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Dec 13, 2024 • 22min

Nie mehr Kopfrechnen? - Rechenschieber, Taschenrechner & Co

Abakus, Rechenschieber, Taschenrechner: Schon lange nutzt der Mensch Hilfsmittel, um nicht alles im Kopf ausrechnen zu müssen. Solche Rechenhelfer hatte man früher aber nicht immer dabei. Heute greifen wir selbst für simple Aufgaben zur Smartphone-App. Wie wirkt sich das auf unsere Fähigkeiten aus? Von David Globig CreditsAutor dieser Folge: David GlobigRegie: Christiane KlenzEs sprachen: Heiko Ruprecht, Katja Schild, Clemens NicolTechnik:Redaktion: Hellmuth Nordwig Im Interview:Daniel Timms, Kopfrechen-TrainerDr. Christina Artemenko, Fachbereich Psychologie, Universität TübingenProf. Hans-Christoph Nürk, Diagnostik und kognitive Neuropsychologie, Universität TübingenDr. Gert Mittring, Psychologe und Kopfrechen-WeltrekordlerProf. Stefan Ufer, Didaktik der Mathematik und Informatik, Ludwig-Maximilians-Universität MünchenCaroline Merkel, Organisatorin der Junioren Kopfrechen-WMNiklas Arndt, SchülerWillem Bouman, Kopfrechen-Künstler Linktipps: Junioren Kopfrechen-Weltmeisterschaft  HIER Arbeitsbereiche Diagnostik und Kognitive Neuropsychologie der Universität Tübingen HIER Internetseite von Gesprächspartner Daniel Timms  HIER Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Radiowissen finden Sie auch in der ARD Audiothek:ARD Audiothek | RadiowissenJETZT ENTDECKEN Das vollständige Manuskript gibt es HIER. Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: 01 ZUSP Atmo Timms, darüber: SPRECHER: Ein Klassenzimmer in einem Bielefelder Gymnasium. An diesem Sonntag sind die Räume ausnahmsweise nicht leer: Gut 80 Kinder und Jugendliche sind aus aller Welt gekommen, um sich auf die Junioren-Kopfrechen-Weltmeisterschaft vorzubereiten. Dazu gibt es Workshops, und einen davon leitet der Kopfrechen-Trainer Daniel Timms [englische Aussprache]. Aufmerksam hört ihm eine Gruppe von Jugendlichen zu. Gerade erzählt Timms etwas zu den Überraschungs-Aufgaben, für die es am nächsten Tag im eigentlichen Wettbewerb Sonderpunkte geben wird. (MUSIK unter den letzten Worten ausgeblendet) Atmo Timms kurz hoch, darüber: SPRECHER: Innerhalb von zwei Stunden sollen die Jugendlichen hunderte von Aufgaben lösen. Ausschließlich im Kopf. Einen Stift dürfen sie nur benutzen, um die Ergebnisse aufzuschreiben – keine Zwischenschritte. Die Aufgaben sind anspruchsvoll: Ziehe die Kubikwurzel aus einer zwölfstelligen Zahl. Oder zerlege eine neunstellige Zahl in ihre Primfaktoren. Rechne aus, in welchen Monaten des Jahres 2078 der 18. auf einen Montag fällt. Natürlich braucht man so etwas nicht im Alltag. Doch auf nicht ganz so hohem Niveau ist Kopfrechnen auch im täglichen Leben nützlich, betont Daniel Timms [englische Aussprache]. 02 ZUSP Timms: "For most people the most practical thing... Voiceover:  Für die meisten Menschen ist das Praktischste daran, dass sie etwa ihre Zeitplanung im Kopf machen können. Oder dass sie die Größenordnung von Zahlen verstehen. Wissen Sie zum Beispiel, was 1 Million geteilt durch vier ist? Viele Menschen wissen vielleicht noch, dass bei der Antwort 25 eine Rolle spielt. Aber ist die Antwort 25.000? Nein, es sind 250.000. Und das ist keine schwierige Kopfrechnung, aber viele Menschen haben schon lange nicht mehr auf diese Weise über Zahlen nachgedacht und finden etwa Berechnungen mit Geldbeträgen sehr schwierig. Das ist für mich einer der unterschätzten Aspekte des Kopfrechnens, die jeden betreffen - egal, ob man glaubt, gut in Mathematik zu sein oder nicht. ...think you are good at mathematics or not." SPRECHER: Matheaufgaben in den vier Grundrechenarten im Kopf zu lösen - eine Zahl plus eine andere Zahl, minus, mal oder geteilt durch: Das lernen bei uns alle Schülerinnen und Schüler schon in der Grundschule. Das Einmaleins z.B.: Irgendwann hat man dann die Lösung für 6 mal 7 einfach parat – und vielleicht sogar für 16 mal 17: ... 272. Das ist dann schon das große Einmaleins. Was beim Rechnen im Kopf passiert, das kann selbst bei einfachen Aufgaben ziemlich komplex sein: Die unterschiedlichsten Regionen des Gehirns sind daran beteiligt, erklärt Dr. Christina Artemenko. Sie arbeitet am Fachbereich Psychologie der Universität Tübingen und erforscht unter anderem, wie der Mensch Zahlen verarbeitet und wie er mit ihnen rechnet.  03 ZUSP Artemenko: "Beispielsweise in der Multiplikation lernen Kinder schon in der zweiten und dritten Klasse die Multiplikations-Fakten quasi auswendig: 3 mal 5 ist 15. Das sind Fakten, die bei uns im Gehirn abgespeichert sind und dann immer wieder abgerufen werden." SPRECHER: Mit bildgebenden Verfahren lässt sich zeigen: Die Bereiche, in denen solche bekannten Informationen abgespeichert sind, liegen im Gehirn an einer anderen Stelle, als die Areale, die man benötigt, um tatsächlich etwas spontan auszurechnen. 04 ZUSP Artemenko: "Wenn ich jetzt beispielsweise eine Aufgabe stelle wie 96 minus 25, da muss man Schritt für Schritt rechnen. Man muss die Zahlen in Zehner und Einer zerlegen, und da sind viele Rechenschritte nötig. Das sind Aufgaben, die ganz anders im Gehirn repräsentiert sind. Dafür brauchen wir Ressourcen im frontalen Kortex, also vorn im Gehirn, die so die Rechenschritte und Arbeitsgedächtnis-Prozesse und sowas wiedergeben." STIMME OBEN – BITTE ABNEHMEN! SPRECHER: ... wobei die im Langzeitgedächtnis abgespeicherten Fakten - wie das kleine Einmaleins - auch das sogenannte Arbeitsgedächtnis unterstützen. Es kommt ins Spiel, wenn Aufgaben den auswendig gelernten Zahlenbereich verlassen, ergänzt Hans-Christoph Nürk. Er ist Professor für Diagnostik und kognitive Neuropsychologie an der Universität Tübingen. 05 ZUSP Nürk: "Wir wissen, dass beim komplexen Rechnen, also wenn ich Ihnen jetzt die Rechenaufgabe gebe 17 mal 29, es Ihnen natürlich schon hilft, also, wenn Sie es im Kopf rechnen müssen, wenn Sie die einfachen Multiplikationszahlen parat haben. Weil wir wissen, dass bei komplexen Aufgaben das Arbeitsgedächtnis sehr belastet ist. Und wenn Sie das Arbeitsgedächtnis entlasten können, weil Sie bestimmte Fakten, einfache Fakten, kleines Einmaleins, einfach abrufen können, dann können Sie natürlich besser rechnen." SPRECHER: Zahlen merken wir uns einerseits als Wörter, wir können sie aber auch vor unserem inneren Auge sehen. Etwa tatsächlich als Ziffern. Manche von uns sehen Zahlen sogar wie auf einer Art Zahlenstrahl: kleinere Zahlen weiter links, größere weiter rechts. Oder die Zahlen sind auf eine bestimmte Weise im Raum verteilt. MUSIK SPRECHER: Klar ist: Kopfrechnen beherrscht man nicht einfach so – aber viele Experten halten es für wichtig, dass man es kann. 06 ZUSP Mittring: "Wenn Sie eine gute Kopfrechnen-Grundkompetenz haben, dann haben sie erst einmal viele Vorteile für den Alltag, dass Sie praktisch ihren Alltag geschickter auch einteilen können. Dass Sie ungefähr eine Vorstellung haben, wie lange dauert was. Sie würden auch im Supermarkt nicht zu viel bezahlen. SPRECHER: Weil man beim Einpacken in den Einkaufswagen im Kopf grob mitrechnen kann, meint Dr. Gert Mittring. Er ist Psychologe - und hat selbst mehrfach Weltrekorde im Kopfrechnen aufgestellt. In einer Zeit, in der Zahlen eine so große Rolle in unserem Leben spielen, hält er die Fähigkeit für notwendig, z.B. einen Geldbetrag im Kopf zu überschlagen und Größenordnungen abzuschätzen. Ähnlich sieht es Stefan Ufer. Er ist Professor für Didaktik der Mathematik und Informatik an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Für ihn ist außerdem entscheidend: Kopfrechnen schafft eine Grundlage, auf der weitere mathematische Fähigkeiten aufbauen können. Etwa dadurch, dass man beim Kopfrechnen mathematische Strukturen nutzt. 07 ZUSP Ufer: "Also wir rechnen 7 mal 8 in der zweiten Klasse. Da lernen die Kinder irgendwelche Kernaufgaben, die werden relativ schnell automatisiert, z.B. die Vielfachen von 2 und von 5. Also können sie rechnen: 7 mal 8 ist 2 mal 8 plus 5 mal 8. Das ist eine typische Strategie. Da hängt eine gewisse Struktur dahinter. Später lernen die Kinder: Ach, das ist eine ganz allgemeine Struktur, das heißt Distributivgesetz. Später wird gelernt: Ach, das heißt eigentlich auch Ausklammern. Das kann ich ganz allgemein nicht nur mit Zahlen, auch mit Termen machen. Später sieht es dann plötzlich aus wie die binomischen Formeln. Und wir sehen, diese Strukturen, die helfen uns, neue Konzepte zu erwerben."  SPRECHER: Kopfrechnen fördert also das Verständnis für mathematische Strukturen. Und das kann es wiederum erleichtern, ganz anders an Rechenaufgaben heranzugehen. ((Wenn man z.B. 603 minus 598 rechnen will, ist das natürlich schrittweise möglich: 603 minus 8 ist 595, 595 minus 90 ist 505 und 505 minus 500 ist 5. 08 ZUSP Ufer: "Ich kann aber auch anders draufschauen, mit einem Verständnis über Strukturen und sagen: Na ja, 603 minus 598 kann ich mich doch auch fragen, wie weit ist es von der 598 bis 603? Ja, 2 bis zu 600. Noch 3 weitere sind 5. Geht natürlich viel leichter, und auch hier habe ich wieder eine Struktur genutzt: Die Addition hat was mit der Subtraktion zu tun. Und je häufiger ich diese Struktur nutze, umso besser kann ich sie natürlich auch in anderen Kontexten anwenden. Das ist eine Funktion von Kopfrechnen in der Schule, die vielleicht oft unterschätzt wird, die aber extrem wichtig ist für den weiteren Verständnis-Aufbau.")) SPRECHER: Und es kommt noch etwas hinzu: Kopfrechen-Fertigkeiten entwickeln sich nicht isoliert, sondern im Zusammenspiel mit anderen Fähigkeiten. Hier gibt es Wechselwirkungen, die Christina Artemenko von der Universität Tübingen beschreibt. Zum Beispiel hat man mit einem guten Arbeitsgedächtnis Vorteile beim Kopfrechnen. Und kann damit wiederum sein Gedächtnis trainieren.  09 ZUSP Artemenko: "Je mehr man im Kopf rechnet, desto mehr lernt man ja auch, sich Sachen zu merken und so weiter, was Auswirkungen auf das Arbeitsgedächtnis haben sollte. Also, wenn das eine besser wird, wird auch das andere besser und umgekehrt. Also, diese Fähigkeiten hängen sehr stark zusammen." MUSIK, darüber: SPRECHER: Die Fähigkeit, im Kopf zu rechnen, kann uns den Alltag erleichtern; sie erlaubt es uns, ganz grundsätzliche mathematische Zusammenhänge zu begreifen; und wir trainieren durch Kopfrechnen unser Gedächtnis. Allerdings scheint es so, dass manche Menschen von diesem Training nicht viel halten: Sie nutzen ihr Smartphone, wenn sie mit Zahlen umgehen müssen. Dass es heute nicht mehr unbedingt normal ist, etwas kurzerhand im Kopf auszurechen, vielleicht sogar schon unbewusst mitzurechnen, wenn man Zahlen hört, diese Erfahrung hat auch Kopfrechen-Trainer Daniel Timms [englische Aussprache] gemacht. 10 ZUSP Timms: "I was in Mexico recently and I saw... Voiceover:  Ich habe kürzlich in Mexiko gesehen, wie Leute sehr einfache Berechnungen in ihren Taschenrechner getippt haben. Dinge wie 40 plus 45, weil sie das in ihrem Kopf nicht schaffen konnten. Klar, wenn ich etwas sehr Schwieriges präzise und schnell berechnen muss, dann benutze ich auch einen Taschenrechner, weil ich die korrekte Antwort haben will. Aber bei Menschen, die nicht so viel Vertrauen in ihr Kopfrechnen haben, ist es so, dass sie selbst bei einfacheren Aufgaben mit einem Taschenrechner nachrechnen. Nur: Wenn sie ohnehin alles mit dem Taschenrechner nachprüfen, dann sehen sie keinen Sinn im Kopfrechnen - also lassen sie es ganz sein. ...so they just don't ever do mental maths." SPRECHER: Und das, glaubt Timms, passiere überall auf der Welt. Wissenschaftlich lässt es sich allerdings gar nicht so einfach belegen, ob die Fähigkeit zum Kopfrechnen zurückgeht oder nicht. Und noch schwieriger wird es bei der Frage, welchen Einfluss dabei möglicherweise Rechenhilfen wie das Smartphone haben. Zitatorin: These 1: GERÄUSCHEFFEKT Zitatorin: Frühere Generationen konnten tatsächlich besser kopfrechnen als heutige. SPRECHER: Unter anderem das erforscht Christina Artemenko. Sie lässt etwa Probandinnen und Probanden unterschiedlicher Altersgruppen im Kopf mit mehrstelligen Zahlen rechnen. 11 ZUSP Artemenko: "Das Interessante ist daran, dass sich selbst diese Rechenfähigkeiten bei Erwachsenen weiterentwickeln. Es verändert sich, wenn man sich anschaut, was beim Altern so passiert. Und da scheint das Rechnen eine große Ausnahme zu sein. Denn normalerweise ist es so, dass die kognitiven Fähigkeiten eher abgebaut werden im Alter. Man kann sich Sachen nicht mehr so gut merken usw. Nichtsdestotrotz: Diese Rechenprozesse scheinen auch ältere Erwachsene noch sehr gut hinzubekommen, sogar viel besser als jüngere Erwachsene." SPRECHER: Die spannende Frage ist nun: Liegt das daran, dass die ältere Generation der jüngeren einfach jahrelange Übung voraushat? Entwickeln jüngere Erwachsene diese Rechenfähigkeiten also im Laufe der Zeit noch? Oder liegt es daran, dass sie heute schneller zum Rechenhilfsmittel Smartphone greifen, und deshalb das Kopfrechnen schon im vergleichsweise jungen Alter wieder verlernen? Ein Problem ist dabei: Die entsprechenden Studien sind sogenannte Querschnittstudien, also jeweils einmalige Untersuchungen. Mit denen lässt sich der Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung hier aber nicht eindeutig klären, betont Hans-Christoph Nürk. 12 ZUSP Nürk: "Um das kausal zu machen, bräuchte man eigentlich längsschnittliche Studien, also müsste die Leute ihr ganzes Leben lang beobachten und immer wieder ins Labor einbestellen und dann sich die Entwicklung angucken." STIMME LEICHT OBEN – BITTE ABNEHMEN! SPRECHER: ... Und um zu einem ganz eindeutigen Ergebnis zu kommen, was den Einfluss von ständig greifbaren Smartphones als Rechenhilfe angeht, müsste man dann auch noch dafür sorgen, dass die Hälfte der Testpersonen ohne diese Unterstützung aufwächst - ein Ding der Unmöglichkeit. Da man sich nicht schon vor vielen Jahren mit der Kopfrechen-Kompetenz der heute älteren Menschen beschäftigt hat, fehlen außerdem auch andere entscheidende Informationen. 13 ZUSP Nürk: "Weil es natürlich auch immer sein kann, dass es sogenannte Kohorten-Effekte gibt, sprich, dass die Probanden, die jetzt älter sind, vielleicht in der Schule schon als Kinder noch viel besser rechnen gelernt haben wie die heutigen Kinder." Zitatorin: These 2 ist also: GERÄUSCHEFFEKT Zitatorin: Früher wurde während der Schulzeit mehr Wert aufs Kopfrechnen gelegt als heute. SPRECHER: In diesem Fall wären Lehrpläne und Unterricht entscheidende Faktoren. Tatsächlich vermutet Christina Artemenko etwas Derartiges. Beispiel: Das Einmaleins. 14 ZUSP Artemenko: "Das ist etwas, was, glaube ich, in den höheren Generationen damals im Bildungssystem noch viel mehr forciert wurde. Und das sieht man auch heutzutage an den Effekten, dass sie bei diesem Faktenabruf tatsächlich noch viel besser sind als die heutigen Erwachsenen." SPRECHER: In der Schule das Einmaleins als Rechengrundlage auswendig zu lernen: Das scheint ein wesentlicher Punkt zu sein. Zitatorin: Somit lautet These 3: GERÄUSCHEFFEKT Zitatorin: Es ist gar nicht so entscheidend, ob wir später auch mal das Smartphone zum Rechnen benutzen oder nicht. SPRECHER: Man macht es sich jedenfalls zu einfach, wenn man ihm die Alleinschuld gibt, meint Stefan Ufer vom Mathematischen Institut der Ludwig-Maximilians-Universität München. Zumal "Rechenhelfer" immer schon unter Verdacht geraten sind, dem Kopfrechnen abträglich zu sein. 15 ZUSP Ufer: "Man hat diese Diskussion schon sehr lange. Also, es gab die Diskussion jetzt mit dem Smartphone. Es gab die Diskussion vorher mit Computeralgebra-Systemen, die eigentlich alle Aufgaben, die man in der Schule macht, alle Aufgabentypen automatisch lösen können. Also, da muss man eigentlich auch nicht mehr viel tun. Es gab die Diskussion schon beim Taschenrechner. Es gab wahrscheinlich die gleichen Diskussionen, ob man schriftliche Rechenverfahren behandeln soll. Immer dann, wenn man Methoden hat, mit denen man die Mathematik 'trivialisieren' kann, ja, dann kommt man in diese Diskussion." SPRECHER: Weil es jedes Mal die Befürchtung gibt: So ein Hilfsmittel könnte dafür sorgen, dass man nicht mehr über die mathematischen Zusammenhänge hinter einem Rechenvorgang nachdenkt. Und folglich seien neue Rechengeräte oder entsprechende Programme automatisch schädlich für die Kompetenz im Kopfrechnen. Ganz so simpel ist es nicht. Smartphones und Tabletcomputer lassen sich beispielsweise auch nutzen, um mathematische Zusammenhänge spielerisch zu vermitteln, etwa mit Hilfe von Lernsoftware. Und schon vor einigen Jahrhunderten wurde ein Rechenhelfer eingeführt, der es offenbar sogar einfacher macht, komplexe Aufgaben im Kopf zu lösen: der Abakus bzw. sein asiatisches Pendant, in Japan Soroban genannt. GERÄUSCH Abakus-Kugeln klacken, darüber: SPRECHER: Ein Soroban besteht aus einem Rahmen mit mehreren parallel angeordneten Stangen. Auf jeder dieser Stangen sitzen fünf oder mehr Kugeln bzw. Perlen, die auf und ab gleiten können. Jede Ziffer einer Zahl entspricht einer bestimmten Stellung der Kugeln auf einer Stange. Zum Rechnen verschiebt man nun diese Kugeln. Menschen, die gelernt haben, mit dem Soroban zu rechnen, sehen beim Kopfrechnen Zahlen anders vor sich, als Menschen, die mit arabischen Ziffern rechnen, erläutert Kopfrechen-Trainer Daniel Timms [englische Aussprache]. 16 ZUSP Timms: "If you think of the number 65... Voiceover: Bei der Zahl 65 sehe ich eine Sechs und eine Fünf in arabischen Ziffern. Aber Menschen, die mit dem Soroban rechnen, sehen die Zahl auch beim Kopfrechnen als eine bestimmte Anordnung von Perlen. Ein Vorteil ist, dass sie leichter mit den Zahlen umgehen können, ohne in Versuchung zu geraten, sie sich selbst zu sagen. Die Leute lernen, damit sehr, sehr schnell zu rechnen. ...to do this very, very quickly." SPRECHER: Was dann auch beim Kopfrechnen funktioniert. Und sie haben offenbar noch einen weiteren Vorteil dadurch, dass sie den Soroban nutzen: Mit den Rechenvorgängen sind Fingerbewegungen verknüpft, erklärt Christina Artemenko. Dass so etwas beim Rechnen hilft, weiß man nicht zuletzt aus Studien mit Kindern, die beim Zählen ihre Finger benutzen dürfen. 17 ZUSP Artemenko: "Wenn man dazu dann ins Gehirn schaut, dann kann man tatsächlich entdecken, dass dadurch verschiedene Repräsentationen von Zahlen aufgebaut werden. Beispielsweise wenn man die Finger benutzt, dann trainiert man eben nicht nur das Areal, was für die Zahlen verantwortlich ist, sondern eben auch sensomotorische Areale, die halt für die Fingerbewegungen verantwortlich sind." MUSIK SPRECHER: Zwei Dinge lassen sich zumindest sagen: Rechenhilfsmittel sind nicht grundsätzlich schlecht für die Kopfrechen-Kompetenz. Und: Selbst, wenn einem Taschenrechner und Smartphone später sämtliche Rechenarbeit abnehmen könnten, bleibt es wichtig, die fürs Kopfrechnen notwendigen Grundlagen zu vermitteln. Damit Schülerinnen und Schüler z.B. mathematische Strukturen verstehen können. MUSIK SPRECHER: Die Erfahrung zeigt aber: Im Alltag wird immer seltener "einfach mal so" etwas im Kopf ausgerechnet. Ob das tatsächlich daran liegt, dass man heute jederzeit zum Smartphone mit integriertem Taschenrechner greifen kann - das bleibt unklar. Letztlich spielt es aber auch keine entscheidende Rolle. Das Smartphone wird nicht wieder verschwinden. Um Kopfrechen-Kompetenz zu erhalten, muss man woanders ansetzen.Zum einen natürlich beim Unterricht. Der darf sich nicht auf reines Auswendiglernen beschränken. Er sollte die Kinder motivieren, ihre Fähigkeiten anzuwenden, meint Stefan Ufer. Nicht zuletzt, indem man sie verschiedene Kopfrechen-Strategien ausprobieren lässt. Strategien, die unterschiedlich fehleranfällig sind - und unterschiedlich schnell zum Ergebnis führen. Nur frustrieren sollt man die Kinder dabei nicht. 18 ZUSP Ufer: "Da steckt natürlich viel auch dahinter, wieviel traue ich mir zu? Wieviel Erfolgserfahrungen habe ich gemacht? Wie gut glaube ich, dass ich das kann? Und da kann der Unterricht natürlich auch Schülerinnen und Schülern ein bisschen mehr Sicherheit mitgeben, indem er eben auch Erfolgserlebnisse – gerade bei so einer flexiblen Strategienutzung – vermittelt, in dem Rahmen, wie die Kinder das halt jeweils individuell schaffen können." SPRECHER: Doch wahrscheinlich reicht es nicht, nur mehr Selbstvertrauen beim Kopfrechnen zu vermitteln, sondern, man muss auch Lust darauf machen. Womit wir wieder beim Wettbewerb in Bielefeld wären...: 19 ZUSP Atmo Timms, darüber: SPRECHER: ... und bei Trainer Daniel Timms [englische Aussprache], der umringt ist von jungen Menschen aus aller Welt, die sich in seinem Workshop auf die Aufgaben bei der Junioren-Kopfrechen-Weltmeisterschaft vorbereiten. Atmo Timms kurz hoch, darüber: SPRECHER: Solche Wettbewerbe sollen für Zahlen-Knobeleien begeistern, sollen Menschen zum Kopfrechnen ermutigen – möglichst auch im Alltag, erklärt Caroline Merkel. Sie ist die Organisatorin der Weltmeisterschaft. 20 ZUSP Merkel: "Hier geht es ja eher darum, auch wieder Kopfrechnen als Kulturgut sozusagen an Leute heranzubringen. Schülerinnen und Schüler, die sich hier bewerben, aus Deutschland oder eben auch aus anderen Ländern, bekommen ja hier nicht nur den Wettbewerb, an dem sie sich messen, sondern sie haben auch zwei Tage Workshops, in denen sie ihr Wissen, ihr Interesse aufbauen können. Ich habe schon die Hoffnung, dass wir hier wirklich noch mal viele junge Menschen begeistern können, sich mit Zahlen, mit dem Gefühl für Zahlen auch auseinanderzusetzen." SPRECHER: Das gleiche sollen Meisterschaften auf regionaler Ebene leisten. Über die ist – angeregt durch seine Mathelehrerin – auch Niklas Arndt aus Marl zur Junioren-Kopfrechen-WM gekommen. Er profitiert inzwischen jenseits solcher Wettbewerbe ebenfalls davon, immer mehr im Kopf rechnen zu können. 21 ZUSP Arndt: "Ich kann viel besser mittlerweile Zahlen schätzen. Zum Beispiel, wenn ich eine Aufgabe sehe, weiß ich, in welchem Bereich renkt sich das irgendwie ein. Das kommt alles mit der Übung. Ich finde, das hat auch irgendwas, wenn wir jetzt im Matheunterricht eine Aufgabe haben, alle holen ihren Taschenrechner raus, und ich habe es halt schon im Kopf ausgerechnet." MUSIK (bereits unter dem letzten Satz langsam eingeblendet), darüber: SPRECHER: Was Niklas Arndt dank seines Trainings kann, übersteigt bei weitem das, was die meisten von uns beim Kopfrechnen hinbekommen. Doch ganz egal, auf welchem Niveau man es beherrscht: Man muss diese Fähigkeit pflegen, sie immer wieder nutzen. Das betont auch ein anderer Workshop-Leiter bei der Junioren-Weltmeisterschaft: Willem Bouman [Baumann]. Sein Spitzname: "König der Primzahlen". 22 ZUSP Bouman: "Sie müssen trainieren. Denn: 'If you don't use it, you loose it'. Wenn man aufhört mit Rechnen, dann geht auch die Fähigkeit stark herunter. Also man soll, auf Deutsch gesagt, immer am Ball bleiben." SPRECHER: Und dafür ist Bouman [Baumann] das beste Beispiel: Mit über 80 nimmt er immer noch an der Kopfrechen-Weltmeisterschaft für Erwachsene teil. Und knobelt dann an dutzenden Aufgaben wie: Quadratwurzel aus 1147 mal 1517 mal 1271. Die Lösung ist übrigens 47027.
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Dec 13, 2024 • 21min

