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Dec 9, 2024 • 23min

Keine erfundenen Inseln mehr - Kartographie neu gedacht

Nur 39 Jahre alt ist Tobias Mayer geworden. Kein hohes Alter, selbst im Deutschland des 18. Jahrhunderts nicht. Doch in diesem kurzen Leben erneuerte er nicht nur die Erstellung von Landkarten mit aufklärerischen Gedanken; er löste auch das Längengradproblem der Seefahrer und war ein gefeierter Astronom. Von Philip Artelt Credits Autor dieser Folge: Philip Artelt Regie: Martin Trauner Es sprachen: Susanne Schroeder, Friedrich Schloffer, Peter Weiß Technik: Monika Gsaenger Redaktion: Yvonne Maier Im Interview:Armin Hüttermann, Geograph, Tobias-Mayer-VereinMarkus Heinz, stellvertretender Leiter der Kartenabteilung, Staatsbibliothek zu Berlin Diese hörenswerte Folge von Radiowissen könnten Sie auch interessieren: Die Politik der Landkarten - Über Macht und Größenverhältnisse  HIER ENTDECKEN Linktipps: Das Tobias-Mayer-Museum in Marbach am Neckar  HIER Tobias Mayers Mathematischer Atlas   HIER Tobias Mayers Mappa Critica von Deutschland   HIER Tobias Mayers Karte Ostasiens   HIER Tobias Mayers Asienkarte   HIER Tobias Mayers Mondkarte   HIER Homanns Karte des Schlaraffenlandes   HIER Literatur: Thomas Knubben, „Tobias Mayer: oder die Vermessung der Erde, des Meeres und des Himmels“: Lebendig erzählte Lebensgeschichte und Porträt seiner Zeit Michael Diefenbacher (Hrsg.), „‚auserlesene und allerneueste Landkarten‘: Der Verlag Homann in Nürnberg 1702-1848“: Die Geschichte des Homann-Verlages, des Fembohauses und der Kartographie in der Zeit der Aufklärung Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Radiowissen finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Radiowissen JETZT ENTDECKEN Das vollständige Manuskript gibt es HIER. Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: SPRECHERIN Am 20. Februar 1762 stirbt Tobias Mayer. Der große Astronom und Kartograph – heute kennt ihn kaum einer mehr. Er ist nur 39 Jahre alt geworden – der Typhus hat ihn in kürzester Zeit dahingerafft. Aber was er in diesen 39 Lebensjahren geleistet hat: unglaublich. ZITATOR 2 (altmodische Sprechweise, historisches Zitat) Es wäre zu weitläufig, aufzuzählen, welche Bereicherungen die Wissenschaften durch sein Genie erfahren haben… ZSP 01 T1 Glasze Er ist 39 Jahre alt geworden. Was das für eine Biographie ist, ist absolut unglaublich. Was würde er machen, wenn er in der heutigen Zeit leben würde? ZSP 02 T2 Hüttermann Was hätte der noch alles machen können? Was wäre da noch alles gekommen? Mit 39 Jahren! Ich bin doppelt so alt. ZITATOR 2 (historisches Zitat) … man könnte die Lebensjahre des Mannes nach seinen Entdeckungen zählen. ATMO A1 Atmo Marbach SPRECHERIN Los geht die Geschichte um Tobias Mayer in Marbach. Die meisten kommen heute in diese Stadt aber nicht für ihn, sondern für Schiller. Schiller, der große Dichter, der hier in dem Fachwerkstädtchen am Neckar geboren wurde. Schiller, der schon am Bahnhof die Besucher begrüßt: Eine rote Säule am Treppenaufgang ziert der Schriftzug: „Schillerstadt“ – der Titel, mit dem sich Marbach seit 2022 offiziell schmückt. Aber es gibt noch eine zweite Säule. Eine blaue. Und auf der findet sich der Name: Tobias Mayer. ZSP 03 T3 Hüttermann Schiller ist natürlich die überragende Person dann geworden, hat alles an die Wand gedrängt, unter anderem eben auch den Mayer, der im Jahrhundert davor durchaus noch bekannt war. SPRECHERIN Armin Hüttermann macht sich weniger aus Schiller. Der Geographieprofessor im Ruhestand war lange Vorsitzender des Tobias-Mayer-Vereins, einer Art Fanclub für den Ausnahmewissenschaftler. Für Armin Hüttermann ist Schiller vor allem dafür gut, dass er Besucher in die Stadt bringt – die dann auch das Tobias-Mayer-Museum entdecken: ein supermoderner, heller Quader inmitten der historischen Altstadt. Daneben: ein kleineres Fachwerkhaus. ZSP 04 T4 Hüttermann Der alte Bau von 1711, das ist das Geburtshaus von Tobias Mayer. ((Da ist er in der oberen Etage geboren…)) SPRECHERIN Tobias Mayer wächst in einfachsten Verhältnissen auf. Sein Vater ist Wagner und Brunnenbauer; keine ganz schlechte Arbeit, aber reich wird die Familie davon nicht. Als der kleine Tobias ein Jahr alt ist, ziehen die Mayers um ins nahegelegene Esslingen, wo der Vater das Amt des Brunnenmeisters antritt. Der Vater reist viel für seine Arbeit, und wenn er dann mal zu Hause ist, schaut ihm der kleine Tobias über die Schulter. Am liebsten, wenn der Vater seine technischen Zeichnungen ins Reine bringt. Zitator 1 (Mayer): Mein Vater, der diesen außerordentlichen (sic) Lust zu Malen bei mir bald wahrnahm, unterdrückte denselben keineswegs, sondern suchte ihn vielmehr noch anzufeuern. Ich malete Häuser, Hunde, Hirsche, Pferde. Meine Mutter wurde von mir um Tinte, Feder und Papier mehr geplaget als um Brot. ZSP 05 T5 Hüttermann In seiner Autobiographie schreibt er ja davon, dass er so gerne gemalt hat. Und da hat er mit fünf Jahren die Heilige Katharina abgemalt – und das ist unglaublich, dass ein fünfjähriges Kind sowas malen kann. Das muss man gesehen haben. [[Zitator 1 Verschiedene Bekannten meines Vaters bekamen meine endlich mittelmäßig gerathene Abzeichnung dieses Bildes zu Gesichte. Man hielt es für etwas außerordentliches – man machte die Sache vielleicht größer, als sie in der Tat war, und lobte mich mehr, als ich verdiente.]] SPRECHERIN Die Eltern fördern das Kind, so gut sie können – mit ihren begrenzten Mitteln. Aber