SWR Kultur lesenswert - Literatur

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Jun 29, 2025 • 6min

Kritik der Kritik: Wie war die Bachmann-Jury?

Als „charmantester Gerichtshof Mitteleuropas“ wurden die Jury-Diskussionen bei der feierlichen Eröffnung des diesjährigen Wettbewerbs bezeichnet. Dabei erinnert mich das Ganze weniger an ein ehrwürdiges Gericht, als an ein Familientreffen, das alle Jahre wieder – in ähnlicher Besetzung - über die Bühne geht. Denn so wie die ewig jammernde Cousine und der ständig Witze reißende Onkel nicht aus ihrer Haut können, scheinen auch hier alle festgelegte Rollen zu haben. Es wurde gemutmaßt: Hat Thomas Strässle ein Bauchnabelpiercing? Wenn sich der Juryvorsitzende Klaus Kastberger einmal mehr als „Erklärer der österreichischen Literatur“ für seine Kandidaten in die Bresche wirft oder ihn die Frage beschäftigt, ob sein stets umsichtig und moderat argumentierender Mitstreiter Thomas Strässle wohl ein Bauchnabelpiercing hat, ist dieser furiose Grant, wie man in Österreich sagt, beim dienstältesten Juror inzwischen so erwartbar wie unterhaltsam. Auch das notorische Gezänk zwischen Philipp Tingler und Mithu Sanyal gehört längst zum festen Repertoire dieses Juroren-Ensembles, das diesmal deutlich mehr diskutiert und viel weniger ins Monologisieren verfällt als im Vorjahr. Auch hat sich Philipp Tingler vom giftigen Polemiker, der sich vor allem am liebsten selbst in Szene setzt, zu jemandem entwickelt, dem es doch häufig gelingt, subtilen Witz mit scharfer Kriitk zu vereinen. Etwa, wenn er nach dem Vortrag von Max Höflers post-avantgardistischem Text zugibt, er hätte noch vor wenigen Jahren gesagt, er würde sich lieber Taranteleier ins Ohr stecken, als weiter zu zuhören, während er heute so einen Text höre und sich denke, das „das wird’s wahrscheinlich nicht mehr lange geben, das ist irgendwie eine bedrohte Form“. Unterschiedliche Herangehensweisen an Literatur Persönliche Veränderungen sind also doch möglich, wobei Tingler ja noch immer am liebsten wie in Beton gegossene Sätze raushaut, im Stil von: „Ein literarischer Text muss sich die Frage gefallen lassen, worum es geht.“ Und Mithu Sanyal unterstreicht mehr denn je ihre gefühlsgrundierten Betrachtungen mit großen Gesten und bleibt schlüssige Argumente schuldig. Was in diesem Jahr sichtlich alle nervt und dann doch fast zum Debakel führt, als Sanyal einwirft, man könne doch Verständnis für den russischen Präsidenten Putin aufbringen. Unterm Strich führen diese unterschiedlichen Herangehensweisen an Literatur (und damit an die Welt) doch immer wieder zu ausgesprochen anregenden Grundsatzdebatten. Etwa darüber, ob es Nähe oder Distanz zum Gegenstand brauche, um ihn kritisieren zu können, was sich bald wie ein Leitmotiv durch die Debatten zog – so wie im Vorjahr Johanna Seebauers „Gurkerl“-Motiv oder noch früher mal das Putzen. Und wenn z.B. darüber diskutiert wird, was es heißt, sich als Schriftsteller bei einem historischen Stoff seiner Verantwortung bewusst zu sein – wie nach der Lesung von Stefan Bissinger – zeigt sich deutlich, dass mit dem Niveau der Texte auch das der Diskussionen steigt. „Unwohlsein“ bei einigen Texten Ohnehin sind die Jury-Diskussionen der interessanteste Teil des Wettbewerbs, ganz besonders in diesem Jahr, wo man in Anbetracht der ausgewählten Texte den Eindruck hat, der aus Kostengründen abgeschaffte Nachwuchs-Kurs ist diesmal ins Hauptprogramm gerutscht. Aber so dürftig und unfertig das von den Autoren Vorgetragene häufig ist – es gelingt den Jurorinnen und Juroren immer wieder, mit vielschichtigen, oft erhellenden Betrachtungen zu überraschen. Selbst wenn ein Text mal fast alle mehr oder weniger verständnislos kapitulieren lässt, wie nach dem Auftritt der Wiener Schriftstellerin Verena Stauffer, als gleich mehrere Jurymitglieder ihr „Unwohlsein“ mit diesem Text äußerten, in dem es scheinbar „um alles“ ging, was eben auch „nichts“ sein kann. Öffentlich zuzugeben, dass etwas nicht sofort und vollständig verstanden und eingeordnet werden kann, hat in unseren Zeiten, wo sehr schnell und reflexhaft geurteilt und wegsortiert, sprich gecancelt wird, eine hohe Qualität. Zweifel und Widerspruch zuzulassen, sich einander doch noch anzunähern oder auch bereits geäußerte Ansichten öffentlich zu revidieren, das ist vorbildlich – auch im Hinblick auf andere Gespräche und Diskussionen, zu denen uns die komplizierte, oft überfordernde Weltlage herausfordert. Hier geht es um tiefere Erkenntnis Der boomende Podcast Markt zeigt, dass es ein Bedürfnis gibt, anderen beim Diskutieren zuzuhören. Was die Jury-Debatten hier in Klagenfurt von den meisten Podcasts unterscheidet, ist, dass hier eben nicht möglichst locker und niedrigschwellig geplaudert wird. Hier geht es - in den besten Momenten - doch um tiefere Erkenntnis, um das Aushalten von Widersprüchen und Ambivalenzen und auch darum, diese möglichst pointiert und unterhaltsam zu formulieren. Dass das natürlich immer noch viel besser gehen kann, weiß jeder, der schon länger an den Klagenfurter Familientreffen teilnimmt. Selige Zeiten, als sich hier noch unter dem Vorsitz des stets klug argumentierenden und nie um eine Pointe verlegenen Burkhard Spinnen gezankt wurde und die kluge Daniela Strigl mit ihren humorvollen Einlassungen die Runde und das Publikum bereicherte. Und da wahrscheinlich jeder seine Lieblingsjuroren hat, wäre es doch vielleicht eine nette Idee, für den 50. Geburtstag des Wettbewerbs im nächsten Jahr eine Art Jubiläums-Jury zu berufen – über deren Zusammensetzung die Zuschauer abstimmen dürfen. Und danach dann bitte – neues Spiel, neues Glück – und mit einer frisch zusammengewürfelten Familie in die nächsten Jahrhunderthälfte starten.
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Jun 29, 2025 • 6min

