

SWR Kultur lesenswert - Literatur
SWR
Die Sendungen SWR Kultur lesenswert können Sie als Podcast abonnieren.
Episodes
Mentioned books

Jul 9, 2025 • 4min
François Bégaudeau – Die Liebe | Buchkritik
Fallen Sie nicht auf den Titel herein. Von überschäumender Leidenschaft, verzehrendem Schmerz, übersprudelnden Glückshormonen ist in „L‘Amour“ nichts zu finden. „Die Liebe“, der neue Roman des französischen Autors François Bégaudeau, ließe sich als simpel und still bezeichnen.
Es ist ein geradezu unspektakulärer Text, in dem nur ganz am Anfang so etwas wie Sehnsucht oder aussichtsloses Begehren aufscheint. Als die junge Hotelangestellte Jeanne ihrer Mutter bei deren Putzjob in einer Sporthalle zur Hand geht, begegnet sie Pietro – zwei Meter hoch, halblanges schwarzes Haar, der junge Schwarm der örtlichen Basketballmannschaft.
Man sieht nur ihn. Irgendwann hüpft der Ball zu ihr, sie schrubbt gerade den Boden und sendet ihn mit einer ungelenken Bewegung zurück. Er hebt die große raue Kugel mit einer Hand auf, sie bräuchte drei dafür. Sie denkt, das ist nicht ihr Kaliber. Sie wagt nicht mal, davon zu träumen.
Quelle: François Bégaudeau – Die Liebe
Modellflugzeuge, Flipper und Bier
Jacques hingegen ist eher ihr Kaliber: Er ist der Sohn des Maurers Moreau, baut in seiner Freizeit Modellflugzeuge, flippert und trinkt Bier mit Freunden. Nicht gerade ein Hauptgewinn. Jeanne und Jacques lernen sich bei einem Bingoabend kennen.
Sie umkreisen sich ein wenig, führen hilflose Gespräche, fahren mit Jacques‘ Moped durch die Gegend, sehen sich hin und wieder. Und dann schlittern sie in eine Beziehung, die recht unromantisch in einem der Zimmer des Hotels beginnt, in dem Jeanne arbeitet.
Bist du wenigstens nicht mehr Jungfrau?‘ ‚Nein, das nun nicht.‘ Als sie nackt sind, fragt sie ihn, ob er alles dabei hat. Er sagt, er passt auf. Sie sagt, mach bloß keinen Mist.
Quelle: François Bégaudeau – Die Liebe
Ein Miteinander ohne große Sensationen
Es sind die frühen 70er Jahre. Im Fernsehen laufen Samstagabendshows, im Radio Chansons, Johnny Halliday hängt als Poster überm Bett, Präsident Georges Pompidou stirbt. Und Jeanne und Jacques heiraten.
Da ist mehr als die Hälfte des schmalen Romans vorbei; die zweite Hälfte erzählt vom gewöhnlichen Lauf der Dinge: von einem Miteinander ohne große Sensationen, noch nicht einmal kleinen. Das erste Kind kommt.
Sie gehen zuweilen ins Kino, sehen etwa „Jenseits von Afrika“, worin es um eine aufwühlende Liebe geht – um einen ganz anderen Gefühlskontinent, den sie beide noch nie betreten haben. Sie teilen sich das Leben ein, in kleine Häppchen, und die Mikroveränderungen des Alltags werden prosaisch registriert.
Die Telefone haben jetzt Tasten, die Wasserflaschen sind aus Plastik, die Taschentücher aus Papier, die Schädel der Männer sind kahl, die Nähmaschinen auf und davon, die Tapeten an der Wand aus der Mode, die Baguettes Tradition, die Zugwaggons für Nichtraucher, die kurzen Fußballhosen lang, und Jeanne und Jacques bleiben am liebsten zu Hause.
Quelle: François Bégaudeau – Die Liebe
50 Jahre im Zeitraffer
Es ist die nüchterne Beschreibung einer kleinbürgerlichen Ehe, in der es keine alarmierenden Ausschläge nach oben oder unten gibt. Von den frühen 70ern an begleitet François Bégaudeau seine unscheinbaren Helden, sie werden gemeinsam alt, und sie lieben einander auf sachliche Weise.
Die Erzählhaltung und Sprache – in ihrer Zurückgenommenheit und fast schon aufreizenden Einfachheit kongenial übersetzt von Hinrich Schmidt-Henkel – ist mehr als unaufgeregt, fast schon kühl. Das Ganze hat enthnografischen Charme.
Ein bisschen muss man an Chantal Akermans Filmklassiker „Jeanne Dielman“ denken – so analytisch distanziert wird dieses Leben aufgefächert. Aber anders als bei Akerman werden hier nicht drei Tage im Leben einer Frau in Zeitlupe gezeigt, sondern 50 Jahre im Zeitraffer.
Ist das radikal oder banal? Schwer zu entscheiden. Man weiß nicht so recht, ob Bégaudeau seine Figuren und deren Innenleben unterschätzt und bagatellisiert. Oder ob hier etwas Anrührendes gezeigt wird: die durchschnittliche Verlaufskurve einer Liebe, wie sie vermutlich üblicher ist als das Tohuwabohu im Herz-Schmerz-Kino.
Das literarische Verfahren der Verknappung und Verdichtung beherrscht Bégaudeau auf jeden Fall – vielleicht wird es Jeanne und Jacques und den allermeisten Menschen sogar gerecht.
Aber so ganz eben doch nicht: Ein bisschen mehr Tiefe, einen Hauch von Zweifel und Bedauern oder auch Glück hätte er seinen Helden doch gönnen dürfen.