das heile Familienleben hat bald ein Ende. Tobias Mayers Eltern sterben jung, und Tobias kommt ins Waisenhaus. Sich hängen lassen? Das fällt dem Jungen gar nicht ein. Noch im Waisenhaus nimmt er seine Zeichenübungen wieder auf, illustriert das gemeinsame Essen der Kinder – es gibt Kalbfleisch und Wein – und beschriftet seine Werke mit einer erklärenden Legende. Da ist er gerade mal acht Jahre alt. Der junge Tobias Mayer schafft es auch geschickt, sich mit wohlmeinenden Förderern zu umgeben. Den Bürgermeister von Esslingen unterhält er mit seiner Zeichnerei, und mit dem Schuhmacher Kandler tauscht er sich aus über die hohe Mathematik. Der Schuhmacher, heißt es, habe das Geld gehabt, Bücher zu kaufen, aber keine Zeit, sie zu lesen – und Tobias Mayer hatte kein Geld, aber viel Zeit, Kandlers Mathematikbücher durchzuarbeiten. ZSP 06 T6 Hüttermann Er hat immer sich nach der Decke gestreckt. Er war wirklich begabt, aber auch sehr ehrgeizig. Der muss ein phänomenales Gedächtnis gehabt haben. [[Da gibt es eine Episode aus seiner Schulzeit, dass die Kinder vom einen Tag auf den nächsten jeweils einen Vers aus dem Katechismus auswendig lernen sollten. Und am nächsten Tag muss jeder seinen Vers aufsagen. Und dann kommt der Tobias an die Reihe und fragt, darf er weitermachen. Der hat vom einen Tag auf den nächsten den gesamten Katechismus auswendig gelernt.]] Also er hatte diese Fähigkeiten, er wusste es aber auch, und er war dann auch ehrgeizig genug, daraus etwas zu machen. SPRECHERIN 1739, Tobias ist gerade 16 Jahre alt, zeichnet er den ersten Stadtplan seiner Heimatstadt Esslingen. Aber nicht nur das, er muss die Stadt dafür auch selbst vermessen haben. Sein Schrittmaß überträgt er auf Papier, und das Ergebnis ist so exakt, dass die Karte 50-mal gedruckt wird. Tobias Mayer erhält von der Stadtverwaltung dafür zwei Silbermünzen – von da an ist seine Karriere als Kartograph besiegelt. Das Kartenzeichnen lässt ihn nicht mehr los, auch nicht, als er mit 22 Jahren ein Buch über die Theorie der Mathematik verfasst: Das ganze Wissen seiner Zeit ist darin niedergeschrieben, von Geometrie über Astronomie – bis eben zur Kartographie. ZSP 07 T7 Hüttermann Das ist ja eine Anleitung zum Kartenzeichnen, und die ist durch und durch kritisch. Also da ist dieser Abschnitt hier, der ist phantastisch. Ich lese mal kurz vor, was hier steht: (Hüttermanns Stimme blendet im folgenden Text in Stimme von Zitator 1 über) ZITATOR 1 Es wird zwar denjenigen, die ihre Karten nur von anderen zu kopieren in Gebrauch haben, etwas wunderlich vorkommen […] Und dass derjenige, der so eine richtige und taugliche Landkarte verfertigen will, noch weit mehrere Wissenschaft nötig habe, davon dergleichen Landkartenstümpler ihr Lebtag nichts gehöret und gesehen haben. ZSP 08 T8 Hüttermann Das ist dieser Ansatz: nicht einfach was kopieren. Sondern man braucht die Wissenschaft dazu. [[Und was auch interessant ist: Das war alles ein Satz. Ein Paragraph, nur ein Satz. Macht ja heute auch keiner mehr. (lacht)]] Musik, Zäsur (Ortswechsel) SPRECHERIN Ein paar Jahre früher, Anfang des 18. Jahrhunderts: Die Reichsstadt Nürnberg hat ihre besten Zeiten schon hinter sich. Nürnberg, das durch den Handel groß geworden ist, durch die reichen Patrizier, ein Verkehrsknotenpunkt, eine Stadt der Wissenschaft und der Erfindungen – der 30-jährige Krieg hat aber Spuren hinterlassen: Durch Zerstörung und Bevölkerungsverlust hat Nürnberg an Bedeutung verloren, der Fernhandel ist stark zurückgegangen.  Zu dieser Zeit siedelt sich ein Mann in der fränkischen Metropole an, der für Tobias Mayers Leben noch sehr wichtig werden wird. Trotz der wirtschaftlichen Lage ist Nürnberg nämlich immer noch ein Zentrum des Kupferstichs – und damit auch der Kartographie. Und so ist es für den Kupferstecher und Kartographen Johann Baptist Homann eigentlich keine Frage, dass er hier seinen Landkartenverlag eröffnet – zumal er als Protestant anderswo im Großteils katholischen Bayern nicht gern gesehen ist. ZSP 09 T9 Heinz Homann ist letztendlich ein Selfmade-Man, der als Glaubensflüchtling nach Nürnberg gekommen ist und dann 1702 den Verlag gegründet hat. SPRECHERIN Sagt der Geschichtswissenschaftler Markus Heinz, der intensiv über den Homann-Verlag geforscht hat. ZSP 10 T10 Heinz Und offensichtlich hat er so viel geschäftsmännisches Verständnis mitgebracht, dass er zunächst ausschließlich abgekupfert hat. SPRECHERIN Abkupfern – das Wort stammt von den Kupferplatten, mit denen die Landkarten zu dieser Zeit gedruckt werden. Und Abkupfern heißt: Johann Homann kopiert die Karten anderer Verleger. Was heute als dreiste Fälschung erscheint, ist im 18. Jahrhundert völlig normal: Nicht jeder kann Karten aufwendig neu gestalten – und viele Kartenverlage gehen pleite. Johann Homann dagegen schafft es, sich mit den günstigen Kopien niederländischer und französischer Karten ein ansehnliches Geschäft aufzubauen. Das verdiente Geld erlaubt es ihm schon bald, eigene, qualitativ hochwertige Landkarten zu erstellen. Hochwertig, aber trotzdem erschwinglich – als Atlanten und Wandschmuck für das gebildete Bürgertum – damit will er sich von anderen „Abkupferern“ abheben. Atmo A2 Atmo Hausführung SPRECHERIN Nach Johann Homanns Tod – und dem Tod seines Sohnes – erben die Familien Ebersberger und Franz den Landkartenverlag. Sie kaufen ein neues Verlagshaus, das heutige Fembohaus, in dem sich das Stadtmuseum befindet.  …weiter Atmo Hausführung SPRECHERIN Der Museologe Ludwig Sichelstiel führt durch das Fembohaus. In dem edlen vierstöckigen Kaufmannshaus mit Sonnenuhr an der Fassaderichten richten die neuen Eigentümer Franz und Ebersberger den Verlag ein: Druckerei, Zimmer für die Kupferstecher… ZSP 11 T11 Sichelstiel …und hier in diesem Vestibül des Hauses baute man einen Verkaufsraum ein. Und ganz interessant ist es, wenn man hier an die Decke schaut, dann sieht man noch diesen Stuck, der aus dem Verkaufsgewölbe vorhanden ist. (evtl. ausfaden) SPRECHERIN Ein kleiner Raum im heutigen Stadtmuseum ist noch dem Verlag gewidmet. ZSP 12 T12 Sichelstiel Eine Karte, die mich besonders beeindruckt, die ist allerdings hier nicht zu sehen, die zeigt nämlich das Schlaraffenland. Da ist zum Beispiel irgendein Rotweinsee, irgendwie sowas in der Art, also Dinge, die man sich erträumt hat… Atmo A3 Atmo Türen Stabi Berlin SPRECHERIN Ein Original dieser Karte findet man in Berlin bei Homann-Spezialist Markus Heinz. Der stellvertretende Leiter der Kartenabteilung in der Staatsbibliothek zu Berlin führt ins Archiv: Hinter einer Schleuse aus massiven Stahltüren lagern Kartenschätze aus allen Jahrhunderten. Atmo A3 weiter SPRECHERIN Markus Heinz zieht ein großes Stück Papier aus einem der Regale. Da ist sie, die Karte, die das „Ludermeer“ zeigt, oder „Bibonia Regnum“ – das Reich der Trinker. ZSP 13 T13 Heinz Also es ist glaube ich kein Beispiel für das, was man häufig als Phantasie auf den Karten bezeichnet, weil es ja eine absichtliche Phantasie ist. Das Eigentliche, was man in der Zeit bis um 1700 gemacht hat, dass man möglichst alles, was man wusste, in den Karten einzeichnet. Da sind gesicherte Quellen drin und da sind Meldungen, die einer, der dort vielleicht in der Nähe war, von jemandem gehört hat, der’s von jemandem gehört hat. SPRECHERIN Über die Jahre sind so ganz seltsame Karten entstanden. Markus Heinz zeigt eine weitere Karte, eine von Ostasien. Die Küste Sibiriens: nicht spitz auslaufend, wie wir sie heute kennen. Nein, hier ist die Küste rund wie ein Gesäß. ZSP 14 T14 Heinz Da war um 1706 noch niemand. Und da gibt es halt Informationen zum Teil von russischen Pelzhändlern, die bis da in den Osten vorgestoßen waren, aber natürlich keine Karten gezeichnet haben – es waren Pelzhändler. Japan ist einigermaßen, allerdings ohne Nordinsel, und für die Nordinsel gibt es dann eine Terra Jedso. Das ist ziemlich groß, ist viel größer als die japanische Nordinsel ist. Aber es gibt eben sozusagen Quellen, dass da hinten, da kommt noch was. Dass die da so konkret eingezeichnet sind, noch mit Inseln und zum Teil mit Orten drauf oder konkreten Bergen und Flüssen, obwohl niemand da war, dass er dadurch entsteht, dieser Eindruck ist wäre reine Fantasie. SPRECHERIN Nilquellen in der Antarktis, Elefanten in Sibirien, Kalifornien als Insel; und Seen, die es nicht gibt. Die damaligen Karten sind überfüllt mit derartigen Informationen – und mit so manchem Blödsinn. Wollte doch schon Verlagsgründer Homann die Qualität der Karten erhöhen, so will es sein Nachfolger auf die Spitze treiben. Evtl. Musik Zitator 2 Dieser machte es in den öffentlichen Blättern bekannt, welche großen Verbesserungen er damit vorzunehmen gedenke, und lud zugleich unter guten Bedingungen geschickte Kartenzeichner ein, nach Nürnberg zu kommen. SPRECHERIN Einer dieser Zeichner ist… der junge Tobias Mayer. SPRECHERIN Vor allem in Frankreich hat sich die Kartographie in den Jahren zuvor schon weiterentwickelt. Die Kartographen der Königlichen Akademie der Wissenschaften packen nicht mehr alles in aufs Papier, sondern möglichst nur noch richtige Informationen. Genaue Vermessung. Weglassen wird zur Tugend; die Karten enthalten viel mehr weiße Flecken. Tobias Mayer soll diese moderne Kartographie in Deutschland – bei Homanns Erben – etablieren – eine Aufgabe wie geschaffen für ihn! Atmo A4 Museumsatmo SPRECHERIN Das Ergebnis sieht man heute in Marbach, im Tobias-Mayer-Museum. Im Erdgeschoss zeigt Armin Hüttermann eine Mayer-Karte von Südostasien. Auf den ersten Blick eine normale Karte dieser Zeit… aber die Details! Die Insel „Ouro“ (sprich: Uro) ist gleich dreimal auf der Karte. Und Mayer hat jede von ihnen beschriftet mit einer Quellenangabe: Hier haben die Engländer die Insel verortet, hier die Niederländer. Und: „Positionis et existentiae incertae“ – ob sie wirklich existiert, sei gar nicht sicher. ZSP 15 T15 Hüttermann Was an der Karte faszinierend ist: Jetzt kommt der große kritische Geist. Und er will es nicht als „Kartenstümpler“ abkupfern, sondern nach dem neuesten Stand der Wissenschaft will er es darstellen. Da ist zum Beispiel hier die Insel Neuguinea. Die hört einfach auf! Mayer weiß natürlich auch, dass das nicht geht. Man kann nicht einfach irgendwelche Linien aufhören lassen auf einer Karte. Er weiß aber nicht, wie’s weitergeht und bevor er da irgendwas Falsches hinzeichnet, lässt er es mal offen. [[Auch Mayers Karten enthalten zum Beispiel die mysteriöse „Terra Jedso“, die sich bei ihm als Japans Nordinsel Hokkaido entpuppt. Allerdings mit genauer Küstenlinie und im Inland schlicht weiß, ohne die phantasievollen Flüsse und Berge, die noch auf der alten Karte zu finden sind.]] Tobias Mayers genialstes Werk aber ist eine Karte, die die Kritik schon im Namen trägt: Die Mappa Critica, eine schmucklose Deutschlandkarte, in der alle größeren Städte dreimal eingezeichnet sind. Einmal da, wo die Franzosen sie verorten; einmal aus einer alten Homann-Karte… und einmal