Natascha Gangl gewinnt das Wettlesen um den Bachmannpreis

Der Bachmannwettbewerb beginnt grundsätzlich mit allerlei Reden von Politikern und Preisstiftern, die das Engagement ihrer Institutionen ausgiebig loben. In diesem Jahr störte Jury-Präsident Klaus Kastberger die aufgesetzt gute Stimmung, indem er auf den kulturellen Kahlschlag der rechtspopulistischen Regierung in der Steiermark hinwies. Die kulturfeindlichen Sparmaßnahmen in Österreich betreffen längst auch Renommierveranstaltungen wie das Wettlesen am Wörthersee. Der traditionelle Bürgermeisterempfang wurde dieses Mal genauso gestrichen wie der Literaturkurs für den schreibenden Nachwuchs. Eröffnungsrede von Nava Ebrahimi Nach der Auslosung der Lesereihenfolge wird in Klagenfurt die Rede zur Literatur gehalten – in diesem Jahr von einer ehemaligen Gewinnerin des Wettbewerbs, nämlich von der in Teheran geborenen und in Graz lebenden Schriftstellerin Nava Ebrahimi. Mit „Drei Tage im Mai“ war die Rede überschrieben, die sich über weite Strecken in einer Wehklage über die politischen Verhältnisse der Gegenwart erschöpfte. Das ist vermutlich der größte Erfolg aller, die nicht mehr an die Bewohnbarkeit dieses Planeten glauben und ihn aufgegeben haben: dass wir dem Sog der Alternativlosigkeit erliegen. Es ist leicht, sich ihm hinzugeben. Es ist bequem. Dem Sog zu entkommen, ist anstrengend. Und wenn wir ihm entkommen sind, was dann? Dann darf da keine Leere sein. Dann erfordert es unsere ganze Vorstellungskraft, mit anderen, besseren Geschichten die Lücke zu füllen. Quelle: Auszug aus Nava Ebrahimis Eröffnungsrede „Drei Tage im Mai“ Es ging um Krisen und Kriege, um den Klimawandel und mächtige Milliardäre, die sich dem „Endzeit-Faschismus“ verschrieben hätten und die den Rest der Menschheit zur Passivität verdammen würden. Um ästhetische Fragen ging es nur am Rande. Literatur solle unter diesen Prämissen eine aktivistische Position einnehmen, um die Lesenden von anderen, verantwortungsvolleren Narrativen zu überzeugen.  Nostalgietexte, literarische Höhepunkte und stilistische Überraschungen Wie aber sah es nun mit der widerständigen und innovativen Kraft der Literatur im Wettbewerb aus? Auf den ersten beiden Lesetagen wurden erstaunlich viele Nostalgietexte vorgetragen. Da gab es klassische Familienerkundungen, Mutter- und Vatersuchen sowie viele Gewaltgeschichten. Eine Nachwende-Erzählung mit ideologisiertem Blick auf die deutsch-deutsche Geschichte, eine alberne Mediensatire in Form einer Slam-Poetry-Suada, die popliterarische Satire einer ernährungsbewussten Abendgesellschaft, ein etwas biederes Sterbe-Drama mit surrealem Ende und ein Avantgarde-Gedicht mit Politformeln. Unfaire Geschlechterverhältnisse und fluide Körperidentitäten wurden in den Geschichten beschrieben, die oft in einem hohen Ton gehalten waren und keineswegs neu klangen, sondern eher wie Variationen schon mal gehörter Bachmann-Texte. Ingeborg-Bachmann-Preis und Publikumspreis für Natascha Gangl Immerhin gab es sie noch, die literarischen Höhepunkte und stilistischen Überraschungen. Etwa von Almut Tina Schmidt und ihren Story-Splittern aus einem großstädtischen Wohnhaus, ausgezeichnet mit den 3-sat-Preis. Die filigrane Reflexion über die Sprache in autoritären Systemen von Boris Schumatsky erhält den Deutschlandfunk-Preis. Und Natascha Gangl wird für ihre kunstfertige, nämlich audiovisuelle Poesieprosa über Verbrechen im österreichisch-slowenischen Grenzgebiet mit dem Ingeborg-Bachmann-Hauptpreis ausgezeichnet. Außerdem erhält sie den begehrten Publikumspreis für ein Werk, in dem sich auch nach mehrfacher Lektüre immer wieder neue Gedanken und im wahrsten Sinne des Wortes grenzgeniale Formulierungen über eine kontaminierte Landschaft entdecken lassen.  Die Jury war von Gangls und Schumatskys Texten euphorisiert, nachdem sie zuvor eher durch erratische Urteile und dahinplätschernde Diskussionen aufgefallen war. Selbst ein Beinahe-Skandal rund um die Jurorin Mithu Sanyal, die angesichts von Verena Stauffers unmissverständlichem Anti-Putin-Text aus welchen Gründen auch immer „Mitleid“ für den angeblich einseitig beschriebenen Kriegstreiber bekundete, belebte die Debatte nur kurzzeitig. Ernsthaft, unterhaltsam und auch literarisch treffsicher vermochte auch in diesem Jahr nur der einst umstrittene Juror Philipp Tingler sprechen. Bachmann-Preis-Jubiläum steht 2026 Im nächsten Jahr findet der Bachmannwettbewerb zum 50. Mal statt. Wenn sich die Veranstaltung nicht endgültig in ein Literaturmuseum verwandeln möchte, müssen insgesamt bessere, originellere, sprachlich wie inhaltlich wirklich mitreißende Texte ausgewählt werden. Vielleicht wird rechtzeitig zum Jubiläum auch die Jury neu aufgestellt, um alte Rollenmuster gar nicht erst bedienen zu müssen. Ansonsten lässt sich diese für den Literaturbetrieb und das interessierte Publikum gleichermaßen so wichtige Veranstaltung schon bald wegsparen, ohne dass es in der deutschsprachigen Kulturwelt groß auffallen würde.
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Jun 26, 2025 • 4min