Stalking - Wenn die „Liebe“ Wahnsinn ist

Prof. Harald Dreßing, Stalkingforscher und Leiter der Abteilung Forensische Psychiatrie am Mannheimer Zentralinstitut für seelische Gesundheit, beleuchtet die erschütternde Realität von Stalking-Opfern. Jeder Achte in Deutschland ist betroffen, oft aus der Nähe ihrer Ex-Partner. Die psychische Belastung und die Gefahren werden eindringlich schildert. Zudem wird die Komplexität des Täterverhaltens untersucht, dabei gibt es keine typische Stalking-Persönlichkeit. Notwendige Unterstützungsangebote und die Herausforderungen im Rechtssystem kommen ebenfalls zur Sprache.
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Dec 12, 2024 • 22min

Improvisation als Lebenskunst - Der Sprung ins kalte Wasser

Alles von vorne bis hinten durchzuplanen, ohne Pannen und böse Überraschungen: für manche eine schöne und vor allem beruhigende Vorstellung. Doch leider funktioniert das Leben oft so nicht. Vieles kommt anders, als man denkt. Und dann ist es von Vorteil, wenn man die Kunst der Improvisation beherrscht. Von Karin Lamsfuß Credits Autorin dieser Folge: Karin Lamsfuß Regie: Martin Trauner Es sprachen: Friedrich Schloffer, Irina Wanka Technik: Fabian Zweck Redaktion: Susanne Poelchau Im Interview:Prof. Georg Bertram, Philosoph FU BerlinAndreas Wolf, Gründer und Leiter des Impro-Ensembles fastfood-theaterCarsten Alex, Aussteiger und CoachInes Klose, UnternehmerinRalf Promper, Leiter der Obdachloseneinrichtung SKM Diese hörenswerten Folgen von Radiowissen könnten Sie auch interessieren: Besonnenheit - Die Kraft der inneren Mitte  HIER Alles anders, alles neu? - Die Psychologie des Umbruchs  HIER Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion: Wie wir ticken - Euer Psychologie Podcast Wie gewinne ich die Kraft der Zuversicht? Warum ist es gesund, dankbar zu sein? Der neue Psychologie Podcast von SWR2 Wissen und Bayern 2 Radiowissen gibt Euch Antworten. Wissenschaftlich fundiert und lebensnach nimmt Euch "Wie wir ticken" mit in die Welt der Psychologie. Konstruktiv und auf den Punkt. Immer mittwochs, exklusiv in der ARD Audiothek und freitags überall, wo ihr sonst eure Podcasts hört. ZUM PODCAST Linktipps:Georg Bertram; Michael Rüsenberg: Improvisieren! Lob der Ungewissheit, Reclam Verlag, 2021Andreas Wolf: Spontan sein. Improvisation als Lebenskunst. ComTeammedia, 2013 Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Radiowissen finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Radiowissen JETZT ENTDECKEN Das vollständige Manuskript gibt es HIER. Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: O-Ton 1 Carsten Alex (0‘03“) Die Zutaten waren in jedem Fall mal keinen Plan zu haben.  O-Ton 2 Carsten Alex (0‘04“) Wir hatten also nur ein One-Way-Ticket: Stuttgart-Mailand-Mailand-Bombay… O-Ton 3 Carsten Alex (0‘05“) Es gab keine feste Planung, es gab auch keinen definierten Zeitpunkt, an dem ich wieder zurückkehren wollte.  O-Ton 4 Carsten Alex (0‘08“) Das war wirklich von null auf tausend.  Ich brauchte auch erst mal Zeit, um in diese Reise hineinzukommen. In dieses Planlose, in dieses Gelassene.  O-Ton 5 Andreas Wolf (0‘10“):  Und das hat viel mit Improvisation zu tun, nämlich das Loslassen. Ein guter Improvisateur kann loslassen, der schlechte Improvisateur - in Anführungsstrichen - kontrolliert.  Musik weg Sprecher:  Ungeplant, spontan, kreativ, ohne Struktur, aus dem Moment heraus – all das sind Merkmale der Improvisation: Wenn die Präsentation auf dem Rechner plötzlich zerschossen ist, wenn das Kind auf der langen Autofahrt nölig wird, wenn das Gepäck auf dem Flug verloren geht, wenn plötzlich Gäste kommen und der Kühlschrank gähnend leer ist – das sind nur wenige Beispiele für die unzähligen Herausforderungen im Leben, in denen Improvisation gefordert ist.  Sprecherin:  Improvisation ist ziemlich anspruchsvoll, sagt Andreas Wolf, Gründer des Münchner Impro-Theater-Ensemble „fastfood-Theater“. Denn es geht dabei gleich um mehrere Dinge: Kontrolle abgeben. Bekannte Strukturen verlassen. Mut aufbringen. Und Gelassenheit: O-Ton 6 Andreas Wolf: (0‘16“)  Also Gelassenheit heißt: getragen werden. Schwimmen lerne ich ja, indem ich vertraue, dass ich oben schwimme. Ich muss gar nicht viel machen, aber ich brauche das Vertrauen. Weil wenn ich strampele aus Angst, gehe ich runter und das ist ja dieses Vertrauen in das Leben.  Musik, dann darüber: Sprecherin:  Vertrauen ins Leben. Mut zur Ungewissheit, Mut zur Improvisation. Das war Carsten Alex nicht unbedingt in die Wiege gelegt. Zunächst ergriff er einen Beruf, der für das genaue Gegenteil steht: klare Regeln, Struktur, Vorhersehbarkeit. Carsten Alex war Schalterbeamter bei der Post.  Irgendwann fühlte ich die klassische Beamtenlaufplan zu eng an. Er studierte  BWL, machte danach Karriere bei einem großen Automobilhersteller. Mit 32 hatte er (alles) : Geld, Macht und Einfluss. Und trotzdem rumorte es weiter in ihm. So dass er eines Tages den Sprung ins kalte Wasser wagte.  O-Ton 7 Carsten Alex (0‘14“):  Gekündigt, Hab und Gut verkauft, meine sehr persönlichen Dinge hab ich eingelagert, und dann bin ich mit einem Rucksack gestartet. Also ich hab mein vorher sehr Konsum- und Material-orientiertes Leben von jetzt auf gleich verändert.  Sprecherin:  20 Monate war Carsten Alex unterwegs. Gemeinsam mit einem Freund. Mongolei, China, Nepal, Indien, China, Loas, Kambodscha. Später Südamerika. Sie ließen sich treiben. Planten maximal bis zum nächsten Tag.  O-Ton 8 Carsten Alex (0‘30“) Gerade das Berufsleben in der Gegenwart erfordert ja ne hohe Zielstrebigkeit, ne hohe Präzision, durchaus auch Planung. Und mal festzustellen, dass das Leben mal ne ganz andere Qualität erreichen kann wenn die Dinge nicht so durchgeplant sind, dass ich Menschen eine Chance gebe, dass ich Begegnungen und Zufällen eine Chance geben kann und nicht immer von dem einen zum nächsten Termin hetzen muss. Und ich habe neun Monate gebraucht um die lange-Weile genießen zu können. Sprecherin:  20 Monate lang Improvisation, 20 Monate Leben aus dem Moment heraus. Oft wussten er und sein Freund nicht, wo sie die nächste Nacht verbringen würden. Es gab dauernd unerwartete Situationen. Beispiel: Bangladesch. Generalstreik, begleitet von Straßenkrawallen. Nichts ging mehr.  O-Ton 9 Carsten Alex (0‘24“)   In Bangladesch hatten mich hatten mich vier junge Burschen gefragt, ob ich nicht bei ihnen wohnen möchte. Und ich war verdutzt: „Wie? Wo?“  „Ja, bei meiner Familie!“ Und hab zwei Sekunden nachgedacht und hab gesagt „Ich mache es!“ Und diese fünf Tage in einem muslimischen Haushalt zu erleben und dort Gast zu sein, das hat mich sehr stark berührt. Und in meiner verkopften Welt hier wäre ich dem so nicht nachgegangen!  Musikzäsur Sprecher:  Das Wort „Improvisation“ wird in mehreren Zusammenhängen benutzt: Erstens: Handeln aus dem Moment heraus, ohne Vorbereitung, aus dem Stehgreif. Zweitens: Spontane Lösungen für unvorhersehbare Probleme finden. Drittens: Kreativer Umgang mit dem Mangel. Also aus „nichts“ etwas zaubern. Zurück geht das Wort auf das Italienische „all improvviso“. Plötzlich. Abrupt. Unerwartet. Ist Improvisieren also ein relativ neues Phänomen? Schließlich hat die italienische Sprache in ihrer heutigen Form ihren Ursprung im 14. Jahrhundert. Sprecherin:  Nein, sagt der Philosoph Prof. Georg Bertram, der das Buch „Improvisieren – Lob der Ungewissheit“ geschrieben hat. Er sagt: Improvisieren gehörte schon immer zum Menschsein dazu.  O-Ton 10 Georg Bertram (0‘21“):  Denken wir an Heraklits berühmtes „Alles fließt“. D.h. wenn alles fließt, wenn alles nicht fest ist, heißt das, dass wir im Grunde uns darauf einstellen können, dass das unsere wesentlichen Fähigkeiten sind, auf das sich stets Verändernde zu reagieren. D.h. wir, die wir im Fluss sind oder wo auch immer, sind stets mit sich verändernden Realitäten konfrontiert.  Musikzäsur Sprecher:  Auch wenn es dem einen leichter und der anderen schwerer fällt: Jeder Mensch muss im Alltag improvisieren. Keiner kommt ohne diese Fähigkeit durch Leben.  Sprecherin:  Es beginnt, so Georg Bertram, bereits in jedem halbwegs anspruchsvollen Gespräch, das über den einfachen Small-Talk herausgeht. O-Ton 11 Georg Bertram (0‘24“) Denken wir an einen Beziehungskonflikt. Wenn ich mit dem Partner der Partnerin über irgendwas, was im Argen liegt, beginne ernsthaft zu streiten, ist ganz klar, dass ich nicht weiß, was sie vorbringen wird, was er vorbringen wird, und darauf reagieren zu können. Und zwar auf ne angemessene Art und Weise reagieren zu können. Wenn im Grunde ich mir so ein paar Schema-Antworten zurechtlege, wird das Gespräch notwendigerweise schief gehen. Weil die Schema-Antworten nicht passen. Sprecherin:  Andreas Wolf sagt: Zur Improvisation braucht man Neugier, Offenheit und Mut. Der Impro-Theater-Gründer lehrt das auch in Workshops für Menschen, die lernen möchten, beruflich oder privat besser und leichter zu improvisieren. Eine einfache Übung, die auch jeder zuhause nachmachen kann, sind Wortspiele: O-Ton 12 Andreas Wolf (0‘15“) Die Vorgabe ist: Ich stehe mit meinem Partner in der Küche und soll Spaghetti kochen. Dann sage ich „Wir“, sagt der andere „gehen“, sage ich „zum Schrank und öffnen die Schublade“ Sprecherin:  So weit so gut. Und dann kommt eine Störung. So wie das Hindernis im richtigen Leben. Das Gegenüber wirft das – zunächst unsinnig klingende - Wort „Oper“ ein. O-Ton 13 Andreas Wolf (0‘29“) Okay, gut. Wir gehen zur Oper. Und dann suche ich vielleicht in der Oper eine Location, ein Restaurant, das Opernrestaurant und gehe dort in die Küche und fang dort in der Opernküche an zu kochen. Vielleicht in der Kantine von der Oper, vielleicht im Restaurant, von der Oper. Oder vielleicht stehe ich auf der Bühne, dass wie es halt kommt. Ich versuche immer, alles ganz in die Aufgabe zu integrieren, nämlich zum Beispiel in der Küche irgendwas zu kochen, Spaghetti zu kochen. Jetzt bin ich in der Oper gelandet. Gut, wir kochen Spaghetti auf der Bühne und singen dabei „O sole mio“.  Ggf. hier „o sole mio“ , falls das nicht zu platt ist. Sprecher:  Improvisation ist wie ein Tanz: der eine sagt etwas, die andere reagiert. Die eine tut etwas, der Andere nimmt den Impuls auf. Im Impro-Workshop in Wortspielen, im Leben in einem kreativen Gedankenaustausch.  Sprecherin:  Improvisation ist nichts, was im luftleeren Raum stattfindet, sondern ist oft das Ergebnis einen guten und verbundenen Miteianders, so der Philosoph Georg Bertram: In der Musik, im Tanz, beim Impro-Theater, bei Mannschaftssport, im konstruktiven Dialog: Immer ist es wichtig, auf die Töne des anderen zu hören.  O-Ton 14 Georg Bertram (0‘40“)  Zu dem falschen Bild von Improvisation gehört aus meiner Sicht, das wir denken: Das Improvisieren geht wesentlich aus einer isolierten Reaktion aus irgendwas, womit wir konfrontiert sind, hervor; und ich glaube, das richtige Bild ist, dass wir im Grunde jede Reaktion im Improvisieren als einen Impuls für weitere Reaktionen zu verstehen haben. So dass es gar nicht um ein einfaches Reagieren, sondern um ein Verbundensein von Reaktionen geht. Und das heißt, dass das Improvisieren ein soziales Moment hat, d.h. dass Improvisieren  wesentlich dieses Sich-Konfrontieren mit einer Perspektive und mit Impulsen, die von anderen ausgehen, bedeutet. Und dass in diesem Sinne improvisatorische Fähigkeiten hochsoziale Fähigkeiten sind. Musikzäsur geht über in Küchenatmo, dann darüber Sprecherin:  Berge von Zucchini, Paprika, Aubergine, Staudensellerie, Rote Rübe, Pastinake türmen sich auf den Arbeitsflächen der Großküche. Der Duft von frisch gehackter Petersilie, Minze, Basilikum und Thymian wabert durch die Luft O-Ton 15 Ines Klose (0‘22“)“  Die kochen hier freitags immer das ganze Gemüse weg, damit die Kräuter nicht weggeworfen werden müssen, was kriegen wir eigentlich heute? Koch: Eine Gemüsepfanne. Eine mediterrane Gemüsepfanne. Mit viel frischen Kräutern. Und dazu gibt’s nen Bulgur.“ Und da haben wir ein paar Kirschtomaten… (O-Ton geht weiter) Darüber Sprecherin:  Ines Klose ist eine wahre Improvisationskünstlerin. Sie hat mit Ihrem Catering-Unternehmen das geschafft, wovon alle sagen: Das kann nicht klappen! Sie kocht gesunde und vollwertige Kita- und Schulverpflegung zu einem Verkaufspreis um die drei Euro.  Dafür muss sie an allen Ecken und Enden improvisieren: die Brühen sind selbst gemacht, das Brot selbst gebacken, sämtliche Reste werden verwertet, sie verzichtet grundsätzlich auf Convenience-Produkte. Kein Zucker, keine Geschmacksverstärker. Die Kinder, die bis dato vor allem auf Junk Food standen, mussten mit viel Kreativität überzeugt werden von der gesunden Vollwert-Küche. O-Ton 16 Ines Klose (0‘19“) Es war nicht einfach. Die Kinder schrien gerade in den sozialen Brennpunkten nach Fritten, Hotdogs, Hamburger, Döner, jooo… wir sind ihnen manchmal so ein bisschen entgegengekommen, nicht indem wir uns verraten haben, sondern dass ich versucht habe, aus unseren Gewürzen den Geschmack genauso herzustellen, wie er im Grunde genommen dann eigentlich auch an der Frittenbude zu erhalten ist! Sprecherin: Es erforderte viel Kreativität und Improvisationskunst den massiven Widerständen zu begegnen.  