da, wo die Orte nach Mayers Berechnungen wirklich sein müssten. ZSP 16 T16 Glasze  Diese kritische Karte ist einfach dafür faszinierend, da kenne ich nichts Vergleichbares… SPRECHERIN Georg Glasze (Sprich Glástse,), Professor für Politische Geographie in Erlangen. ZSP 17 T17 Glasze …wo er einfach unterschiedliche Karten übereinandergelegt hat. Und das führt dann halt dazu, dass Nürnberg tatsächlich dreimal auftaucht. Das sind sicherlich… die beiden… (fummelt auf der Karte rum) 40, 50 Kilometer auseinander. Musik (leicht dramatisch, spannungserzeugend) ZSP 18 T18 Glasze Also vielleicht erstmal zu der kritischen Kartographie, wie sie so Mitte des 20. Jahrhunderts… eigentlich ist es so eine Debatte, die kommt so in den 70er, 80er-Jahren auf, die sich im Prinzip wendet gegen den absoluten Wahrheitsanspruch, der mit der modernen Kartographie einhergeht. Die Kartographie nach Mayer entwickelt sich zu so einer fast schon Ingenieurswissenschaft. Immer perfektere Vermessung… und was dieser Kartographie ein bisschen aus dem Blick rückt, dass Karten nie ein einfaches Abbild der Erde sein können. SPRECHERIN Grenzen sind nicht immer festgelegte Linien. Sie sind umstritten, unbekannt, und sie stellen kritische Kartographen heute vor wichtige Fragen: Wo zieht man die Grenze zwischen der Ukraine und Russland? Wo die zwischen Israel und Palästina? Wie werden Gotteshäuser auf einer Karte dargestellt – mit einem Kreuz? Oder mit einem Halbmond? Warum liegt auf der Weltkarte ausgerechnet Europa in der Mitte? Und: Was wird vielleicht auch weggelassen – vereinfacht, damit die Karte übersichtlich bleibt? ZSP 19 T19 Glasze Auch, wie ich Orte benenne, ob ich Königsberg oder Kaliningrad zu dieser Stadt sage, sind immer historische, politische Prozesse. Darauf weist diese Kritische Kartographie im späten 20., frühen 21. Jahrhundert hin. Das ist jetzt natürlich nicht der Kritikbegriff, denn Mayer verwendet, aber er ist sozusagen einer, der auch schon diese Idee, es gibt eine absolute Wahrheit, die ich einfach darstellen kann, infragestellt. Und so zeigt, wir sind in vielem sehr unwissend. Musik wieder einfaden, kurze „Gedankenpause“ ZSP 19 T19 weiter Der Unterschied zu der kritischen Kartographie, wie wir sie jetzt kritisieren, ist, er bereitet in gewisser Weise diese Idee einer Kartographie als exakte, vermessende, objektive Wissenschaft vor. Dramatische, spannende Musik nochmal hoch, dann unter A5 ausfaden Atmo A5 Holztreppen SPRECHERIN Ganz oben im ehemaligen Verlagshaus in Nürnberg, über der vierten Dachbodenetage, da, wo die Dachschräge spitz zusammenläuft, öffnen sich zwei kleine Holzklappen und geben den Blick auf den Himmel frei. Ein Rundumblick, den Tobias Mayer geliebt haben muss. Von hier aus beobachtet er in klaren Nächten den Mond und die Sterne; die ihn noch ein letztes Mal zu einer Meisterleistung inspirieren. ZSP 20 T20 Hüttermann Das ist 1748, da gibt es eine Mondfinsternis. Und da haben die das alles vorausberechnet und haben eine Tafel zu der Mondfinsternis gemacht. Und in der Mitte wird ein Mond dargestellt. Da hat der Mayer den da hin gezeichnet. Und da muss er wohl ganz unzufrieden damit gewesen sein, denn man weiß ganz genau: Von dem Zeitpunkt an fängt er an, eine eigene Mondkarte zu zeichnen. SPRECHERIN Tobias Mayers Mondkarte wird die genaueste, die es zu dieser Zeit gibt. Über ein halbes Jahrhundert wird sie die beste Mondkarte bleiben. Was für eine Leistung! Aber für den Pragmatiker Tobias Mayer ist sie Mittel zum Zweck. ZSP 21 T21 Hüttermann Es ist auch das, was den Mayer berühmt gemacht hat, diese erste exakt vermessene Mondkarte. Das Zweite ist natürlich das, wofür er die Karte gebraucht hat: nämlich die Längengradbestimmung. SPRECHERIN Tobias Mayers Kritische Karte hat es schon gezeigt: Während Astronomen und Seefahrer der Breitengrad, also, wie weit nördlich oder südlich des Äquators sie sich befinden, über den Sonnenstand recht einfach bestimmen können, liegen sie beim der Frage nach West und Ost, also beim Längengrad, oft dutzende oder hunderte Kilometer falsch. Damit gibt sich Tobias Mayer nicht zufrieden: Er beobachtet den nächtlichen Tanz der Sterne um den Mond, notiert alles in Tabellen und berechnet daraus den Längengrad. Das haben schon andere vor ihm gemacht, aber wieder einmal ist seine Methode viel genauer. Tobias Mayer übrigens hat inzwischen Nürnberg verlassen. Er wird Professor in Göttingen. Eine seiner letzten Karten dokumentiert die Kutschfahrt mit seiner Frau Maria Victoria von Nürnberg nach Norden. Dem Homann-Verlag bleibt er freundschaftlich verbunden. Die Probleme der Berechnungen des Längengrades beschäftigen die Seefahrt weltweit: In England hat das Parlament einen großen Geldpreis für die genaue Bestimmung des Längengrads ausgelobt – damit britische Kapitäne auf hoher See ihre Position bestimmen können – Tobias Mayer wäre ein Kandidat für den Preis, aber den interessieren einfach nur genaue Messungen. Erst der berühmte Schweizer Mathematiker Leonhard Euler überredet ihn, seine Monddistanztabellen nach London zu schicken. Zitator 2 Könnten Euer Hochedelgeboren nur noch eine Methode beyfügen, um zur See den Ort des Monds durch seine Distanz von Fixsternen so genau bestimmen zu können, so könnten Dieselben des Praemii von 20000 Pfund Sterling versichert seyn. SPRECHERIN Tobias Mayer wird ein Teil des Preises zugesprochen – 3000 Pfund – aber erst Jahre später, nach seinem Tod. Den größeren Teil bekommt der britische Uhrmacher John