Sevgi Soysal – Vor dem Morgengrauen

Geschichte ereigne sich immer zweimal – das erste Mal als Tragödie, das zweite Mal als Farce, hat ein einflussreicher Philosoph mal notiert. Wäre die Frage, ob das, was in diesen Tagen in der Türkei geschieht, sich zu vorherigen militärischen Gewaltherrschaften wie eine Farce verhält. Oder doch eher tragisch ist. Die Umwandlung des Landes in eine Diktatur scheint nicht mehr sehr dystopisch.  Die Schriftstellerin Sevgi Soysal würde wahrscheinlich zum Schluss kommen, dass das Geschehen tragisch zu nennen ist: Nach dem Militärputsch von 1971 in der Türkei begehrte sie gegen das Regime auf. 1975 erschien ihr letzter Roman „Vor dem Morgengrauen“. Erstmals liegt er nun auf Deutsch in der sehr guten Übersetzung von Judith Braselmann-Aslantaş vor. Emine Sevgi Özdamar schreibt in ihrem Nachwort, dass Soysal in jenen frühen siebziger Jahren wie ein Licht gewesen sei.  Das Eindringen der Gewalt  „Vor dem Morgengrauen“ spielt in Adana, wo Soysal selbst nach einem Gefängnisaufenthalt zwei Monate in der Verbannung verbringen musste. Auch wenn es sich um einen vielstimmigen Roman handelt, bildet ihr Alter ego namens Oya doch das Zentrum. Oya ist eine Journalistin und lebt als Verbannte in der südlichen Metropole. Eher zufällig wird sie von ihrem Bekannten Hüseyein eingeladen, ihn zu einem Essen bei seinem Onkel Ali, einem Arbeiter, zu begleiten: Hüseyin ist Anwalt, Alis anderer Neffe Mustafa, ebenfalls zu Gast, ist Mathematiklehrer – beide sind sie politisch engagiert. Oya ist die einzige Frau, die bei den Männern sitzt. Die Ehefrauen bereiten das Essen. Plötzlich werden alle aufgeschreckt. Es klingelt, Polizisten dringen in die Wohnung ein.  Oya (…), wie sie da auf der Sofakante hockt, ist fast froh darüber, dass die Ordnung des Hauses durcheinandergeraten ist. Bis die Tür eingetreten wurde, hat sie sich so unwohl und so fehl am Platz gefühlt, dass sie über das Einkrachen der Tür fast erleichtert ist. Dass sie die einzige Frau ist, die an der Mahlzeit teilnimmt, dass Gülşah und Ziynet sich nicht dazusetzen, sondern die anderen bedienen, ärgert sie. Quelle: Sevgi Soysal – Vor dem Morgengrauen Die Männer und Oya werden verhaftet. Der Vorwurf: eine anarchistische Verschwörung. Die nächsten Stunden in den Zellen und bei Verhören schildert Soysal erzählerisch raffiniert und eindringlich: Sie schweift zwischen den Figuren hin und her und in die Vergangenheit ab, lässt Ängste und Hoffnungen komplex aufscheinen, schlüpft in ihre Helden hinein. Manchmal verwischt sie die Grenzen zwischen Außen und Innen, verlässt mitten im Satz die personale Perspektive zugunsten eines Ichs, zeigt auf, wie verworren die Gefühle und Haltungen sein können, ist man erst einmal in die Fänge eines faschistischen Systems geraten: Resignation, Unverständnis, Widerstand sind ebenso virulent wie Opportunismus, Scham, Verdrängung. Eine Atmosphäre der Unruhe, des Verstricktseins, der Absurdität erfasst und verbindet alle Beteiligten, auf welcher Seite der Geschichte sie auch stehen.  Die Schönheit des Mutes  Die dargestellte Gewalt verdeutlicht einmal mehr, auf welch misogyne Mittel Gewaltregime zu allen Zeiten zurückgreifen, wie Unterdrückung und Demütigung funktionieren. Das weist weit über die konkrete historische Situation des Romans hinaus.   In den letzten Jahren hat Oya viel von der harten Realität gesehen, doch ihr hässliches Gesicht entsetzt sie immer wieder aufs Neue. Sie weiß, dass Schönes und Hässliches untrennbar in allen Dingen vorkommt, doch als jemand, der mit Schönheit aufgewachsen und vielleicht übertrieben für sie empfänglich ist, muss sie das Hässliche einfach ausblenden. Für schöne oder edle Ziele schreckt sie vor nichts zurück, und weil sie Mut als solchen schön findet, kann sie auch mutig sein. Quelle: Sevgi Soysal – Vor dem Morgengrauen Mustafa und Oya zeichnen sich durch ihren Mut angesichts von Willkür aus. Aber es ist ein gebrochener Mut. Kein Heldentum, eher eine Einsicht ins Notwendige. Und selbst das Notwendige steht immer wieder auf der Kippe. Sevgi Soysals großartiger, im Strudel der Ereignisse geschriebener Roman war 1975 in der Türkei eines der Bücher der Stunde – leider ist er das auch 50 Jahre später noch.
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Jun 25, 2025 • 4min

