Radiowissen

Bayerischer Rundfunk
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Sep 5, 2025 • 22min

Der Schulweg - früher und heute, hier und anderswo

Saskia Haspel, Gründerin der Montessori-Akademie in Wien, teilt ihre Perspektiven über den Schulweg als Raum der Freiheit und Selbstständigkeit für Kinder. Die Diskussion führt durch nostalgische Erinnerungen und moderne Herausforderungen. Haspel beleuchtet, wie wichtig Selbstwirksamkeit für das Kindeswohl ist und wie der Schulweg als Lernort fungiert. Zudem wird auf die globalen Risiken eingegangen, denen Kinder auf ihrem Schulweg ausgesetzt sind, und die Rolle von Eltern in diesem Prozess thematisiert.
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Sep 5, 2025 • 22min

Karnivoren - Wie Pflanzen zu Fleischfressern wurden

Erfahre mehr über die atemberaubende Welt der fleischfressenden Pflanzen. Warum sind sie so faszinierend für Wissenschaftler wie Charles Darwin? Entdecke, wie die Venusfliegenfalle mit ausgeklügelten Mechanismen Insekten fängt und wie genetische Signale das schnelle Schließen ihrer Falle steuern. Außerdem wird die einzigartige Ernährungsweise der Trifiofyllum-Pflanze beleuchtet, die sich an nährstoffarme Bedingungen anpasst. Diese Pflanzen zeigen uns, wie evolutionäre Anpassungen auf überraschende Weise funktionieren.
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Sep 4, 2025 • 22min

Der Wiener Narrenturm - Die erste "Irrenanstalt" der Welt

Der Narrenturm in Wien ist nicht nur architektonisch beeindruckend, sondern auch historisch bedeutsam als die erste psychiatrische Einrichtung der Welt. Hier erfährt man von den Überwachungsmethoden und fragwürdigen Behandlungsmethoden des 19. Jahrhunderts. Die geschlechtsspezifischen Unterschiede in der Patientenverteilung und den Diagnosen werden beleuchtet. Außerdem wird diskutiert, wie der Narrenturm als Mahnmal für die Vergangenheit und als Symbol für die Herausforderungen der modernen Psychiatrie dient.
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Sep 4, 2025 • 24min