Harrison, der den Längengrad mit einer besonders genauen, schiffstauglichen Uhr bestimmt – einem Chronometer. Für Seefahrer ist John Harrisons Uhr einfacher als Tobias Mayers komplizierte Tabellen und das Hantieren mit dem Sextanten auf dem schaukelnden Schiff. Aber wenn die Uhr mal ausfällt, greifen die Seeleute doch wieder auf „den Mayer“ zurück. ZSP 22 T22 Hüttermann James Cook ist ja durch die Südsee gefahren. Der schreibt in seinen Berichten, dass er froh ist, dass er diesen Chronometer hat, aber er wäre genauso froh, dass er diese Sache mit dem Sextanten und den Mondtafeln hätte. Und wenn Sie an den Captain Bligh bei der Meuterei auf der Bounty denken, der wird ja ausgesetzt. Und was hat er dabei? Nicht die Uhr, sondern den Sextanten. Also die Mayer’sche Methode. (lacht) Friedhofsglocken, diesmal ohne Musik, bleiben unter Sprecher, Sprecher wie am Anfang (oder sogar exakte Kopie des Anfangs) Am 20. Februar 1762 stirbt Tobias Mayer. Der große Astronom und Kartograph – heute kennt ihn kaum einer mehr. Er ist nur 39 Jahre alt geworden – der Typhus hat ihn in kürzester Zeit dahingerafft. Nicht alles hat er erreicht. Seine Vision, die Vision seiner Kollegen bei Homann, die kartographische Wissenschaft nach dem Vorbild der Franzosen in einer staatlichen Akademie zu bündeln, hat im zersplitterten Deutschen Reich keine Chance. Der Homann-Verlag wird nicht mehr an die früheren Erfolge anknüpfen. Aber die Karten aus der Zeit von Tobias Mayer werden weit über seinen Tod hinaus verkauft – sie sollen noch Jahrzehnte unter den besten bleiben. Musik einfaden ZSP 23 T23 Heinz Ich tu mir schwer zu sagen, der Homännische Verlag oder Tobias Mayer waren das Größte in Europa. Das stimmt nicht. Sie waren ganz vorne dran, und das ist eigentlich schon sensationell! ZSP 24 T24 Glasze Wahrscheinlich würden Kolleginnen und Kollegen aus der Kartographie werden jetzt den Kopf schütteln, aber in gewisser Weise ist so eine Form von Kritik der Kartographie im 19., 20. Jahrhundert ein stückweit verlorengegangen. ZSP 25 T25 Hüttermann Aus einfachsten Verhältnissen ((als Autodidakt)) sich hochgearbeitet in höchste Höhen! Den hätte ich gerne mal kennengelernt. Das ist schon… die Schwaben sagen „ein Käpsele“. (lacht) Musik raus, Kunstpause Was er in nur 39 Lebensjahren geleistet hat: unglaublich.
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Dec 9, 2024 • 23min

Commedia dell'Arte - Vom Spiel mit den Masken

Die Commedia dell'Arte war über 200 Jahre lang lebendig. Pantalone, der Dottore oder die komischen Dienerfiguren gehörten zum festen Figurenpersonal. Die Stücke waren nicht schriftlich fixiert und lebten von der Virtuosität der Schauspieler. Von Gabriele Knetsch (BR 2020) Credits Autorin dieser Folge: Gabriele Knetsch Regie: Martin Trauner Es sprachen: Irina Wanka, Rainer BuckeRedaktion: Im Interview: Prof. Florian Mehltretter, LMU Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion: Skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Das Kalenderblatt erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum. Ein Angebot des Bayerischer Rundfunks. DAS KALENDERBLATT  Frauen ins Rampenlicht! Der Instagramkanal frauen_geschichte versorgt Sie regelmäßig mit spannenden Posts über Frauen, die Geschichte schrieben. Ein Angebot des Bayerischer Rundfunks. EXTERNER LINK | INSTAGRAMKANAL frauen_geschichte Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Radiowissen finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Radiowissen JETZT ENTDECKEN Das vollständige Manuskript gibt es HIER.
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Dec 8, 2024 • 23min

Jeden Tag ein Türchen mehr ... - Die Geschichte des Adventskalenders

Detlef Kügow, ein versierter Erzähler und Geschichtensammler, taucht in die faszinierende Welt des Adventskalenders ein. Er erklärt die Ursprünge des Kalenders im Jahr 1904 und seine Bedeutung als kinderfreundliche Tradition. Kügow thematisiert die kulturelle Entwicklung, die militärische Symbolik und die Freude, die die Adventszeit mit sich bringt. Außerdem beleuchtet er die Evolution vom religiösen Brauch zu modernen Varianten und den Einfluss von Gerhard Lang auf die Popularität des Kalenders.
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Dec 7, 2024 • 21min

Amelia Earhart - Die tragische Heldin der Lüfte

Amelia Earhart überflog als erster Mensch den Pazifik zwischen Hawaii und Kalifornien. In den USA galt die Rekordfliegerin als Idol. Die Bestürzung war groß, als sie auf ihrem letzten Flug spurlos verschwand. Von Susanne Merkle (BR 2021)Das Manuskript zur Folge gibt es HIER. Noch mehr Interesse an Geschichte? Dann empfehlen wir: ALLES GESCHICHTE - HISTORY VON RADIOWISSEN Instagram-Kanal "FrauenGeschichte"Über Frauen, die Geschichte schrieben:ZUM INSTAGRAM-KANAL
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Dec 6, 2024 • 18min

Die Reliquienräuber von Bari - Nikolaus in Geschichte und Legende

Stefan Wilkening ist eine der Sprecherinnen, die sich mit der faszinierenden Figur des heiligen Nikolaus beschäftigt. Sie erkunden die spektakuläre Entführung seiner Überreste im Jahr 1097 durch Matrosen aus Bari und dessen kulturelle Bedeutung. Zudem wird über die Legenden seines Lebens gesprochen, die seinen Ruf als Freund der Bedürftigen prägten. Interessant ist auch die Analyse von Nikolaus als Symbol zwischen Barmherzigkeit und Regelverstoß. Schließlich wird diskutiert, wie sein Bild von Angst einflößend zu liebevoll transformiert wurde.