Andrey Gurkov – Für Russland ist Europa der Feind | Buchkritik

Andrey Gurkov ist ein ausgewiesener Fachmann für Russland, keine Frage. 1959 in Moskau geboren, in Ostberlin und Bonn groß geworden, in Moskau und Leipzig Journalistik studiert. Als Journalist setzte er sich jahrzehntelang für Verständigung ein, doch damit hat er heute abgeschlossen. Zum Auftakt, in seinen ersten Zeilen, lässt Gurkov keinen Zweifel an der Stoßrichtung seines Buchs.  Die Geografie kann man vergessen: Russland gehört nicht mehr zu Europa – und will es auch nicht. Formell, auf der Landkarte, wird die Russische Föderation bis zum Uralgebirge auch weiterhin Teil des europäischen Kontinents bleiben. Aber von einer weltanschaulichen, politischen, mentalen und selbst wirtschaftlichen Zugehörigkeit kann nach dem russischen Krieg gegen die Ukraine keine Rede mehr sein. Wir erleben eine fundamentale Entfremdung, schlimmer noch: Für meine Heimat ist Europa jetzt der Feind. Eigentlich meint genau das der in Deutschland so populär gewordene Begriff Zeitenwende.  Quelle: Andrey Gurkov – Für Russland ist Europa der Feind Wurzeln in der Stalinzeit  Es habe also keinen Zweck, auf Verständigung oder Versöhnung zu bauen, warnt der Journalist Gurkov. In Kapiteln wie „Eine Nation mit wirrem Weltbild“ oder „Verhasstes Amerika, verachtetes Europa“ oder „Russlands Übergröße: Fluch, Segen, Schicksal, Sackgasse“ nimmt er die Propaganda und die Weltsicht vor allem der bestimmenden Elite aufs Korn und begründet damit den endgültigen Abschied von den Träumen unter Gorbatschow. Alles Böse wurzele in der Stalinzeit, schreibt Gurkov, und er zählt auf, was dieses Böse ausmache:  Im Falle Russlands meine ich dabei vor allem Großmannssucht, militaristische Wertvorstellungen und verletzten Nationalstolz, das Kultivieren des Beleidigtseins und das Sinnen nach Revanche, imperiale Überheblichkeit und den Glauben an die eigene kulturelle Überlegenheit. Rassismus, Antisemitismus, Homophobie oder Machogebaren kamen noch hinzu. Quelle: Andrey Gurkov – Für Russland ist Europa der Feind Die Sicht eines Renegaten  Er habe sich „jahrzehntelang als Brückenbauer zwischen zwei Welten verstanden“, schreibt Gurkov: „meiner Heimat Russland und meiner zweiten Heimat Deutschland“. 2014, mit der „Krim-Eroberung durch Russland“, kamen ihm Zweifel an seiner bisherigen Sichtweise, mit dem 24. Februar 2022, der Invasion russischer Truppen bis nach Kiew, sei es damit vorbei. Hier schreibt also ein Renegat, ein Abtrünniger, jene Spezies, die besonders scharf und unerbittlich abrechnen mit ihrer alten Liebe und einseitiger argumentieren und handeln als andere.  Das größte Land der Welt, jahrelang aufgehetzt durch aggressive Propaganda und verführt durch Sowjetnostalgie, wird nicht aufhören, nach weiteren Territorien oder zumindest nach noch mehr Dominanz zu streben. Besonders jetzt, da die russische Gesellschaft während der Eroberung ukrainischer Gebiete Blut geleckt hat. Den Traum, ein großes, aber friedliches und liberales russisches Imperium sei möglich, habe ich definitiv ausgeträumt.  Quelle: Andrey Gurkov – Für Russland ist Europa der Feind Frieden in Aussicht?  „Die russische Gesellschaft“ – wer ist das? In Gurkovs Sichtweise in erster Linie „die intellektuellen und medialen Zuarbeiter des Systems Putin“, wie es einmal heißt, oder allgemein „meine Landsleute“. Das Buch krankt - bei aller vielfach schlüssigen Argumentation – vor allem daran, dass oppositionelle Stimmen fast völlig fehlen. Ein friedliebendes Europa mit Russland ist für Andrey Gurkov ein für alle Mal erledigt. Eine schreckliche Vorstellung, eine Zukunft in einer waffenstarrenden Welt demnach.  Für Europa ist die Ukraine eine Perspektive und Russland eine Gefahr. Für die Ukraine ist Europa das Ziel, für Russland eher eine Zielscheibe. Davon sollten wir Europäer ausgehen.  Quelle: Andrey Gurkov – Für Russland ist Europa der Feind
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Jun 24, 2025 • 4min

Tomas Espedal – Lust. Früchte einer Arbeit. Lesefrüchte

„Ich lese keine Bücher, ich werde sie schreiben.“ Das ist die übermütige Entgegnung eines Teenagers, der Tomas heißt und dem heranwachsenden Tomas Espedal zum Verwechseln ähnelt, auf die gönnerhafte Frage danach, ob er denn Hamsun gelesen habe. Die schlagfertige Replik verleitet ihn dazu, noch eins draufzusetzen: Er habe schon einen Gedichtband und den Entwurf für einen Roman verfasst. Für den Jungen aus einfachen Verhältnissen geht es darum, sich zu behaupten gegen die Welt der Saturierten, die alles schon haben. Was er will, das weiß er früh schon sehr genau.   Er hatte Lust zu leben. Lust, anders zu leben, als von ihm erwartet wurde, er hatte Lust frei zu sein. War das möglich? Nein, das wusste er nicht, aber wenn er schon an etwas gebunden sein musste, dann an etwas, das er selbst als sinnvoll empfand. Er wollte gern arbeiten, er wollte mit derselben Intensität und Selbstentäußerung arbeiten wie die anderen Arbeiter, die Fabrikarbeiter, die Industriearbeiter, die Werftarbeiter, er aber wollte mit Literatur arbeiten.  Quelle: Tomas Espedal – Lust. Früchte einer Arbeit. Lesefrüchte Einen „Erinnerungsroman“ nennt Tomas Espedal das Buch, in dem er davon erzählt, wie ein junger Mann zum Schriftsteller wird. Dass dieser keine Bücher liest, ist gelogen. In „Lust“ wird eine ganze Reihe von prägenden Lektüren aufgezählt: Thomas Mann, Proust, Rimbaud, Baudelaire. Das Ich, von dem hier die Rede ist und das sich manchmal zur dritten Person erweitert, ist eine aus Erinnerungssplittern zusammengesetzte Erfindung.  Von der Kunst zerstört  Der Wunsch, anders zu leben, richtet sich gegen alle Erwartungen – gegen die Schule, die dominante Mutter, die etablierte Gesellschaft. In Robert, einem schwulen, hochbegabten Jungen aus gutem Hause, findet der Unangepasste einen Gleichgesinnten. Beide fühlen sich nicht zugehörig zu ihren Familien und suchen Abstand. Doch während Robert nach unten strebt und von der Kunst zerstört wird, strebt Tomas nach oben.  Espedal erzählt: „Deine Familie ist eine sehr starke Kraft, nicht nur von außen, sondern auch von innen. Du solltest Arzt oder Anwalt werden, oder was auch immer sie von mir wollten. Um mit diesen Kräften zu brechen, muss man an etwas Starkes glauben. Es muss nicht unbedingt die Wahrheit sein. Aber ich habe an ein erfülltes Leben geglaubt, in dem es viel zu rauchen und zu trinken gibt, in dem es viele Mädchen gibt und viele Reisen und in dem das Leben ein Abenteuer ist.“  Fließender Erinnerungsstrom  „Lust“ erzählt genau davon – betörend und intensiv. Vieles kennen Espedal-Leser aus vorherigen Büchern. Der Autor hält es mit einem Satz von Marguerite Duras: „Man muss sehr gut sein, wenn man die gleiche Geschichte immer wieder neu erzählen will, ohne zu langweilen.“ Und Espedal ist gut. Während frühere Bücher eher durch ein fragmentarisches, brüchiges, minimalistisches Erzählen geprägt waren, ist der neue Roman ein fließender, poetischer Erinnerungsstrom.  In einem Studentenzimmer in Kopenhagen schreibt der Erzähler an seinem ersten Roman. Dreimal schickt der Verlag das Manuskript zurück, dreimal schreibt es der angehende Autor neu. Nicht das abenteuerliche, ausschweifende Leben führt zur Kunst, sondern radikale Selbstdisziplinierung.  „Das Buch handelt auch davon, wie ich die Kunstmythen in Arbeit verwandelt habe. Heute mag ich nicht einmal mehr das Wort Kunst. Ich betrachte mich überhaupt nicht mehr als Künstler. Ich arbeite. Ich habe es geschafft, das Schreiben in einen Beruf und in eine Arbeit zu verwandeln, und darauf bin ich wirklich stolz,“ meint der Autor.  Der Titel des Buches könnte passender kaum sein. Lust meint die Gier nach einem wilden und poetischen Leben. Es ist aber vor allem die Lust am Schreiben, daran, ein Schriftsteller zu sein. Diese Lust teilt sich mit, sie hat sich regelrecht eingeprägt in diese Erinnerungen. Tomas Espedal hat ein hinreißendes, rauschhaftes Buch geschrieben.
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Jun 23, 2025 • 4min