Nueva Germania - Das gescheiterte „Arier-Experiment“ im Urwald

Eine Zuflucht für die "arische Rasse": Das sollte Nueva Germania sein, als deutsche Auswanderer den Ort 1886 in Paraguay gründen. Das Projekt scheitert nach wenigen Jahren. Doch der Ort existiert bis heute. Credits Autor dieser Folge: Sebastian Kirschner Regie: Anja Scheifinger Es sprachen: Stefan Merki, Christopher Mann, Rahel Comtesse, Hemma Michel Technik: Ursula Kirstein Redaktion: Thomas Morawetz Im Interview:Prof. Dr. Natascha Mehler, Archäologin (Universität Tübingen);Attila Dészi, Archäologe (Universität Tübingen);Klaus Neumann, geboren und aufgewachsen in Nueva Germania;Dr. Daniela Kraus, Historikerin und Journalistin (Wien);Ruth Alison Benitez, Cheftechnikerin der Abteilung für Archäologie des Nationalen Kultursekretariats in Paraguay Diese hörenswerte Folge von radioWissen könnte Sie auch interessieren: Bayern zwischen den Kriegen - Von der Boheme zu BarbareiJETZT ANHÖREN Literaturtipps: Ben Macintyre: „Vergessenes Vaterland. Auf den Spuren der Elisabeth Nietzsche“. Reclam Leipzig 1994. Daniela Kraus: „Bernhard und Elisabeth Försters Nueva Germania in Paraguay. Eine antisemitische Utopie“. Doktorarbeit. Universität Wien, 1999. Julius Klingbeil: „Enthüllungen über die Dr. Bernhard Förster'sche Ansiedelung Neu-Germanien in Paraguay“. Leipzig 1889 (antiquarisch). Elisabeth Förster-Nietzsche: „Dr. Bernhard Försters Kolonie Neu-Germania in Paraguay“. Berlin 1891 (antiquarisch). Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. RadioWissen finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | RadioWissen JETZT ENTDECKEN Das vollständige Manuskript gibt es HIER. Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: ATMO Plaza früh SPRECHER Ein abgelegener Ort in den Weiten Südamerikas. Es ist nur wenig los auf den Straßen. Vereinzelt ziehen Rinder über die Wege, rot leuchtet der sandige Boden. Schon um neun Uhr morgens brennt die Sonne vom Himmel über Paraguay. Ein Tag wie jeder andere für Don Alfonso – wäre da nicht die Ausgrabung auf seinem Grundstück. Kritisch blickt er jeden Tag hinüber zu den Archäologen. Die Forscher wissen, er will das Ganze endlich hinter sich haben. Es geht ihm nicht nur um sein Gemüse, das dort wächst. Es ist die Vergangenheit, die dem Ort mit dem eigentümlichen Namen zu schaffen macht: Nueva Germania [sprich: Nueva Chermania]. Seine Bewohner wollen nicht länger als Nazis gelten, nur weil etliche von ihnen deutsche Vorfahren haben. Der 72-jährige Klaus Neumann etwa. ZUSP_01  Uns, die hier geboren sind, von deutscher Abstammung, es wird uns immer wieder gefragt über Nazis. Ich habe als Kind nie, nie eine Hakenkreuzfahne gesehen. Ich glaube, ich bin nicht der einzige aus Nueva Germania. Meiner Ansicht nach ist es gewissermaßen ungerecht. SPRECHER  Einst gedacht als Zuflucht für eine sogenannte Arische Rasse, hat Nueva Germania den Menschen dort den Ruf von Urwaldgermanen eingebracht. Verschlägt es Besucher hierher, dann oft genau deshalb. Und auch weil es irgendwie kurios ist, so abgelegen auf deutsche Sprache zu stoßen, in einem Land, wo sonst ohne Spanisch rein gar nichts geht. Und nun sind auch noch Archäologen da und spüren dieser Vergangenheit nach. TRENNER (ab hier Musik düster) SPRECHER Nueva Germania 1886, also lange bevor es in Deutschland Nationalsozialisten gab: In diesem Jahr gründet Bernhard Förster die sehr spezielle Siedlung gründet. Zusammen mit seiner Frau Elisabeth Förster-Nietzsche, der Schwester von Philosoph Friedrich Nietzsche. In einer zeitgenössischen Werbeschrift lässt das Ehepaar wissen: ZITATOR 1 Wir werden eine arische Herrenrasse züchten, hier in den Wäldern Südamerikas. Unser Neu-Germanien wird ewig dauern. SPRECHER Schon drei Jahre zuvor hat der glühende Antisemit Förster dafür Paraguay erkundet. Dass er nach einer passenden Gegend für ihre Pläne sucht, hatte man sogar in England registriert. Im Februar 1883 heißt es in der Zeitung „The Times“: ZITATOR 1 Herr Doktor Förster, einer der Anführer der antisemitischen Bewegung in Deutschland, schüttelte den Staub eines undankbaren Landes von seinen Füßen und verließ mit einer kleinen, aber ergebenen Gruppe von Anhängern Berlin, um sich nach Paraguay einzuschiffen, wo sie ein „neues Deutschland“ gründen wollen, unbeschmutzt von irgendwelchen Nachkommen Abrahams. SPRECHER Die österreichische Historikerin und Journalistin Daniela Kraus hat sich intensiv mit Nueva Germania und ihren Gründern beschäftigt. Die Wurzeln für Försters krude Ideen sieht sie in seiner Biographie: ZUSP_02 Bernhard Förster war ein Gymnasiallehrer, der sich zunehmend radikalisiert hat und hat handgreifliche Streitigkeiten angefangen auch gegen jüdische Mitbürger, was dazu geführt hat, dass er seinen Schuldienst quittieren musste. Das heißt, der war ein bisschen eine gescheiterte Existenz.  SPRECHER Gleichzeitig kennt und verehrt Förster den Komponisten Richard Wagner – und lernt so auch seine spätere Frau Elisabeth Nietzsche kennen. Die war über ihren innig geliebten Bruder Friedrich, einen engen Freund des Komponisten, in den Kreis der Wagners gerückt: ZUSP_03 Elisabeth führte ihrem Bruder den Haushalt und ging mit ihm mit, hat den Wagners in Bayreuth eine Zeit lang den Haushalt geführt und hat damit einen gewissen gesellschaftlichen Aufstieg durchgemacht. Und dann begegnet sie diesem ein bisschen versponnenen Bernhard Förster, der mit seinen Ideen und seinen Idealen ihr offensichtlich gefallen hat.  SPRECHER Ideen, die sich auch aus antisemitischen Gedanken von Wagner speisen. Etwa, dass man das reine Deutschland eigentlich nur irgendwo im Urwald wieder herstellen könne. Förster nimmt das wörtlich: Er und seine Frau locken mit der Aussicht auf paradiesische Zustände in Paraguay.  In den Bayreuther Blättern schreibt Elisabeth: ZITATORIN Dann sitzen wir im Garten; vor dem Haus und blicken ins Weite. Wiesen von der Abendsonne röthlich vergoldet an beiden Seiten des Flüsschen, von brüllenden Rinderheerden durchzogen, welche zögernd der Viehhürde zuschreiten. Welch friedliches, glückliches Bild bietet das Ganze dar, nichts Fremdartiges, nein, alles deutsch und heimathlich!  SPRECHER Diese Aussichten fallen in Deutschland auf fruchtbaren Boden.  ZUSP_04 Es gab 1873 den Börsenkrach, es gab Leute, die insgesamt mit der politischen und sozialen Situation unzufrieden waren. Leute, die verarmt waren, die keine ökonomischen Perspektiven in Deutschland sahen und die sich dazu verleiten ließen, Scharlatanen zu glauben, die ihnen dann ein besseres Leben andernorts versprachen.  SPRECHER Dass das ausgerechnet in Paraguay warten sollte, hatte seinen Grund. Das Land hatte gerade sechs Jahre blutige Kämpfe gegen seine Nachbarn Argentinien, Brasilien und Uruguay hinter sich und stand vor einem Desaster. Paraguay hatte den sogenannten Triple-Allianz-Krieg verloren, und im Zuge dessen mehr als die Hälfte seiner Bevölkerung.  ZUSP_05 Danach war die Idee, man braucht wieder Leute, man braucht Einwanderer. Deswegen hat Paraguay sehr stark gefördert, die Einwanderung einerseits durch Anwerbungen in Europa und sehr stark auch in Deutschland. und andererseits auch durch den Verkauf von günstigem Land und verschiedene steuerliche Begünstigungen. SPRECHER Die Werbung wirkt. Auch deshalb können die Försters schließlich rund 200 deutsche Auswanderer für ihre antisemitischen Kolonialträume mobilisieren.  ZUSP_06 Das waren schon Leute, die diese Ideologie zumindest sympathisch fanden, die auch Aussteiger waren, die Arbeiter waren und Arbeitsplätze verloren haben durch die Industrialisierung. Und die gesagt haben, wir müssen ein neues Leben führen, dass man zurück zum Ursprung muss. Dieser Ursprung impliziert eine völkische Reinheit. Diese Mischung dürfte auf manche Leute sehr attraktiv gewirkt haben. SPRECHER Das Problem: Keiner von ihnen kennt sich damit aus, eine solche Kolonie aufzubauen. Kaum einer versteht etwas von Landwirtschaft. Schnell holt die Kolonisten die Realität ein. Ihr neues Zuhause Nueva Germania entpuppt sich als ein von tropischen Krankheiten und Hunger geplagtes Dorf, beschwerliche acht Tagesreisen mit dem Boot flussaufwärts von Asuncion, der Hauptstadt von Paraguay. ZUSP_07 Dort war im Prinzip Urwald. Das heißt, die mussten dort wirklich das Land urbar machen, die ganze Infrastruktur herstellen. Es war das Klima nicht gut. Es waren wahnsinnig viele Moskitos. Es gab Sandflöhe, es gab Ungeziefer, das die Ernten zerstört hat. Es gab nicht ausreichend sauberes Trinkwasser. Das heißt, die Leute wurden relativ schnell krank. Es war wahnsinnig schwierig. SPRECHER Den Försters fällt es zunehmend schwerer, die desaströsen Zustände in Nueva Germania zu verheimlichen – vor neuen Interessenten und ebenso vor Geldgebern. Einer ihrer lautesten Kritiker ist Julius Klingbeil, der 1888 selbst als Auswanderer nach Nueva Germania gekommen ist. Ein Jahr später macht er seinem Ärger über die Zustände vor Ort Luft. Er veröffentlicht ein Buch, das andere warnen soll: ZITATOR 1 Mögen sich Förster und Genossen noch so sehr abmühen, das Klima Paraguays als ein überaus herrliches zu preisen, jeder redliche Mensch wird mit mir bekennen, dass derartige Behauptungen nur Unwahrheiten und Mittel zum Zwecke sind. Der Doctor Förster führt mit seinen Genossen in Paraguay ein recht bequemes Leben. Seine Arbeit besteht im Nichtsthun, im Abfangen von einwandernden Deutschen in Asuncion und darin, daß er zündende Berichte für Vertrauensselige verfasst. SPRECHER Die Folge: Schon nach sieben Jahren, im Jahr 1893, ist das antisemitische Projekt wieder zu Ende: Förster hat längst Selbstmord begangen, seine Frau flieht zurück nach Deutschland.  TRENNER SPRECHER Man könnte das Geschichte sein lassen, ein kurzes dunkles Kapitel deutscher Auswanderer. Nur: Der Ort existiert bis heute; und er hadert mit seinen Wurzeln. Ein Ort, wo Menschen wie Don Alfonso die Vergangenheit von Nueva Germania endlich hinter sich lassen wollen. Und wo zugleich die Farben Schwarz-Rot-Gold selbst Mülltonnen und T-Shirts zieren. Warum ist das Dorf damals nicht schnell wieder verschwunden? Ein Ort, dessen kleine Gemeinschaft einst ideologisch darauf basiert hat, sich abzuschotten. Genau das interessiert auch ein Team von Archäologen aus Deutschland, Argentinien und Paraguay.  ZUSP_08 Wieso wandert da jemand im späten 19. Jahrhundert aus nach Paraguay, ohne wirklich da mal gewesen zu sein und ohne wirklich zu wissen, was sie erwartet? Man denkt natürlich immer gleich mal an Überlebensstrategien und Siedlungsbewegungen vor Ort, und das hat mich alles unheimlich fasziniert. SPRECHER sagt Projektleiterin Natascha Mehler von der Universität Tübingen.  Bereits 2022 hat sie mit ihren Kolleginnen und Kollegen dafür anhand alter Pläne die Lage vor Ort sondiert. Ausschau gehalten nach Resten vom angeblich recht herrschaftlichen Hof der Försters: ZUSP_09 Da gab es in diesem Plan eine klare Fläche, die da eingezeichnet war, und als wir dort vor Ort waren auf diesem großen Grundstück sind wir ihn erst mal abgelaufen. Und haben aber überhaupt nichts davon entdeckt. Und es hat uns doch sehr verwundert, weil die Zeit ist ja noch nicht so weit fortgeschritten zwischen Aufgabe dieses Hofs und heute, also vielleicht 100 Jahre. Und man müsste eigentlich doch noch irgendetwas finden.  