
SWR Kultur lesenswert - Literatur Dieter Kühn – Ausblicke vom Fesselballon
Jul 23, 2025
04:09
Schon mit dem Titel schließt sich ein Kreis. Denn Dieter Kühns erster Roman von 1971 hieß „Ausflüge im Fesselballon“. Figuren, Motive und Konstellationen des Frühwerks hat er nun erneut aufgegriffen. Hauptfigur der Handlung, die in den achtziger Jahren spielt, ist wiederum ein Studienrat. Gequält korrigiert Lothar Bremer Schülerhefte und sitzt Elternabende ab.
Dieter Kühn hat in seinen Romanen und Biographien gerne den erzählerischen Möglichkeitssinn spielen lassen und alternative Lebens- und Handlungsoptionen ausfabuliert. Lothar Bremer aber steckt in seiner ungeliebten Lehrerexistenz fest wie in einem Schraubstock.
Ehekrise und Affären
Ausgiebig hadert er auch mit seiner Familiensituation. Seine Frau Renate ist leidenschaftliche Dolmetscherin und ständig unterwegs auf Kongressen. Zwar hat Bremer ein offenes Ohr, wenn sie ausführlich vom Tagungsbetrieb erzählt, von den Eitelkeiten der Forscher und den Tücken des Dolmetscheralltags. Aber während Renate weg ist, bleiben Bremer der Haushalt und die offenbar von ihm wenig geliebte Tochter überlassen. Dass seine Schwiegermutter dann regelmäßig zur Unterstützung anrückt, beglückt ihn auch nicht gerade. So reist Bremer herum, als wäre er auf Flucht, verbringt Tage an der Nordsee, hat Affären, etwa mit einer VHS-Dozentin und Orchideen-Liebhaberin, die allerdings nicht von ihrem bisherigen Partner loskommt, von dem sie sich eigentlich längst getrennt haben wollte. Bremer gefällt sich auf Dauer nicht in der „Rolle als Mann nur für den Nachmittag dann und wann“, er will mehr:Und Lothar wieder: Aber merkst du denn nicht, dass ich dich brauche? Dass ich aus Not angerufen habe?“
„Aber nur, weil deine Renate mal wieder auf einer Konferenz ist.“
„Nicht nur, nicht nur… Sie bleibt ja auch sonst weg. Du weißt genau, diese Ehe ist ein auslaufendes Modell.“
„Ja, und so weiter und so weiter. Wir können uns am Montag sehn, aber heute geht es nicht.“Quelle: Dieter Kühn – Ausblicke vom Fesselballon
Porträt eines Jahrzehnts
„Ausblicke vom Fesselballon“ hat viel Achtziger-Jahre-Atmosphäre. Einmal landet Bremer mitten in einer Anti-AKW-Demo; die Landschaft, in der der Roman spielt, das Rheinische Braunkohlerevier, ist noch schwer gezeichnet vom Tagebau. Die Menschen streiten über die Grundwasserabsenkung, die weggebaggerten Ortschaften und die Umsiedlungen. Weggebaggert wird allmählich auch die herkömmliche Ordnung der Geschlechter. Frauen gehen eigene Wege, entwickeln Eigensinn und berufliche Ambitionen, Bremer tut sich nicht leicht damit. Seine Affäre mit der VHS-Dozentin endet in einem beklemmend beschriebenen Gewaltausbruch. Überhaupt neigt sich der Roman am Ende ins Düstere. Bremers Versuche, mit Forschungsaufträgen der Lehrerexistenz zu entkommen, scheitern. Das Angebot, für einen Baukonzern eine Festschrift zu verfassen, lehnt er ab, als ihm klar wird, wie tief die Firma in den Nationalsozialismus verstrickt ist. Schließlich reist er allein nach Neapel und irrt dort über vermüllte Hänge, die mit dystopischer Intensität beschrieben werden:Bretter, Styroporplatten, Styroporbrocken, vom Meer noch nicht aufgelöst in Granulat. Das Meer als Müllzerkleinerer, vor allem im Brandungsbereich. Kühlschränke, Sessel, Stellagen – alles den Steilhang hinab, dem Meer zum Fraß vorgeworfen, aber dieser Sperrmüll lässt sich nicht verdauen, wird nur immer wieder ausgespien, angeschwemmt, ausgewürgt.“Quelle: Dieter Kühn – Ausblicke vom Fesselballon