Synchronschwimmer der Lüfte: „Unter Staren. Die Entdeckung einer unterschätzten Art"

Ob Erich Kästner staunend in den Herbsthimmel geblickt hat, bevor er sein Gedicht „September“ schrieb? Um die auf und ab tanzenden riesigen Schwärme zu beobachten, in denen die Stare sich alljährlich sammeln? Ein so begeisterndes wie beeindruckendes Naturschauspiel.   Die Stare gehen auf die Reise.  Altweibersommer weht im Wind.  Das ist ein Abschied laut und leise.  Die Karussells drehn sich im Kreise.  Und was vorüber schien, beginnt. Quelle: Erich Kästner - September Stare - Synchronschwimmer der Lüfte  Wie von Choreografenhand gelenkt rauscht die schwarze Wolke vorüber. In immer neuer Gestalt. Perfekt koordiniert. Synchronschwimmer der Lüfte. Der Grund, warum die kleinen Vögel in großen Schwärmen fliegen: sie schützen sich so vor Angriffen der Feinde. Sperber, Habichte, Falken.  Zu treuen Freunden der nicht nur als Koordinationsweltmeister faszinierenden Stare gehören Antonia Coenen und Philipp Juranek. Beide weder Bio- noch Ornithologen, haben sich mit ihrer ganzen laienhaften Liebe dem Sturnus Vulgaris verschrieben. Ihr Buch „Unter Staren – die Entdeckung einer unterschätzten Art“ gibt lesenswerte Kunde davon. In zwanzig kurzen Kapiteln fliegen die beiden Autoren, ähnlich flink wie die von ihnen bewunderten Vögel, von Thema zu Thema, Experten zu Experten. Landen mal in Dänemark, wo ein Fotograf die „schwarze Sonne“, wie man dort den Starenschwarm nennt, in Bilderkunst verwandelt. Oder sie steuern in Owingen-Billafingen den berühmten Ornithologen Prof. Dr. Peter Berthold an, der eindringlich mahnt. Denn Stare stehen inzwischen auf der roten Liste der gefährdeten Arten. Hauptgrund: die intensive Landwirtschaft.   Sogar Mozart können sie zwitschern  Im nächsten Augenblick flattern die rastlosen Vogelfans schon weiter. Zu Mozart. In einem Zooladen unweit seiner Wiener Wohnung entdeckte der einen Star, der ihm wohl gelauscht hatte und nun Teile seines Klavierkonzertes Nr.17 in G-Dur pfiff.   27. Mai 1784. Vogel Stahrl, 34 Kreuzer« So vermerkt Wolfgang Amadeus Mozart den Kauf des Vogels in seinem Notizbuch. Es war der Anfang von drei bewegten Jahren, in denen der Vogel Mozart nahezu täglich begleitete – und beim Komponieren beeinflusste. Quelle: Antonia Coenen, Philipp Juranek – Unter Staren. Die Entdeckung einer unterschätzten Art Als der Vogel starb, trauerte Mozart sehr und schrieb sogar ein Gedicht für seinen gefiederten Freund. „Hier ruht ein lieber Narr, ein Vogel Staar“ heißt es darin.   Womöglich spielt der Komponist darauf an, dass Stare unterschiedlichste Klänge, Motive oder auch den Gesang anderer Vögel täuschend echt nachahmen können. Darüber hinaus kann er auch noch zweistimmig trällern, mit Ober- und Unterstimme. Der Star ist aber auch in anderer Hinsicht ein gewitzter Geselle. Er badet sehr gern. Nicht nur in kühlem Nass.  Eine ungewöhnliche Art, sich sauber zu halten, ist das »Ameisenbaden«, ein Vorgang, bei dem die Vögel eine aktive Ameisenkolonie finden, dann mehrere gleichzeitig mit ihrem Schnabel aufnehmen und sie zum »Abwischen» ihres Gefieders verwenden. Dies bringt die unglücklichen Ameisen dazu, Ameisensäure auszuscheiden, die zur Abwehr eventueller Ektoparasiten dienen könnte. Quelle: Antonia Coenen, Philipp Juranek – Unter Staren. Die Entdeckung einer unterschätzten Art Spa für den Star – Ameisenbaden  Forscher fanden heraus, dass dieser Nutzen allerdings sehr gering sei. Sie vermuten, dass der Vogel einfach das Gefühl mag: Spa für den Star. Wohl fühlt sich auch der Leser, der sich mit auf die „Vogelreise“ begibt, die das Buch im Untertitel verheißt. Mit offenen Herzen und Sinnen begeben sich die beiden interessierten Hobbyornithologen zu ihren Gesprächspartnern: Wissenschaftlern, Naturschützern oder Künstlern. Wie luftig leichte Reportagen lesen sich die mit vielen Fotos angereicherten Kapitel, die viel Wissenswertes über den Star versammeln. Der allerdings mehr und mehr verschwindet. Die Schwärme am Firmament werden kleiner und kleiner. Derzeit gibt es in Deutschland etwa zwei Millionen Brutpaare, das sind nur noch halb so viele wie vor 20 Jahren. Darum ist dieses Buch vor allem eines – ein beschwörendes Plädoyer für das gesellige Multitalent.
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Jun 22, 2025 • 6min