SPRECHER Eine Senke im Terrain, einen Brunnen, einen Ziegelhaufen vielleicht. Hat das Haus der Försters vielleicht doch auf einer ganz anderen Fläche gestanden? Zum Beispiel im alten Ortskern von Nueva Germania, an der sogenannten Plaza? ZUSP_10 Die Bewohner von Nueva Germania, die erzählen uns, dass hier der Försterhof war, also die sagen es ganz anders, als auf der Karte eingezeichnet ist. Und da gibt es tatsächlich eine Bauruine, da kann man noch Brunnenreste sehen. TRENNER ATMO Ausgrabung + Urwald  SPRECHER Frühjahr 2023. Pinsel legen rote und weiße Fußbodenfliesen frei. Maurerkellen kratzen an Erdprofilen im roten Boden von Paraguay. Die Archäologen ringen sie seit Wochen mühsam der Vegetation und den Moskitoschwärmen ab. Doch sie müssen sich beeilen. Es ist neun Uhr, und die Sonne drückt. Ab Mittag wird es zu heiß sein – oder plötzlich wie aus Eimern regnen. Es herrscht Regenzeit. Und nicht nur das macht den Forschern zu schaffen: ZUSP_11 Wir müssen die Grabungsmethode anpassen vor Ort, zum einen an die Vorgaben des Grundstücksbesitzers. Er möchte nicht, dass wir seine Ernte hier gefährden. Dann haben wir keine große Technik dabei, weil das mit dem Zoll sich wirklich zu schwierig gestaltet hätte. SPRECHER Kein Hightech mit Tachymeter und Laserscan. Stattdessen Ausgraben wie vor Jahrzehnten, mit Nivelliergerät, Maßband und Zeichenblock. Und immer den wachsamen Blick Don Alfonsos im Rücken. Dennoch sind die Wissenschaftler weit gekommen. ZUSP_12 Wir hatten keine Ahnung, wie groß das wird. Und jetzt stehen wir vor knapp 30 Metern Gebäude mit mehreren Adaptionen und Ergänzungen. Das ist deutlich mehr, als wir erwartet haben von der Größe her. SPRECHER sagt Attila Dészi [sprich: Deeschi (sch stimmlos)] von der Universität Tübingen über das, was von dem einstigen Haus noch erhalten ist. Er schwärmt, auch wenn neben ihm ein tiefes Loch in der Erde klafft, das nicht von den Archäologen stammt. ZUSP_13 Leute denken, dass es hier Gold gäbe, weil einige vermuten, das sei das Haus vom Försterhof gewesen und waren reich natürlich. Entsprechend sieht es aus. Ich weiß nicht, wie groß das ist. Drei Meter? SPRECHER Das Haus der Försters? Bislang haben die Archäologen nichts gefunden, was diesen Verdacht weiter erhärtet. Gerade verschafft sich Natascha Mehler einen Überblick über die Fortschritte: ZUSP_14 Das ist das Haus von einem Herrn Freitag, den wir in den Schriftquellen gut fassen können, der auch eine wichtige Position innehatte hier im Ort. Das sieht man im Prinzip ja auch, dass es ein stattliches Haus ist, mitten an der Plaza.  SPRECHER Georg Freitag kümmert sich damals um die Küche. Er versorgt Neuankömmlinge in ihren ersten Tagen in der Siedlung. Er ist eine der ersten Anlaufstellen für all die, die ihr Glück fortan in Nueva Germania suchen. Genau das macht die Arbeit hier für Attila Deszi so spannend: ZUSP_15 Wir wissen ja gar nicht, ob alle, die da mitgekommen sind, das Ganze auch ideologisch unterstützt haben oder einfach gesehen haben, einen neuen Anfang auf der anderen Seite der Welt zu starten.  ZUSP_16  VOICEOVER Ziel des Projekts ist es, die erste Generation von Menschen aus Deutschland zu verstehen; wie sie sich an den Ort anpassten, die Beziehung zu den Menschen hier in Paraguay SPRECHER sagt Ruth Alison Benitez [Aussprache-wav in Digas]. Sie ist archäologische Cheftechnikerin des Nationalen Kultursekretariats in Paraguay. Wie stark haben sich die ersten Siedler an den Ort, die lokale Bevölkerung angepasst? Wie abgegrenzt, oder das gepflegt, was sie für besonders deutsch hielten? So etwas soll die Ausgrabung zeigen. Doch um die erste Siedlungsphase zu erkennen, braucht es Funde, die diese Zeit bestätigen. Bisher haben die Archäologen fast nur Reste späterer Zeit gefunden: Patronenhülsen, Bonbonfolie, Schuhsohlen aus Kunststoff, ein Bild von Papst Johannes Paul II. Entmutigen lassen sich die Wissenschaftler davon aber nicht. Denn verglichen mit Vorgeschichtsforschern haben sie einen Vorteil: Sie erforschen Zeiten, in denen sie ihre Ausgrabung mit Schriftquellen abgleichen und ergänzen können. Und nicht nur das: ZUSP_17 Jetzt sind wir im späten 19. Jahrhundert, frühen 20. Jahrhundert. Und da haben wir die Chance, dass wir mit der 3., 4. Generation besprechen können, was hier passiert, und das ist auch ein wichtiger Teil der historischen Archäologie. SPRECHER Historische Archäologie bezieht Zeitzeugen mit ein. Eine Quelle, von der andere Archäologen in der Regel nur träumen können. Vor einigen Tagen etwa hat eine ältere Dame die Ausgrabung besucht. Sie kannte das einstige Gebäude noch aus ihrer Kindheit, als Georg Freitag hier nicht mehr gewohnt hat, sagt Attila Deszi: ZUSP_18 Außerhalb ihres Zimmers und des Hauses war ein Gebäude vorgelagert, wo die Tiere geschlachtet worden sind. Und das sei ein Backsteinboden gewesen in diesem Schlachtraum. Und das hat sie sehr verstört, diese Tiere zu hören, wie die geschlachtet werden, direkt neben ihr. Daran hat sie sich sehr, sehr gut erinnert. Auf der anderen Seite vom Haus war das Zimmer von ihrem Vater, da durfte sie nicht rein. Aber sie hat ein paar Mal gesehen, dass der andere Fliesen hatte, nämlich die sechseckigen Fliesen. Und das passt ganz gut zu dem, was wir haben. SPRECHER Es sind Details aus dem Alltag, über die die Archäologen sonst nur mutmaßen können. Details, die den Forschern auch helfen, ihre Grabungsflächen gezielter anzulegen. Aber die Arbeit mit Zeitzeugen bringt auch Probleme mit sich. Zum einen sind sie häufig sehr alt, ihre Erinnerung verblasst. Zum anderen müssen sie sich hier einer Vorgeschichte stellen, die ihnen bisweilen den Ruf als Erben von Försters Arier-Fantasien beschert hat, mit Büchern auf denen Hakenkreuze prangen. Etliche der Deutschstämmigen in Nueva Germania reagieren daher freundlich-zurückhaltend. Wollen die Ausgrabung besuchen, und kommen dann doch nie. Einzelne sind aber auch neugierig und erzählen. So der 72-jährige Klaus Neumann:  ZUSP_19 An dieser Plaza gab es früher keine Kirche. Dieses Haus, das war eigentlich das größte Haus hier in einem Stadtplatz und etwas weiter da wohnte die Familie Wolf und daneben die Küchenmeisters. Das waren die Familien hier am Stadtplatz. SPRECHER Klaus Neumann wohnt nicht mehr im Ort. Er ist aber hier geboren und aufgewachsen. Sein Urgroßvater war einer der ersten Siedler hier. Was er aus seiner Kindheit erzählt, weist darauf hin, dass vielleicht nicht alle, die mit dem Gründer-Ehepaar ausgewandert sind, ihre Ideologie teilten – oder sie zumindest vor Ort weniger wichtig war, als die Försters in Europa glauben machen wollten: ZUSP_20 Dass es antisemitische Stimmung gab in Nueva Germania ist Blödsinn. Die erste Heirat in Nueva Germania war zwischen Fanny Schubert und Max Stern, und Max war Jude. SPRECHER Ein wichtiges Puzzlestück in der Geschichte des Ortes und für das Verhältnis seiner heutigen Einwohner zu ihr. Und vielleicht hilft Klaus Neumanns Erinnerung ja auch, dem Försterhof auf die Spur zu kommen?   ZUSP_22 Wir wissen ja leider nicht, von wann diese Karte ist und ob das nur ein eine Planskizze ist oder ob das wirklich so jemals gebaut wurde. Und Förster hat hier oben ein großes Grundstück, ein großes Gebäude und hier unten, hier in der Stadt auch noch ein Grundstück. Und wir sind hier, Freitag, wir haben hier die Plaza. Und ich habe mich gewundert, dass jemand wie Doktor Bernhard Förster, wenn er sozusagen Gründer der Kolonie ist, sich nicht ein Haus an der Plaza baut, sondern doch etwas weiter weg. - No, no, ich glaube, dieser Platz ist korrekt. Dieser Brunnen ist unheimlich groß und stabil. Ich habe so einen Brunnen woanders hier nicht gesehen.    SPRECHER Ein neuer Hinweis, der Natascha Mehler noch einmal Hoffnung macht. Doch immer noch fehlen Funde, die die Theorie bestätigen. Schlimmer noch: Auch unabhängig vom Försterhof tun sich die Forscher schwer, die erste Siedlungsphase zu erkennen. Nur eine einzige Verfärbung im Boden, die auf ein älteres Gebäude hinweist. Entsprechendes Fundmaterial? Bisher Fehlanzeige, sagt Attila Deszi: ZUSP_24 Wir haben sehr, sehr wenig Funde und materielle Kultur von den allerersten Siedlern. Das einzige, was wir bisher hatten, war ein Knopf der Produktionstechnik 1850er bis 1880er und Murmeln. SPRECHER Murmeln und ein einzelner Knopf. Und das auch noch aus dem Gang einer alten Baumwurzel – zum Datieren unbrauchbar. Graben die Archäologen an der falschen Stelle? Lässt sich der Wandel der Kolonie vielleicht doch nicht archäologisch fassen? Es wird noch bis kurz vor Ende der Ausgrabungen dauern, bis das Team schließlich auf eine weitere markante Struktur im Boden stößt – und eine Glasperle darin eine frühe Siedlungsphase bestätigt. Für Natascha Mehler endlich ein archäologisches Indiz, dass die ersten Siedler früh Kontakt zur lokalen Bevölkerung gesucht haben:  ZUSP_25 Wir können das ganz gut sehen, denke ich in diesem ersten frühen Pfostenbau, den wir ja jetzt noch am Ende der Kampagne entdeckt haben. Diese Pfostenlöcher, die unter dem späteren größeren Haus liegen, das sind die Reste von einer recht einfachen Unterkunft, aber in einer Bauweise konstruiert, die wir von den Guarani kennen. Also die haben ganz schnell eine provisorische Unterkunft gebaut, die im Prinzip den Baustil der Guarani entspricht. SPRECHER Der Grund, warum Nueva Germania seine kritische Anfangsphase überlebt hat? Die Forscherin glaubt, weil ideologische Gedanken der Auswanderer pragmatischen Entscheidungen weichen mussten: ZUSP_26 Die haben sicherlich früh schmerzhaft erfahren, dass das nicht umsetzbar ist, was die sich ursprünglich vorgenommen hatten, sondern dass sie sich ganz schnell auch anpassen mussten an die Gegebenheiten vor Ort. SPRECHER Das heißt: Im Fall von Nueva Germania ist die Ideologie also offenbar gescheitert. Und so wie Ruth Alison einen wesentlichen Teil der Forschungen hier zusammenfasst, sogar ziemlich gründlich: ZUSP_28 VOICEOVER Wir haben festgestellt, dass viele Menschen hier in Nueva Germania nichts über diese entfernteren, älteren Aspekte dessen wussten, was wirklich hier war, über die Bedeutung dieser ersten deutschen Gemeinschaft, die hier war, warum sie Nachkommen von Deutschen sind, warum sie diesen Nachnamen haben, woher sie kommen. SPRECHER Gerade deshalb findet Klaus Neumann die Ausgrabung in seinem Heimatort wichtig. Er hofft, dass sie hilft, den Blick auf Nueva Germania und seine Geschichte zu verändern. Auch er ist überzeugt: Ohne gute Kontakte zur lokalen Bevölkerung hätte die Kolonie nie überlebt. Die Archäologen möchten noch tiefer graben. Weiter nach Strukturen und Funden suchen, die zeigen, ob das Arier-Projekt vor Ort überhaupt jemals einer gelebten Wirklichkeit entsprach. ZUSP_29 Ich hoffe, dass die Arbeit jetzt zumindest auch hier ein bisschen Interesse an dieser eigenen Vergangenheit generiert und nicht nur so eine Ablehnungshaltung, vielleicht auch ne Art von Wertschätzung dazu kommt für die Leute hier vor Ort. ATMO Ausgrabung und Urwald SPRECHER Immerhin: Mit der Zeit kommen mehr Menschen aus dem Ort, wollen sich die Ausgrabung zeigen und erklären lassen. Trotzdem haben die Forscher noch Arbeit vor sich: Don Alfonso, der Grundstücksbesitzer ist nach wie vor froh, wenn er die Grabungsfläche bald umpflügen und mit Gemüse bebauen kann.
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Sep 4, 2025 • 21min

