
SWR Kultur lesenswert - Literatur Stefanie Schüler-Springorum – Unerwünscht
Jul 23, 2025
04:09
Westdeutschland gilt bei der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit vielen als vorbildlich. Wer das Buch „Unerwünscht“ der Historikerin Stefanie Schüler-Springorum liest, wird begründete Zweifel an dieser Zuschreibung hegen. Auf zweihundert Seiten blättert die Autorin in sieben Kapiteln eine Geschichte der westdeutschen Demokratie auf, die wenig mit erfolgreicher Vergangenheitsbewältigung zu tun hat.
Ob Sinti und Roma, Juden, Zeugen Jehovas, sogenannte „Berufsverbrecher“, Homosexuelle, Kommunisten oder psychisch Kranke: Für sie alle setzten sich Stigmatisierung und Ausgrenzung nach dem Untergang der NS-Diktatur fast nahtlos fort. Um jahrelange Gerichtsprozesse zu führen, fehlten den traumatisierten Opfern Kraft und Geld.
Allein die Zahlen, die Schüler-Springorum zusammenträgt, sind erschütternd: Von etwa 200.000 Tätern, die Millionen Zivilisten ermordeten, wurden in Deutschland nur circa 7.000 Personen juristisch belangt. Die Erklärung für dieses Missverhältnis liegt in der „Elitenkontinuität“ nach der Gründung der Bundesrepublik.
In Ministerien und Verwaltung, Justiz und Polizei, Wirtschaft, Medien, Bildungs- und Gesundheitswesen besetzten Männer die gleichen oder ähnliche Positionen, die sie zuvor im Nationalsozialismus innehatten. Was dies konkret bedeutet, macht Stefanie Schüler-Springorum mit Auszügen aus Urteilen, Interviews und Gerichtsakten deutlich. Das Ziel einer homogenen, „gesunden Volksgemeinschaft“ bleibt auch nach 1945 in Westdeutschland bestehen.
Befreit, aber ausgegrenzt
Viele der Überlebenden fanden sich nach der Ermordung ihrer gesamten Familie heimat- und orientierungslos in überfüllten Unterkünften für „Displaced Persons‘“ in der Obhut der Alliierten wieder. Wer in den früheren Wohnort zurückkehrte, sah sich mit dem kollektiven Schweigen der ehemaligen NS-Anhänger konfrontiert. Oft folgten zähe Kämpfe um Rückerstattungen oder Deals mit den einstigen Verfolgern: Ein „Persilschein“ gegen die Rückgabe von Eigentum. Mancher Erlass atmet auch 1948 noch den Geist des Nationalsozialismus. So wollte das Präsidium des Deutschen Städtetages Sinti und Roma, die als „kriminalistisches Problem“ galten, in Dörfer im Emsland umsiedeln und dort umerziehen. Die alliierte Oberaufsicht verhinderte solche rassistischen Praktiken. Wenn es um die Anerkennung der Spätfolgen von Lagerhaft und Gewalt ging, ist die Lektüre der ärztlichen Gutachten für die Autorin heute schwer erträglich:Bei Sinti und Roma wurde meist ihre »geringe Intelligenz« ins Spiel gebracht, bei Osteuropäern eine »gewisse geistige Primitivität« und bei weiblichen jüdischen Opfern »konstitutionell bedingte« emotionale Störungen. Oder aber man benutzte, wie im Verfahren einer Leipziger Jüdin, die das Ghetto Riga überlebt hatte, gerade ein gelungenes Nachkriegsleben als Argument. Als gutsituierte bürgerliche Frau habe sie doch Entschädigung eigentlich nicht nötig – trotz der sieben Fehlgeburten und anderer, offensichtlich haftbedingter Symptome.Quelle: Stefanie Schüler-Springorum – Unerwünscht