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Dec 6, 2024 • 25min

Die Dolchstoßlegende

Ein Dolchstoß von hinten? Verrat an den kämpfenden Soldaten? Am Ende des Ersten Weltkrieges verschleierte die kaiserliche Militärführung ihr Scheitern. Rechte Verschwörungslegenden machten stattdessen die demokratischen Politiker der Weimarer Republik für die Kriegsniederlage verantwortlich. Und zur Zielscheibe rechter Gewalt. Von Renate Eichmeier Credits Autorin dieser Folge: Renate Eichmeier Regie: Sabine Kienhöfer Es sprachen: Katja Amberger, Christian Baumann Technik: Daniela Röder Redaktion: Thomas Morawetz Im Interview: Prof. Dr. Martina Steber, Professorin für Neueste Geschichte an der Universität Augsburg und Stellvertretende Direktorin des Instituts für Zeitgeschichte München-Berlin Diese hörenswerten Folgen von Radiowissen könnten Sie auch interessieren: ALLES GESCHICHTE - HISTORY VON RADIOWISSENERSTER WELTKRIEG - Die Schüsse von SarajewoSarajewo, 28. Juni 1914: Schüsse eines Attentäters treffen Erzherzog Franz Ferdinand, den Thronfolger vonÖsterreich-Ungarn, und seine Gattin Sophie. Einen Monat später stellt sich heraus: Es waren die ersten Schüsse des Ersten Weltkriegs. Die Hintergründe, die zum Ausbruch dieser "Urkatastrophe" führten, sind komplex. Bis heute werden sie intensiv diskutiert. Von Thomas Morawetz (BR 2008) HIER ENTDECKEN ALLES GESCHICHTE - HISTORY VON RADIOWISSENERSTER WELTKRIEG - Von der Euphorie in den AbgrundIm August 1914 war Deutschland siegesgewiss, doch bald trat Ernüchterung ein. Viele Soldaten und weite Teile der Zivilbevölkerung wurden des Krieges überdrüssig. Aber die deutsche Politik trieb den Krieg unbeirrt weiter - bis zum großen Zusammenbruch im Sommer 1918. Von Rainer Volk (BR 2014)  HIER ENTDECKEN ALLES GESCHICHTE - HISTORY VON RADIOWISSENERSTER WELTKRIEG - Der Versailler VertragDie Kampfhandlungen des Ersten Weltkriegs waren gerade erst ein halbes Jahr eingestellt, doch nun standen alliierte Truppen bereit, um in Deutschland einzumarschieren. Ende Juni 1919 sollte die deutsche Delegation ultimativ die Bestimmungen des Versailler Vertrags unterzeichnen, sonst wollten die Alliierten die Unterschrift erzwingen. Die deutsche Seite hatte die Vertragsbedingungen zunächst als "unerträglich" zurückgewiesen. Jetzt gab sie nach. Von Thomas Morawetz (BR 2010) HIER ENTDECKEN Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion: Die Grandauers und ihre Zeit Hörspielkult aus den 1980ern präsentiert von Christine Neubauer, die 1987 als Traudel Grandauer mit der TV-Serie "Löwengrube" ihren schauspielerischen Durchbruch hatte: Die Jahre 1893 bis 1945, fünf Jahrzehnte bayerische und deutsche Geschichte: "Die Grandauers und ihre Zeit" erzählt das Leben von Kriminaloberwachtmeister Ludwig Grandauer und dessen Sohn, dem Münchner Kriminalkommissar Benno. Drei Generationen einer Münchner Familie durchleben und durchleiden Träume, Hoffnungen und Kriege. Die Hörspielserie ist Vorlage für die TV-Kultserie "Löwengrube", für die Willy Purucker mit dem Bayerischen Fernsehpreis (1991) und dem Adolf-Grimme-Preis in Gold (1992) ausgezeichnet wurde. Hinweis: Diese Hörspielproduktion enthält diskriminierende Formulierungen.JETZT ENTDECKEN  Literatur: Boris Barth: Dolchstoßlegenden und politische Desintegration. Das Trauma der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg 1914 – 1933, ein dickes Standardwerk, mit vielen Details, Auswertung zahlreicher Quellen, gut geeignet um verschiedene Themenbereich nachzulesen Gerhard P. Groß: Das Ende des Ersten Weltkrieges und die Dolchstoßlegende – für militärisch Interessierte, Details zur militärischen Situation am Kriegsende und vieles über Ludendorff und Hindenburg. Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Radiowissen finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Radiowissen JETZT ENTDECKEN Das vollständige Manuskript gibt es HIER. Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: Atmo: Schüsse ERZÄHLERIN: 26. August 1921. Gegen 11 Uhr vormittags. In der Nähe von Bad Griesbach hallen Schüsse durch den Schwarzwald. Sie gelten einem Mann, der mit einem Parteikollegen einen Spaziergang in seiner schwäbischen Heimat macht: Matthias Erzberger, Mitte 40, Gehrock, dunkle Hose, schwarzer Hut, Politiker des katholischen Zentrums, bis vor wenigen Monaten Finanzminister der Weimarer Republik. Matthias Erzberger wird von den Schüssen schwer verletzt, versucht zu fliehen, stürzt an einem Abhang, am Boden liegend treffen ihn weitere Kugeln. Die beiden Attentäter kommen aus rechtsextremen Netzwerken. Vor seiner Ermordung wurde Matthias Erzberger wie andere führende Politiker der Weimarer Republik von rechtsnationalen Kreisen mit Hetzkampagnen gejagt.  ERZÄHLER:  Fort mit Erzberger! Vaterlandsverräter! Novemberverbrecher! Verrat an den kämpfenden Soldaten! Ein Dolchstoß von hinten!  ERZÄHLERIN: Am Ende des Ersten Weltkrieges hatte die Militärführung des Deutschen Kaiserreiches ihr Scheitern verschleiert und damit den Boden für rechte Verschwörungslegenden bereitet. Diese machten die demokratischen Politiker der Weimarer Republik für die Kriegsniederlage verantwortlich. Und zur Zielscheibe rechter Gewalt. O1 STEBER In rechten Kreisen, in rechtsextremen Kreisen wird dieser Begriff des Dolchstoßes beständig überall aufgegriffen und wird zu einer Propaganda-Formel, zu einer Hetz-Formel, die Gewalt legitimiert, nämlich 'ne Gewalt, die sich dann in Morden an diesen führenden Vertretern der Novemberrevolution dann auch breit macht.  