Jul 8, 2025 • 4min
Marcel Dirsus – Wie Diktatoren stürzen und wie Demokraten siegen
Aktuellen Studien zufolge sank die Zahl der Demokratien 2024 auf einen historischen Tiefstand. Autokraten scheinen auf dem Vormarsch zu sein und bekannte Diktatoren wie Mohammad Bin-Salman in Saudi-Arabien oder Wladimir Putin sitzen scheinbar fest im Sattel.
Der Politikwissenschaftler Marcel Dirsus beschäftigt sich seit über zehn Jahren mit Diktaturen. In seinem neuen Buch trägt er wissenschaftliche Erkenntnisse zusammen und bringt eigene Erfahrungen ein, an denen es dem ehemaligen Berater internationaler Organisationen wie der NATO nicht mangelt.
Schwachstellen diktatorischer Regime
Zunächst erläutert er, dass Tyrannen auf vielerlei Weise von der Macht verdrängt werden können: Zum Beispiel durch Intrigen, wie der russischen Zar Peter III., der durch ein Komplott seiner Ehefrau Katharina entmachtet wurde.
Denn im Gegensatz zu Peter, der bei seiner Gefolgschaft für Unmut sorgte, war sie äußerst beliebt und konnte sich deren Unterstützung sichern.
Einer seiner Generale riet [Peter], nach St. Petersburg zu marschieren. […][Dort] machte Katharina den denkbar kühnsten Schachzug. Nachdem sie die grüne Uniform der Kaiserlichen Garde angezogen hatte, stieg sie auf einen weißen Hengst und führte selbst ihre Armee an, um Peter zu beseitigen. Letztlich war sie nur noch dazu bereit, seine bedingungslose Abdankung zu akzeptieren.
Quelle: Marcel Dirsus – Wie Diktatoren stürzen und wie Demokraten siegen
Die im Buch nacherzählten Szenen stammen aus verschiedenen Epochen und Weltregionen: Dirsus berichtet von der Paranoia des Machthabers in Äquatorialguinea, den Intrigen der madagassischen Königin Ranavalona I. oder dem Putschversuch gegen den gambischen Machthaber Yahya Jammeh.
Gelungene Mischung aus wissenschaftlicher Theorie und Gedankenexperimenten
Das Buch ist aber keineswegs eine bloße Zusammenschau von Ereignissen. Der promovierte Politikwissenschaftler erläutert auch die komplexen Strukturen hinter dem System oder Fachbegriffe wie das „Counter-Balancing“.
Dabei baut ein Diktator parallel zu den regulären Streitkräften eine Paramiliz auf, um für Konkurrenz zu sorgen. So versammelt er militärische Kräfte, ohne Gefahr zu laufen, dass eine geeinte Kampftruppe gegen ihn putscht.
Erleichtert wird die durchaus anspruchsvolle Lektüre durch spannend erzählte Szenen und interaktive Elemente. Der Autor stellt offene Fragen und fiktive Szenarien laden Leserinnen und Leser zum Perspektivwechsel ein.
Versetzen Sie sich für einen Moment in die Lage eines Soldaten. Sagen wir, Sie sind John, ein 27-jähriger Infanterieoffizier. Wenn [ein Staatsstreich] im Gange ist, stehen Sie vor einer Einheit aus Männern und Frauen, die Sie befehligen, und versuchen, eine Entscheidung zu treffen. Sie können sich entweder den Verschwörern anschließen und versuchen, die Regierung zu stürzen, oder dem Regime treu bleiben, um den Status quo zu verteidigen. Was würden Sie tun?
Quelle: Marcel Dirsus – Wie Diktatoren stürzen und wie Demokraten siegen
Demokraten sollten den Wandel unterstützen, aber nicht initiieren
Dirsus verschweigt nicht, wie grausam und brutal viele Diktatoren ihre Macht verteidigen. Er macht auch klar, dass Diktaturen durchaus lange währen können und viele Umsturzversuchen scheitern. Außerdem führt auch der Sturz eines Diktators nicht zwangsläufig zum Systemwechsel.
Auch stellt Dirsus fest, dass die Bilanz von außen erzwungener Regimewechseln „miserabel“ sei: Nur etwa 11 Prozent der US-amerikanischen Regime-Wechsel-Operationen mündeten in einer Demokratie. Eine übergriffige Einmischung ist also wenig hilfreich.
Auch stellt Dirsus fest, dass die Bilanz von außen erzwungener Regimewechseln „miserabel“ sei: Nur etwa 11 Prozent der US-amerikanischen Regime-Wechsel-Operationen mündeten in einer Demokratie. Eine übergriffige Einmischung ist also wenig hilfreich.
Und doch sind Demokraten nicht gänzlich die Hände gebunden: Zum Beispiel können sie einen bereits begonnen Systemwandel durch gezielte Sanktionen oder Wiederaufbauhilfe unterstützen.
„Wie Diktatoren stürzen können…“: Der Titel des Buches mag etwas theatralisch klingen, doch der Inhalt überzeugt: Das lebhafte Wechselspiel zwischen Theorie und Praxis, zwischen Fakt und Fiktion mündet in einem aufschlussreichen Fazit.
Statt panisch vor dem Erstarken diktatorischer Regime zu warnen, setzt er sich aufmerksam und wissenschaftlich fundiert mit dem Wesen von Diktaturen auseinander – und zeigt, dass auch sie nicht von Dauer sind.