Kumari - Nepals kindliche Göttin auf Zeit

Kumaris gelten in Nepal als kindliche Göttinnen auf Zeit und sind für eine Vielzahl religiöser Rituale zuständig. Mit dem ersten Tropfen Blut, den sie vergießen, müssen die Mädchen in ihre Familien zurückkehren und versuchen, sich wieder in die Realitäten der nepalesischen Gesellschaft einzufinden. Autorin: Margarete Blümel (BR 2024) Credits Autorin dieser Folge: Margarete Blümel Regie: Rainer Schaller Es sprachen: Katja Amberger, Hemma Michel, Peter Weiß Technik: Wolfgang Lösch Redaktion: Bernhard Kastner Im Interview: Scott Berry, Lehrer und Autor einer Kumari-Biografie; Rashmila Shakya, Ex-Kumari; Prof. Axel Michaels, Indologe und Religionswissenschaftler; Prof. Horst Brinkhaus, Indologe  Diese hörenswerten Folgen von Radiowissen könnten Sie auch interessieren: Nepal - Vielfalt der Religionen HIER  Lebende Götter - Und das Wort ist Fleisch geworden HIER Literaturtipps: - Berry, Scott: From Goddess to Mortal: The True Life Story of a Former Kumari. Vajra Publications, Kathmandu 2005. Einfühlsames Porträt der ehemaligen Kumari Rashmila Shakya, die ihre Erfahrungen als Kindgöttin schildert und in den religiösen Kontext ihres Heimatlandes Nepal einordnet. - A Study of Living Goddess Kumārī: The Source of Cultural Tourism in Nepal by Him Lal Ghimir. Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Radiowissen finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Radiowissen JETZT ENTDECKEN Das vollständige Manuskript gibt es HIER. Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: ERZÄHLERIN:  Auf einem mit Brokat überzogenen Stuhl sitzt ein kleines, sehr ernst blickendes Mädchen, das die Aufgabe hat, sein Land zu beschützen. Bei der nun folgenden, Stunden währenden, Tempelzeremonie wird ein Büffel sein Leben lassen, Trommler werden ihre Klangkörper bearbeiten und Gläubige ihre Köpfe bis zum Boden vor der kindlichen Göttin verneigen.  Musik hoch ERZÄHLERIN:  Das Mädchen ist stark geschminkt und in ein bis zu den Knöcheln reichendes Gewand gehüllt, das von Goldfäden durchwirkt ist. Manchmal ist diese Berufsbekleidung der Kumari, Nepals ”kindlicher Göttin”, auch tiefrot. Und: Die Kumari trägt einen mit Diamanten versehenen, in allen Farben schimmernden Kopfputz dazu. Eines aber ist immer gleich: Die lebende Göttin hat zwar das Gesicht eines Kindes. Doch ihre Würde und Bestimmtheit, die sie an den Tag legt, lassen sie um Jahre älter erscheinen.  Musik mit Atmo 1 Tempelzeremonie verbinden O-TON 1: EX-KUMARI RASHMILA SHAKYA At the age of four, I became a Kumari. At the age of twelve, I retired from the Kumari house. VO-Sprecherin-weiblich: Ich war vier, als ich zur Kumari erhoben wurde. Und zwölf, als ich wieder ins weltliche Leben zurückkehrte.  ERZÄHLERIN: Heute ist Rashmila Shakya 37 Jahre alt. Als sie das Kumari-Amt innehatte, war der König noch das Staatsoberhaupt Nepals. Damals kniete der königliche Regent vor der vierjährigen Rashmila nieder, um aus ihrer Hand den sogenannten ‚Tika‘ zu empfangen. O-TON 2: RASHMILA SHAKYA  It’s become used to for me, because every time the king came to get the bless ...I know that I used to give the Tika to the king. I feel proud.  VO-SPRECHERIN-weiblich:  Ich hatte mich schnell daran gewöhnt, meinen Aufgaben ruhig und besonnen nachzukommen. Auch dann, wenn ich dem König den Tika, das hinduistische Segenszeichen, auf die Stirn tupfte. Bis heute macht mich das immer noch ein wenig stolz.  ATMO 1 Tempelzeremonie  O-TON 3: PROF. HORST BRINKHAUS Manchmal werden sie mit sechs Jahren erst geweiht oder eingeführt, manchmal auch schon mit zwei Jahren, das ist sehr unterschiedlich. Es ist ja an eine ganze Reihe von Kriterien geknüpft, wer Kumari sein kann.  ERZÄHLERIN:  … sagt der Indologe Professor Horst Brinkhaus.  O-TON 4: PROF. HORST BRINKHAUS Da werden Tests gemacht und einiges auf die Beine gestellt, um festzustellen, wen hat sich die Göttin Durga - oder Taleju, wie sie in Nepal genannt wird – ausgesucht als Inkarnation? Das gilt es ja herauszufinden. Man macht ja keine Kumari, das ist nicht Menschenwerk, sondern die Göttin ist sozusagen übergegangen in einen Mädchenkörper. ERZÄHLERIN: Es gibt mehrere Kumaris in Nepal. Die bedeutendste unter ihnen ist die in Kathmandu lebende ‚Royal Kumari‘.  O-TON 5: PROF. HORST BRINKHAUS Es wird selten über die weniger bekannten Kumaris berichtet. Berichtet wird fast immer nur über die Royal Kumari in Kathmandu und es gab auch einige Berichte über eine Bhaktapur-Kumari, die nämlich in Amerika war mit elf Jahren - als Kumari noch, wohlgemerkt, nicht erst danach. MUSIK m03 (Holiya Mela, Traditional Nepal Folk Tunes, K:= Bharat Nepali, 0:34 Min) ERZÄHLERIN: Etwa zehnmal im Jahr verlässt die Royal Kumari den Palast, um religiösen Zeremonien beizuwohnen. Die inzwischen meist als ‚Kathmandu-Kumari‘ bezeichnete lebendige Göttin wird bei diesen Gelegenheiten stets in einer Sänfte befördert, da sie sonst Gefahr liefe, sich zu verunreinigen oder sich zu verletzen, sagt der Indologe und Religionswissenschaftler Professor Axel Michaels:  O-TON 6: PROF. AXEL MICHAELS Es ist schon etwas schwieriger für die Kathmandu-Kumari, weil die eine so herausragende Stellung hat. Sie gab ja früher dem König den Tika und hat ihn gewissermaßen dadurch legitimiert für ein Jahr. Aber in Bhaktapur etwa ist die Kumari ja ein ganz normales Mädchen, die auch nicht so eine isolierte Stellung hat wie die Kathmandu-Kumari, die ja in einem eigenen Haus wohnt und eigentlich nicht auf die Straße darf. Sie kann nur getragen werden. Die auch nicht mit anderen Kindern einfach so spielen kann. Das gilt aber eigentlich nur für die Kathmandu-Kumari.  ERZÄHLERIN: Aber selbst hier bestätigen Ausnahmen die Regel, weiß der Lehrer und Autor Scott Berry, der die Biografie der Kathmandu-Kumari Rashmila Shakya geschrieben hat:  O-TON 7: SCOTT BERRY  We had two daughters who were eight and six at the time...  And they got to be friends that way.  VO-SPRECHER-männlich: Unsere Mädchen waren acht und sechs Jahre alt, als wir nur ein paar Straßen weit entfernt vom Tempelpalast wohnten, in dem die Kumari ihre Wohnstatt hatte. Meine Töchter waren fasziniert davon, dass ganz in ihrer Nähe ein Mädchen lebte, das eine Göttin war. Und sie gingen jeden Tag zu ihrem Haus und saßen im Hof. Eines Tages stand sie oben auf der Treppe und rief: „Ich habe einen Ball. Wollt ihr spielen?“- „Ja“, sagten meine Töchter. Aber natürlich durften sie nicht nach oben gehen, schon allein, weil sie keine Hindus sind. Und sie durfte nicht nach unten kommen. Also blieb sie oben auf der Treppe, und meine Töchter standen unten und warfen den Ball hin und her. So wurden sie zu Freundinnen. MUSIK m04 (Rato Bhale, Traditional Nepal Folk Tunes , K:= Krishna Gurung, 1:15 Min) ERZÄHLERIN: Diese Erinnerung hat die ehemalige Kathmandu-Kumari Rashmila Shakya in Scott Berrys „From Goddess to Mortal“ preisgegeben. Ebenso wie die Auswahlkriterien für die Kandidatinnen, die ihr noch heute leicht über die Lippen gehen: ein günstiges Horoskop, die körperliche Unversehrtheit der Kandidatinnen und die richtige Kaste. O-TON 8: RASHMILA SHAKYA Shakya caste, sacred Shakya. Yeah. And …  are taken out from the Kumari house in the festival in a year. VO-SPRECHERIN-weiblich: Wir müssen aus der Shakya-Kaste kommen. Und unser Horoskop muss klar zeigen, dass wir gute Eigenschaften aufweisen und unserem Land nützlich sein können. Wenn Astrologen und Priester das herausgefunden haben, kommt die Frau aus der Familie, die mit der Kumari unter einem Dach lebt und sie betreut. Sie schaut sich den Körper und das Gesicht des Mädchens genau an und untersucht alles nach Wunden oder Kratzern. Wenn auch dieser Test bestanden ist, zieht das Mädchen als lebendige Göttin in den oberen Trakt des Kumari-Hauses ein, den sie nur verlässt, wenn sie zu Zeremonien und religiösen Festen abgeholt wird.  Atmo 2 Tempel Kathmandu ERZÄHLERIN: Die Kumaris stammen aus den Reihen der Newars, einer vor allem im Kathmandu–Tal beheimateten Volksgemeinschaft. Die Newars pflegen eine weltweit einzigartige Sonderform des Buddhismus, den nach ihnen benannten ‚Newar-Buddhismus‘. Die lebende Göttin wiederum wird seit Langem als Reinkarnation einer Hindu-Gottheit betrachtet: Durga, die sich in Nepal als ‚Taleju‘ manifestiert hat. Taleju soll vor einigen Jahrhunderten ins Kathmandu-Tal gekommen sein und sogleich zur Schutzgöttin der nepalesischen Königsfamilien und des Landes aufgestiegen sein. Schließlich aber nahm Durga/Taleju die Gestalt eines kleinen Newarmädchens an. So entstand ein göttliches Amt, das seitdem von einer wechselnden Schar auserwählter Kumaris versehen wird. O-TON 9: PROF. HORST BRINKHAUS  Die Kumari wird von Buddhisten wie auch von Hindus verehrt, übrigens nicht nur von Newars, sondern natürlich auch von den Nepalisprechern.  Sie ist auch ein - wie der König ja auch in der Vergangenheit war - ein Integrationsfaktor. Nepal ist ein Vielvölkerstaat. Es gibt ungeheuer viele Sprachen in Nepal, ethnische Gruppen, von Tal zu Tal sozusagen häufig verschiedene Gruppen. Und irgendwo muss ja eine Klammer sein, die eine gemeinsame Identität begründet. Atmo 2 Tempel Kathmandu O-TON 10: SCOTT BERRY  The main thing it does, it symbolizes the unity, or at least...And Kumari comes from a Newar caste. VO-SPRECHER-männlich: Das Kumari-System symbolisiert, wenn nicht die Einheit, so zumindest doch die nicht vorhandene Feindschaft zwischen den Buddhisten und Hindus in Nepal. Die Newars sind die ursprünglichen Bewohner von Kathmandu. Sie haben ihre eigene Sprache, ihre eigenen Bräuche. Und die Kumari stammt eben aus einer Newar-Kaste. ERZÄHLERIN: … betont Scott Berry. Der Lehrer und Verfasser der Lebensgeschichte Rashmila Shakyas, von „From Goddess to Mortal“, hat mit Frau und Kindern viele Jahre im Nachbarhaus von Rashmilas Eltern gelebt. So konnte Scott Berry nicht nur den Werdegang der Ex-Kumari, sondern auch die Bedeutung der Kumari-Tradition verfolgen.   