Paul Theroux – Burma Sahib | Buchkritik

Ein Diener, der den großen Fächerwedel bedient, um die schwülheiße Luft erträglich zu machen. Die Bar, an der betrunkene Engländer über die Einheimischen schimpfen, die mal einen Hieb mit dem Bambusstock brauchen. Alltag für den jungen Kolonialbeamten Eric Blair in der britischen Kolonie Burma in den 1920er Jahren.  Es war ein richtiger Club mit Teakholzvertäfelung und dicken Balken, einem Billardzimmer, einer Lounge und einem Punkah-Wallah, der im Speisesaal hockte und mit seiner Schnur den an der Decke befestigten Fächerwedel in Schwingung versetzte, während auf der Veranda Kellner mit Turban und weißer Uniform, roter Schärpe und Kummerbund kalte Getränke servierten. Quelle: Paul Theroux – Burma Sahib Es ist eine ferne, vergangene Welt, die der amerikanische Schriftsteller Paul Theroux in seinem Roman „Burma Sahib“ heraufbeschwört. Als „Sahib“, also „Herr“ oder „Besitzer“, wurden auf dem indischen Subkontinent während der britischen Kolonialzeit Europäer angeredet. Biografie trifft Fiktion Auch Eric Blair wird so angesprochen. Den britischen Polizisten Eric Blair, der fünf Jahre in Burma lebte, gab es wirklich. Er nannte sich später George Orwell und wurde der Autor, den wir alle kennen. Aus der Lebensgeschichte des jungen George Orwell – damals noch Eric Blair - hat der US-Schriftsteller Paul Theroux jetzt einen fesselnden historischen Roman gemacht, der mit der britischen Kolonialherrschaft hart ins Gericht geht.   Fasziniert folgt man den Spuren des jungen Eric Blair zu mehr als einem halben Dutzend verschiedener Einsatzorte quer durch Burma, die der ausgewiesene Reiseschriftsteller Paul Theroux auch sinnlich nachspürbar macht. Die Beschreibungen von Gerüchen, Speisen, Kleiderstoffen, exotischen Tieren und Musik tragen dazu bei, Zugang zur britischen Kolonie Burma und dem zunehmend isolierten Protagonisten in seinen Polizeijahren zu finden. Über seine geheimen Sehnsüchte sprach Blair mit überhaupt niemandem: die nach einer Frau, einem Hund, einer Versetzung.Als die Nacht hereinbrach, stand die Luft. Die Wasseroberfläche des Flusses war spiegelglatt, kein Blatt und kein Grashalm bewegte sich, während die Wildenten zu ihren Nestern glitten, die Krähen mit heiserem Krächzen in ihre Reviere zurückkehrten und Flughunde aus dem oberen Geäst der Bäume in die Dunkelheit flogen, um nach Früchten zu suchen. Er war fasziniert von der Gesellschaft der Tiere, den Entenschwärmen und dem Himmel voller Flughunde. Quelle: Paul Theroux – Burma Sahib Ein unsympathischer Protagonist Eric Blair ist nicht unbedingt eine sympathische Hauptfigur. Der unbeholfene, verunsicherte Bücherwurm macht sich in der klassenbewussten britischen Kolonialgesellschaft mit seinen Kontakten zu Einheimischen bald unbeliebt. Andererseits ist Blair aber auch selbst nicht frei von rassistischen Vorurteilen. Seine eurasische Cousine verleugnet er und auf der Hochzeit eines Schulkameraden mit einer Einheimischen wird ihm klar: „Das könnte ich nie und nimmer.“ Der allwissende Erzähler erweckt im Roman den Eindruck, als kenne er jede Gefühlsregung des jungen Mannes bis ins Detail. Da der Roman aus der Er-Perspektive erzählt wird, sehen wir das koloniale Burma mit den Augen des verunsicherten Protagonisten, der hier keine Zukunft für sich sieht. Der Erzähler weiß im Gegensatz zur Hauptfigur aber, wo der Berufsweg des eifrigen Lesers und zukünftigen Schriftstellers hinführen wird und gibt vorausschauende Hinweise. Als Leserin blickt man deshalb mit gewisser Distanz auf die Hauptfigur und ihre quälenden Selbstzweifel. Zwischen Pflicht und Zweifel Der Erzähler lässt uns teilhaben an den inneren Widersprüchen des Protagonisten. So wird Blair etwa angewiesen, Hassprediger zu überführen, die gegen den „weißen Affenkönig von England“ hetzen und damit die brutale Kolonialherrschaft angreifen. Blair selbst ist als Polizist natürlich Teil des Systems, zieht es aber zunehmend in Zweifel. Tatsächlich steht Britisch-Burma in den 1920er Jahren nach lokalen Aufständen zunehmend auf tönernen Füßen. Man kann es also symbolisch lesen, dass der hochgewachsene weiße Blair bei Ermittlungen in einem buddhistischen Kloster ins Stolpern gerät. Der Sturz hatte ihn schockiert und bei ihm ein Gefühl hinterlassen, als wäre er nicht gestürzt, sondern zu Boden geprügelt worden; und als er hilflos auf den Steinplatten lag, hatten sich kleine, wuselnde Männer auf ihn gestürzt, an ihm gezerrt und gerissen und ihn mit ihren nackten Zehen getreten – die Tritte waren nicht schmerzhaft gewesen, aber hässlich und beleidigend. Als er da vor ihnen auf dem Boden lag, hatte er sich einen Dah in der Hand gewünscht, mit dem er nach ihren dünnen Armen stechen und ihnen die Gesichter aufschlitzen könnte. Noch nie hatte er solche Mordlust empfunden. Quelle: Paul Theroux – Burma Sahib Eric Blairs Dopellleben Paul Theroux entfaltet diese Chronologie eines persönlichen Versagens mit bestechender Präzision. Ein zustimmender Halbsatz zu einem rassistischen Vortrag des Vorgesetzten, Wut auf die Einheimischen, die den uniformierten Briten ihre Verachtung spüren lassen und intime Verhältnisse mit wechselnden burmesischen Hausmädchen, die nach dem nächsten Umzug einfach zurückgelassen werden. All das summiert sich zu Eric Blairs beschämendem Doppelleben, das ihm selbst unerträglich wird. Erleichterung findet er nur noch beim Schreiben.  Neben den biografischen Fakten dichtet Paul Theroux dem jungen Eric Blair ein abenteuerliches Liebesleben mit einer freigeistigen britischen Kaufmannsgattin, devoten burmesischen Dienstmädchen und Bordellbesuchen an. Diese erotischen Altmännerfantasien mag man einem inzwischen 84-jährigen Autor nachsehen, dem mit diesem Alterswerk doch eine Menge gelungen ist: glaubwürdige, lebendige Dialoge, eine spannende Handlung, die über 600 Seiten trägt, und die Beschwörung einer verschwundenen Welt, die aus einem orientierungslosen Polizisten im britischen Kolonialdienst den weltbekannten Schriftsteller George Orwell machte.
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Jun 22, 2025 • 23min