Jul 6, 2025 • 1h 16min
SWR Bestenliste Juli/August im Staatstheater Mainz
So unterhaltsam kann Literaturkritik sein: Meike Feßmann, Klaus Nüchtern und Jan Wiele diskutierten in der Kakadu Bar des Mainzer Staatstheaters vier Werke, die auf den vorderen vier Plätzen der SWR Bestenliste im Juli und August stehen. Die Jury-Mitglieder sprengten jedes Zeitlimit, waren sich nur bei einem Roman einig und verstanden sich prächtig. Es gab beherzten Dissens auf der Bühne und zahlreiche Lacher im Publikum.
Auf dem Programm standen: Der zweisprachige Gedichtband „Wenn alle deine Freunde vom Felsen springen“ der kanadischen Autorin Eva H.D., mit einer deutschen Übertragung von Anne-Kristin Mittag und Steffen Popp, herausgekommen im Hanser Verlag, ist auf Platz 4 der Sommer-Bestenliste verzeichnet. Barbi Markovićs Poetikvorlesung „Stehlen, Schimpfen, Spielen“, erschienen bei Rowohlt Hundert Augen, steht auf Platz 3. Jonathan Lethems Roman „Der Fall Brooklyn“ in deutscher Übersetzung von Thomas Gunkel, veröffentlicht im Klett-Cotta Verlag, belegt Platz 2. Auf der Spitzenposition der Bestenliste im Juli und August steht Gesa Olkusz mit ihrem zweiten Roman „Die Sprache meines Bruders“, der im Residenz Verlag erschienen ist.
Aus den vier Büchern lasen Iris Atzwanger und Johannes Schmidt vom Staatstheater in Mainz. Durch den Abend führte Carsten Otte.