O-Ton 17 Ines Klose (0‘19“) Oder wenn sie schreien „die Linsensuppe, die wollen wir nie wieder haben!“, dann gehe ich da hin: Wie machen wir das denn? Und dann nehmen wir vier Kinder, die, die am lautesten geschriene haben „Die Linsensuppe wollen wir nicht!“ und dann koche ich mit den vier Kindern Linsensuppe für die komplette Schule, und dann sind die so stolz, und es schmeckt ihnen, und dann mag die ganze Schule auf einmal Linsensuppe! Sprecherin:  Heute hat Ines Klose 14 festangestellte Mitarbeiter und kocht mit ihrem Team 2.000 Schulessen am Tag.  Musikzent: Sprecher:  Um die Ecke denken, neue Wege gehen. Kreativ werden, wenn sich Hindernisse in den Weg stellen. Das ist die hohe Kunst der Improvisation.  O-Ton 18 Andreas Wolf (0‘22“) Also wir haben ja so eine Linearität in unserem Handeln drin und in diese Linearität, von der wir glauben, dass sie einen bestimmten Weg hat, kommt ein Hindernis. Man hat was anderes geplant. Und der Umgang damit und die Leichtigkeit, mit der ich das hinbekomme, ist halt die Kunst der Improvisation. In dem Moment, wie ich trotzdem zu meinem Punkt B komme und gehe mit dem, was mir da in den Weg kommt, leicht um.  Sprecherin:  Ines Klose gibt kostenlose Kochkurse für Kinder und Jugendliche, wirbt auf Elternabenden mit ihrer gesunden Vollwertküche.  Zwölf Jahre Improvisationskunst. Niemand glaubte an ihre Idee. Einen Gründungskredit gab es nicht. Anfangs habe sie dabei draufgezahlt, erzählt sie.  O-Ton 19 Ines Klose (0‘11“) Ich habe die Firma aufgebaut mit nichts, ich weiß sogar, was es heißt, manchmal etwas zu wenig zu essen zu haben. Aber wenn man so was erlebt, dann weiß man auch, wie es geht: Wie man aus Nichts was kocht! Musikzent Sprecher:   Aus nichts etwas zaubern: Das ist ein weiterer Aspekt der Improvisation. Heute, wo wir fast alles im Overnight-Service bestellen können, ist diese Fähigkeit kaum noch gefordert. Früher aber, in Zeiten des Mangels, der Knappheit und der Armut war Improvisationskunst überlebens-notwendig. Über Musik Sprecher:  „Arme Ritter“ aus altbackenen in Rahm und Eiern eingeweichte Brötchen. Oder Brotsuppe. Das sind Gerichte, die im Mangel entstanden sind. Aus Resten, die vielleicht noch in der Vorratskammer zusammengekratzt wurden. Und weil es keine Kühlschränke gab, wurde fermentiert oder geräuchert. Oder Lebensmittel im natürlichen Erdkühlschrank durch den Winter gebracht.  Musik weg Sprecher:  Was damals aus der Not heraus improvisiert wurde, ist heute Bestandteil einer wiederentdeckten Kultur. Die alten Techniken finden immer mehr Anhänger. Sprecherin:  Der Philosoph Georg Bertram betont jedoch: Improvisation funktioniert nie aus einer Art Nullzustand heraus. Sondern sie greift immer zurück auf Fähigkeiten, die der- oder diejenige zuvor bereits erworben hat:  O-Ton 20 Georg Bertram (0‘17“) D.h. ich muss mir Fähigkeiten angeeignet haben zu reagieren, überhaupt praktisch tätig zu sein. Und in diesem Moment auch zu nutzen. Ich muss aber auch Fähigkeiten haben, so einen Moment zu erkennen. Und insofern würde ich sagen: Das Improvisieren ist bei Lichte gesehen etwas, das eine hohe kulturelle Errungenschaft darstellt.  Sprecher:  Analogien bilden. Um die Ecke denken.  Dinge miteinander kombinieren, die bislang noch nichts miteinander zu tun hatten. Den Geist weiten.  All das kann man lernen – etwa in Impro-Theater Workshops. Man kann aber bereits bei Kindern diese Fähigkeit fördern, so Andreas Wolf vom Impro-Theater fastfood. Oder eben schon früh im Keim ersticken:  O-Ton 21 Andreas Wolf (0‘32“) Man kann den Kindern fertige Dinge geben, also Dinge, wo sie ihre Fantasie nicht mehr benutzen müssen. Man könnte aber auch denen einen Legostein hinsetzen, dann baue ich mir was und dann fange ich an meine Fantasie, meine Welt hinein zu leben. Und das ist natürlich, da kommt Poesie natürlich ins Spiel. Und auch der Aspekt der Schönheit und Ästhetik, finde ich.  [[ Und das ist etwas, was man Kindern leider über die Art zu konsumieren oft vorenthält in dieser Welt. Dass sie über wenig oder offene Dinge, mit denen sie spielen, ihre Fantasie entwickeln können.]] Musikzäsur Sprecher:  Die Anlage zur Improvisation hat im Prinzip jeder. Es geht nur darum, diese Fähigkeit einzuüben, zu stärken und sie sich überhaupt zuzutrauen. Wer nicht alles durchplant, sondern Leerstellen im Alltag lässt, mal andere Wege geht, neue Dinge ausprobiert, phantasievoll rumspinnt und tagträumt, ebnet den Weg dorthin. Möglicherweise ist das eine gute Vorbereitung, der schweren Krisen umzugehen. Mit Ausnahmesituationen, für die es keine Blaupause gibt: Sprecherin:  In der Corona-Pandemie wurde die Improvisationskunst der Menschen weltweit auf eine , harte Probe gestellt. Niemand konnte auf eingespielte Abläufe zurückgreifen. In Kliniken, Altenheimen, Unternehmen, Schulen, Familien… fast überall wurde zwangsweise improvisiert.  Atmo Bahnhofsvorplatz Sprecherin:  Frühjahr 2020. Der erste Lockdown. „Stay home“ ,. Die Leute sollten zuhause bleiben. Doch was, wenn man gar kein Zuhause hat? Für die Obdachlosen war der Lockdown eine existenzielle Herausforderung. Irgendwie hatte man sie vergessen… In den menschenleeren Innenstädten konnten sie weder Flaschensammeln, noch einen Euro erbetteln. Alle Hilfseinrichtungen waren geschlossen. Für die Obdachlosenhilfe des SKM, den Sozialdienst katholischer Männer, hieß das: , Man mute  sich etwas Neues einfallen lassen. Im großen Stil improvisieren.  Atmo Bahnhofsvorplatz noch mal hoch Sprecherin:  Der SKM verlagerte sein Hilfsangebot spontan ins Freie, auf den Bahnhofsvorplatz. Stellte dort ein paar Duschzelte auf, baute eine ellenlange Tafel auf und verteilte während des Lockdowns insgesamt 16.000 Lunchpakete. Kamen vorher täglich 40 Obdachlose zum Essen, waren es plötzlich 400 – weil alles geschlossen war. In der Not öffneten sich neue Türen: In dieser Zeit passierte vieles, so erinnerte sich der Leiter Ralf Promper, was zuvor undenkbar gewesen wäre.  O-Ton 22 Ralf Promper (0‘10“) Nebenan hatten wir ein Hotel, die mussten zumachen. Die hatten Lebensmittel übrig. Und dann kam die Frage „Was braucht ihr denn noch?“ Und die Passanten kamen dann mit dem Fahrrad, mit dem Auto und haben die Sachen dann vorbeigebracht. Sprecherin:  Die lange Schlange aus 400 Menschen machte die Not sichtbar, die vorher mehr im Verborgenen stattgefunden hatte. . Das löste bei vielen Passanten den spontanen Wunsch aus, mitzuhelfen. O-Ton 23 Ralf Promper (0‘18“):  Ganz viele Leute, die ihren eigenen Beruf nicht ausüben konnten: Lehrerinnen, Lehrer, Leute von der Oper, die wollten was Sinnvolles tun und haben dann einfach bei der Lebensmittelverteilung und bei der Kaffeeausgabe mitgeholfen, und das sind Leute: Gleich, wenn wir wieder öffnen, da ist auch jemand, der ist hängen geblieben.  [[ Atmo Kontaktstelle Sprecherin:  Zu den „Hängengebliebenen“ gehört Laura, eine 30jährige Sozialarbeiterin. Sie wurde während Corona arbeitslos, musste sich etwas einfallen lassen und half bei der Obdachlosenhilfe mit. Obwohl sie heute wieder einen Job hat, kommt sie nach wie vor stundenweise vorbei: O-Ton 24 Laura (0‘28“) Mir persönlich macht das deshalb so viel Freude, weil ich es wichtig finde zu sehen, dass viele Leute viel Pech hatten und deswegen in einer Situation sind, die für mich so auch nicht nachvollziehbar ist, und zu sehen, dass ich mit so wenig – mit Freundlichkeit, mit Strahlen in den Augen, mit Respekt und Gesprächen auf Augenhöhe viel geben kann, dass die Leute das dankbar annehmen, dass sie sich freuen, dass man mit ihnen spricht, ohne Vorurteile.]] Sprecher:  Viele gute Ideen wurden damals aus der Not geboren. Die Pandemie setzte ungeahnte Potentiale frei: an spontaner und kreativer Improvisation. Klar ist: Es wurden schwerwiegende Fehler gemacht. Alte Menschen sind einsam auf Intensivstationen gestorben, Kinder durften monatelang nicht in die Schule, Ungeimpfte wurden unter Druck gesetzt. Es gibt zahlreiche Punkte, die heute scharf kritisiert werden. Musikakzent Sprecher:  Das ist die Schattenseite der Improvisation. Sie kann schief gehen. Man kann scheitern beim Sprung ins kalte Wasser. Sprecherin:  Das, so Andreas Wolf, Leiter des Impro-Theater-Ensembles fastfood, sei die größte Herausforderung. Und gleichzeitig auch die größte Angst derer, die seine Impro-Workshops besuchen. O-Ton 25 Andreas Wolf (0‘35“) Angst ist ja das ganz, ganz große Hindernis, die Angst zu scheitern. Und das ist etwas, was ich in – weiß nicht - Tausenden von Kursen ständig bemerke, dass die Prägung, die wir in unserer Kultur haben, die Schulprägung, wo es nur um falsch und richtig geht, dass die die Menschen wirklich aus ihrer, aus ihrem Potenzial nimmt. dann bleibt sofort der Atem stehen, die Leute kriegen Schreck, und da ist die Angst, da ist die Angst zu scheitern. Das ist wirklich tief sitzend und das Umzupolen ist wirklich ein langer Weg.  Musikakzent Sprecherin:  Auch bei Carsten Alex, der 20 Monate lang ohne Plan durch die Welt gereist ist, lief nicht alles rund. Seine Spontaneität, seine Offenheit wurde an manchen Stellen zur Blauäugigkeit.  O-Ton26 Carsten Alex (0‘29“) Ne weniger schöne Situation – es war ja nicht alles nur himmelblau und rosa: als ich seinerzeit in Mexiko-City war, bin ich einem Trickbetrüger aufgesessen, der mir glaubhaft versicherte, dass er gerade überfallen worden wäre, und ich in meiner unendlichen Seligkeit und hab dem Mann dann tausend Dollar geliehen, damit er seinen Notfall löst. Ich hab nicht eine Minute drüber nachgedacht, dass das eventuell gefakt sein könnte. ((Und die tausend Dollar hab ich dann abschreiben dürfen. )) Sprecherin:  Trotz alledem will er sein improvisiertes Abenteuer um nichts auf der Welt missen. Die Zeit hat eine tiefe Prägung hinterlassen: Obwohl er nach seiner Rückkehr wieder bei dem Automobilhersteller anfing, hat er kurz darauf seinen Job geschmissen. Er kam mit den festen Strukturen nicht mehr klar und arbeitet heute freiberuflich als Autor und Trainer.  Musikzäsur Sprecherin:  Für Andreas Wolf ist Improvisation keine Verlegenheitslösung, sondern eine Lebenskunst. So heißt auch sein gleichnamiges Buch. Er möchte Menschen Mut machen, Strukturen zu verlassen, den Moment zu „packen“ mit seinen Chancen. Und dabei das Funktionale ab und an mal über Bord zu werfen. Frei nach dem Motto: Sprecher:  Leben ist das, was passiert, während man Pläne macht! O-Ton 27 Andreas Wolf (über Musik) (0‘21“)  Da komme ich aber nur hin, wenn ich selber beweglich bin. Es ist ja eben auch eine Lebenskunst. Und in der Kunst steckt ja auch immer etwas, was mit Schönheit zu tun hat. Es geht darum, die Schönheit in der Partnerschaft, in der Kommunikation, in der Beziehung zu entdecken, in der Kooperation. Dann kommt auch die Großzügigkeit dazu. Und erst in diesem Fall wird der Geist weit. Musik noch mal hoch O-Ton 28 Andreas Wolf (0‘23“):  Am Ende sage ich auch immer: Wann bin ich authentisch? Wenn ich spontan reagiere, weil dann reagiere ich aus mir heraus. Dann verstelle ich mich nicht. Wenn ich spontan bin, verstelle ich mich nicht. Und was lieben die Menschen mehr als einen spontanen Menschen? Die anderen mögen das. Wir mögen es auch, wenn jemand spontan ist und so, wie er ist, weil wir dann sofort einen Zugang haben. So ist er oder sie genau so! Da ist keine Verstellung! Und da komme ich bei mir selber an!
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Dec 12, 2024 • 23min

Ludwig Hirsch - Dunkelgraue Lieder aus Wien

Der Wiener Liedermacher Ludwig Hirsch gewann mit seinen dunkelgrauen Liedern Kultstatus. Sie waren seine Antwort auf das graue Wien mit "seiner Zentralfriedhofs-Atmosphäre und seinem Altweiber-Faschismus". Die melancholischen Melodien seiner Lieder verwandelte er mit seinen bissigen Texten zu akustischem Theater. Von Frank Halbach (BR 2023) CreditsAutor dieser Folge: Frank HalbachRegie: Frank HalbachEs sprachen: Irina Wanka, Thomas BirnstielTechnik: Wolfgang LöschRedaktion: Susanne Poelchau Das Manuskript zur Folge gibt es HIER. Diese hörenswerten Folgen von radioWissen könnten Sie auch interessieren: Franz Grillparzer - Der österreichische NationaldichterJETZT ANHÖREN Die Wiener Werkstätte und die Frauen - Textildesign, Mode und KeramikJETZT ANHÖREN Gustav Klimt - Der Wiener Maler und der KussJETZT ANHÖREN Literaturtipps: Cornelia Köndgen: Mit einem kleinen Schuss ins Rot: Die Jahre mit Ludwig Hirsch. Wien 2013. Andy Zahradnik/Cornelia Köndgen/ Johann M. Bertl: I lieg am Ruckn – Erinnerungen an Ludwik Hirsch. Wien 2016. Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. RadioWissen finden Sie auch in der ARD Audiothek:ARD Audiothek | RadioWissenJETZT ENTDECKEN
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Dec 11, 2024 • 23min

Bergsturz - Bedrohte Berge

Bergstürze gehören zur Natur der Alpen genauso wie ihre Auffaltung. Aber sie bedrohen Menschen und Infrastruktur. Geologen versuchen deshalb die Zerfallsprozesse mit Einsatz von viel Technik vorherzusehen. Von Georg Bayerle (BR 2020) Autor dieser Folge: Georg Bayerle Regie: Christiane Klenz Es sprachen: Irina Wanka, Andreas Discherl Technik: Peter Preuß Redaktion: Matthias EggertDas Manuskript zur Folge gibt es HIER.
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Dec 11, 2024 • 22min