„Geisterdämmerung“ – Wenn in Taiwan die Untoten umherstreichen | Gespräch

„Geisterdämmerung“ – so heißt der neue Roman von Kevin Chen. Darin kommen nicht nur die Lebenden zu Wort, sondern auch die bereits Verstorbenen. Der Roman spielt im so genannten „Geistermonat“, der in Taiwan alljährlich im siebten Monat nach dem chinesischen Mondkalender zelebriert wird, also ungefähr im August. Im Zentrum steht die Familie Chen mit ihren fünf Töchtern und zwei Söhnen. Der jüngste Sohn heißt Tianhong. Er ist die Hauptfigur in diesem Roman. Autofiktionale Elemente im Roman Ja, sein Roman habe autofiktionale Elemente, erzählt Kevin Chen im „lesenswert Magazin“. Wie Tianhong kommt auch der Autor aus dem Städtchen Yongjing, und wie Tianhong ging er zunächst zum Studium in die Hauptstadt Taipeh und schließlich nach Deutschland. Auch die Namen Chen Shih-Hung (Kevin Chens Geburtsname) und Chen Tianhong (sein Protagonist) haben eine gewisse Ähnlichkeit. Trotzdem gibt es deutliche Unterschiede zwischen Autor und Figur. „Ich liebe Berlin. Und Berlin liebt mich auch!“ Seit 2004 lebt Kevin Chen in Berlin. Hier fühlt er sich wohl. „Berlin ist jetzt mein Zuhause“, sagt Chen, „es ist meine Wahlheimat, und ich bin glücklich hier. In Berlin habe ich so viele Bücher geschrieben. Ich liebe Berlin immer noch, und ich glaube, Berlin liebt mich auch. Wir haben eine gute Beziehung!“ Berlin spielt auch in seinen Büchern gelegentlich eine Rolle. Zumeist aber spielen sie in Taiwan. Auch wenn Kevin Chen seinen Heimatort einst schnellstmöglich verlassen wollte – „ich wollte schreiben, ich wollte Künstler werden, meine Eltern fanden mich schräg!“ –, reist er gerne zu Besuch nach Yongjing. Kriegsrecht und Instant-Nudeln Mit „Geisterdämmerung“ gewann Kevin Chen 2020 den renommierten „Taiwan Literature Award“. Sein Roman wurde bereits in zehn Sprachen übersetzt. Im Gespräch mit Katharina Borchardt erzählt der 49-Jährige von Geistern, Literatur und Politik. Und von einem Nudel-Imperium in Yongjing, das sich in seinem Roman aber auf Kekse spezialisiert hat.
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Jun 22, 2025 • 17min

Machtspielchen auf Motoryacht – Drei Paare erleben in philippinischen Gewässern ihr „Blaues Wunder“ | Gespräch

Drei Paare auf einer schicken Motoryacht in philippinischen Traumgewässern. Plus ein gutaussehender Sohn. Das ist die Versuchsanordnung in Anne Freytags neuem Roman „Blaues Wunder“. Die Reise ist kein Urlaub, eher ein exquisites Assessmentcenter, denn Bootsbesitzer Walter hat Aufgaben für Ferdinand und Kilian mitgebracht. Zuhause in München arbeiten die beiden Männer in der von Walter geführten Privatbank. Jetzt geht es um innerbetriebliche Umstrukturierungen, also um Beförderungen und Geld. Drei scharfsinnige Erzählerinnen Die mitreisenden Ehefrauen heißen Rachel, Nora und Franziska. Sie sind vor allem aus dekorativen Gründen dabei. Und um ihre Männer in einem Machtkampf zu unterstützen, über den die Frauen selbst kaum etwas wissen. Trotzdem sind es die Frauen, die diese Geschichte erzählen. Viele Frauen verfügen über eine sehr feine Beobachtungsgabe. Sie haben von klein auf gelernt, ihre Antennen zu benutzen und Räume und Menschen zu lesen. Quelle: Anne Freytag im Gespräch mit SWR Kultur Eine solche Beobachtungsgabe haben auch die drei Erzählerinnen, und sie machen „Blaues Wunder“ zu einem Roman in HD. Schockverliebt in die Philippinen Auch wenn die Philippinen in diesem Roman eher Kulisse sind, liebt Anne Freytag das Land. Vor der Pandemie war sie einmal dort und ist von Insel zu Insel gereist: „Ich habe mich schockverliebt!“ Besonders intensiv hat sie die Farben erlebt, die sie auch in „Blaues Wunder“ beschreibt. Alle neuen Texte der Mutter vorlesen Im Gespräch mit SWR Kultur erzählt Anne Freytag von ihren Arbeitsroutinen und ihrer Liebe zu möglichst detailliertem Schreiben. Es ist ihre Mutter, der sie am meisten vertraut und der sie ihre Texte daher auch als erste vorliest, berichtet sie fröhlich: „Wenn ich etwas Trauriges schreiben wollte, und meine Mutter lächelt nur, dann weiß ich: Ich muss am Text noch was tun! Wenn sie feuchte Augen bekommt, weiß ich: Es geht in die richtige Richtung! Und wenn sie weint, dann weiß ich: Ich habe es geschafft!“ Quelle: Anne Freytag im Gespräch mit SWR Kultur
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Jun 22, 2025 • 6min