Jul 6, 2025 • 19min
Gesa Olkusz: Die Sprache meines Bruders | SWR Bestenliste
Eine Mutter, die mit ihren Kindern in den USA ein neues Leben anfangen will. Zwei Brüder, die nach dem Tod der Mutter neu anfangen müssen. Eine Familiengeschichte, die vieles offenbart, doch wenig erklärt. Und ein elegantes Buch über Ankünfte, Aufbrüche, Verluste und Familiendynamiken.

Jul 6, 2025 • 18min
Eva H.D.: Wenn alle deine Freunde vom Felsen springen | SWR Bestenliste
Gedichte aus Kanada, konkret, anschaulich, gegenständlich. Eva H.D. schreibt Lyrik, in denen die Zeilen aber auch plötzlich abschweifen können, ins Persönliche, ins Fantastische. In einem melancholischen Grundton umkreist die Dichterin die Störfaktoren des Lebens und Liebens.

Jul 6, 2025 • 19min
Barbi Marković: Stehlen, Schimpfen, Spielen | SWR Bestenliste
Im Mai 2022 bekommt Marković die Anfrage für eine Poetikvorlesung. Sie sagt zu – es sind ja noch zwei Jahre Zeit bis dahin. Die Monate gehen ins Land, die Zeit drängt. Noch vierzehn Tage. Von genau denen handelt diese Vorlesung. Sie handelt von Selbstzweifeln, kleinen Tricks und allem sonst, was Marković durch den Kopf geht.

Jul 6, 2025 • 22min
Jonathan Lethem: Der Fall Brooklyn | SWR Bestenliste
Ein Porträt von Brooklyn und ein kunstvolles Wimmelbild quer durch die Jahrzehnte. Lethem zeigt, wie Jugendliche in Brooklyn in selbstverständlicher Kriminalität aufgewachsen sind. Manchmal nostalgisch, nie verklärend – und exzellent geschrieben.

Jun 29, 2025 • 10min
Mitmachen ist alles? Was die Autorinnen und Autoren sagen
Wie war das Lesen? Mit welcher Erwartung sind die Autoren und Autorinnen nach Klagenfurt gereist? Und: Wie empfanden die Lesenden die Jury-Diskussion?

Jun 29, 2025 • 12min
Streitkultur auf der Bühne – Wie die Arbeit in der Bachmann-Jury den Blick auf Literatur verändert
Seit fast einem halben Jahrhundert fährt die Literaturbranche ins sommerliche Klagenfurt zum Bachmann-Wettbewerb:
Dabei wird nicht nur auf der ORF-Fernsehbühne über Literatur diskutiert, auch jenseits der Scheinwerfer gehen die Gespräche unter Verlagsleuten und Journalisten weiter. Was aber denkt ein Juror über die Debatten im Fernsehstudio und über die Diskussion nach der Diskussion?

Jun 29, 2025 • 55min
Ingeborg-Bachmann-Preis 2025
Eine Sondersendung zur 49. Ausgabe der legendären Tage der deutschsprachigen Literatur am Wörthersee.