Atmo 2 Tempel Kathmandu O-TON 11: SCOTT BERRY The Newars actually share temples. They're divided between buddhists and hindus... she's a buddhist girl who becomes a hindu goddess. VO-SPRECHER-männlich:  In der Tat nutzen die Newars Tempel, die von Buddhisten und Hindus gleichermaßen aufgesucht werden. In einer dieser nepalesischen Kultstätten wird zum Beispiel eine Inkarnation Shivas von Hindus verehrt, während Buddhisten am selben Ort Lokeshwar anbeten, einen spirituell sehr fortgeschrittenen Bodhisattva. Und, zurück zur Kumari: Sie stellt ein wichtiges Symbol für all das dar, weil sie ein buddhistisches Mädchen ist, das zu einer hinduistischen Göttin wird. Atmo 2 Tempel Kathmandu bitte in Kreuzblende mit Atmo 3 Durga Sloka verbinden ERZÄHLERIN:  Im Vielvölkerstaat Nepal werden Kultur und Politik seit jeher von der  Religion mitbestimmt. Literatur, Kunst, Sitten und Gebräuche, alle Abläufe des täglichen Lebens, sind von den religiösen Überzeugungen der Nepalesen durchdrungen. Und umgekehrt: Die wechselvolle politische Geschichte des Kathmandu-Tals hat entscheidend auch die Religion beeinflusst und so eine ureigene Beziehung zwischen Buddhismus und Hinduismus im Lande bewirkt. Atmo 3: Durga-Sloka ERZÄHLERIN: Im nur in Nepal praktizierten Newar-Buddhismus vereinen sich verschiedene Richtungen des Buddhismus: Die Newar streben zwar nach Erlösung, stellen aber ihre Suche nach dem Ausstieg aus dem Kreislauf der Wiedergeburten hintan, um anderen, bedürftigen Lebewesen zur Seite zu stehen. Zusätzlich betreiben sie magische Rituale, die ihnen auf ihrem spirituellen Weg weiterhelfen sollen.  O-TON 12: PROF. HORST BRINKHAUS  Wenn man sich Nepal mal jetzt als diesen Streifen von Ost nach West vorstellt – der Norden ist sehr stark buddhistisch geprägt, aber nicht newarbuddhistisch, sondern lamaistisch. Der Süden, insbesondere das Terai-Gebiet, der Teil, der zum Gangesflachland gehört, ist sehr stark hinduistisch geprägt. Da gibt es auch Muslime und wirkt ja sowieso ganz indisch, ganz nordindisch. MUSIK m01 ((Morning Song, Byanchuli, Traditional Music Of Nepal, Interra Records, 1:24 Min) ERZÄHLERIN: In diesem Schmelztiegel der Religionen, in einem Land, dessen Könige als Wiedergeburt des Hindu-Gottes Vishnu galten, besteht inzwischen ein Parlamentarisches Mehrparteiensystem.  Doch obwohl die Monarchie seit Mitte des Jahres 2008 der Vergangenheit angehört, und obschon die Maoisten im politischen Gefüge eine große Rolle spielen und Kritik an einigen Traditionen laut wird – religiöse Bräuche wie die der Verehrung der Kumari bestehen fort. Auch die Voraussetzungen für das Ausscheiden der „kommissarischen Göttinnen“ aus ihrem Amt sind nahezu unverändert geblieben. Um ausgeschlossen zu werden, genügen ein paar Tropfen Blut: Sobald die Kumari blutet, sei es im Zuge einer Verletzung oder durch Einsetzen ihrer Periode, muss die Kindgöttin das Zepter an ein anderes Mädchen abgeben.  O-TON 13: PROF. AXEL MICHAELS Der Jungfrauenkult ist natürlich auch in Indien immer wieder einmal da gewesen - also die Verehrung einer Jungfrau als Göttin. ERZÄHLERIN:  … sagt der Indologe und Religionswissenschaftler Professor Axel Michaels. Aber ….  O-TON 14: PROF. AXEL MICHAELS Aber es ist sehr spezifisch im Grunde genommen bei den Newars. Sowohl in Kathmandu wie auch in anderen Orten des Kathmandu Tals. Weil die daraus einen regelrechten Kult gemacht haben, mit eigenen Ritualen, mit eigenen Häusern und der Notwendigkeit, dass die Kumari bestimmte Rituale eröffnen muss oder dabei sein muss oder Leute segnen muss. Atmo 4 Ritual ERZÄHLERIN:  Am Durbar Square, im Zentrum Kathmandus, steht ein blutüberströmter Omnibus. Dach, Fenster, Türen und die Front des alten Vehikels, dessen Reifen kurz davor sind, mit den Felgen eins zu werden, sind mit dem Blut einer soeben geschlachteten Ziege beschmiert. Die Sitze des Busses sind aufgerissen, die Fenster sind längst den Weg alles Irdischen gegangen. Im Fahrerraum prangt unter einem Wirrwarr von Girlanden eine Darstellung der Durga. Sie vollführt einen Kriegstanz, schwingt Lanzen und Schwerter in ihren vielen Armen. Ihr Gesicht ist zu einer Grimasse grausamen Triumphs erstarrt. Zu ihren Füßen liegt der Büffel-Dämon Mahisasura, den die große Göttin zertreten hat. Heute nimmt sie in Kathmandu ihr Festmahl.  Atmo 4 Ritual ERZÄHLERIN:  Einmal im Jahr wird Durga-Puja, das große Opfer- und Erntefest, gefeiert. Busse, Lastwagen und Privatfahrzeuge werden mit frischem Tierblut geweiht, damit die Insassen in Zukunft nicht zu Schaden kommen mögen. In Innenhöfen, Häusern, Gassen und in großen Festzelten sind für die Göttin Durga Altäre aufgebaut. Die Frauen haben besonderes Essen für den Anlass vorbereitet. Kinder werfen einander Luftballons zu und warten aufgeregt darauf, dass der Prozessionszug mit der Kumari, der lebendigen Vertreterin Durgas, endlich eintrifft. Dass die kindliche Göttin kommt, ihnen ein ernstes Lächeln schenkt und dem einen oder anderen vielleicht auch ein Segenszeichen auf die Stirn malt. Atmo 4 Ritual bitte kurz hoch, dann blenden  O-TON 15: PROF. HORST BRINKHAUS Die Royal Kumari hängt ja stark mit dem Königtum zusammen. Sie wurde ermittelt, unter anderem von dem Astrologen und dem Familienpriester des Königs und anderen hohen Beamten. Die sind natürlich mit der Abschaffung des Königtums nun auch entfallen. Und das heißt, die Kumari muss immer wieder auf neue Grundlagen gestellt werden, wie man sie herausfindet, wer für sie eigentlich sorgt, wer zuständig ist für diese Institution. ERZÄHLERIN: Inzwischen gewährt der Staat den kommissarischen Göttinnen zumindest eine kleine Rente – und eine Schulausbildung.  O-TON 16: PROF. HORST BRINKHAUS In der Vergangenheit war ja ein Problem, dass sie in keine Schule gehen konnte oder durfte, dass sie also nicht ausgebildet wurde. Immerhin ist man Kumari bis zum zwölften, dreizehnten Lebensjahr, je nachdem. MUSIK m05 ( Yantra, Jens Buchert, 2:21Min) O-TON 17: RASHMILA SHAKYA  I have to struggle so much in the normal life. Mostly in the study...At the age of twelve I started my school career. VO-SPRECHERIN-weiblich: Ich hatte anfangs wirklich schwer zu kämpfen. Vor allem mit dem Lernen, weil es zu meiner Zeit keine formale Bildung für Kumaris gab. Erst im Alter von zwölf Jahren habe ich meine Schullaufbahn begonnen.  ERZÄHLERIN: Ihr Biograph Scott Berry erinnert sich noch sehr gut an das, was Rashmila damals durchgemacht hat.  O-TON 18: SCOTT BERRY Well, this is something that's changed considerably since Rashmila’s time...and they're able to go to their proper grade when they stop. VO-SPRECHER-männlich: Nun, das ist etwas, das sich seit Rashmilas Zeit stark verändert hat. Sie hatte große Schwierigkeiten, ins normale Leben zurückzukehren. Sie musste in die erste Klasse gehen, obwohl sie schon zwölf Jahre alt war. Einmal hat sie versucht, wegzulaufen und ins Kumari-Haus zurückzukehren, aber da stand sie dann natürlich vor verschlossenen Türen. Doch schließlich hat sie es geschafft. Ihre Familie hat Rashmila bedingungslos unterstützt. Und heute ist es so, dass vor allem ihretwegen Kumaris lernen und studieren. Sie haben Tutoren und werden darauf vorbereitet, die zu ihnen passende Klasse zu besuchen, wenn es soweit ist.  ERZÄHLERIN: Noch etwas kommt erschwerend hinzu, das über lange Zeit hinweg manchmal wie ein Fluch über den ins irdische Leben zurückkehrenden Mädchen lag: der alte Irrglaube, Kumaris fänden keinen Ehemann. O-TON 19: RASHMILA SHAKYA  This is only a misconcept about the Kumari. And this misconcept.. Before that the guy had little bit hesitate ad to marry the ex Kumari. VO-SPRECHERIN-weiblich: Diesem Aberglauben nach soll ein Mann, der eine ehemalige Kumari zur Frau nimmt, eines unnatürlichen und viel zu frühen Todes sterben. Die jüngere Generation hat sich da inzwischen bewegt und schenkt dem keinen Glauben mehr. Aber ich erinnere mich noch der Zeiten, als Männer einer Verbindung zu einer Ex-Kumari deshalb ziemlich zurückhaltend gegenüberstanden.  O-TON 20: SCOTT BERRY Traditionally, they're not supposed to get married. The husband's supposed to die... and they seem very happy together.  VO-SPRECHER-männlich: Traditionell ist es nicht vorgesehen, dass sie heiraten. Und, ja, angeblich soll der Mann sogar innerhalb des ersten Jahres der Ehe sterben. Aber das ist völlig falsch. In der Vergangenheit gab es mehrere Kumaris, die geheiratet haben - und auch Rashmila ist den Bund der Ehe eingegangen. Wir waren sogar auf ihrer Hochzeit. Inzwischen hat sie einen Sohn, und sie scheinen sehr glücklich miteinander zu sein. ATMO 5 Kumari-Ritual O-TON 21: RASHMILA SHAKYA   Yeah, I have married before eight years. And I have one son and he is became a five years old. VO-SPRECHERIN-weiblich: Seit unserer Hochzeit sind acht Jahre vergangen. Und unser Sohn ist jetzt fünf Jahre alt. Musik m01 ((Morning Song, Byanchuli, Traditional Music Of Nepal, Interra Records, 1:40 Min) Erzählerin: Über dreißig Jahre liegen zwischen den fundamentalen Ereignissen, die das Leben der Ex-Kumari nachhaltig beeinflusst haben. Rashmila Shakya erinnert sich noch sehr genau daran, wie das damals war: Als sie als vierjähriges, sehr ernst dreinschauendes Mädchen auf einen Thron stieg, um als kindliche Göttin ihren König und ihr Land zu beschützen. Und dann, acht Jahre später, als die Zeit gekommen war, das Kumari-Haus zu verlassen …. O-TON 22: RASHMILA SHAKYA  At the time? I became sad and happy. Also sad because that I have left the Kumari house and happy that I have returned to the own house and lived a normal life. VO-SPRECHERIN-weiblich Da war ich froh und bedrückt zugleich. Traurig, weil ich das Kumari-Haus hinter mir lassen musste. Und froh, weil ich nach Hause zurückkehren und ein normales Leben führen konnte.  Erzählerin:  Nichts von alldem möchte Rashmila missen. Wie viele andere Ex-Kumaris auch, mit denen sie gesprochen hat, ist da das nachhaltige Gefühl, ein Privileg genossen zu haben. Einen Lebensweg beschritten zu haben, der schwierig, steinig und ungemein erfüllend gewesen ist. O-TON 23: RASHMILA SHAKYA   I got two life in one born. One is normal life and one is God. Is life.  VO-SPRECHERIN-weiblich: Ich habe zwei Leben geführt. Das eine ist das normale, das irdische Leben und das andere ist mein Dasein mit Gott. 
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Sep 3, 2025 • 23min