Kultur des Todes - Geschichte des Friedhofs

Grabstätten gehören zu den ältesten Zeugen menschlicher Zivilisation: Von Gräberfeldern und Nekropolen entwickelten sie sich mit der Christianisierung zum Friedhof. Dieser Ort des Gedenkens wandelt sich heute mehr und mehr zu einem Schauplatz, der das menschliche Streben nach Individualität widerspiegelt. Von Frank HalbachCredits Autor dieser Folge: Frank Halbach Regie: Frank Halbach Es sprachen: Ditte Ferrigan, Stefan Wilkening, Ines Hollinger Technik: Daniela Röder Redaktion: Thomas Morawetz Im Interview: Dr. Thorsten Benkel und Matthias Meitzler (Soziologen und Thanatologen), Universität PassauProf. Dr. Dr. Ina Wunn, Religionswissenschaftlerin und Biologin Diese hörenswerten Folgen von Radiowissen könnten Sie auch interessieren: Der Tod und wir - Rebellion gegen die Endlichkeit Wie gehen wir mit unserer Sterblichkeit um? Wie hängen Lebenskunst und Wissen um die eigene Endlichkeit zusammen? Welche Rolle spielt der Trost der Religion? Antworten aus der Psychoanalyse und der Philosophie. (BR 2018) Autorin: Inka Kübel  HIER ENTDECKEN Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion: Skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Das Kalenderblatt erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum. Ein Angebot des Bayerischer Rundfunks. DAS KALENDERBLATT  Frauen ins Rampenlicht! Der Instagramkanal frauen_geschichte versorgt Sie regelmäßig mit spannenden Posts über Frauen, die Geschichte schrieben. Ein Angebot des Bayerischer Rundfunks. EXTERNER LINK | INSTAGRAMKANAL frauen_geschichte Literatur: Thorsten Benkel, Matthias Meitzler: Körper - Kultur - Konflikt: Studien zur Thanatosoziologie (Thanatologische Studien - Thanatological Studies). Baden-Baden 2021. Thorsten Benkel, Matthias Meitzler Gestatten Sie, dass ich liegen bleibe. Ungewöhnliche Grabsteine. Eine Reise über die Friedhöfe von heute. Köln 2014. Thorsten Benkel, Matthias Meitzler: Game Over. Neue ungewöhnliche Grabsteine. Köln 2016.  Ina Wunn , Patrick Urban , et al.: Götter - Gene - Genesis: Die Biologie der Religionsentstehung. Heidelberg 2015. Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Radiowissen finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Radiowissen JETZT ENTDECKEN Das vollständige Manuskript gibt es HIER. Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: ZITATORIN Noch niemals hat mich so wie heut Des Todes Poesie gerührt, Da mich mein Pfad beim Nachtgeläut Zum engen Friedhofstor geführt. SPRECHER Ein Raum für ungestörtes Totengedenken: der Friedhof. ZITATORIN Wie liegen sie so still und traut, Umglüht vom gleichen Abendschein, Vom gleichen Lenzduft übertaut, Die blumenbunten Gräberreih’n, SPRECHER Dichtet Frida Schanz, eine der beliebtesten Kinder- und Jugendbuchautorinnen vor dem Ersten Weltkrieg, über den Friedhof, einen von den Lebenden abgegrenzten Ort. MUSIK ENDE O-Ton 2 Meitzler (16:58) Dieses Image als düsterer, weltvergessener Ort… SPRECHERIN Der Totenacker, das Gräberfeld, die Gruft, das Mausoleum, die letzte Ruhestätte… SPRECHER Ein Ort des Gedenkens, der Einkehr und der Trauer. O-Ton 3 Meitzler (13:13) Friedhof ist eben nicht nur der Ort, der Trauer und der Melancholie, sondern es kann auch durchaus ein sehr lebendiger Ort sein, den man auch zu ganz anderen Zwecken aufsuchen kann. SPRECHERIN Ein heiliger Ort O-Ton 4  Benkel (03:11)  Friedhöfe haben eine ganz klassisch profane Funktion, sie sind Speicherstätten für tote Körper. Die müssen ja irgendwohin. (…) 03:32 Ganz profan pragmatisch. Wird dann natürlich mehr oder minder intensiv, je nachdem, wo man ist, durch Ritualität, Zeremonien und so weiter aufgewertet. Wobei das heutzutage nicht mehr so eine große Rolle spielt. SPRECHER Dr. Thorsten Benkel. Er und sein Kollege Matthias Meitzler, beide am Lehrstuhl für Soziologie an der Universität Passau, sind Thantologen. SPRECHERIN Sie forschen zu den Themenfeldern Sterben, Tod und Trauer. Matthias Meitzler: O-Ton 5 Meitzler (01:24) Im Prinzip sämtliche Facetten dieser ganz großen Thematik. Das geht los beim Sterben. Das führt zu der Frage: Was passiert eigentlich mit einem toten Körper? Wie wird heutzutage bestattet? Wie sind Gräber gestaltet? Und was kann man denn ganz allgemein sagen: Wie hat sich das Verhältnis zu Sterben, Tod und Trauer verändert? Das ist so ein Forschungsschwerpunkt von mehreren, und den bearbeiten wir seit einiger Zeit sehr intensiv. MUSIK 2 ; ZEIT: 00:25 SPRECHERIN Grab- und Kultstätten sind gehören zu den ältesten Zeugnissen menschlicher Zivilisation.  SPRECHER Schon seit der frühen Steinzeit bestatten Menschen ihre Toten. In der frühesten Epoche der Menschheitsgeschichte entstehen verschiedene Vorstellungen vom Weiterleben nach dem Tod und Ahnenkult. MUSIK ENDE O-Ton 6 Wunn (01.37) Am Anfang war der Tod. SPRECHERIN Sagt Dr. Dr. Ina Wunn, Biologin und Professorin für Religionswissenschaft. SPRECHER Archäologischen Funde früher Bestattungen, in Form demonstrativer Gräber, gelten gemeinhin als Beweisstücke für die ersten menschlichen Vorstellungen vom „Übersinnlichen“. SPRECHERIN Dabei haben sie zunächst einen ganz diesseitigen praktischen Zweck: O-Ton 7 Wunn (02.18) Wenn man das Ganze aber aus einer biologischen Warte betrachtet oder auch aus einer ethnologischen Warte, dann wird man feststellen: Diese demonstrativen Grabstätten gibt es immer da, wo Territorien markiert werden. Also da, wo Völker leben, oder Stämme leben, oder Gruppen leben, die Jäger sind und Sammler und die auf ein großes Territorium angewiesen sind. Und die markieren mit den Begräbnissen einfach das Land, was sie für sich zum Jagen und zum Sammeln beanspruchen. Und genau so haben das bereits vor 90.000 Jahren die ersten Bewohner Europas gemacht. Haben also einfach ihre Toten bestattet, haben unter Umständen den Schädel, den sie vorher schön säuberlich bearbeitet hatten, also alles Fleischige davon entfernt, haben sie auf die Begräbnisstätte gelegt, um deutlich zu machen, hier sind wir schon, dieses Land haben wir von unseren Vätern und Großvätern ererbt, das ist unseres. ZITATORIN Die erste Haltestelle im Jenseits.  SPRECHERIN Zunächst einfach eine Grenzmarkierung. MUSIK privat Take 003 „Ancient Mystery“; Album: Ancient Atmospheres; Label: 2011 Network Music; Interpret: Network Music Ensemble; Komponist; Network Music Ensemble; ZEIT: 01:50 SPRECHER Mit der Entfaltung der ersten Hochkulturen entwickelte sich ein regelrechtes Bestattungswesen. ZITATORIN Die Geheimnisse der Unterwelt, die Initiation in die Mysterien des Totenreichs, Berge aufzubrechen und Täler aufzuschließen, Geheimnisse, die niemand kennt zur Behandlung des Verstorbenen…  SPRECHER Heißt es im ägyptischen Totenbuch, entstanden um 2.500 vor Christus. Im Alten Ägypten e erblühte ein ausgeprägter Totenkult mit Pyramiden, dem Tal der Könige und Nekropolen für die kunstvoll mumifizierten Leichen von Pharaonen, Würdenträgern und Beamten als letzte Ruhestätten. ZITATORIN Eikōn hē lithos Eimi. tithēsi me Seikilos entha mnēmēs athanatou sēma polychronion darüber Ich bin ein Bild in Stein; Seikilos stellte mich hier auf, in ewiger Erinnerung, als zeitloses Symbol. SPRECHERIN Im antiken Griechenland, Kreta und Kleinasien entstanden Orte außerhalb des städtischen Lebens, an denen die Toten bestattet wurden: Gräberfelder oder Felsengräber. Nicht selten erbaute man in der Nähe ganze Tempelbezirke, wo Rituale zu Ehren der Toten vollzogen wurden. ZITATORIN honc oino ploirume cosentiont Romani / duonoro optumo fuise viro  darüber Dieser ganz allein, so stimmen die meisten Römer überein / sei der allerbeste Mann gewesen.  SPRECHER Lautet die Inschrift auf dem Grab des Konsuls Lucius Cornelius Scipio aus dem dritten Jahrhundert vor Christus. Die Römer schließlich organisierten ihre Grabstätten auf unterschiedlichste Art und Weise. Die Reichen ließen sich gerne entlang von Ausfallstraßen bestatten, wo sie prächtige Gedenktafeln, monumentale Stelen oder prunkvolle Mausoleen errichten ließen. Die Kapitale Rom barg außerdem eine ganze unterirdische Totenstadt, in deren Katakomben über 850.000 gesellschaftlich nicht ganz so hochstehende Verstorbene in Nischen eingemauert wurden. MUSIK ENDE ATMO Glocke SPRECHERIN Die Christianisierung machte dann Schluss mit Gräbern außerhalb der Siedlungen. Sowohl die auf germanisch-keltischer Tradition beruhenden außerörtlichen Gräberfelder als auch die Feuerbestattung wurden als heidnisch verurteilt. SPRECHER Es war Zeit für die letzte Ruhestätte im eingefriedeten Kirchhof, im geweihten Bereich der Kirchengebäude. Ein Ort der Ruhe und der Besinnung… ATMO ENDE MUSIK 4  „Saltarello“; ZEIT: 00:20 ZITATORIN Gespannte Leinen zum Trocknen der Wäsche, beim Spielen laut schreiende Kinder, streunende Hunde, zechende, kartenspielende und raufende Soldaten…  MUSIK ENDE O-Ton 8 Meitzler (17:41) Denn im Mittelalter war der Friedhof eben nicht am Rand, sondern er war im Zentrum der der Stadt oder des Dorfes. Da ging man fast täglich hin, zumindest einmal wöchentlich, wenn man noch zur Kirche gegangen ist. Da haben dann teilweise Märkte stattgefunden, auf den Friedhöfen aus. Da pulsierte das gesellschaftliche Leben, und das kann man jetzt eben schon seit längerer Zeit nicht mehr sagen. Da kann man schon überlegen, ob das auch was zu tun hat mit der vielzitierten Verdrängung des Todes. SPRECHER Ruhiger lag man im Altarraum oder in der darunter liegenden Kirchengruft - ein hohes Privileg, das lediglich der Familie des Kirchenstifters, dem Kirchherren oder kirchlichen Würdenträgern zustand. Nur die Wohlhabendsten konnten sich ein Begräbnis innerhalb der Kirche leisten. SPRECHERIN Der Tod machte also keineswegs alle gleich: Ständische oder soziale Unterschiede setzten sich auf dem Kirchhof fort. Je höher der Status, desto näher wurde man an der Kirche begraben. SPRECHER Unterschiede, die selbstverständlich auch in Aufwand und Pracht der Grabgestaltung schnell sichtbar werden. MUSIK 5 „Kyrie“; ZEIT: 01:20 SPRECHERIN Und das Grabmal gewinnt an künstlerischer Bedeutung. Die Gräber der oberen Zehntausend im Chor und in anderen Bereichen der Kirche sind natürlich auch am besten erhalten. Grabplatten sind die ältesten und zahlreichsten bewahrten Grabmäler. Inschriften darauf verraten Namen und den Todestag, Wappen bezeugen die Herkunft. ZITATORIN Hic iacet … -  Hier ruht … SPRECHER Grabmäler gehörten damals freilich nicht zu den Gedenkmöglichkeiten breiter Bevölkerungskreise. Die fanden ihrer Ruhe meist in Gräbern ohne Grabkennzeichnung und häufig in Gemeinschaftsgräbern.  SPRECHERIN Mit der Neuzeitzeit ab dem ausgehenden 16. Jahrhundert erscheint auf den Grabmälern der Knochenmann. Er symbolisiert: Alles ist eitel, alles ist vergänglich. ZITATORIN memento mori / heri mihi hodie tibi - Gedenke der Sterblichkeit /Gestern mir, heute dir. SPRECHER Bilder des Vergangenen und des Vergehenden wie Schädel oder Sanduhren werden zu dominanten Motiven. MUSIK ENDE SPRECHERIN Die Pest, später Pocken oder Cholera führen zu Wohnraummangel auf den Friedhöfen. Noch dazu möchte man die Seuchenopfer aus Angst vor Ansteckung ungern in der Ortsmitte begraben. In Nürnberg zum Beispiel wird schon 1517 angeordnet, dass von Ausnahmen für hohe Würdenträger abgesehen niemand mehr innerhalb der Stadtmauern begraben werden soll. München beauftragt 1545 zwei ihrer Ratsleute mit der Planung von zwei Gottesäckern vor den Toren der Stadt.  SPRECHER 1563 wird in München der äußere Friedhof vor dem Sendlinger Tor eingeweiht: Seuchenopfer, hingerichtete Verbrecher, Prostituierte, Selbstmörder und Ungläubige – also alle Nicht-Katholiken – finden ihre letzte Ruhe auf der aus Platzmangel geborenen Begräbnisstätte. SPRECHERIN Heute eine der schönsten Friedhöfe Deutschlands: der Alte Südfriedhof an der Thalkirchener Straße. ZITATORIN Die Aufhebung der inneren Freithöfe im Jahre 1789 machte dessen Vergrößerung nothwendig, aber von den kolossalen und kostbaren Marmor- und Erzdenkmälern, welche dermal den Münchner Friedhof zu einem der sehenswertesten in Europa machten, zeigte der alte enge Leichenacker des vorigen Jahrhunderts noch keine Spur. SPRECHER Sinniert der kulturhistorische Schriftsteller Carl Albert Regnet 1879. Entstanden ist der Alte Münchner Südfriedhof schon 1563: als Pestfriedhof und lag damals vor den Toren der Stadt. Er gilt heute als der münchnerischste aller Friedhöfe und zugleich exemplarisch: Zahlreiche Petitionen im Münchner Staatsarchiv zeugen heute noch von den vergeblichen Versuchen der Münchner Bürger, die alten Familiengrüfte innerhalb der Stadtmauern zu erhalten.  SPRECHERIN Anfang des 19. Jahrhunderts gestaltete Friedrich Ludwig von Sckell, der Schöpfer des Münchner Englischen Gartens, eine Parkanlage für den Friedhof – wie sie für den modernen Friedhof prägend wurde. SPRECHER Es entstanden klar definierte Reihengräber, geometrisch angeordnet ebenso wie Arkadengrüfte im südlichen Halbrund entlang der Außenmauer des Friedhofs. Hier lagen nun alle Berufe, alle Stände, arm und reich. MUSIK 6  „Messiah. Oratorio in 3 Teilen, HWV 56“; ZEIT: 00:45 ZITATORIN Die Gräber bürgerlicher Familien schmückte mit wenigen Ausnahmen ein einfaches hölzernes oder eisernes Kreuz, das hie und da vergoldet und regelmäßig mit einem Heiligenbilde versehen war, unter dem der Name und Stand des Begrabenen verzeichnet stand und welches durch zwei in Angel hängende Flügeldecken gegen die Unbild der Witterung geschützt war. Und als Franz Schwanthaler, der Vater des berühmten Ludwig Schwanthaler, es wagte, eine marmorne Frauengestalt auf einem Grabe aufzustellen, schlugen fromme Eiferer, darin eine Entweihung des geweihten Ortes erblickend, sein Werk in Trümmer! Aber die Bahn war gleichwohl glücklich gebrochen. MUSIK ENDE O-Ton 9 Benkel (10:45) Es hat auch einen kulturellen Wert. Auch wenn Menschen da jetzt nicht gezielt hingehen oder höchstens mal spazieren gehen, haben die Friedhöfe trotzdem natürlich eine genealogische Bedeutung. Also, ich kann da ja sehen: Prominente liegen da rum. In München haben Sie das ja zum Beispiel. Und da sind tolle Statuen. SPRECHERIN  Sagt der Thanatologe Thorsten Benkel. Grabmale sind ebenso wie die weltliche Architektur Spiegel ihrer Zeit, folgen dem Klassizismus oder Strömungen der Romantik. Aus Repräsentationsmotiven lassen Grabeigentümer bis weit ins 20. Jahrhundert hinein aufwändige Grabanlagen errichten. SPRECHER In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts beginnt dann das Reihengrab mit gleichförmigen Grabmalen zu dominieren.  SPRECHERIN Heutzutage allerdings geht der Trend schon lange weg von halbanonymen Grabanlagen.  O-Ton 10 Meitzler (06:31) Ja, so der Haupttrend, den wir beobachten können, ist die Individualisierung und Pluralisierung.  O-Ton 11 Benkel (14:08) Standardbeispiel ist, dass Grabstätten die Persönlichkeit der Verstorbenen widerspiegeln. 14:33 Und das Individuum rückt also in den Mittelpunkt und die kulturellen, religiösen, politischen Aspekte, die also sozusagen auf der Kollektiv-Ebene stattfinden, die werden nebensächlich, also vor allem die Religion wird nebensächlich. Und dann sehen diese Gräber teilweise sehr profan, sehr eigenwillig, sehr bunt, teilweise ungewöhnliche, Auswahl, Hobbys in den Vordergrund rücken,  Vereinszugehörigkeiten, teilweise sogar Fußballvereine, Musikgeschmack und so weiter. Und wir haben am Anfang gedacht: Mensch, das ist ja schräg. Aber haben dann halt in ganz Deutschland, in ganz Österreich, in der ganzen Schweiz vergleichende Studien angestellt. Wir waren auf fast 1.300 Friedhöfen, und wir können sagen, das ist ein allgemeiner Trend seit ungefähr 25 Jahren. Dass eben diese Gräber diese Persönlichkeits-Bilanz ziehen. MUSIK 7  101 „Six feet under“; ZEIT: 00:40 ZITATORIN  „Nur tiefergelegt“ SPRECHER Oder: ZITATORIN „Mit dir zu leben war nicht leicht, doch ohne dich ist’s noch viel schwerer.“ SPRECHER „Nicht das Licht auslöschen“ ZITATORIN „Dein letztes Match hast du verloren“ SPRECHER „Er war guter Eltern Sohn“ ZITATORIN „Sie war zu gutgläubig, um zu überleben“ SPRECHER „Hier liegt meine Dicke“ ZITATORIN „Es Lebbe geht weiter“ SPRECHER „Alles Scheiße“ ZITATORIN „Ich wollte für meine Familie das Beste, habe es aber nicht erreicht“ SPRECHER  „Wanderer zieh schnell vorbei, sonst steht sie auf und babbelt wieder“ ZITATORIN „Das war alles.“ MUSIK ENDE SPRECHERIN Grabinschriften von heute. Statt Kreuzen oder Engeln auf den Grabsteinen von heute: Comicfiguren, Computermäuse, Brillen, Bettgestelle, Aschenbecher, Skateboards… Auf Tausenden von Fotos haben Thorsten Benkel und Matthias Meitzler die Entdeckungen ihrer Friedhofsrecherchen in zwei Büchern festgehalten. ZITATORIN „Gestatten Sie, dass ich liegen bleibe: Ungewöhnliche Grabsteine - Eine Reise über die Friedhöfe von heute“. SPRECHERIN Und: ZITATORIN „Game Over: Neue ungewöhnliche Grabsteine“. O-Ton 12 Meitzler (11:50) Man kann vielleicht sagen: Der Friedhof hat sein Monopol verloren. Es gibt halt nicht mehr den Volksfriedhof für jedermann, sondern er ist eine Option unter mehreren. Er gerät unter Innovationsdruck. SPRECHER Welches Grab und welche Art von Bestattungsritual ist das richtige? ZITATORIN Erdbestattung? Urnenbestattung? Mit Priester? Ohne? Dafür professioneller Trauerredner? Katholisch? Muslimisch? Nicht religiös? Oder gar evangelisch?  O-Ton Meitzler 13 (07:27) Wir können mittlerweile wählen, ob wir überhaupt auf dem Friedhof beigesetzt werden wollen und wenn ja, welches Grab, welche Grabart da am besten passt, also wir werden konfrontiert mit einer großen Pluralität. MUSIK 7  „Six feet under“; ZEIT: 00:30 ZITATORIN Erdbestattung? SPRECHER Feuerbestattung? ZITATORIN Seebestattung? SPRECHER Almwiesenbestattung … ZITATORIN Steinbestattung… SPRECHER Forstbestattung… ZITATORIN Rosenstockbestattung… SPRECHER Bergbachbestattung… ZITATORIN Flugbestattung… SPRECHER Weltraumbestattung… ZITATORIN Oder Diamantbestattung – individuell und exklusiv. Ein Edelstein, gefertigt aus einem Bruchteil der Asche des Verstorbenen. MUSIK ENDE SPRECHERIN Die Kulturgeschichte des Friedhofs hat Orte hervorgebracht, wo man sich auch nach dem Tod zuhause fühlen kann: Venedig – San Michele… Paris - Montmartre, Père Lachaise… oder Wien - es lebe der Zentralfriedhof und alle seinen Toten. MUSIK 8  „Wien, Wien nur du allein“; ZEIT: 01:10 SPRECHER Wien, wo man sich gerne schon zu Lebzeiten Namen und Geburtsdatum auf dem Stein des Familiengrabes eingravieren lässt. Allein der Zentralfriedhof präsentiert 950 Ehrengräber.  SPRECHERIN Unter dem Stephansdom: Wiens unterirdische Hauptstadt Nekropolis mit Beinhäusern voller Schädel. Die Habsburger Pracht der Trauer ist Wiener Tradition.  SPRECHER Begräbnis und letzte Ruhestätte: Kaum irgendwo sonst in Mitteleuropa wurden Begräbnisse so pompös inszeniert wie in Wien.  SPRECHERIN Schon 1867 boten die ersten gewerblichen Bestattungsunternehmen in Wien ihre Dienste an. Denn die meisten Wiener hatten den Wunsch, sich ein letztes Mal kaiserlich groß in Szene zu setzen und griffen dafür tief in die Tasche. Etwa für einen mondänen Leichenzug – mit Kutsche, Reitern und Trauerpersonal in Galauniform.  MUSIK ENDE SPRECHER Repräsentation: Die „schöne Leich“, die prächtige Trauerzeremonie - ein soziokulturelles Phänomen: ein Kompensator, der den Tod erträglicher macht. In Wien nicht anders als das Elitegrab des frühgeschichtlichen Häuptlings, das Prunkgrab des römischen Patriziers an der Via Apia, das Mausoleum des Modeschöpfer Rudolph Moshammer auf dem Münchner Ostfriedhof oder die über 146 Meter hohe Pyramide von Gizeh des Pharaos Cheops. SPRECHERIN Repräsentation oder nicht doch vielmehr der Wunsch nach etwas da bleibt - Ausdruck des ungebrochenen menschlichen Wunsches nach Unsterblichkeit.  O-Ton 14 Benkel (29:17) Also wir haben entweder: das eine Extrem ist das klassische Grab mit allem Drum und Dran, wohin man regelmäßig geht. Das andere Extrem ist: überhaupt kein Raum mehr. Und eigentlich spielt sich Trauer zwischen diesen beiden Polen ab. SPRRECHER Die Geschichte des Friedhofs endet sie im virtuellen Raum? Der Thanatologe Dr. Thorsten Benkel: O-Ton 15 Benkel (28:03) Was wir auch stark untersucht haben, immer noch untersuchen ist: Trauer im Internet. Da haben Sie natürlich keinen fixen geografischen Ort mehr, sondern eine virtuelle Verräumlichung. Und das ist absolut ein Zukunftsfeld.  MUSIK 9  “ Solar sailer“; ZEIT: 01:15 ZITATORIN Werden Sie einfach unsterblich! SPRECHERIN  Verstorbene, die als Avatare auferstehen. Der Skype-Chat von damals, das hochgeladene Video aus der Vergangenheit, aus all den digitalen Spuren können komplexe Algorithmen eine virtuelle Persönlichkeit, einen Avatar, erschaffen. ZITATORIN Eine Sicherheitskopie des eigenen Charakters… SPRECHER Mit der Hinterbliebene dann interagieren können.  ZITATORIN Ein Interface für den Zugang zu Erinnerungen SPRECHERIN Der Orts des Gedenkens: Überall – bei WLAN-Empfang. Oder man benutzt einfach sein eigenes Gedächtnis – zum Angedenken. O-Ton 16 Meitzler (25:27) Und entscheidend ist eben dass - was wir eben auch als Individualisierung begreifen - dass ich als Trauernder oder vielleicht auch als Sterbender, irgendwann das Gefühl bekomme: Ich kann es selber entscheiden. Ich kann selbst entscheiden, wieviel der traditionellen Rituale und Bezüge möchte ich überhaupt? Möchte ich überhaupt irgendetwas an den Traditionen noch bewahren? Oder zieht es mich vielleicht in andere Richtungen?  
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Dec 11, 2024 • 24min

