden“ heißt es banal. Spätestens da ist die Kultursimulation als Simulation gescheitert und zur richtigen Kunst geworden. Was soll ein Theaterstück anderes sein als die Simulation von Welt, als eine Scheinwelt, in der man herumspielen kann? Beim Dadaisten Walter Serner in seinem grandiosen Handbrevier für Hochstapler, der sogenannten „Letzten Lockerung“, heißt es: Die Welt will betrogen sein, gewiß. Sie wird sogar ernstlich böse, wenn du es nicht tust.' Kunst ist Hochstapelei. Und umgekehrt. Genau das erzählt Béla Rothenbühler traumhaft sicher. Und jetzt mal abgesehen davon: Das Buch ist so schön in Grün, Pink und weiß gestaltet, dass ich zum ersten Mal im Leben im Umschlag nachgeschaut habe, wer ihn gestaltet hat – und da steht „Guerillagrafik“. Das passt zum Inhalt.
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Jun 15, 2025 • 7min

„In jedem einzelnen Satz steckt wahnsinnig viel drin“ „In jedem einzelnen Satz steckt wahnsinnig viel drin“

Beeindruckende Kurzgeschichten aus ländlichem Irland Christoph Schröder zeigt sich beeindruckt von Louise Kennedys Kurzgeschichtenband. Im Zentrum stehen meist Frauen in prekären Milieus, die mit biografischen Lasten und Traumata kämpfen. Jede Kurzgeschichte ist spannend und vermittelt ein Gefühl des drohenden Ausbruchs. Ein besonderer Erzählstil mit viel Substanz Christoph Schröder beschreibt Kennedys Sprache als reduziert, karg und komprimiert, ähnlich wie bei Peter Stamm. Sie bringt die Figuren nah an den Leser heran, besonders, wenn sie im Präsens geschrieben sind. Trotz ihrer Detailgenauigkeit bleibt Louise Kennedy subtil und vermeidet Klischees – das macht die Geschichten lebendig und authentisch. Politik im Hintergrund, fein gearbeitet Schon Louise Kennedys Roman „Übertretung“ war sehr politisch und auch in ihren Short Stories schwingen irische Politik und Geschichte immer mit. Die Autorin thematisiert Gewalt und gesellschaftliche Strukturen, aber fein und ohne große Appelle. Kennedy zeigt, wie diese Einflüsse das Leben ihrer Figuren prägen, was das Buch zu einem tiefgründigen, politischen Leseerlebnis macht.

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