ERZÄHLER:  So die Historikerin Martina Steber, Professorin für Neueste Geschichte an der Universität Augsburg und Stellvertretende Direktorin des Instituts für Zeitgeschichte München-Berlin.  O2 STEBER Man kann sagen, dass das die Funktion hat, die historische Realität tatsächlich zu verschleiern. ERZÄHLERIN: Die historische Realität? Um sie zu verstehen, muss man zurückgehen zum Beginn des Ersten Weltkrieges.  Musik:  Huldigungsmarsch 0‘30 Atmo: Jubel, marschieren Im August 1914 herrschte nationale Euphorie. Regimenter marschierten unter dem Jubel der Bevölkerung durch die Straßen. Im Reichstag stimmten alle Parteien inklusive der SPD für die Kredite, die zur Finanzierung des Krieges notwendig waren. Ein Ausflug nach Paris sollte es werden, ein kurzer, schneller Eroberungskrieg im Westen – gekrönt mit Annexionen.  Musik: War is coming 0‘50 Atmo: Kampf Krieg Doch der deutsche Vormarsch im Westen stockte innerhalb kurzer Zeit. Die Front fraß sich ein. Ein zäher, brutaler Stellungskrieg mit unzähligen Toten folgte. Eine Seeblockade der Engländer schnitt die deutschen Nordseehäfen vom internationalen Handel ab. Es kam zu Lebensmittelknappheit und Mangel an kriegswichtigen Gütern. Zu Hause an der sogenannten Heimatfront verflog die nationale Hochstimmung. Die Menschen litten unter mangelnder Versorgung. Es kam zu ersten Krawallen und Streiks auf lokaler Ebene, die sich zunehmend ausweiteten und politisierten. Eine neue Oberste Heeresleitung unter Paul von Hindenburg und Erich Ludendorff sollte ab Sommer 1916 für den entscheidenden militärischen Durchbruch sorgen. Doch der ließ auf sich warten. Die öffentlichen Diskussionen über die Beendigung des Krieges nahmen Fahrt auf.  ERZÄHLER: Sollte man verhandeln? Sollte man weiterkämpfen? Siegfrieden? Oder Verhandlungsfrieden?  ERZÄHLERIN:  Die Gesellschaft spaltete sich, so die Historikerin Martina Steber, in zwei Lager.  O3 STEBER Und da hat man auf der einen Seite ein rechtes Lager, das ganz deutlich auf einen Siegfrieden zielt, der gleichzeitig mit großen territorialen Annexionen rechnet, also eine Expansionspolitik, die sich ja in den Kriegszielen des Kaiserreichs im Ersten Weltkrieg auch zeigt und die das leitet und die dann gleichzeitig einen Verhandlungsfrieden ausschließt. Also es gibt nur einen Sieg, einen militärischen Sieg unter Einschluss eben von territorialen Gewinnen. Das ist das einzige Ziel, was akzeptabel ist.   ERZÄHLER: Auf der anderen Seite, so Martina Steber, stehen diejenigen, die diesen propagierten Siegfrieden für unrealistisch halten. O4 STEBER  Es sind die Gruppen, die Vertreter eben von Sozialdemokratie, von Linksliberalen und aus dem Zentrum vom politischen Katholizismus, die auf einen Verhandlungsfrieden unter Wegfall aller annexionistischer Ziele drängen –  ERZÄHLERIN: darunter als führende Stimme: Matthias Erzberger –  O5 STEBER  Die werden als Verräter bezeichnet und zwar aus diesem rechten nationalistischen Lager. Das heißt, dieser Gedanke eines Verrats durch die Heimatfront, der ist bereits 1917 da, und wird auch ganz klar geäußert im Reichstag zum Beispiel, als eine Resolution eben von Linken, Linksliberalen und dem Zentrum diskutiert wird mit der Forderung nach so einem Verhandlungsfrieden ohne Annexionen. MUSIK: Z8014761117 Foreboding of war (alternativ) 0‘35  ERZÄHLER: Die gesellschaftlichen Fronten verhärteten sich. Während der Ruf nach Friedensverhandlungen immer lauter wurde, propagierten Militärführung und Rechtsnationale weiterhin einen Siegfrieden – der sich militärisch allerdings in keiner Weise abzeichnete. Ein uneingeschränkter U-Boot Krieg sollte Abhilfe leisten. Handels- und Passagierschiffe auch aus neutralen Staaten wurden ohne Vorwarnung versenkt. Ziel war, England und Frankreich von internationalen Handelsbeziehungen abzuschneiden, insbesondere von Rüstungslieferungen aus den USA. Doch das erwies sich als kontraproduktiv. In der Folge traten nämlich die USA auf Seiten der Alliierten in den Krieg ein – was sich bald als verhängnisvoll erwies. Als im Zuge der Oktoberrevolution 1917 das Russische Zarenreich zusammenbrach, wurden durch den Friedensschluss mit den neuen bolschewistischen Machthabern im Osten deutsche Truppen frei. Und die ließ die Oberste Heeresleitung an die Westfront verlegen, um dort mit einer Frühjahrsoffensive den Sieg herbeizuführen. Aber auch das scheiterte, weil die Alliierten klar im Vorteil waren – aus zwei Gründen. Zum einen hatten sie mehr Panzer. Und diese, so die Professorin Martina Steber, brachten eine neue Dynamik in den Stellungskrieg an der Westfront.  O6 STEBER Die können nämlich über solche Stellungen drüber gehen, die können über Gräben drübergehen, die sind relativ unverwundbar. Also, da gerät strategisch einfach durch militärische Ausstattung das Deutsche Reich ins Hintertreffen. Das ist der eine Punkt. Und zum zweiten, durch den Kriegseintritt der USA werden die Alliierten immer wieder mit neuen, frischen, gut ausgebildeten Soldaten versorgt.  ERZÄHLERIN: Die von den deutschen Militärs massiv unterschätzten Amerikaner erwiesen sich als schlagkräftige Kampfeinheiten. Die deutschen Soldaten dagegen kamen geschwächt von der Ostfront und waren chancenlos der militärischen Überlegenheit der Alliierten ausgesetzt. Hunderttausende kamen um.  Musik:  Unexpected encounter 0‘45 Atmo: Kundgebung In der Bevölkerung zuhause rumorte es zunehmend. Die Menschen hungerten. Bereits im Januar 1918 war es zu reichsweiten Massenstreiks gekommen. Die erschöpften Menschen forderten ein Ende des Krieges, eine Verbesserung der Versorgung, und sie forderten politische Teilhabe, Wahlrechtsreform und Demokratisierung, wobei die konkurrierenden Konzepte Parlamentarismus versus Rätesystem im Umlauf waren. Der Druck vonseiten der Bevölkerung wuchs. Gerüchte über die desaströse militärische Lage drangen durch, während die kaiserliche Militärführung weiterhin einen deutschen Sieg propagierte.  