Die unsichtbare Brille - Wie Glaubenssätze unser Leben lenken

Jeder Mensch trägt tiefe Überzeugungen über sich selbst, seine Mitmenschen und die Welt in sich. Diese Glaubenssätze sind die Brille, durch die jeder dann seine eigene Realität sieht. Wie kommen die Glaubenssätze in uns? Kann man negative Glaubenssätze löschen und welche Auswirkungen haben sie auf unsere Beziehungen? Von Victoria Marciniak Credits Autorin dieser Folge: Victoria Marciniak Regie: Sabine Kienhöfer Es sprachen: Andreas Neumann, Marlen  Reichert Technik: Andreas Lucke Redaktion: Bernhard Kastner Im Interview:Emily, arbeitet im Bereich HRFranca Cerutti, Psychotherapeutin; Dr. Raquel Peel, Soziologin Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion: Wie wir ticken - Euer Psychologie Podcast Wie gewinne ich die Kraft der Zuversicht? Warum ist es gesund, dankbar zu sein? Der neue Psychologie Podcast von SWR2 Wissen und Bayern 2 Radiowissen gibt Euch Antworten. Wissenschaftlich fundiert und lebensnach nimmt Euch "Wie wir ticken" mit in die Welt der Psychologie. Konstruktiv und auf den Punkt. Immer mittwochs, exklusiv in der ARD Audiothek und freitags überall, wo ihr sonst eure Podcasts hört. ZUM PODCAST Linktipps: Harvard-Studie     HIER Podcast "Psychologie to go"   HIER „The relationship sabotage scale: an evaluation of factor analyses and constructive validity“ HIER TED-Talk von Dr. Raquel Peel     HIER Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Radiowissen finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Radiowissen JETZT ENTDECKEN Das vollständige Manuskript gibt es HIER. Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: Sprecher Ein zerknülltes gelbes Post-it aus ihrer Schulzeit. Es liegt sicher versteckt in einem Schuhkarton in ihrem Zimmer. An den kleinen Zettel wird Emily noch sehr oft denken. Auch heute. An einem gemütlichen Abend im Dezember. Weihnachtszeit. Und die Psychologie-Studentin Emily sitzt in der WG-Küche ihrer drei besten Freundinnen und trinkt eine heiße Tasse Tee. Sie philosophieren über Gott und die Welt; und irgendwann unterhält Emily sie alle mit Anekdoten aus den unterschiedlichsten Theaterstücken, in denen sie mitgespielt oder die sie angeschaut hat. Ihre Freundinnen weinen vor Lachen. O-Ton 01 Emily (00`06) Das ist einfach so ein richtiger Moment von „Hey, hier bin ich angekommen.“ Ein 10 von 10 Abend. Sprecher Eine 10/10, also volle Punktzahl für den scheinbar perfekten Abend. Zumindest – bis Emily sich von ihren Freundinnen verabschiedet. An der Haustür sagen sie sich noch, wie schön der gemeinsame Abend gewesen ist und dass sie sich ganz bald wiedersehen müssen. Sie umarmen sich, Emily dreht sich um, dann fällt die Tür hinter ihr ins Schloss (Atmo: Tür geht zu): O-Ton 02 Emily (00`55) Und dann ist es wirklich so mit einem Mal, dass auf einmal mir mein Kopf so ein Querpass schießt und dann sagt „Moment mal, aber war es wirklich so geil, wie du dachtest? Oder war es vielleicht nur für dich geil, weil du wieder die ganze Zeit geredet hast? Und ist dieses: Hmm, hast bestimmt allen erzählt, dass du total viel Theater gespielt hast. Meinste die hat das interessiert?“ Und dann versuche ich noch zu sagen „Nee, aber es wird ja auch ganz oft nachgefragt und die haben ja total viel gelacht, als ich auch diese Story erzählt hab.“ Und dann kommt sofort dieses „Hmm, nennt sich Höflichkeit, nennt sich Sozialkompetenz, was andere Leute haben.“ Und es ist ganz krass, weil mit jedem Schritt, den ich gehe und den ich mich halt weiter aus dieser Situation entferne, verliere ich dann irgendwie den Zugang zu dieser Situation. Und dass ich dann wirklich auf diesem Weg nach Hause auf einmal anfangen musste zu weinen, weil ich das Gefühl hatte „Hey, ich bin ein Riesenarschloch.“  Atmo (Schritte und Wind) Musik:  Train journey 0‘22 Sprecher Vier Kilometer – So weit läuft Emily von der WG ihrer Freundinnen zu sich nach Hause. Sie muss den Kopf frei kriegen. Aber ihr Kopf spielt immer und immer wieder Szenen ab, wie sie ihre Freundinnen unterbricht, wie sie zu laut lacht, wie sie zu viel Aufmerksamkeit fordert. Sie holt ihr Handy aus der Tasche und noch auf dem Weg nach Hause schreibt sie weinend ihren Freundinnen Text-Nachrichten, in denen sie sich entschuldigt (erst SFX Handytastatur-Tippen und dann Nachrichten-Pling vor jedem „Sorry“): Sorry, dass ich so viel übers Theater geredet habe. Sorry, dass ich zu laut war. Sorry, dass ich dich unterbrochen habe. Sorry, dass wir so lange über meine Geschichte geredet haben. Sorry... Pling, Pling, Pling *bisschen längere Pause* O-Ton 03 Franca Cerutti (00‘16) Glaubenssätze haben häufig so eine konditionale Struktur, die uns sehr stark nahelegen, wie wir sein sollen oder wie wir uns verhalten sollen.   Wenn ich immer lieb bin oder immer höflich bin, dann werde ich geliebt. Sprecher Franca Cerutti ist Psychotherapeutin und Psychologie-Podcasterin.  Eines ihrer Lieblingsthemen: Glaubenssätze, also feste Überzeugungen, die jeder Mensch in sich trägt. Aber eigentlich, sagt sie, sind es eher ganze Glaubenssysteme.  O-Ton 04 Franca Cerutti (00`27) Also ein Glaubenssatz, der mich selber betrifft, könnte ja zum Beispiel lauten: „Ich muss fleißig sein und leistungsstark, um Anerkennung zu bekommen.“ Und der ist aber vielleicht verknüpft mit einem Glaubenssatz, der dann eher so die gesamte Gesellschaft betrifft. Der lautet dann so was wie „Ohne Fleiß kein Preis“. Und das ist wiederum geknüpft an so eine gesamtgesellschaftliche Erwartung. Musik:  Mansplaning 1‘00 Sprecher Also: Glaubenssätze stehen nicht isoliert da. Sie hängen oft eng mit anderen Glaubenssätzen zusammen. Und dieses Glaubenssystem bestimmt die Art und Weise, wie man sich selbst, Beziehungen und das Umfeld bewertet und einsortiert. O-Ton 05 Emily (00`18) Der Glaubenssatz von mir, der sich eigentlich in allen anderen Glaubenssätzen von mir auch widerspiegelt, ist: Ich bin zu viel. Also dieses ich bin too much. Ich bin zu viel. Ich brauche zu viel Aufmerksamkeit oder ich fordere zu viel Aufmerksamkeit. Ich glaube, das ist eigentlich das, was es ganz, ganz gut zusammenfasst. Sprecher Nicht nur Emily – Alle Menschen weltweit haben Glaubenssätze bzw. Glaubenssysteme in sich. Sowohl gute wie „Ich bin genug“, „Die Welt ist ein schöner Ort“ oder „Ich kann anderen vertrauen“. Aber eben auch negative Glaubenssätze. Und die haben alle – auch die ganz großen Stars. O-Ton 06 Franca Cerutti (00`45) Ich habe irgendwann mal gelesen, dass das Topmodel Kate Moss, die ja nun wirklich, wie gesagt ein weltbekanntes Topmodel war und mit ihrem sehr guten, überdurchschnittlichen Aussehen Geld verdient hat. Das war ihr Beruf. Dass sie dennoch tiefe Glaubenssätze hatte, sie sei unattraktiv und sie hätte ein hässliches Gesicht. Und ich finde, das zeigt noch mal sehr stark, wie unglaublich krass auch eigentlich das reale Leben und der Glaubenssatz auseinander gehen können.  Sprecher Eine Frau, die glaubt, dass sie zu laut sei und eine andere, die glaubt, dass sie nicht schön genug sei. Typische Glaubenssätze von Frauen, sagt Psychotherapeutin Franca Cerutti. Sie erkennt in ihrer Praxis durchaus Unterschiede in den Glaubenssätzen von Männern und Frauen. O-Ton 07 Franca Cerutti (00`25) Keine Evidenz, nur mein Eindruck. Aber bei Männern habe ich häufiger leistungsbezogene Glaubenssätze. Da geht es dann häufig um nicht gut genug sein im Leistungssinn. Und bei Frauen geht es häufig um Beziehungen und Attraktivität. Als Mensch, als Partnerin. Oder wie gut bin ich als Mutter oder so. Schon sehr rollenspezifisch manchmal noch.  Musik:  Genetics 0‘30 Sprecher Negative Glaubenssätze können sich in banalen Alltagssituationen bemerkbar machen, wie: Am freien Tag unwichtige Aufgaben erledigen, anstatt zu entspannen, weil man das Gefühl hat, immer was leisten zu müssen. Oder sie zeigen sich nach einem Treffen mit guten Freundinnen. Aber woher kommt das Gefühl von Emily - selbst bei guten Freundinnen-, zu viel, zu laut, zu nervig zu sein?... Pause-Atmo (Spannungsaufbau) … Wie entstehen Glaubenssätze? O-Ton 08 France Cerutti (00‘46) Ich stelle mir das so vor, dass wenn wir groß werden in unserer Kernfamilie, aber natürlich auch in der Schule, im Umfeld, dass all das in uns immer so Informationen hinein träufelt. Ich denke da manchmal eine Tropfsteinhöhle, wo so nach und nach eben etwas hineintropft. Und wenn an einer Stelle immer wieder etwas rein geträufelt wird, dann bildet das irgendwann verhärtete Strukturen. Und damit meine ich übertragen jetzt auf die Psychologie, dass wenn ich immer wieder bestimmte Informationen darüber erhalte, wie ich bin oder sein soll, oder wie die Welt da draußen ist oder sein soll, dann verhärtet das auch in mir und bildet so was wie Stalaktiten und Stalagmiten. Musik:  What is it (reduced) 0‘37 Sprecher Und diese Tropfen können aus den verschiedensten Richtungen kommen, zum Beispiel: immer wiederkehrende Kleinigkeiten im Alltag; implizierte Erfahrungen, wie die Beziehung der Eltern zu beobachten; sehr eindrückliche einmalige Ereignisse, wie zum Beispiel ein Trauma; vor allem aber entstehen Glaubenssätze in der Kindheit: Oft sind es auch unbedachte Sätze von Mama oder Papa, die an den Kinderohren hängenbleiben. So wie bei Emily.  O-Ton 09 Emily (00`45) Und eine Situation, das weiß ich noch sehr, sehr genau. Da saß ich am Essenstisch und ich glaube, ich war sieben oder acht. Und ich habe sehr viel geredet. Und dann hat mein Vater irgendwann gesagt „Ja, aber was wolltest du denn jetzt eigentlich sagen?“ Und dann hab ich das halt noch mal gesagt und noch mal blumiger. Und mein Vater stand da: „Was wolltest du sagen? Was hast du? Was hast du jetzt gerade zum Gespräch beigetragen?“ Und natürlich hatte ich nichts beigetragen. Also im Endeffekt war das halt so eine erzieherische Maßnahme, wo mein Vater mir sagen wollte: okay, gut, hey, Reden ist Silber, Schweigen ist Gold. Bei mir ist es so stark im Gedächtnis geblieben, weil ich hab mich so geschämt, weil ich halt so das Gefühl habe, ich wurde so vorgeführt.  Sprecher Dieser Tropfen auf Emilys Glaubenssatz-Stalagmit ist ihr besonders in Erinnerung geblieben. Aber dem Tropfen gehen viele kleinere Tropfen voraus: dass Emily sprechen konnte, bevor sie laufen konnte; dass ihre Eltern wahnsinnig stolz darauf waren und dass die kleine Emily bei jeder Party ihrer Eltern eine große Attraktion war; dass es okay war, die Erwachsenen zu unterbrechen, weil alle so beeindruckt davon waren, wie gut sie für ihr Alter sprechen kann. Bis sie älter wurde und die Erwachsenen nicht mehr beeindruckt, sondern genervt waren, wenn sie unterbrochen wurden. O-Ton 10 Emily (00`25) Und ich weiß noch, ich habe das als Kind nicht verstanden, warum in manchen Situationen wars toll und dann war ich witzig und in wieder anderen Situationen war es dann total nervig und nee, und jetzt geh mal spielen und hör mal auf damit. Das hat bei mir dann ganz, ganz häufig dazu geführt, dass ich einfach super, super große Angstzustände dann nach so sozialen Großveranstaltungen hatte, weil ich halt nie wusste, okay, ist das eine, wo ich reden darf oder eine, wo ich nicht reden darf.  Sprecher Eine Studie um Vincent Felitti aus dem Jahr 1998 hat gezeigt: Wer sich eher an negative Momente aus der Kindheit erinnert, kämpft auch im Erwachsenenalter mit Problemen. Umgekehrt gilt: positive Erinnerungen machen das Leben leichter. ABER: Entwicklungsforscher von der University of Minnesota haben vor ein paar Jahren eine neue Studie vorgelegt. Die zeigt, dass sich erwachsene Kinder oft verzerrt an die Eltern-Kind-Beziehung erinnern. Und dabei scheint die aktuelle Beziehung einen großen Einfluss zu haben. Heißt also: Je besser man sich mit den Eltern in der Gegenwart versteht, desto positiver sind auch die Erinnerungen an die Vergangenheit.  O-Ton 11 Franca Cerutti (00`45) Unterm Strich glaube ich inzwischen, dass man als Eltern im Grunde vieles auch unbeabsichtigt, vielleicht in Anführungsstrichen falsch macht, obwohl man in bester Absicht gehandelt hat. Ich glaube, dass manchmal Dinge, die man unbedacht sagt, das Kind in einem verletzlichen Zeitfenster ganz ungut erwischen können. Ich glaube aber auch, dass das Gegenteil stimmt, dass, wenn wir im Großen und Ganzen gut mit unseren Kindern sind, wir auch sehr viele gute Glaubenssätze mitgeben können.  Musik:  Futuristic workflow 0‘30 Sprecher … Übrigens ist es auch normal, sich nicht an so konkrete Situationen erinnern zu können, wie Emily das tut. Das ist auch gar nicht nötig, um die eigenen Glaubenssätze zu finden. Wer seine eigenen Glaubenssätze erforschen will, muss eigentlich nur eine Sache tun, nämlich: Sich selbst beim Denken beobachten. O-Ton 12 Franca Cerutti (00’35) Wann immer man sich beim Denken beobachtet, sich fragen: Stimmt das wirklich, was ich gerade denke? Oder könnte auch das Gegenteil der Fall sein? Oder würde das jeder so sehen? Ist das jetzt vielleicht ein Glaubenssatz von mir oder ist das so was wie eine absolute Wahrheit? Und häufig genug kommen wir dahinter, dass das natürlich eine erworbene Überzeugung ist und nicht etwa ein Naturgesetz.  *** Denkpause*** Sprecher Das Gehirn liebt es, recht zu behalten – also tut es alles dafür, um nur das zu sehen, was unsere Glaubenssätze auch bestätigt. In der Kognitionspsychologie nennt man das: „Confirmation bias“. O-Ton 13 Franca Cerutti (00`45) Wenn ich von mir selber glaube, ich bin ungeschickt oder ich bin dumm oder so was, dann werde ich mich an 1.000 Situationen erinnern, die genau das scheinbar bewiesen haben. Und ich werde auch besonders aufmerksam sein für Situationen, die genau zu dieser Überzeugung passen. Und dadurch werde ich genau diese negative Überzeugung über mich selbst immer weiter festigen. Das es aber gleichzeitig wahrscheinlich 1.000 Gegenbeweise gibt, in denen ich sehr clever war oder überhaupt nicht ungeschickt. Genau diese Situation, die nicht zu meinem Glaubenssatz passen, die verarbeite ich nicht in der gleichen Tiefe. An die erinnere ich mich auch weniger und sie scheinen nicht die gleiche Macht über mich zu haben.  Musik:  Mansplaning 0‘23 Sprecher Negative Glaubenssätze können nicht nur für einen selbst, sondern auch für Freundschaften und die Partnerschaft problematisch sein. Nämlich dann, wenn der Mensch mit den negativen Glaubenssätzen anfängt, sich selbst und seine Beziehung unbewusst zu sabotieren. O-Ton 15 Franca Cerutti (00‘43) Also wenn zum Beispiel jemand sehr negative Beziehungsschemata hat, also sprich großes Misstrauen in Beziehungen und vielleicht einen Glaubenssatz, der lautet: Immer, wenn ich jemanden liebe, werde ich sowieso verlassen. Das hat vielleicht biografische Gründe, warum das jemand glaubt. Dann kann es passieren, dass aufgrund des großen Misstrauens und aufgrund der großen Angst, diese Beziehung jetzt zu verlieren, man ein ängstliches, misstrauisches Verhalten der Partnerperson gegenüber zeigt, was dann tragischerweise die Beziehung eigentlich sabotiert und was eigentlich genau dazu beiträgt, was man ja insgeheim fürchtet, nämlich dass man verlassen werden wird. Sprecher Negative Glaubenssätze sind also eine sich selbst erfüllende Prophezeiung – und sabotieren auch heimlich Partnerschaften. Mit Beziehungssabotage kennt sie sich aus:  O-Ton 16 Raquel Peel (00‘02) Thank you so much for having me… (ausfaden/nicht übersetzen) Sprecher Dr. Raquel Peel. Sie lehrt Psychologie an der „University of Notre Dame“ in Australien und beschäftigt sich seit über zehn Jahren mit Paarbeziehungen. Sie weiß, was eigentlich hinter der Beziehungssabotage steckt:  O-Ton 17 Raquel Peel (00`43) /  VO-Weiblich: Die treibende Kraft dafür ist höchstwahrscheinlich: Angst. In meinen Untersuchungen haben die Menschen immer wieder davon gesprochen, dass sie Angst davor haben, in einer Beziehung verletzt zu werden. Sie haben Angst vor Ablehnung, vor Verpflichtungen. Oft ist es auch so, dass so eine Angst in einer Beziehung dazu führt, dass wir Schutzstrategien entwickeln, um uns selbst und unsere Gefühle zu schützen.  Sprecher Schutzstrategien, um nicht verletzt zu werden, können ganz unterschiedlich aussehen. Zum Beispiel, sich nicht ganz auf den Partner oder die Partnerin einlassen – und sich einen „Plan B“ warmhalten.  Musik:  Ssecret proofs 0‘36 Raquel Peel weiß, wovon sie spricht, wenn es um Glaubenssätze und Beziehungssabotage geht: Sie wurde nach ihrer Geburt von ihren Eltern in einem öffentlichen Krankenhaus zurückgelassen – als Frühgeburt und ziemlich krank. Die Krankenschwester, die sich um sie kümmerte, hat sie schließlich zusammen mit ihrem Mann adoptiert. Peel sagt zwar, sie habe eine sehr liebevolle Familie. Trotzdem trage sie negative Glaubenssätze in sich. O-Ton 18 Raquel Peel (00`36) /  VO-Weiblich: Ich glaube, dass der Umgang mit Beziehungssabotage eine lebenslange Aufgabe ist. Bei mir gibt es ein Muster in meinem Verhalten, das ich wegen meinem Glaubenssystem habe. Ich fühle mich in meinen Beziehungen nicht gut genug und habe oft das Gefühl, dass ich die Liebe nicht verdiene. Manchmal, wenn ich richtig glücklich bin, überkommt mich gleichzeitig eine Angst, dass mir das alles wieder genommen wird.  Sprecher Die Schutzstrategien sollen Menschen helfen, nicht so leicht verletzt werden zu können; Sie sollen den Erwachsenen helfen, sich nicht wieder wie hilflose Kinder zu fühlen. Und den Schutzstrategien liegen wiederum Glaubenssätze aus der Kindheit zugrunde. Doch wie kann man mit negativen Glaubenssätzen und der daraus entstehenden Beziehungssabotage am besten umgehen? O-Ton 19 Raquel Peel (00`39) /  VO-Weiblich: Zuallererst müssen wir erkennen, dass wir uns selbst und die Beziehung sabotieren und unsere Glaubenssätze die Ursache sind. Unsere negativen Glaubenssätze sind der Grund, warum die Beziehung nicht funktioniert. Nur zusammen mit dem Partner, der Partnerin können wir die Angst überwinden, können wir in unseren Ängsten gesehen und gehört werden und verletzlich sein. Es braucht also Kommunikation, es braucht Zusammenarbeit. Sprecher Es ist also wichtig herauszufinden, was eigentlich die Schutzstrategie ist und welcher Glaubenssatz der Strategie zu Grunde liegt, damit man die Beziehungssabotage auch bewusst beenden kann. Sich dem Partner, der Partnerin so zu öffnen, birgt aber eine Gefahr … Musik:  Disturbing factors 0‘26 Sprecher … nämlich wirklich verletzt werden zu können. ***Musikzäsur*** Sprecher Glaubenssätze wollen sich selbst bestätigen – dafür sabotieren Menschen teilweise sogar sich selbst und ihre eigenen Beziehungen. Und den Grund dafür können Neurowissenschaftlerinnen und Neurowissenschaftler sogar im Gehirn nachweisen: O-Ton 20 Franca Cerutti (00`33)  Das liegt daran und das ist echt ein bisschen tragisch, dass unser Gehirn mit einer winzigen Dopaminausschüttung reagiert, wenn es recht hat. Das heißt, selbst wenn negativste Vorannahmen bestätigt werden, macht unser Gehirn ein ganz kleines „Chaka!“ und sagt: Ich hatte recht. Und das erhält es sozusagen auch noch ein bisschen mit aufrecht und macht es manchmal noch schwieriger, Gegenbeweise gegen so negative innere Überzeugungen zu suchen. Denn das ist viel, viel mühsamer.  Sprecher Laut einer Studie der Havard-Universität hören wir bis zu unserem 18. Lebensjahr über 180.000 negative Suggestionen; oder um im Bild der Tropfsteinhöhle zu bleiben: Über 180.000 Tropfen schmutzigen Wassers, die zu festen Stalagmiten und Stalaktiten in uns werden können.  Keine erfreulichen Aussichten. Aber kann man negative Glaubenssätze auch wieder loswerden? O-Ton 21 Franca Cerutti (00`37) Also manchmal lese ich das so in Zeitschriftenartikeln oder so, dass man Glaubenssätze löschen kann. Und das stimmt halt faktisch einfach nicht. Denn tief verinnerlichte Überzeugungen, die sind ja rein hirnphysiologisch betrachtet übersetzbar als Nervenverbindungen, die nun mal existieren. Und die lassen sich überhaupt nicht löschen. Es geht darum, dass man neue Strukturen schafft, die mindestens genauso fest werden und neue Verbindungen eingehen. Und dass es eben die positive Konkurrenz gibt; löschen geht im Gehirn so gut wie gar nicht.  Musik:  What is it (reduced) 0‘43 Sprecher Oder um im Bild der Tropfsteinhöhle zu bleiben: man kann die verhärteten Stalagmiten und Stalaktiten nicht einfach zerschlagen. Man muss sich selbst neue Tropfsteine wachsen lassen; Und dafür muss man auch nicht unbedingt in Therapie gehen Sich beim Denken beobachten, so die negativen Glaubenssätze identifizieren und bewusst mit positiven Gedanken gegensteuern. Klingt eigentlich einfach. Also „Ich kann alles schaffen“ statt „Ich kann das nicht“!? O-Ton 23 Franca Cerutti (00‘30) Ich erlebe es in der Praxis auch häufig, dass Menschen sich Affirmationen raussuchen und die sagen, die sich dann lächelnd vor dem Spiegel oder schreiben die in ihr Dankbarkeitstagebuch. Und empfinden das aber als unglaubwürdig, weil eben vielleicht ein entgegenstehender Glaubenssatz genau das Gegenteil behauptet, so dass sich die Affirmation affig anhört. Und deshalb arbeite ich ganz gerne mit den sogenannten ‚Iffirmationen‘. Sprecher Iffirmationen: eine Mischung aus Affirmationen, also positiven lebensbejahenden Sätzen und dem englischen Wort „If“, was so viel wie „wenn“ bedeutet. Diese Iffirmationen können dann so klingen: O-Ton 24 Franca Cerutti (00‘25) Und was ist, wenn das doch gut genug war? Und was ist, wenn ich genau das geliefert habe, was erwartet war? Und was ist, wenn das vollkommen ausreichend war? So, also es muss nicht ein „Ich bin die Beste“ dagegengehalten werden, sondern so sobald man merkt „Oh, das war nicht gut.“ „Und was ist, wenn das doch gut war?“ „Oh, da habe ich jetzt wieder zu viel gequatscht.“ „Und was ist, wenn ich unterhaltsam war und nicht zu viel gequatscht hab?“ Sprecher In ihrer Praxis macht Franca Cerutti ganz unterschiedliche Erfahrungen damit, wie lange es dauert, bis die Iffirmation zum Automatismus wird. Aber unterm Strich, sagt sie, klappe es immer. Und auch Emily hat ihre eigene Taktik gefunden, um mit ihrem Glaubenssatz „Ich bin zu viel“ umzugehen. Früher hat sie lange WhatsApp-Nachrichten an ihre Freundinnen geschickt und sich entschuldigt: O-Ton 25 Emily (00`31) Ich habe angefangen eher nachzufragen. Also dass ich dann so bin. „Hey, ich hatte voll den schönen Abend! Habe ich dich genervt? War es irgendwie schlimm oder so?“ Und ich habe angefangen, den Leuten zu glauben, wenn sie sagen: „Es war voll okay, Ich hatte auch voll den  schönen Abend.“  Musik:  Finding the answer 0‘38 Sprecher Glaubenssätze sind so unterschiedlich wie das Leben der Menschen. Und wir alle haben sie: gute und schlechte. Manche haben hartnäckigere negative Glaubenssysteme in sich, anderen fällt es leichter, sie durch positive Glaubenssätze zu ersetzen. Und Emily – sie ist ihren Eltern dankbar, dass sie keine rücksichtslose Gesprächspartnerin geworden ist, die andere ständig unterbricht. Sie kann ihrem negativen Glaubenssatz auch was Positives abgewinnen.  O-Ton 26 Emily (00`45) Vielleicht steckt auch was Gutes darin. Ich weiß noch, wir haben uns damals im Deutsch LK haben wir uns irgendwann so Zettel auf den Rücken geklebt mit irgendwie Sachen, die wir cool aneinander fanden oder so und es war alles anonym und ich weiß noch, mir hat jemand einen Zettel auf den Rücken geklebt. Den habe ich bis zum heutigen Tage. Mir hat jemand da reingeschrieben: Ähm, du, du bist ein sehr witziger Mensch. Ähm, und es hat jemand geschrieben  Musik: Everyone sleeps 0‘45 Du redest sehr viel und ich weiß noch, ich wollte den Zettel zerknüllen und wegschmeißen, aber die Person hat geschrieben ‚Du redest sehr viel, aber du passt auch immer auf, dass alle anderen zu Wort kommen‘. Und diesen Zettel hab ich und ich hab gedacht: Ganz ehrlich: Das ist doch das Beste, was mir passieren kann!
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Dec 10, 2024 • 24min