Morgana Kretzmann – Die Stimmen des Yucumã | Buchkritik

Der Río Uruguay ist ein Grenzfluss zwischen Brasilien und Argentinien. In seiner Nähe ist die Autorin Morgana Kretzmann aufgewachsen. Am Río Uruguay befinden sich der Yucumã-Wasserfall und der Turvo-Nationalpark. Dort, in einer fiktiven Kleinstadt am Rande des riesigen Naturschutzgebiets, hat Kretzmann ihren Roman „Die Stimmen des Yucuma“ angesiedelt. Drei Frauen stehen im Mittelpunkt: Olga, eine Journalistin, macht die Pressearbeit für einen skrupellosen Abgeordneten aus dem Regionalparlament. Chaya ist Rangerin im Nationalpark und schützt gefährdete Jaguare. Ihre Cousine Preta schließlich ist die gefürchtete Chefin einer im Wald lebenden Bande von Jägerinnen und Wildtier-Schmugglern. Die drei Protagonistinnen sind sich spinnefeind - das hängt mit blutigen Fehden ihrer Familien und offenen Rechnungen aus der Vergangenheit zusammen. Mit Rückblenden rollt Morgana Kretzmann die Geschichte langsam auf. Der Geist des Sarampião Begonnen hatte alles mit dem Urgroßvater von Chaya und Preta. Er hieß Sarampião und war in den 1950er Jahren einer der ersten Nationalpark-Wächter. Doch seit er unter mysteriösen Umständen angeschossen wurde und sein Körper spurlos verschwand, schwebt sein Geist über dem Turvo-Naturschutzgebiet und dem Yucumã-Wasserfall. ‚Beschütze den Turvo – Den großen Altar – Mann des Glaubens – Im Wald Heile die Erde – Heile das Wasser – Heile Sarampião – Arré, Arré‘ Sie zündet die Kerze an. Beobachtet eine Weile die Flamme, begleitet von den Geräuschen der Nacht, den Grillen, Fröschen und Eulen im Park. Quelle: Morgana Kretzmann – Die Stimmen des Yucumã Ziemlich gewollt spirituell klingt dieses Ritual, bei dem die Rangerin Chaya auf dem Waldboden kniet und sich an ihren Urahn Sarampião wendet. Dessen Geist manifestiert sich im Verlauf des Romans „Die Stimmen des Yucuma“ immer mal wieder – meist entsteht dabei ein Windhauch. Trotz der übernatürlichen Anklänge erzählt Morgana Kretzmann eine Geschichte, die viel mit knallharter brasilianischer Realität zu tun hat: mit Umweltzerstörung, Schmuggel sowie Korruption in Politik und Wirtschaft. Korruption bei Staudamm-Projekt Ein fiktiver Staudamm soll am Río Uruguay gebaut werden, für mehr als fünf Milliarden Dollar. Der verantwortliche Stromkonzern und Politiker wie Olgas Chef, der Abgeordnete, preisen die Vorzüge und werben bei der lokalen Bevölkerung für das Mega-Projekt. Der Nationalpark und der Wasserfall allerdings würden unter Wassermassen verschwinden, sollte der Staudamm gebaut werden – und die Naturschützerin Chaya läuft Sturm gegen die Pläne. Aber Chayas Widerstand allein wäre aussichtslos, wenn Olga sich nicht eines Tages darauf besinnen würde, dass sie nicht Journalistin geworden ist, um PR für schmutzige Geschäfte zu machen. Sie beschließt, die korrupten Machenschaften ihres Chefs, des Abgeordneten, zu enthüllen – auch weil sie seiner plumpen Anmache und Demütigungen überdrüssig ist. Alles in allem ein ziemlich simpler Plot. Olga nimmt heimlich ein Gespräch mit dem Politiker auf: Olga: ‚Ich frage mich, warum für ein Projekt plötzlich so viel Geld zur Verfügung steht?‘Chef: ‚Ach, jetzt will unser Dummerchen ein bisschen was dazulernen? Das ist wie mit Euren Gehältern: ein Teil davon geht an mein Büro, nicht wahr? Sozusagen als Beitrag, als Anerkennung für alles, was ich für euch tue und getan habe. Genauso läuft es beim Bau des Wasserkraftwerks.‘ Olga: ‚Aber so eine Ausschreibung ist ja nicht dasselbe wie unsere halben Gehälter.‘ Chef: ‚Nein, da reden wir von weit höheren Summen. Und davon geben sie mir einen Teil ab, dafür, dass ich ihnen den staatlichen Geldhahn aufgedreht habe‘. Quelle: Morgana Kretzmann – Die Stimmen des Yucumã Als sie anfangen, gegen die hier erstaunlich freimütig eingeräumte Korruption zu kämpfen, finden die drei Protagonistinnen Olga, Chaya und Preta langsam zueinander. Bis sie allerdings endgültig das Kriegsbeil begraben, muss noch einiges geschehen. Glaubwürdiger Öko-Krimi mit stereotypen Figuren Der Roman „Die Stimmen des Yucuma“ liest sich unterhaltsam – vor allem wegen seiner reaktionsschnellen Dialoge. Kein Wunder, schließlich hat Morgana Kretzmann auch schon das Drehbuch für eine Disney Plus-Serie geschrieben. Die brasilianische Autorin ist ausgebildete Umweltmanagerin – das verleiht dem Öko-Krimi Glaubwürdigkeit. Literarisch hoch anspruchsvoll ist der Roman allerdings wirklich nicht. Die Figuren wirken stereotyp und ihre Art, miteinander zu kommunizieren, oft überzeichnet. Außerdem ist der Text mit häufigen Gewaltschilderungen überladen – was sich etwa so liest: Preta bricht in Gelächter aus. Chaya schlägt ihr mit der Machete auf die Schulter. Preta brüllt und lächelt gleich darauf. (…) Sie wirbelt herum und greift an, tritt Chaya in den Magen, die umfällt, aber gleich wieder aufsteht und sich die Hand auf den Bauch hält. ‚Du hast es nicht verdient, dass Sarampiãos Blut in Deinen Adern fließt!‘ ‚Dieses beschissene…‘ Preta schneidet sich selbst in den linken Unterarm und lässt das Blut über ihre Hand laufen. ‚Dieses beschissene Blut hat uns mehr genommen als gegeben‘. Quelle: Morgana Kretzmann – Die Stimmen des Yucumã Lesenswert ist der Roman „Die Stimmen des Yucuma“ vor allem, weil die Autorin die Probleme und ökologischen Konflikte in einer brasilianischen Grenzregion realistisch schildert. Außerdem wirft sie einen schonungslosen Blick auf korrupte Netzwerke und die schamlose Bereicherung von Politikern. Es gibt sie in Brasilien und ganz Lateinamerika. Leider.

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