Aids - Das (fast) vergessene HI-Virus

Dietmar Schranz, HIV-Schwerpunktarzt in Berlin, erinnert sich an die Anfänge der Aids-Epidemie und die schockierenden gesellschaftlichen Reaktionen. Er berichtet, wie die Krankheit von einem Todesurteil zu einer behandelbaren chronischen Erkrankung wurde. Die bahnbrechende Einführung der Kombinationstherapie aus den 90ern hat das Leben von HIV-Patienten drastisch verbessert. Schranz thematisiert auch die Bedeutung von niederschwelligen HIV-Tests und die fortwährenden Herausforderungen im Gesundheitssystem, besonders im Kontext von Stigmatisierung.
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Sep 3, 2025 • 21min

Staatenlosigkeit - Ohne Schutz und Rechte?

In dieser Folge wird die herausfordernde Realität der Staatenlosigkeit beleuchtet, dargestellt am Beispiel einer Frau, die beim Reisen auf Probleme stößt. Die bewegende Geschichte von Christiana Bukalo zeigt die rechtlichen und sozialen Diskriminierungen, mit denen Staatenlose kämpfen. Besonders in Kriegszeiten erleben viele Menschen massive Einbußen ihrer Rechte. Das Fehlen einer Staatsangehörigkeit bringt nicht nur praktische Schwierigkeiten, sondern wirft auch fundamentale Fragen zur Identität und Zugehörigkeit auf.
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Sep 3, 2025 • 23min

Aquakulturen - Fluch oder Segen?

Die Aquakultur nimmt eine zentralen Platz in der Nahrungsmittelproduktion ein, besonders angesichts der stagnierenden Wildfischerei. Experten diskutieren die Herausforderungen der Futtermittelqualität und die Umstellung auf pflanzliche Proteine. Die Unterschiede zwischen Zucht- und Wildlachsen werfen Fragen zur genetischen Vielfalt auf. Zudem beleuchtet die Debatte über das Schmerzempfinden von Fischen das Tierwohl. Schließlich wird die Wahrnehmung der Konsumenten in Bezug auf Nachhaltigkeit und Fischzucht kritisch hinterfragt.
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Sep 2, 2025 • 23min

Bergbauern - Nachhaltig aus Tradition

Der Podcast bietet faszinierende Einblicke in das Leben der Bergbauern und ihre verantwortungsvolle Weidewirtschaft. Dabei wird das über Generationen weitergegebene Wissen und die Bedeutung von Almkühen für die Biodiversität thematisiert. Besondere Herausforderungen durch Modernisierung und sich ändernde Vorschriften werden ebenfalls beleuchtet. Gespräche mit Landwirten zeigen innovative Ansätze zur nachhaltigen Entwicklung der Landwirtschaft in den Alpen auf. Zudem wird die Weitergabe traditioneller Praktiken an kommende Generationen thematisch behandelt.
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Sep 2, 2025 • 21min