Die Eiserne Lunge - Künstliche Beatmung

Ein "Sarg", der Leben rettet: Die Eiserne Lunge gilt als eines der ersten klinischen Geräte zur Beatmung eines Patienten. Sie hebt und senkt durch wechselnden Druck den Brustkorb des Patienten in ihrem Inneren - und ermöglicht somit trotz gelähmter Atemmuskulatur das Ein- und Ausatmen. Von Inga Pflug (BR 2023)CreditsAutorin dieser Folge: Inga PflugRegie: Anja ScheifingerEs sprachen: Katja SchildTechnik: Susanne HarasimRedaktion: Yvonne Maier Das Manuskript zur Folge gibt es HIER. Im Interview:Prof. Dr. Marion Ruisinger, Medizinhistorikerin, Direktorin Medizinhistorisches Museum, Ingolstadt;Dr. Hartmut Bettin, Institut für Ethik und Geschichte der Medizin, Universitätsmedizin Greifswald ;Prof. Dr. Roland Francis, Universitätsklinikum Erlangen, Direktor Anästhesiologische Klinik;Prof. Dr. Dr. Stefan Schaller, Charité Mitte Berlin, Stellv. Direktor der Klinik für Anästhesiologie mit Schwerpunkt operative Intensivmedizin Wenn Ihnen diese Sendung zur Eisernen Lunge gefallen hat, können wir Ihnen noch weitere empfehlen: Medizinische Durchbrüche – Die Röntgen-Revolution  JETZT ANHÖREN Linktipp: BR Retro | Polio-Epidemie 1962 in Deutschland: Warum wurde so spät geimpft?1961 erkrankten in der Bundesrepublik Deutschland 4605 Menschen an Kinderlähmung - damals ein trauriger Weltrekord. Andere Länder hatten die unheilbare Krankheit und das Poliovirus zu diesem Zeitpunkt durch ein konsequentes Impfprogramm schon fast zum Verschwinden gebracht. Warum es hierzulande länger dauerte, versucht dieser Beitrag aus dem Jahr 1962 zu ergründen.JETZT ANSEHEN Und noch eine besondere Podcast-Empfehlung der Redaktion: BR24 | Dreimal besserDein Info-Podcast, der Lösungen anbietet. Wir wollen wissen, wie es in Zukunft besser laufen kann. In jeder Podcastfolge stellen Birgit Frank oder Kevin Ebert drei Lösungsansätze zu einem aktuellen Thema vor. Weil die Welt mehr ist als nur Krisen.ZUM PODCAST Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. RadioWissen finden Sie auch in der ARD Audiothek:ARD Audiothek | RadioWissenJETZT ENTDECKEN
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Dec 10, 2024 • 23min

Die Geschichte der Pille - Von der Befreiung zur Gefahr

Mit der Antibabypille konnten Frauen ab den 60ern günstig selbstständig verhüten und freieren Sex haben. Gleichzeitig übernahmen sie das Risiko von Nebenwirkungen. Heute kritisieren immer mehr Menschen die Pille. Von Julia Fritzsche Credits Autorin dieser Folge: Julia Fritzsche Regie: Sabine Kienhöfer Es sprachen: Rahel Comtesse, Christian Baumann Technik: Monika Gsaenger Redaktion: Karin Becker Im Interview:Prof. Dr. Mandy Mangler, Chefärztin der Klinik für Gynäkologie und Geburtsmedizin im Vivantes Auguste-Viktoria-Klinikum und Vivantes Klinikum NeuköllnZeitzeugin Elisabeth Osigus Diese hörenswerten Folgen von Radiowissen könnten Sie auch interessieren: Das Kondom - Von der Ziegenblase zum Massenartikel HIER Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion: Frauen ins Rampenlicht! Der Instagramkanal frauen_geschichte versorgt Sie regelmäßig mit spannenden Posts über Frauen, die Geschichte schrieben. Ein Angebot des Bayerischer Rundfunks. EXTERNER LINK | INSTAGRAMKANAL frauen_geschichte Linktipps: Der Tagesspiegel-Podcast „Gyncast“ mit Prof. Mandy Mangler  HIER Video über die Nachteile hormoneller Verhütung  HIER Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Radiowissen finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Radiowissen JETZT ENTDECKEN Das vollständige Manuskript gibt es HIER. Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: O-TON 1 Osigus verliebt aber Angst  Ich hab den Mann kennengelernt, den ich geliebt habe, (…) allerdings war da gleich die Angst, dass was passieren könnte, ne, dass man schwanger wird. SPRECHERIN: Schwanger werden – das muss sie verhindern. Elisabeth Osigus wird 1932 geboren. Als sie Anfang der 50er Jahre ihren späteren Mann kennenlernt und sie noch nicht verheiratet sind, stellt sich die Frage: wie ein Kind verhindern? Osigus notiert ihren Zyklus im Kalender.  O-TON 2 Osigus Kalender Und wehe, wenn zwei Tage vorbei waren und die Periode kam nicht, da war die Angst groß. SPRECHERIN: Die Angst liegt damals bei vielen heterosexuellen Paaren mit im Bett, vor allem bei den Frauen.  O-TON 3 Mangler permanent schwanger Da muss man wissen, dass wir heute einen sehr großen Luxus haben, dass wir Verhütung überhaupt haben, weil das über die meiste Zeit der Evolution eben nicht so war und Frauen dadurch eben permanent schwanger waren oder gestillt haben (…) und damit zu tun hatten. SPRECHERIN:  Permanent schwanger. Mandy Mangler (Nachname dt. ausgesprochen) ist Chefärztin der Klinik für Gynäkologie und Geburtsmedizin im Vivantes Auguste-Viktoria-Klinikum und Vivantes Klinikum Neukölln. O-TON 4 Mangler Wenn man sich n bisschen früher in der Evolution das Mittelalter ungefähr anguckt, dann war da eben die Geburtenzahl sehr, sehr hoch, die lag über 10 pro Frau, und das ist schon ne ganze Menge.  SPRECHERIN: Die ganze fruchtbare Zeit schwanger, also vier oder fünf Jahrzehnte. Natürlich konnten Frauen auf ihren Zyklus achten, aber Verhütungsmittel waren rar. O-TON 5 Mangler Kondome und Nießen Kondome oder so (…) hat man auch gemacht, aber nicht so gerne, die wurden früher aus Därmen hergestellt, also Tiergedärme. (…) Kondome hatten immer (…) einen anrüchigen Charakter, Kondome haben Sex-Workerinnen benutzt, deswegen war das stigmatisiert. Und dann hat man alle möglichen Dinge versucht, Vagina-Spülungen oder was in die Vagina reintun und so weiter und sofort. (…) Nießen hat man auch versucht, also da geht es ja darum, das Sperma eben aus der Vagina rauszubringen (…) oder so. Und ja, das hat alles ja nicht so richtig gewirkt. SPRECHERIN: Für Elisabeth Osigus und ihren Mann bleibt als Methode nur eins. O-Ton 6 Osigus vorsehen und aufpassen Dass er das vorsehen muss, dass nichts passiert. (…) So war das bei uns in der Familie, dass die Männer, jedenfalls bei mir mein Mann, aufpassen sollte, damit es nicht zu Dings kommt. Undercover investigations red 0‘20 SPRECHERIN: Bloß nicht „Dings“. Sex und Verhütung sind damals Tuschelthemen. Sexualberatungsstellen gibt es nicht, Eheberatung ist in der Bundesrepublik Sache der Kirchen. Elisabeth Osigus spricht nur mit ihrem Mann darüber, nicht mit Freundinnen. O-TON 7 Osigus nicht geredet Ne, ich hab nicht geredet, irgendwie kam mir das nicht so gut vor. SPRECHERIN:  Das Leben vieler Frauen damals ist von den drei K geprägt: Kinder, Küche, Kirche. Sex ist Privatsache. Die meisten Frauen wissen nur, dass er gefährlich ist. O-TON 8 Osigus aufgeklärt Als Mädels im Dorf, wie es halt so ist, da hat die eine mehr gewusst als die anderen, wie was gemacht wird, aber da hieß es nur: Bloß Vorsicht vor den Jungs!   O-TON 9 Mangler lös das Problem Und (…) zum Beispiel in einer Ehe, das war nicht das Problem des Mannes, wenn die Frau schwanger war, sondern das war ihr Problem. Der Mann hat (…) im Idealfall das Kind mitgroßgezogen, im Zweifel aber mit den Augen gerollt und gesagt: lös das Problem!  SPRECHERIN:  „Lös das Problem“ hieß: illegal abtreiben. Denn seit 1871 galt Paragraph 218 des Strafgesetzbuchs des Deutschen Kaiserreichs: Abtreibung verboten.  O-TON 10 Osigus schwarz abgetrieben Ja, (…) da kenne ich eine aus der Nachbarschaft, die schwarz abgetrieben hat und danach gestorben ist. (…) Das war typisch. (…) Mit Stricknadeln und was nicht alles und sind dann verblutet. SPRECHERIN: Andere Methoden abzutreiben sind damals Chemikalien, giftige Laugen oder Tinkturen. Viele Frauen sterben. Viele kriegen ungewollte Kinder.   Emotional piano 1  0‘30 So auch die Mutter von Margaret Sanger, verfrüht gestorben nach 18 Schwangerschaften. Margaret ist eins von den 12 Kindern, die die ersten Jahre überlebt haben. Als sie in den 20er Jahren als Krankenschwester in einem New Yorker Arbeiterviertel anfängt, erlebt sie viele Frauen, denen es geht wie ihrer Mutter. Das will sie ändern. O-TON 11 Mangler Sanger Ja, Margaret Sanger (…) hat sich eben auseinandergesetzt mit, ja, weiblicher Verhütung (…). Und die war dann auch sehr erfolgreich und hat da die Entstehung der Pille gefördert und hat so an den richtigen Strippen gezogen.  Musik:  Complex questions 0‘40 SPRECHERIN:  Margaret Sanger beginnt, Frauen in den USA über Verhütung aufzuklären, zum Beispiel über Pumpen, die das Sperma nach dem Sex aus der Vagina spülen sollen. Als sie dafür wegen „Pornografie“ verhaftet werden soll und nach Europa flieht, entdeckt sie das 1915 entwickelte Kunststoff-Diaphragma, eine Kunststoffklappe vor der Gebärmutter, und schafft es, 500 davon in die USA zu schleusen, wird aber dort nach 10 Tagen verhaftet. Ihr Engagement erhält jedoch immer mehr Aufsehen. Die Behörden geben schließlich nach und erlauben Ärzten in den USA, über Methoden der Verhütung aufzuklären. Die Frage bleibt allerdings: Wie richtig praktisch verhüten? Sanger träumt von einem ganz einfachen Verhütungsmittel für Frauen, einer Hormonpille.  Auf einer Dinner-Party fragt sie 1951 den Endokrinologen Gregory Pincus, wie viel Geld er bräuchte, um ein einfaches Mittel zur Verhütung in Form einer Pille zu entwickeln. Er schätzt: 125.000 Dollar.  Erste Ideen dazu gibt es damals schon, erklärt Gynäkologin Mandy Mangler. O-TON 12 Mangler Entwicklung So vor 100 Jahren ungefähr, als so die ersten Medikamente es gab, zum Beispiel Antibiotika und so, hat man auch die weiblichen Hormone künstlich herstellen können irgendwann. Und dann hat man sich natürlich gefragt, wie kann ich das jetzt so umsetzen, dass eine Verhütung daraus resultiert.  SPRECHERIN:  Die Idee ist also da, allein es fehlt der Wille, genauer gesagt: das Geld.  Musik:  Original research (b) 0‘35 Doch Sanger ist nicht nur entschlossen, sondern auch Strategin. Sie gewinnt die vermögende Frauenrechtlerin und Biologin Katharine McCormick. Beide haben das Anliegen, die gefährlichen illegalen Abtreibungen zu verhindern. Und McCormick stellt schließlich in den folgenden Jahren zwei Millionen Dollar für die Forschung an der Pille zur Verfügung. Gregory Pincus, der von der Dinner-Party, macht sich zusammen mit dem Chemiker Karl Djerassi an die Arbeit.   O-TON 13 Mangler Vater der Pille Und dann hat man synthetisch Hormone hergestellt, die dem Körper also vorgaukeln, dass es Hormone gibt und dann eben als Verhütung dienen. Und da gab es mehrere Forscherinnengruppen und die Person, die dann die Pille eben erfunden hat, das war ja Karl Djerassi, der sich selber dann als „Mutter der Pille“ immer benannt hat. SPRECHERIN: Diese Forschung hatte leider große ethische Fehler. Die Tests erfolgten nicht in den USA, sondern in Puerto Rico, wo die Behörden Geburtenkontrollen auch aus rassistischen Motiven befürworteten. Die Teilnehmerinnen wurden dürftig über Risiken informiert. Die Tests erfüllten nicht die Anforderungen, die man heute an die Teilnehmerzahl hat. Und: Pincus und sein Team hielten trotz Berichten über Nebenwirkungen das Mittel für sicher und bewerteten die Testreihe wegen der verhütenden Wirkung als Erfolg. Weitere Tests folgten in Haiti und Mexiko.  O-TON 14 Mangler Experimente In der Entwicklung, ja, natürlich war das ne Zeit, die unrühmlich war und die eben geprägt war von ganz ganz kranken Strukturen, rassistisch und die auch experimentell in den KZs gearbeitet hat, das ist (..) ein unrühmlicher, furchtbarer Teil der Medizingeschichte und der eben viele Medikamente betrifft, aber auch die Pille. SPRECHERIN: Dennoch: Am 23. Juni 1957 wird die erste Pille, das von Pincus und Djerassi entwickelte Produkt "Enovid", in den USA zugelassen. Wenige Jahre später, 1961, bringt das Unternehmen Schering in der Bundesrepublik ein vergleichbares Präparat auf den Markt. Zuerst nur auf Rezept als Mittel gegen Menstruationsbeschwerden und nur für verheiratete Frauen, die schon mehrere Kinder haben. Dass das Mittel die Empfängnis verhütet, taucht nur als Nebenwirkung in der Packungsbeilage auf. ZITATOR: „Suspension der Ovulation unter Gewährleistung der regulären Monatsblutung.“ SPRECHERIN: Also: kein Eisprung. Das, worauf Sanger und so viele Frauen gehofft haben.  O-TON 15 Mangler spektakulär Das war spektakulär, als man das herausgefunden hat, weil das war ebenso einfach wie genial. Und aber auch wirksam. Und ja, das hat man dann schnell verstanden, dass das natürlich die die Menschen befreit von einer Art Geburtenzwang muss man sagen, also von diesem permanenten Schwangersein. Musik:  Behind the curtain 0‘25 SPRECHERIN: Elisabeth Osigus ist, als die Pille in der Bundesrepublik auf den Markt kommt, 29. Sie hat mit ihrem Mann mittlerweile drei Kinder. Eines Tages kommt er von der Arbeit, in einer Justizvollzugsanstalt, und berichtet von einem Lehrgang.  O-TON 16 Osigus Vortrag Und da war auch ein Arzt dabei, der ihnen dann erzählt hat, weil da mehrere im Lehrgang waren, die mehrere Kinder hatten und (…) der kam dann zu den Männern, die da weiß ich was von Justiz gelernt haben, aber so nebenbei eben die Pille angeboten bekamen für die Frauen.  SPRECHERIN: Es kommt vielen damals wie Werbung vor, sagt sie.  O-TON 17 Osigus fromm aber 5 Personen Ich will mal so sagen, ich bin ein bisschen fromm und da hatte ich ein bisschen Angst gehabt, aber dadurch, dass das durch den Arzt kam, hab ich vertraut. Weil wir waren uns mit meinem Mann einig, wir wollten beide keine Kinder mehr haben.  SPRECHERIN: Elisabeth Osigus versorgt Kinder und Haushalt, ihr Mann muss allein Geld für fünf Personen erwerben.  O-TON 18 Osigus wollte Arbeiten Ich hatte als junges Mädchen geheiratet und (…) ich wollte ja auch später wieder zur Arbeit gehen, deswegen wollte ich ja auch die Pille, damit ich nicht wieder was Kleines dahabe und nicht wegkann von zuhause.  SPRECHERIN: Doch wie kommen die Frauen nun an die Pille? Elisabeth Osigus will ihren Hausarzt fragen.  Musik:  Lectio consolamini 0‘27 Vor allem die katholische Kirche lehnt die Pille massiv ab. Papst Paul VI verurteilt 1968 in der Enzyklika "Humanae Vitae" Geburtenkontrolle durch künstliche Verhütungsmittel. Sie würden außerehelichen Sex fördern und eine…  ZITATOR:  "… Aufweichung der sittlichen Zucht"  SPRECHERIN:  Diese sogenannte „Pillen-Enzyklika“ trägt dem Papst den Namen „Pillen-Paul“ ein.  O-TON 19 Mangler Sittenverfall Entsetzten machte sich breit, als die Pille dann auf den Markt kam. Weil das ist heute auch noch so, das ist total interessant: Der weibliche Körper, der ist politisch, der ist fremdbestimmt, der ist reglementiert, der ist mit Gesetzen überzogen und so weiter und man fürchtete also einen absoluten Sittenverfall durch die Pille und die Kirche fand es ganz schlimm. // Da gab es sogar so Ärzte und Ärztinnen, die einen offenen Brief geschrieben haben und gesagt haben, das geht so nicht und man muss es eigentlich reglementieren und verbieten.  SPRECHERIN: Die „Ulmer Erklärung“: Darin warnen 1964 rund 200 Ärzte, wenn man den Frauen die Angst vor der Schwangerschaft nähme, würden sie hemmungslos und es fördere… ZITATOR: „…den biologischen und charakterlichen Verfall des deutschen Volkes“ SPRECHERIN: Auch viele Frauen zögern damals in dieser Stimmung. Mitte der 60er sagt fast jede zweite in einer Umfrage des Allensbach-Instituts, die Antibabypille solle in Deutschland nicht erlaubt sein. Elisabeth Osigus möchte die Pille und geht zu ihrem Hausarzt. Er macht ihr Vorwürfe, sie sei selbst schuld, wenn sie schwanger würde. O-TON 20 Osigus empfänglich Wär ich denn so empfänglich, dass mein Mann nur die Hose ans Bett hängen braucht, dann würde ich schon schwanger. SPRECHERIN: Osigus kriegt die Pille schließlich über einen Gynäkologen.  Auch viele Katholikinnen setzten sich über das päpstliche Verbot hinweg.  ZITATOR: "Der große Ungehorsam hat begonnen"  SPRECHERIN: … schrieb "Der Spiegel" über die Reaktionen auf die Enzyklika damals. O-TON 21 Osigus evangelisch Ich war evangelisch und mit dem Katholischen das hatte mich nicht interessiert (…). Ich war froh, dass ich sicher war und mein Mann auch und all die Jahre hab ich sie genommen, hab auch kaum einen Tag verpasst.  SPRECHERIN: Es ist ein Kampf. 1968 setzen die Vereinten Nationen ein Recht auf Familienplanung durch, die Akzeptanz der Pille steigt und immer öfter verschreiben Ärzte sie auch explizit als Verhütungsmittel. In der DDR stellt 1965 der Betrieb Jenapharm eine ähnliche Pille her, die "Wunschkindpille" unter dem Namen "Ovosiston". Ab 1972 wird sie kostenlos an sozialversicherte Frauen ausgegeben. Musik:  Make love not war 0‘40 Im Westen kommt die Pille gerade rechtzeitig zur 1968er Bewegung, Körper und Sexualität werden zum Politikum: „make love not war“, Liebe statt Krieg. Die Pille beschleunigt die sexuelle Befreiung.  SPRECHERIN: Frauenrechtlerin Alice Schwarzer nennt die Pille einen „Meilenstein in der Geschichte der Emanzipation der Frauen“, erklärt aber auch, dass damit Frauen zur Verfügung zu stehen hätten. SPRECHERIN: Trotz Pille bleibt Sexualität männlich dominiert. Die Frauen haben aber immerhin ein Problem weniger: ständig Kinder zu kriegen oder illegal abtreiben zu müssen. O-TON 24 Osigus viel bedeutet und aktiv Mir hat sie sehr viel bedeutet, mein Mann war sehr aktiv. Und da hatten wir beide Angst, deswegen war mir die Pille sehr willkommen gewesen.  SPRECHERIN: Elisabeth Osigus geht, nachdem sie ab Mitte der 60er Jahre die Pille nimmt, nun auch arbeiten, als Putzfrau und später ebenfalls im Justizvollzug. Sie nimmt die Pille, bis ihr Mann 1987 frühzeitig stirbt. O-TON 25 Mangler Hochphase und Niedergang Die Hochphase der Pille war lange, also schon von dem Zeitpunkt, als sie auf den Markt kam in den Sechzigern bis über die Zweitausender, ja, bis vor ein paar Jahren. Musik:  Still waiting 0‘26 SPRECHERIN: In Europa ist sie lange das Verhütungsmittel Nummer eins. Doch global betrachtet kommt an erster Stelle die Sterilisation der Frau, obwohl ein Eingriff bei Männern einfacher wäre, an zweiter Stelle das Kondom, an dritter die Spirale und an vierter die Pille. Die Beliebtheit der Pille wurde schon kurz nach ihrem Aufkommen gedämpft.  O-TON 26 Mangler Nebenwirkungen Man hat bei den ersten Generationen der Pille schon schnell gemerkt, dass da auch Nebenwirkungen auftreten können, zum Beispiel Thrombose oder eben auch Libidoverlost, sogar Depressionen.  O-TON 27 Osigus vertragen Als ich dann bei der Arbeit war, haben manche erzählt, dass sie sie nicht vertragen haben (…)(…) Die hatten Erbrechen (…) , ihnen schmeckte kein Essen. SPRECHERIN:  Gerade der Libidoverlust, den ein Teil der Frauen hat, wirft Fragen auf. O-TON 28 Mangler Libidoverlust (…) Weil das bedeutet ja eigentlich nur, ich nehme ein Medikament, um dann Sex zu haben, der mir aber nicht Spaß macht.  (…) Also, wenn man das richtig zu Ende denkt, dann wird es unangenehm. SPRECHERIN: Laut Mandy Mangler hat es weitere Gründe, dass die Pille seit etwa den Nuller Jahren an Bedeutung verliert.  O-TON 29 Mangler Hochphase und Niedergang (Pille für Mann) Ein Punkt, warum das mit der Pille kritisch war, war auch, dass es zum Beispiel die Pille für den Mann gibt. Die funktioniert ähnlich wie die Pille für die Frau, aber sie wurde nicht auf den Markt gebracht. (…) Und zwar mit dem Argument, die Nebenwirkungen sind zu hoch. Und die Nebenwirkungen, die sind sehr, sehr ähnlich wie die Nebenwirkungen der weiblichen Pille, noch nicht mal so doll, sondern weniger doll. Und wenn man das zu Ende denkt, dann ist das natürlich entrüstend aus der Perspektive von Frauen. Und das ist ein Punkt, warum die Pille vom Erfolgskurs bisschen abgekommen ist. Musik:  Take off 0‘25 SPRECHERIN: Hormonelle Verhütung sähen viele Menschen zunehmend kritisch, so die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. 2023 wurde die Pille als Verhütungsmittel Nummer 1 in Deutschland deshalb vom Kondom abgelöst. SPRECHERIN Vor allem der Vergleich mit der Pille für den Mann lässt viele nachdenken: Warum sollen Frauen etwas nehmen, was Männern zu heikel ist?  O-TON 30 Mangler Pille für Mann und Profit Da hat auch die WHO eine unrühmliche Rolle, weil sie eben dafür gesorgt hat, dass die Studien eingestellt werden. Und da kann man eigentlich, wenn man es richtig abstrahiert, nur sagen: Wir leben eben im Patriarchat, das tun wir, und (…) männliche Verhütung wird als was Suspektes, auch Männlichkeitsbedrohendes zum Teil angesehen. Und das ist schade, weil es gibt natürlich viele, viele Männer, die sehr gerne selbstbestimmt verhüten würden. // Die Entwicklung der männlichen Pille stockt, weil es da überhaupt gar keine gute Unterstützung von Pharmaindustrie oder insgesamt dem Forschungsmarkt gibt. Die Pille für die Frau, die verkauft sich eben immer noch gut, sie hat eine sehr, sehr starke Lobby. Und da ist natürlich die Frage, was geht dabei kaputt, wenn wir die Pille für den Mann auf den Markt bringen. SPRECHERIN Und so verhüten hormonell eben weiterhin nur Frauen. Die Forschung an der Pille und ihren Nebenwirkungen müsse deswegen weitergehen, so Gynäkologin Mangler. Vor allem auch, weil viele Pillen eine unnötige Blutung hervorrufen. O-TON 31 Mangler Pseudoblutung Also, man nimmt die Pille ein drei Wochen und dann nimmt man sie nicht ein eine Woche und in dieser Zeit blutet man. In manchen Pillen sind da auch so Placebo, dass man in dieser Woche trotzdem eine Pille nimmt. Und das ist eigentlich, hat man jetzt in Studien herausgefunden, unnötig ja diese Pillenpause und diese Blutung. Weil das ist auch gar keine Menstruation, sondern das ist so ne Pseudoblutung. Und man hat es aber damals so gemacht, wahrscheinlich weil man eben auch, ja, die religiösen Bedenken und die Bedenken der Kirche so aushebeln wollte, (…) also man wollte eben diesen natürlichen Zyklus nachahmen.  Musik:  Nocturnal research  0‘55 SPRECHERIN Trotz Kritik und Verbesserungsbedarf wäre es für viele Frauen wichtig, leichter an die Pille zu kommen. Manche haben gar nicht die Wahl. Geschätzt 200 Millionen Frauen weltweit haben laut Vereinten Nationen keinen Zugang zu modernen Verhütungsmitteln. In den USA können Arbeitgeber nach einem Urteil des Obersten Gerichts aus religiösen Gründen ausschließen, dass die Krankenversicherung ihrer Angestellten die Kosten für Verhütungsmittel übernimmt. Und in Deutschland bezahlen die Krankenkassen die Pille zwar für Frauen unter 22 Jahren, für viele Sozialhilfe-Bezieherinnen sind Verhütungsmittel aber zu teuer, so die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, vor allem für Geringverdienerinnen, BaföG-Bezieherinnen und HatzIV-Bezieherinnen. O-TON 32 Mangler Fazit Wenn man jetzt die Pille hart feministisch betrachten möchte, dann, ja dann gibt es 2 Seiten. Einmal ist es natürlich toll, selbstbestimmt (…) Schwangerschaften also zuverlässig zu vermeiden. Auf der anderen Seite ist es aber so, dass wir Frauen (…) die ganze Last der Verhütung zum Beispiel mit der Pille auf unseren Schultern tragen (…) also körperliche Beschwerden, finanziell, die Organisation, die Planung, irgendwie das darüber nachdenken usw. Deswegen also feministisch müsste man dann sagen, wir fordern, dass die Pille weiterentwickelt wird oder die Pille ist eben nicht geschlechtergerecht. Musik:  New shores (redeced) 0‘25 SPRECHERIN: Für Elisabeth Osigus hat die Pille das Leben erleichtert. O-TON 33 Osigus dankbar Ich kann nur sagen, dass ich dankbar bin dem, der die Pille erfunden hat, der so vielen Frauen geholfen hat, und ich kann nur bedauern die Frauen, denen sie nichts genützt hat.  
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Dec 9, 2024 • 21min