Vertragsarbeiter in der DDR - Fremd im Bruderstaat

Sie lebten abgeschottet von der restlichen Bevölkerung, denn eine dauerhafte Einwanderung war nicht erwünscht: Die sogenannten Vertragsarbeiter aus Vietnam, Mosambik, Angola, Polen oder Ungarn, die den Mangel an Arbeitskräften in der DDR ausgleichen sollten. Wie erging es ihnen nach der Wende? Autorin: Maike Brzoska Credits Autorin dieser Folge: Maike Brzoska Regie: Susi Weichselbaumer Es sprachen: Dorothea Anzinger, Jerzy May Redaktion: Nicole Ruchlak Im Interview:Ann-Judith Rabenschlag Karpe, Historikerin, Universität Stockholm;Birgit Weyhe, Illustratorin des Comic-Buches “Madgermanes”;Thach Nguyen, ehemaliger DDR-Vertragsarbeiter;Tamara Hentschel, DDR-Wohnheim-Betreuerin, Bürgerrechtlerin Diese hörenswerten Folgen von radioWissen könnten Sie auch interessieren: Max Frisch - Der Kampf ums IchJETZT ANHÖREN Linktipps: Noch mehr Interesse an Geschichte? Dann empfehlen wir: ALLES GESCHICHTE - HISTORY VON RADIOWISSEN Skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Das Kalenderblatt erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum. Ein Angebot des Bayerischen Rundfunks. DAS KALENDERBLATT  Frauen ins Rampenlicht! Der Instagramkanal frauen_geschichte versorgt Sie regelmäßig mit spannenden Posts über Frauen, die Geschichte schrieben. Ein Angebot des Bayerischen Rundfunks. EXTERNER LINK | INSTAGRAMKANAL frauen_geschichte Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. RadioWissen finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | RadioWissen JETZT ENTDECKEN Das vollständige Manuskript gibt es HIER. Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: MUSIK Motivated work Z8034318 119 0.44 Min. SPRECHERIN Im April 1980 beschließen die Regierungen der Deutschen Demokratischen Republik und der Sozialistischen Republik Vietnam einen Staatsvertrag. ZITATOR Geleitet vom Wunsch zur Vertiefung der brüderlichen Zusammenarbeit (…) haben die Regierungen (…) folgendes vereinbart: Die Regierung der DDR gewährleistet vietnamesischen Facharbeitern (…) für die Dauer von jeweils vier Jahren die Aufnahme einer Beschäftigung in Betrieben (…) der Deutschen Demokratischen Republik.  SPRECHERIN Der Grund ist einfach, sagt die Historikerin Ann-Judith Rabenschlag Karpe. Sie hat an der Universität Stockholm ihre Dissertation über Vertragsarbeit in der DDR geschrieben. 01 O-TON (Rabenschlag Karpe) Der Grund ist in der DDR genau derselbe wie in Westdeutschland und in ganz vielen anderen europäischen Staaten. Es besteht schlicht und ergreifend ein Arbeitskräftemangel. SPRECHERIN Aber anders als die Bundesrepublik, wo die Fachkräfte vor allem aus der Türkei und Italien kommen, wirbt die DDR Arbeitskräfte aus sozialistischen Staaten an. 02 O-TON (Rabenschlag Karpe) Die DDR schließt die ersten Verträge mit Polen und Ungarn. Und dann, im Laufe der 70er Jahre erweitert sich der geografische Fokus und man wirbt in Afrika, in Lateinamerika, in Asien an. Und dann die größten Gruppen kommen aus Mosambik und Vietnam. MUSIK Königskinder Z8038689 103 0.55 Min. SPRECHERIN Anfangs sind es sehr wenige. Die große Mehrheit kommt erst in den 1980er Jahren in die DDR.  03 O-TON (Rabenschlag Karpe) Es beginnt mit sehr kleinen Zahlen Anfang der 60er Jahre mit ein paar 100 polnischen Arbeitern. Und Ende der 80er Jahre sind wir dann bei gut 90.000.  SPRECHERIN Die Vertragsarbeiterinnen und Vertragsarbeitern übernehmen größtenteils unbeliebte Tätigkeiten in der DDR.  04 O-TON (Rabenschlag Karpe) Das sind Arbeiten, die physisch anstrengend sind, im Schichtdienst, mit Nachtdiensten verbunden, am Fließband, Arbeitsplätze, an denen man Lärm ausgesetzt ist, unangenehmen Gerüchen, und so weiter. Also alle Arbeitsfelder, die für jemanden, der sich zwischen mehreren Jobs entscheiden kann, nicht die erste Wahl sind.  SPRECHERIN Die vielen unbesetzten Stellen sind ein Problem für die Planwirtschaft der DDR. Die Maschinen sind nicht ausgelastet, die Norm kann nicht erfüllt werden. Eigentlich hätte in vielen Betrieben Tag und Nacht gearbeitet werden müssen, aber die Leute fehlen. 05 O-TON (Hentschel) Am Anfang hat man versucht, die DDR-Bürger für das Schichtsystem zu gewinnen, das ist aber nicht so gelaufen, wie man sich das vorgestellt hat, so dass man dann Arbeitskräfte in den sozialistischen Bruderländern angeworben hat. SPRECHERIN Tamara Hentschel betreut damals Arbeitskräfte aus Vietnam. Sie erklärt, wie alles funktioniert und hilft bei Sprachproblemen.  MUSIK Work in progress red 2 Z803431827 0.31 Min. SPRECHERIN Viele der vietnamesischen Arbeitskräfte, insbesondere die Frauen, arbeiten in der Textilindustrie. Hentschels Vietnamesinnen zum Beispiel im Betrieb „Herrenbekleidung Fortschritt“. Im Akkord schneidern sie Hosen und Hemden. 06 O-TON (Hentschel) Wo man nicht mit gerechnet hatte, war, dass die Vietnamesen sehr geschickt sind und auch die Norm gebrochen haben, dadurch gab es dann auch sehr viele Konflikte, also in der Textilindustrie war das so, sehr viele Konflikte mit den deutschen Arbeitskräften. SPRECHERIN Denn wer die Norm übererfüllt, also ein Normbrecher ist, setzt die Kollegen unter Druck, ebenfalls schneller zu arbeiten. Anders als die Frauen werden die Männer aus Vietnam oft auf dem Bau eingesetzt. Hier kommt es ebenfalls zu Problemen.  07 O-TON (Hentschel) Im Baugewerbe gab´s ganz viele Unfälle, weil die Vietnamesen im Gegensatz zu deutschen Bauarbeitern und mosambikanischen Bauarbeitern sehr klein und schmächtig waren, und da gab es sehr viele Unfälle, die darauf zurückzuführen waren, dass die Arbeit einfach mal viel zu schwer war.  MUSIK Needle and twin Z8019017 122 1.11 Min.  SPRECHERIN Schwere Arbeit, von der sie sich kaum erholen können, denn die Wohnverhältnisse sind beengt. Die Vertragsarbeiter leben, nach Geschlechtern getrennt, in Wohnheimen. 08 O-TON (Hentschel) Zum Beispiel ne Dreiraumwohnung mit neun Personen in drei verschiedenen Schichten mit einer Küche und einem Bad. Und, ich weiß nicht, ob das im Westteil so bekannt ist, diese Badzellen, hat man dazu gesagt, das waren so ungefähr fünf Quadratmeter: ne Badewanne, ein Waschbecken, ne Toilette. Es gab keine Waschmaschine, also für die neun Personen musste alles mit der Hand gewaschen werden und dann in der Wohnung auch getrocknet werden. Und die Küche war meistens ein Durchgangszimmer zu einem anderen Zimmer, wo andere wiederum geschlafen hatten, weil sie Nachtschicht hatten. Und dann wurde versucht, mit zusätzlichen Kochplatten in den Zimmern dann zu kochen, was verboten war, und das war so meine Tätigkeit, aufzupassen wegen Brandschutz und Hygiene und so weiter.  SPRECHERIN Das Leben in den Wohnheimen ist streng geregelt.  MUSIK Dark Tunnel Z8023930 109 0.30 Min.  ZITATOR  Heimordnung für das Betriebswohnheim „Insel“ des VEB Papierfabrik Dreiwerden. (…) Zur konsequenten Durchsetzung der Prinzipien von Ordnung, Sicherheit, Sauberkeit und Disziplin sind nachstehend aufgeführte Festlegungen einzuhalten. Die Zimmerzuweisung wird durch den Gruppenleiter getroffen. Ein selbständiges Umziehen in andere Zimmer (…) ist nicht statthaft. Es ist nicht gestattet, die Zimmereinrichtung auszuwechseln. SPRECHERIN Um 22 Uhr werden die Wohnheime geschlossen. Nur Schichtarbeitende dürfen dann noch ein- und ausgehen. Übernachtungen müssen genehmigt werden. Das gilt auch für Ehepaare. Denn die leben meist nicht zusammen, sondern sind ebenfalls nach Geschlecht getrennt untergebracht. Auch Kontakte zur deutschen Bevölkerung sind nicht erwünscht.  09 O-TON (Hentschel) Also erstmal waren sie ja im Wohnheim isoliert, die Bevölkerung rundrum war nicht informiert über den Einsatz. Warum sind die hier? Wer sind die überhaupt? Und persönliche Kontakte, wenn die nicht im Arbeitsprozess erfolgt sind, haben die eigentlich nicht stattgefunden. MUSIK Motivated Work Z8034318 119 0.50 Min. SPRECHERIN Integration ist ohnehin nicht vorgesehen. Die Arbeitskräfte sollen vier oder fünf Jahre in der DDR bleiben, um zu arbeiten, und dann in ihr Heimatland zurückkehren. Dennoch kommt es immer wieder zu Kontakten zur DDR-Bevölkerung, auch zu Freundschaften und Liebesbeziehungen. Und mancherorts entsteht ein Austausch, der einträglich ist für beide Seiten. Hentschels Vietnamesinnen und Vietnamesen etwa schneidern bald Kleidung für DDR-Bürgerinnen und Bürger. Ein inoffizieller Nebenjob. 10 O-TON (Hentschel) Die wollten die fünf Jahre nutzen, um so viel wie möglich Geld zu verdienen, damit sie ihre Familien zuhause unterstützen konnten. Und nach und nach haben Vietnamesen in den Wohnheimen dann pro Bettenplatz dann eine Nähmaschine aufgestellt und haben für die DDR-Bevölkerung Jeanshosen, Jacken, Röcke und so weiter genäht, alles nach Maß.  MUSIK People of Iraq M0007510 036 0.32 Min. SPRECHERIN In Vietnam kommt damals jede Hilfe recht. 1975 war der Vietnam-Krieg zu Ende gegangen, nach mehr als 20 Jahren Gräueltaten und Verwüstungen. Das Land ist traumatisiert. Die Wirtschaft liegt am Boden. Geld können die Vertragsarbeiter nicht überweisen, denn die DDR-Mark ist nicht konvertibel, kann also nicht in andere Währungen umgetauscht werden. Deshalb schicken sie Waren nach Hause, erinnert sich der ehemalige Vertragsarbeiter Thach Nguyen. 11 O-TON (Nguyen) Also Zucker, Seife, Ersatzteile für Fahrräder, für Motorräder, Kakao und gute Bekleidungen.  SPRECHERIN Vor allem Fahrräder sind sehr beliebt. Die sind in der DDR allerdings Mangelware.  12 O-TON (Nguyen) Ich hab nie in der DDR ein Fahrrad kaufen können. Wenn Fahrrad da ist, ist sofort weg. Wenn irgendwas da ist, dann sind schon so viele Vietnamesen da vor dem Laden.  MUSIK Needle and twin Z8019017 122 0.58 Min.  SPRECHERIN Thach Nguyen hatte sich in Vietnam für die Vertragsarbeit bewerben müssen. Nur die Besten dürfen in die DDR. Für ihn war es deshalb eine Auszeichnung, ausgewählt zu werden. Es gilt den Sozialismus aufzubauen, zuhause und in den Bruderländern. 13 O-TON (Nguyen) Man arbeitete für die Sache des Sozialismus, das ist so zu dieser Zeit, und die DDR stand damals an der Spitze, so muss man sagen. Also jeder ist stolz und freut sich, in die DDR kommen zu dürfen.  SPRECHERIN Er kannte die DDR bereits, weil er in den 1970ern an der TU Dresden studiert hatte. Danach war er nach Vietnam zurückgekehrt, um in einem Forschungsinstitut für Bauwesen zu arbeiten. Ende der 1980er kommt er als Vertragsarbeiter dann erneut in die DDR. Er wird Gruppenleiter und Dolmetscher auf dem Bau, weil er bereits gut Deutsch spricht. Anders als seine Kollegen, die kaum Zeit haben und Gelegenheit bekommen, die deutsche Sprache zu lernen.  14 O-TON (Nguyen) Bei uns durfte jeder nur acht Wochen Deutsch lernen, danach gleich arbeiten. Einige bekamen zwar Ausbildung, aber wenige. Wir waren eine Gruppe von 200, nur 15 bekommen eine Ausbildung als Schweißer, die anderen müssen sofort arbeiten.  MUSIK Dark Tunnel Z8023930 109 0.32 Min. SPRECHERIN Das erzeugt viel Frust. Statt neue Fähigkeiten zu erwerben, müssen viele einfache Hilfstätigkeiten übernehmen. Sie schleppen Dachziegel oder sortieren Schrauben am Fließband. Und das, obwohl viele von ihnen top ausgebildet sind. Thach Nguyen bekommt als Gruppenleiter den Frust deutlich zu spüren. 15 O-TON (Nguyen) Manche Leute stellen auch Fragen wie: Warum bin ich hier als ungelernte Arbeitskraft, warum bekomme ich Lohnstufe vier, obwohl ich Bauingenieur bin zum Beispiel. Das bedeutet, zuhause hat man ihnen nicht gut genug erklärt.  MUSIK Success means work © Z8034319 118 0.38 Min. SPRECHERIN Die hohen Erwartungen kamen nicht von ungefähr. Denn die SED, also die Einheitspartei der DDR, hatte die Vertragsarbeit nach außen hin anders dargestellt.  16 O-TON (Rabenschlag Karpe) Wir bieten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern aus dem sozialistischen Ausland die Möglichkeit, sich hier bei uns weiter zu qualifizieren. Wir bieten ihnen die Möglichkeit, in einer hochindustrialisierten Gesellschaft auch technische Fähigkeiten zu erlernen und sich aber auch ideologisch weiterzuentwickeln. Und dann, so ist der Gedanke, dann können die Arbeiter zurückkehren in ihre Heimatländer und dort beim Aufbau junger Industrien helfen und auch den Geist des Sozialismus verbreiten. Das ist sozusagen die offizielle Sprechweise der SED. MUSIK Structure ryhtme M0010659 003 0.18 Min. SPRECHERIN Frustriert sind nicht nur vietnamesische Arbeitskräfte, sondern auch viele Arbeitskräfte aus Mosambik. Sie waren nach den Vietnamesen die zweitgrößte Gruppe Vertragsarbeiter. Einen von ihnen lernt die Illustratorin Birgit Weyhe eher zufällig kennen. Auch er ist tief enttäuscht. 17 O-TON (Weyhe) Weil er eben dachte, er bekommt eine Ausbildung in der DDR und dann aber kein Mitspracherecht hatte, sondern in Karl-Marx-Stadt an der Stanzmaschine in der Fabrik stand über Jahre. Und als er eben zurück musste nach der Wende auch damit nichts anfangen konnte, weil es eben Industrie in der Form gar nicht gab, wo er diese eine Handbewegung, die er an der Stanzmaschine gemacht hat, hätte nutzen können. Er war sehr frustriert, dass auch die Familie enttäuscht war, dass er nichts mitgebracht hat.  MUSIK Structure ryhtme M0010659 003 0.27 Min.  SPRECHERIN Birgit Weyhe lebt heute in Hamburg, ist aber in Ostafrika aufgewachsen, und hat oft ihren Bruder in Mosambik besucht – sie kennt also Land und Leute. Sie war überrascht und auch ein wenig beschämt, dass sie nichts wusste von den mosambikanischen Arbeitskräften in der DDR. Sie beginnt zu recherchieren und spricht in Mosambik mit insgesamt 20 ehemaligen Vertragsarbeiterinnen und Vertragsarbeitern.  18 O-TON (Weyhe) Was alle einheitlich gesagt haben, ist, dass es hieß, sie könnten eben in die DDR, könnten da arbeiten und würden eine Ausbildung kriegen. Und das hat sich für die wenigsten erfüllt. Also manche konnten dann wenigstens einen Führerschein machen, was ihnen ein bisschen was gebracht hat. Aber das waren wirklich Ausnahmen. SPRECHERIN Birgit Weyhe zeichnet einen Comic. Das Buch erscheint 2016 und heißt „Madgermanes“. So nennen sich die mosambikanischen Vertragsarbeiterinnen und Vertragsarbeiter, die in der Hauptstadt Maputo auf die Straße gehen und protestieren.  MUSIK Anxious Z8037642 105 0.19 Min. SPRECHERIN Denn während ihres Aufenthaltes in der DDR bekamen sie nur einen Teil der Löhne ausgezahlt. Der Rest wurde einbehalten.  20 O-TON (Weyhe) Manchmal waren es 60 Prozent, manchmal 50, die ihnen abgezogen wurde, weil es hieß, das Geld bekommt ihr, wenn ihr zurückkommt. Das kommt auf ein Konto, und wenn ihr zurück nach Mosambik kommt, dann habt ihr dieses ganze Geld und könnt damit dann euch ein neues Leben aufbauen und profitiert davon und eure Familien.  SPRECHERIN Eine schöne Vorstellung – die sich für die meisten allerdings nicht erfüllte. MUSIK Needle and twin Z8019017 122 0.27 Min.  21 O-TON (Weyhe) Was die Vertragsarbeiter nicht wussten, ist, dass die beiden Länder untereinander einen Deal geschlossen hatten, dass mit diesen Löhnen die Devisen-Schulden Mosambiks abgezahlt werden. Das heißt, Mosambik hat eben Waffen eingekauft bei der DDR gegen Devisen und konnte diese Schulden nicht zurückzahlen, weil es eben ein Land war, was gerade unabhängig geworden ist und direkt in den Bürgerkrieg gegangen ist, woher sollten die Devisen kommen. SPRECHERIN Einen solchen Deal hatte die DDR nicht nur mit Mosambik, sondern auch mit anderen sozialistischen Staaten.  22 O-TON (Rabenschlag Karpe) Viele der Entsendestaaten waren bei der DDR verschuldet. Und diese Abkommen waren dann eine Möglichkeit, diese Schulden teilweise zu tilgen. Also jeder Arbeiter, der beispielsweise dann aus Mosambik nach Berlin geschickt wurde, um dort in einem volkseigenen Betrieb zu arbeiten, dessen Arbeitsleistung wurde teils in Form eines Gehaltes an den Arbeiter ausgezahlt und teils lief das Geld direkt in die Kasse der DDR zur Tilgung der Staatsschulden, was natürlich das individuelle Gehalt des Arbeitnehmers runtergedrückt hat.  SPRECHERIN Neben dem eher niedrigen Verdienst erlebten viele Mosambikaner auch Anfeindungen. Bekannt sind heute vor allem die rechtsextremen Anschläge in den 1990ern, also nach der Wende. Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen, Solingen. Aber auch schon vor der Wende gab es Übergriffe. 24 O-TON (Rabenschlag Karpe) Wir wissen aus Stasiakten und Polizeiakten, dass es auch schon lange vor dem Mauerfall in der DDR zu rassistischen Übergriffen kam, also gewalttätigen Übergriffen. Die wurden aber totgeschwiegen und tabuisiert. Das hat natürlich mit dem ideologischen Hintergrund zu tun. Laut SED-Regime war Rassismus ein Symptom kapitalistischer Systeme.  MUSIK Motivated work red 2 Z8034318 121 0.35 Mon. SPRECHERIN Das sind die Schattenseiten der Vertragsarbeit in der DDR. Und dennoch berichten viele auch von positiven Erfahrungen. Vom Zusammenhalt untereinander und in den Betrieben. Und von langanhaltenden Freundschaften und Menschen, die in der DDR eine Art Ersatzfamilie waren.   25 O-TON (Weyhe) Ich habe mit einer gesprochen, die hat immer noch zu Omi und Opi Kontakt. Das war ein Ehepaar, was sie ganz am Anfang kennengelernt hat und die sie jede Woche eingeladen hat zu Kaffee und Kuchen und die so ihr Anker waren. Die waren wirklich wie Omi und Opi für sie. Und die telefonieren immer noch und sind ganz eng.  SPRECHERIN Auch Thach Ngyuen erinnert sich im Großen und Ganzen gerne an die Zeit. MUSIK Buddelkastenfreunde Z8038689 116 0.55 Min.  26 O-TON (Ngyuen) Wenn man sich heute trifft, also die ehemaligen Vertragsarbeiter, die erzählen immer noch von dem schönen Leben damals in der DDR. Denn sie müssen sich vorstellen, in Vietnam waren wir sehr arm, haben nicht genug zu essen, auf einmal haben sie genug zu essen, also Hühner, Brot, Fleisch, ein sauberes Bett, Warmwasser zum Beispiel.  SPRECHERIN Und, was ihm ganz wichtig ist: Viele Familien profitieren, auch seine eigene. 27 O-TON (Nguyen) Man muss auch so sagen: Mit den Abkommen hat man auch sehr vielen Familien in Vietnam geholfen. Die Leute, die hier waren, die können Waren nach Hause schicken, die können ihre Familien zuhause unterstützen. Und nach der Wende, die die hiergeblieben sind oder die hinzugekommen sind, die dürfen dann ihre Familie herholen, wie ich zum Beispiel. SPRECHERIN Seine Tochter hat in Deutschland mit einem Notendurchschnitt von 1,0 Abitur gemacht und anschließend promoviert. Sein Sohn studiert Musik in der Schweiz. 28 O-TON (Nguyen) Das ist das, was ich diesem Land zu verdanken habe. MUSIK Anxious Z8037642 102 0.31 Min.  SPRECHERIN Das ist die heutige Perspektive, mehr als zwei Jahrzehnte nach der Wende. 1989, also nach dem Mauerfall, beginnt erst einmal eine sehr schwierige Zeit für die Vertragsarbeiter. Vor allem, weil ihr rechtlicher Status unklar ist. 29 O-TON (Rabenschlag Karpe) Die Arbeitsmigranten befinden sich in einem juristischen Vakuum, weil ihre Aufenthaltsgenehmigung an den Arbeitsvertrag geknüpft gewesen war. Und dieser Arbeitsvertrag war aber vom Staat der DDR geschlossen worden. Und den gab es ja nun nicht mehr. Also war der Arbeitsvertrag nicht mehr gültig. Damit also auch die Aufenthaltsgenehmigung nicht mehr. SPRECHERIN Einige Herkunftsländer holen ihre Arbeitskräfte deshalb bald nach Hause.  30 O-TON (Hentschel) Wie zum Beispiel Kuba, Nordkorea, China. Aber Mosambik, Angola, Vietnam haben ihre Leute nicht zurückgeholt. In Afrika war Bürgerkrieg und Vietnam stand kurz vor dem wirtschaftlichen Aus.  MUSIK Königskinder Z8038689 103 0.43 Min SPRECHERIN Rund 90.000 Vertragsarbeiter leben zur Zeit des Mauerfalls in der DDR. Die Mehrheit kommt aus Vietnam. Teilweise sind sie erst ein paar Monate zuvor eingereist. Ein Großteil der Vertragskräfte kehrt zur Wendezeit in die Heimat zurück – einige bekommen eine ordentliche Abfindung, andere werden massiv zur Ausreise gedrängt. In Deutschland bleiben letztlich  rund 20.000 Menschen aus Vietnam, 3000 aus Mosambik und 200 aus Angola. Ihre Situation ist oft äußerst prekär: Viele sprechen erst wenig deutsch und in den Wohnheimen können sie häufig nicht bleiben.  31 O-TON (Hentschel) Weil die Unterbringung war nicht für Arbeitslose, weil die ja alle arbeitslos geworden sind. Die wenigen Wohnheime, die es noch gab, haben gleich nach der Wende 120 D-Mark gekostet, also für ein Bett, ein Stuhl, ein Tisch, ein Schrank.  SPRECHERIN Geld, das erst mal verdient werden muss. Manche verkaufen Zigaretten auf der Straße, andere gründen kleine Imbisse oder Blumenläden. Oft im rechtlichen Graubereich. Denn ihr Status ist lange unklar und sie müssen jederzeit damit rechnen, abgeschoben zu werden. Oft wissen auch die Behörden nicht so genau, wie mit ihnen verfahren werden soll. Tamara Hentschel gründet deshalb eine Beratungsstelle für ehemalige Vertragsarbeiterinnen und Vertragsarbeiter.  32 O-TON (Hentschel) Als wir dann als Beratungsstelle angefangen haben, war für uns erst mal wichtig, sie zu informieren über ihre Rechte. Dass sie Leistungen beziehen dürfen und Arbeitserlaubnis kriegen müssen und so weiter.  SPRECHERIN Sie engagiert sich mit anderen, dass der rechtliche Status endlich geregelt wird. Sieben Jahre dauert das, dann gibt es Klarheit.  MUSIK Motivated work Z8034318 119 0.32 Min.  33 O-TON (Rabenschlag Karpe) 1997 wird es dann möglich für diese ehemaligen Arbeitsmigranten, sich formal um eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung in der Bundesrepublik zu bewerben. SPRECHERIN Was bei den meisten auch genehmigt wird. Aus den ehemaligen Vertragsarbeiterinnen und Vertragsarbeitern, die im Rahmen der sozialistischen Bruderhilfe in die DDR kamen, werden nun also Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik Deutschland.

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