Charakter und Bestechlichkeit - Die Psychologie der Korruption

Wer lässt sich besonders gerne bestechen? Und wie reden sich diejenigen heraus, die der Bestechung überführt werden? Von Daniela Remus (BR 2016)CreditsAutorin dieser Folge: Daniela RemusRegie: Christiane KlenzEs sprachen: Christiane Roßbach, Peter VeitTechnik: Christiane VoitzRedaktion: Nicole Ruchlak Im Interview: Jamie Lee Campbell, PsychologinNils Köbis, Sozialpsychologe, Freie Universität Amsterdam;Edda Müller, Politologin, Transparency International, Berlin;Tanja Rabl, Wirtschaftswissenschaftlerin, Technische Universität Kaiserslautern;Stephanie Thiel, Kriminologin, Universität Gießen Diese hörenswerten Folgen von radioWissen könnten Sie auch interessieren: Macht - Philosophische ÜberlegungenJETZT ANHÖREN Droge Macht - Wenn Menschen nach oben kommenJETZT ANHÖREN Schlechtes Gewissen, gutes Gewissen - Was die Moral mit uns machtJETZT ANHÖREN Im Grunde gut? - Das Menschenbild im WandelJETZT ANHÖREN Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.RadioWissen finden Sie auch in der ARD Audiothek:ARD Audiothek | RadioWissenJETZT ENTDECKEN Das vollständige Manuskript gibt es HIER. Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:  Atmo  Autobahn MUSIK    What have we done to each other Erzählerin: Ein Krimischreiber hätte sich die Szene nicht besser ausdenken können: Im Schutz des Dämmerlichts treffen sich auf einem Autobahnparkplatz zwei Män¬ner. Sie sind verabredet, um Be¬stechungs¬gelder aus¬zu¬tauschen. Der eine ist 48 Jahre alt, Prokurist der Berliner Flug¬hafen¬ge¬sell¬schaft, der andere ein 46-jähriger Mitarbeiter des Gebäude¬tech¬nik¬aus¬rüsters Imtech. Von ihm bekommt der Prokurist 150.000 Euro, damit die Flug¬¬¬hafengesellschaft auf die Nachzahlungsforderungen von Imtech in Höhe von 60 Millionen Euro eingeht.  Zitator: „Ich habe 150.000 Euro angenommen – drei Bündel mit 500-Euro-Scheinen in einem Briefumschlag. Dafür habe ich aber keine konkreten Handlungen versprochen, nur Wohlwollen bei der Prüfung der Imtech- Nachforderungen.” Erzählerin: Gesteht der Beschuldigte bereits am ersten Prozesstag im August 2016 und ergänzt: Zitator: „Es war falsch.”  Erzählerin: Zu einem derart unumwundenen Geständnis kommt es aber eher selten, wenn jemandem der Prozess wegen Bestechung und Be¬stech¬lich¬¬keit gemacht wird. Viel häufiger tun die Angeklagten so, als handele es sich um eine Art von Kavaliersdelikt. Und glauben, dass sie damit vor Gericht durchkommen. Denn das unterscheidet diese Straftat Korruption von Diebstahl oder Unterschlagung: Die Täter fühlen sich nur in den seltensten Fällen schuldig und kriminell. Zitator: „Korruption ist der Missbrauch anvertrauter Macht zum privaten Nutzen oder Vorteil.  Musik aus Ob Bestechung oder Bestechlichkeit im internationalen Ge¬schäfts¬verkehr oder im eigenen Land, ob Käuflichkeit in der Politik oder der Versuch, durch Schmiergelder Vorteile zu erlangen - Korruption ver¬ur¬sacht nicht nur materielle Schäden, sondern untergräbt auch das Fundament einer Gesellschaft.” Erzählerin:  So definiert die Nichtregierungsorganisation Transparency International den Begriff Korruption. Strafrechtlich kann Korruption mit mehreren Jahren Haft belangt werden.  Allerdings nennt der Gesetzgeber keine Summe, ab wann das Delikt ein Straftatbestand ist - außerdem ist entscheidend, ob es sich um Amtsmissbrauch handelt, ob man sich einen großen Wettbewerbsvorteil erschleicht oder wie hoch dabei die Steuerhinterziehung ist. Insgesamt wird ein ganzes Bündel von Gesetzen in Anschlag gebracht, um die Schwere der Tat zu ermitteln. Transparency International kämpft seit 1993 weltweit gegen dieses aus¬ge¬prägte Phänomen. Ein Verhalten, das nicht nur illegal ist, sondern auch dem globalen Wirtschaftssystem einen massiven Schaden zufügt. Jährlich gehen etwa 1,5 Billionen Euro durch Schmiergeldzahlungen und Bestechung verloren, also 50% des deutschen Bruttoinlandsprodukts. Womit das weltweite  Wirtschaftswachstum um etwa zwei Prozent geschmälert wird, so der Internationale Währungsfond IWF. Für Deutschland sind es rund 250 Milliarden Euro.  MUSIK  Clue one Erzählerin: Korruption ist nicht gleich Korruption: Ist das Schenken einer Kiste Wein schon ein Bestechungsversuch? Und die Urlaubs¬ein¬ladung ein Ausdruck von echter Freundschaft? Die Grenzziehung macht das Ganze so schwierig: Wo genau beginnt Korruption? Das untersuchen Wissenschaftler erst seit wenigen Jahren. Dabei stehen die psychologischen Recht¬fer¬tigungs¬stra¬tegien der Be¬teilig¬ten im Fokus. Forscher skiz¬zieren drei Bereiche, in denen korrupt ge¬han¬delt wird: Die sichtbarste Korr¬uption ist die so¬g¬e¬nann¬¬te situa¬tive Korruption. Sie ist auch am ein¬fachsten zu beschreiben und damit auch zu bekämpfen. Darüber hinaus un¬terscheiden Wissenschaftler die strukturelle Korruption und die Netz¬werkkorruption, sagt die Kriminologin Dr. Stefanie Thiel von der Universität Gießen: Musik aus Take 4 (O-Ton Thiel) Also große Korruption, das findet auf einer höheren sozialen  Ebene statt, das kann auch in den politischen Sektor hineinreichen, da ist die Wirtschaft dran beteiligt, das kann bis hin zu ganzen Netzwerken gehen, das ist eher Korruption unter Mächtigen. Erzählerin: Die situative Korrup¬tion ist vor allem in Staaten verbreitet, in de¬nen es ein starkes Gefälle zwis¬chen Arm und Reich gibt, in denen staat¬liche Strukturen schwach aus-geprägt sind. Beispiele sind Indien, Nigeria oder Brasilien. Dort sind Schmier¬geld-zahlungen an der Tagesordnung: Jeder muss zah¬len, um seinen Pass ver¬län¬gert zu bekommen, eine ärztliche Be¬handlung zu erhalten oder nach dem Überfahren einer roter Ampel nicht im Ge¬fän¬g¬nis zu landen. Diese Art von Korruption ist deshalb gefährlich, weil sie das Vertrauen der Bevölkerung in den Staat nachhaltig zerstört. Bei uns dagegen spielt diese Art von Kor¬rup¬tion so gut wie gar keine Rolle. Auch das ist ein Grund, warum Deutsch¬land beim Kor¬rup¬¬¬tions¬¬wahr¬neh¬mungs¬¬index von Transparency Inter¬national seit Jahren so gut abschneidet, obwohl Schmiergelder und Käuf¬lichkeiten auch bei uns gang und gäbe sind.  MUSIK     Sugar storm Erzählerin: Wie zum Beispiel in der sogenannten Adlon Affäre: Zitator: 2001 übernachtete der damalige Präsident der Deutschen Bundesbank, Ernst Welteke, mit Familie im Berliner Luxushotel Adlon. Bezahlt wurde der viertägige Silvesteraufenthalt von der Dresdner Bank. Als der Spiegel die Zahlung 2004 öffentlich machte, legte Welteke sein Amt nieder. Er begründete das damit, dass der Aufenthalt zu „Kritik und Miss¬ver¬¬ständnissen” geführt habe. Er habe die Einladung als eine Art von Honorar verstanden, nicht als Geschenk, rechtfertigte sich der Banker, schließlich habe er in Berlin Interviews gegeben, Presse- und Fototermine wahrgenommen.  Musik  aus Erzählerin: Die Ermittlungen wegen Vorteilsnahme wurden gegen Zahlung von 25.000 Euro eingestellt. Take 5 (O-Ton Köbis) Was wir in unserer Forschung gezeigt haben ist, dass wenn es um Korruption geht, die meisten Leute es als unakzeptabel und unmoralisch ansehen, aber es trotzdem relativ viele Leute gibt, die in unserem Ex¬pe¬ri¬ment bereit sind, korrupt zu handeln … Erzählerin: Sagt Dr. Nils Köbis, Sozialpsychologe an der Freien Universität in Am¬ster¬dam. Dieser Spagat zwischen Einstellung und Handlung ist möglich, weil sich die Täter etwas vormachen und selbst belügen. Das betrifft ihr Verhalten, ihre Motive und die Folgen ihrer Handlungen. Auf diesen Widerspruch ist auch die Psychologin und Wirt¬schafts¬-wis¬sen¬schaft¬lerin Prof. Tanja Rabl von der Technischen Universität Kaisers¬lautern bei ihren Experimenten gestoßen: MUSIK Sugar storm Take  6 (O-Ton Rabl) Das Planspiel war so angekündigt, dass es um Entscheidungsverhalten in Unternehmen geht, das heißt, im Vorfeld wussten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer nicht, dass es um Korruption geht.  Zitator: Die Teilnehmer des spieltheoretischen Experiments, mussten dafür in die Rolle eines Entscheidungsträgers in einem Unternehmen schlüpfen.  Musik aus Sie waren dann Marketing- oder Vertriebsleiter und sollten entscheiden, wieviel Geld sie in welche Maßnahmen und Leistungen stecken wollten: Werbung, Verkaufsförderung, Produktverbesserung etc. Und gerieten im Laufe des Experiments dann in Situationen, in denen die Versuchung bestand, korrupt zu handeln. MUSIK Sugar storm  Take 7 (O-Ton Rabl) …uns war es ja wichtig zu erkennen, ob in den Situationen, wo solche Angebote eine Rol¬le spielen, ob die Teilnehmerinnen und Teilnehmer auch erkennen, ob es sich um Korruption handelt, oder nicht und wie sie sich ent¬spre¬chend verhalten. Erzählerin: Eine erste überraschende Erkenntnis dieser Experimente: Viele Teilnehmer waren sich nicht bewusst, so sagten sie zumindest, etwas Unrechtes getan zu haben, als sie Korruptionsangebote an¬genommen oder unterbreitet hatten.  Musik aus Vielmehr stellten sie ihr Handeln in einen anderen Zusammenhang und damit in einem positiven Licht dar, so Tanja Rabl.  MUSIK   Strange activities Erzählerin: Bei Diebstahl und anderen kriminellen Delikten, die zu einer persön¬li¬chen Be-reicherung führen, sind die Grenzen der Legalität klar.  Bei Ko¬r¬ruption dagegen tun sich die Handelnden damit deutlich schwerer, zeigen die Forschungen in Kaiserslautern und Amsterdam. Das liegt zum einen daran, dass alle, die sich direkt an der Korruption beteiligen, zufrieden sind – der Bestochene, weil er Geld erhält oder in den Genuss geldwerter Privilegien kommt, und der Bestechende, weil er dadurch ein Ziel erreichen kann. Und es liegt an der Natur der sozialen Beziehungen: Kor¬rup¬tion ist keine Straftat, die sich ein Einzelner im stillen Kämmerchen aus¬denkt, sondern immer auf die Interaktion mit anderen an¬ge¬wiesen. Die Grenzen zwischen Freundlichkeit, Hilfsbereitschaft und Käuflichkeit können verwischen, und in einem Beziehungsgeflecht zum Teil des sozialen Lebens werden.  Musik aus Take 9 (O-Ton Rabl) Was wir da gesehen haben, ist, dass es verschiedenste Recht¬ferti¬gungs¬stra¬tegien gibt, dass man eben den Schaden leugnet oder dass man leug¬net, dass es Opfer gab, oder dass man auch die Verantwortung leugnet, und da haben wir gesehen, dass vor allem Strategien zum Ein¬satz kommen, wo es eben darum geht, diese positive Absicht, die hinter kor¬ruptem Handeln steht, hervorzuheben. Musik Rara avis Erzählerin: Auch die Tatsache, dass es bei der Korruption keine sichtbaren Opfer gibt, trägt entscheidend mit dazu bei, dass sich viele nicht als Straftäter fühlen, so der Sozialpsychologe Nils Köbis von der Freien Universität Amsterdam: Take 10 (O-Ton Köbis) Was wir z.B. in Experimenten herausgefunden haben, ist, dass die Wahr-scheinlichkeit, dass Menschen korrupt handeln, deutlich höher ist, wenn sie nicht alleine davon profitieren, sondern auch noch andere mit pro¬¬fitieren. Und so können sie sehr viel einfacher das Ganze recht¬fer¬tigen, indem sie sagen, na gut ich hab das jetzt nicht nur für mich gemacht, ich hab das auch für die andere Person gemacht. ((Das Besondere an der Korruption ist, dass es sehr häufig eine Art von beidseitigem  Profit gibt.)) Ganz vielen Menschen nehmen Korruption als eine Win-Win Situation wahr, blenden dabei aber aus, dass es eine Win-Win-Loose Situation ist. Denn es gibt stets ein Opfer der Korruption. Musik aus Erzählerin: Aber das liegt nicht schwerverletzt am Boden, sondern bekommt beispielsweise als konkurrierendes Unternehmen nicht den Zuschlag für den Auftrag. Oder das Opfer ist die Allgemeinheit, weil etwa ein überteuertes oder gar unsinniges Projekt umgesetzt wird - und und und. In jedem Fall gilt:  Schaden und Geschädigte bleiben abstrakt für den Täter und können so leichter verdrängt werden.  Take 11 (O-Ton Thiel) Man spricht von Korruption als einem opferlosen Delikt, das ist natürlich nicht opferlos, aber man sieht das Opfer in dem Moment ja nicht. Das Opfer ist die Allgemeinheit, ich selber bin als Bestechende oder als Bestechlicher selber auch Teil der Allgemeinheit, aber in dem Moment sehe ich die Zusammenhänge nicht, weil sie sich nicht so offensichtlich erschließen. Erzählerin:  Deshalb reden sich viele die Korruption schön.  Atmo Geldzählen MUSIK Zippo‘s  Erzählerin: Anfällig für Bestechung zu sein, ist keine angeborene Charakter¬eigen¬schaft. Fast jeder ist potentiell korrupt und kann sich unter bestimmten Um¬stän¬den korrupt verhalten. In Deutschland, wo sie kein situatives Alltags¬ph䬬no¬men ist, tritt Korruption netzwerkartig in der Wirtschaft auf. Daher ist Be¬stechung in der Regel ein Delikt der Entscheidungsträger, d.h. der höheren Beamten oder Angestellten, der Ma¬nager, Aufsichtsrats¬vorsit¬zen¬den, Bosse.  Denn es geht dabei meis¬tens um Aufträge, um Erfolg, um Profit, um Geld und Macht. Wie der typische korrupte Akteur aussieht, erklärt Tanja Rabl: Musik aus Take 13 (O-Ton Rabl) Was natürlich nicht überrascht, weil gerade in den Positionen, die anfällig sind für korruptes Handeln, nämlich die, mit viel Ent¬scheidungs¬spiel¬raum, nach wie vor Männer überrepräsentiert sind, dass die sehr kar¬riereorientiert sind, sehr ehrgeizig sind, dass das oftmals Aufsteiger sind, die sehr statusbewusst sind, die die viele Aus- und Fortbildungen ab¬solviert haben, aber die auch diese sehr ausgeprägten Recht¬ferti¬gungs¬tendenzen haben. MUSIK Yolanda Erzählerin: Und offenbar hat sich an diesen beiden grundsätzlichen Einschätzungen we¬nig geändert.)) Heut¬zu¬ta¬ge gilt Korruption zwar als eine Straftat. Und wer in den Ruf gerät, korrupt zu sein, kann mit wenig Ver¬ständnis rechnen, wie das Beispiel des ehe¬ma¬ligen Bundespräsidenten Christian Wulff deutlich gezeigt hat.  Ganz anders aber ist die Bewertung von Korruption häufig dann, wenn es um kon-krete eigene Interessen geht. So hat z.B. im Jahr 2005 eine Untersuchung der Unter¬nehmens¬beratung Ernst & Young er¬geben, dass jeder vierte deutsche Angestellte Korruption in Ordnung findet, wenn dadurch die Wirtschaftskraft des eigenen Unternehmens ge¬stärkt wird. Dr. Jamie Lee Campbell hat festgestellt, dass es häufig die Organisationen selbst sind, die das Arbeitsklima so beeinflussen, dass die Mit¬arbeiter korruptes Verhalten als durchaus üblich und sogar notwendig be-trachten: Musik aus Take 14 (O-Ton Campbell) Was ich herausgefunden habe, dass die Wahrnehmung ist, dass man mit der Organisation im Krieg ist. Im Krieg und in der Liebe ist alles erlaubt, und dadurch wird jedes Projekt, jeder Auftrag, der herangezogen wird, ist wichtig, damit die Organisation weiterleben kann und dadurch sind dann auch die Arbeitsplätze sicher und dementsprechend ist das ein großer Druck. Und dass Korruption dadurch dann auch ein legitimes Mittel werden kann, um dieses Problem zu lösen. Dass man den Krieg gegen andere gewinnt. MUSIK A rocket debris cloud drifts  Erzählerin: In Unternehmen, denen Korruption nachgewiesen werden konnte, wie etwa Siemens in Deutschland oder dem Energiekonzern Enron in den USA, herrschte häufig eine Unternehmenskultur, so die Psychologin, die die Mitarbeiter auf vielen Ebenen unter Druck setzt.  Musik aus Take 15 (O-Ton Campbell) Man macht das ja jetzt nicht nur für sich, sondern auch für die Kollegen, weil die ja sonst auch ihren Job verlieren können und selbst, wenn man sich nicht sehr mit dem Unternehmen oder der Organisation identifiziert, kann es sein, weil die anderen einfach so einen Druck machen, dass man auch aus den Gründen mitmacht.  MUSIK Procedural  Erzählerin: Der Absturz von Enron  Zitator/Sprecher: Der weltgrößte Energiekonzern Enron beschäftigte auf dem Höhepunkt seines Erfolgs mehr als 22.000 Mitarbeiter. Für sich selbst warb der Kon¬zern, der vielen als Inbegriff eines innovativen Unternehmens galt, mit dem Spruch, er sei die großartigste Firma der Welt! 2001 kam heraus, dass jahrelang im großen Stil Bilanzen gefälscht und reihen¬weise US-Po¬litiker geschmiert worden waren. Als Konsequenz musste die Firma In¬solvenz anmelden, zahlreiche Mitarbeiter verloren die Jobs und auch ihre Betriebsrenten.  Musik aus Erzählerin: Eine Unternehmenskultur der absoluten Gewinnmaximierung ist durch¬aus verbreitet. Und auch wenn viele Un¬ter¬neh¬men heut¬zu¬tage in ihrer Selbstdarstellung auf Ver-haltens¬codices, so¬ge¬nannte Codes of Conduct oder Codes of Ethics verweisen, in denen von Nach¬ha¬ltigkeit, Trans¬pa¬renz und Verantwortung die Rede ist, so gibt es auf der infor¬mellen Or¬ga¬nisationsebene doch häufig Maßnahmen, die einem solchen Ver¬hal¬tens¬kodex diametral entgegengesetzt sind. Take 17 (O-Ton Campbell) Die Frage ist halt, wie ist das mit dem Belohnungs- und Sanktionssystem ver-bunden? Inwiefern kann ich auch belohnt werden, wenn ich einen Auf¬trag nicht bekommen habe, obwohl ich ethisch gehandelt habe, und ihn deswegen nicht bekommen habe oder inwiefern werde ich belohnt, wenn ich einen Auftrag bekommen habe, wo es ganz klar ist, dass das mit Korruption vonstatten gegangen ist. Das wirkt halt auch auf die an¬de¬ren Mitarbeiter. Erzählerin: In vielen Branchen und Unternehmen ist es für neue Mit¬ar¬beiter nicht auf den ersten Blick erkennbar, welche Unternehmenskultur, neben der offiziellen Selbst¬dar¬stellung, vorherrscht. Manchmal rutschen Mitarbeiter Schritt für Schritt hinein in ein Geflecht aus Betrug, Lüge und Bestechung.  Take 18 (O-Ton Köbis) Das ist dieser graduelle Prozess in dem eine gewisse Handlung, von der man gesagt hätte, dass man sie niemals machen würde, am Ende oder nach einiger Zeit als akzeptabel angenommen wird.  Erzählerin: Sagt der Sozialpsychologe Nils Köbis von der Freien Universität Amsterdam. Take 19 (O-Ton Köbis) Jetzt kann es allerdings sein, dass am Anfang das Ganze nicht nach einem Briefumschlag mit Geld aussieht, sondern dass es vielleicht erstmal eine nette Einladung zum Abendessen ist. Auf die nette Ein¬ladung zum Abendessen folgt dann vielleicht die Einladung ein The¬a¬ter¬¬event oder ein Sportevent zu besuchen. Dann wiederum kann es sein, dass man zu einem Urlaub eingeladen wird und auf einmal erhöht sich die Größe der Korruption schrittweise und jeder Schritt fühlt sich als ein-zelner überhaupt nicht verwerflich an.  Akzent Geldzählgeräusch MUSIK Diamond   Take 20 (O-Ton Campbell) Kognitive Dissonanz bedeutet, ich habe eine Einstellung und einen Wert, das wäre, ich bin ein ethisch und rechtschaffener Mensch. Mein Verhalten ist aber, dass ich was ganz anderes mach, ich unterstütze Korruption in meiner Organisation. Und um die zu überbrücken, brauche ich eine Strategie, die nennt sich Rationalisierung. Das sind sehr starke Strategien, die helfen, dass man seinen Wert und sein Selbstbild aufrecht erhalten kann und trotzdem weiter kriminell unterwegs sein kann. Erzählerin: Entscheidend für diese kognitive Dissonanz ist auch, dass ein Verhalten in verschiedenen Situationen unterschiedlich bewertet wird. Was ein Mensch im Privatleben als unethisch und falsch verurteilt, kann er in Arbeitszusammenhängen durchaus akzeptabel finden, erklärt der Sozialpsychologe Köbis:  Musik aus Take 21 (O-Ton Köbis) Und was wir dort gefunden haben, dass die Personen, die sich nicht korrupt verhalten, ein sogenanntes moralisches Framing benutzen, das heißt, ihre Verhalten unter moralischen Gesichtspunkten sehen. Sie sagen, ich hab das nicht gemacht, Korruption ist unmoralisch. Die Per¬so¬nen, die wiederum in dem Spiel korrupt gehandelt haben, sagen, ich hab das gemacht, weil es clever war, weil das smart war. Und so zeigt sich, bei der Korruption, dass selektiv ausgesucht wird, ob man das Verhalten eher als clever und smart ansieht, oder eher unter einem moralischen Gesichtspunkt sieht. Erzählerin: Und je verbreiteter Bestechung und Be¬stech¬lich¬keit als Teil der Unternehmenskultur sind, desto leichter fällt eine solche Beurteilung, sagt auch die Wirtschaftswissenschaftlerin und Psychologin Tanja Rabl von der Technischen Universität in Kaiserslautern: Take 22 (O-Ton Rabl) Da haben wir gesehen, dass drei Faktoren ganz wichtig sind, nämlich einmal, wie ist die persönliche Einstellung der Person zu Korruption, dann natürlich auch, wie sind die Normen der anderen, wie steht mein Umfeld, wie stehen Personen, die mir wichtig sind, das können Kollegen sein, das kann Familie sein, das können Freunde sein, wie stehen die eigentlich zu Korruption? Und der dritte Faktor war dann eben noch, wie viel Kontrolle glaub ich noch über mein korruptes Handeln zu haben , wie wahrscheinlich ist es eigentlich, dass ich das Ganze risikolos durchführen kann? Erzählerin: Diese Faktoren führen dazu, dass Schmiergeldzahlungen auch bei uns noch immer ver¬breitet sind, allem Wissen um Kriminalität, um Ungerechtigkeit und wirtschaftl¬i-chen Scha¬den zum Trotz. Denn nicht nur in einzelnen Unternehmen herrscht mit-unter eine tolerierende Haltung gegenüber Korruption, weil sie an¬geb¬lich nötig ist, um an Aufträge zu kommen oder um Arbeitsplätze zu erhalten. Auch auf staatlich-ge¬sell-schaf¬tlicher Ebene erschüttern immer wieder Bestechungs-Skandale, in die Politiker oder angesehene Persönlichkeiten verwickelt sind, die Öffentlichkeit. Grundsätzlich könnte der Staat jedenfalls Be¬stechung und Be¬stech¬lichkeit deutliche effektiver ver-folgen und eindämmen, erläutert die Kriminologin Thiel von der Universität Gießen. Trotzdem gehe in Deutschland der Trend weg von staatlicher Kontrolle hin zu betrieblicher Selbstkontrolle. Das sei das falsche Signal:  Take 24 (O-Ton Thiel) Da hat sich der Staat auch aus vielen Kontrollfunktionen zurückgezogen und das hat natürlich auch der Korruption Tür und Tor geöffnet. MUSIK       Zippo‘s    Erzählerin: Diejenigen, die die psychologischen Strategien der korrupt Handelnden un¬ter¬suchen, sehen v.a. in den sozialen Normen, eine große Chance, um Korruption zu bekämpfen und zu vermeiden. Wenn Korruption nämlich tatsächlich geächtet ist, wenn keine Belohnungen oder Beförderungen und andere Vorteile daraus erwachsen, dann lässt sich die Aufteilung in strategisch cleveres Arbeitsverhalten und moralisch integeres Privatleben nicht aufrechterhalten. Dann würden die Gelegen¬heiten, Situationen und Zufälle, die entscheidend sind für ein korruptes Verhalten, einfach entfallen.  Musik aus

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