ERZÄHLER: Zwar ließ die kaiserliche Militärführung schließlich die Regierung und auch den Reichstag darüber informieren, dass mit einem vollständigen Sieg im Westen nicht mehr zu rechnen sei. Wie katastrophal die militärische Lage war, darüber gab die Oberste Heeresleitung allerdings vorerst keine Auskunft. Bei den obersten Militärs kam Krisenstimmung auf. General Erich Ludendorff verlor zunehmend die Nerven. ERZÄHLERIN:  Er schob das Scheitern der Offensive wahlweise auf die unteren Ränge in der militärischen Hierarchie, auf die linken Ideen, mit denen Soldaten infiziert seien, oder auf die mangelnde Unterstützung von der sogenannten Heimatfront mit ihren Forderungen nach Demokratisierung. MUSIK: Dangerous pursuit 0‘15 O8 STEBER Im Oktober 1918 wird tatsächlich ein Traum von vielen auf der linken, auf der liberalen Seite, auch im Zentrum umgesetzt. Es kommt zu einer stärkeren Parlamentarisierung der kaiserzeitlichen Verfassung, es wird eine Regierung gebildet, eben unter Einschluss dann von Sozialdemokraten, Zentrumsleuten, Linksliberalen unter einem gemäßigten, konservativen oder liberalkonservativen Max von Baden.  ERZÄHLER: Ende September / Anfang Oktober hatte die Oberste Heeresleitung führende Politiker mit einem dramatischen Appell über die desaströse Lage an der Westfront informiert. Vehement drängte Erich Ludendorff auf eine Änderung der Verfassung in Richtung auf parlamentarische Monarchie – und auf sofortige Waffenstillstandsverhandlungen, um einem drohenden militärischen Zusammenbruch zuvorzukommen.  O9 STEBER Und der Plan, den Ludendorff da hegt und der durchaus auch aufgeht, ist, die Verantwortung für die Kriegsniederlage genau diesen Leuten in die Schuhe zu schieben, also sich selber zu entlasten und die Verantwortung für die Niederlage, die dann eingestanden werden muss, auf die parlamentarischen Kräfte und auf die republikanischen Kräfte zu projizieren, die dann tatsächlich auch den Waffenstillstand unterzeichnen müssen.  Musik: Complex questions 0‘40 ERZÄHLERIN: Schnell wurde eine neue Reichsregierung unter Kanzler Max von Baden installiert. In seinem Kabinett waren nunmehr auch Politiker der demokratischen Parteien wie etwa Matthias Erzberger vom katholischen Zentrum und der SPD-Politiker Philipp Scheidemann. Obwohl Bedenken bezüglich eines überstürzten Waffenstillstandsangebots bestanden, gab Max von Baden angesichts der unübersichtlichen Lage dem Druck Ludendorffs nach und übermittelte ein entsprechendes Gesuch an den amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson.  ERZÄHLER: In der SPD hatte es bereits vor dem Eintritt ins Kabinett kritische Stimmen gegeben, die davor warnten, sich in den Zusammenbruch des monarchischen Regimes reinziehen zu lassen. Auch Max von Baden war sich darüber im Klaren, dass die Oberste Heeresleitung nicht mit offenen Karten spielte, sein Vizekanzler Payer sprach es klar aus – dass wir es sein sollen, die den verlorenen Krieg verloren machen. Und Matthias Erzberger verlangte vergeblich, dass die Oberste Heeresleitung klarstellen sollte, dass sie es war, die die Bitte um Waffenstillstand erzwungen hat.  ERZÄHLERIN: Die nächsten Wochen verhandelte die Reichsregierung unter Max von Baden mit dem amerikanischen Präsidenten, der allerdings sehr harte Bedingungen für einen Waffenstillstand stellte.  Musik: Z8019017127 secret proofs red. 0‘30 Die obersten Militärs waren empört. Allen voran Ludendorff. Und die Seekriegsleitung versuchte schließlich im Alleingang, mit der Hochseeflotte einen nicht autorisierten Vorstoß zu unternehmen. Die Matrosen verweigerten aber den eigenmächtigen Befehl ihrer militärischen Führung. In der Folge brachen Unruhen aus, die sich über das ganze Kaiserreich ausbreiteten. Es war der Beginn der Novemberrevolution 1918 und das Ende der Monarchie. Am 9. November gab Max von Baden in Eigenregie die Abdankung des Kaisers bekannt und übergab die Regierungsgeschäfte an Friedrich Ebert, den Parteivorsitzenden der SPD. Die Republik wurde ausgerufen. - Zwei Tage vorher war die deutsche Delegation unter Führung von Matthias Erzberger im Obersten Hauptquartier in Belgien aufgebrochen und nach Rücksprache mit Kaiser und Oberster Heeresleitung losgefahren, um in Frankreich den Waffenstillstandsvertrag zu unterzeichnen.  ERZÄHLER: Von seinen französischen Verhandlungspartnern wurden Matthias Erzberger die Bedingungen vorgelegt, die ihm sehr hart erschienen. Verhandlungsspielräume gab es nicht. Schließlich informierte Matthias Erzberger die Oberste Heeresleitung und auch die Regierung in Berlin und bat um Anweisung. Beide teilten ihm mit, dass unter allen Umständen ein Waffenstillstand abgeschlossen werden muss. 11. November um fünf Uhr morgens: Matthias Erzberger unterschrieb.  ERZÄHLERIN: Die kaiserliche Militärführung hatte sich geschickt aus der Verantwortung gezogen.  ERZÄHLER:  Später sagte Matthias Erzberger, hätte man früher auf Verhandlungen gesetzt, hätten die Deutschen bessere Bedingungen bekommen. ERZÄHLERIN: Demokratische Politiker übernahmen im Chaos von Kriegsende und Revolution die politische Verantwortung, sorgten für eine Beruhigung der Situation und gründeten die Weimarer Republik. Und sie waren es auch, die im Sommer 1919 den Versailler Vertrag unterzeichneten. Auch hier gab es kaum Verhandlungsspielräume. Die Friedensbedingungen waren sehr hart. Dass Deutschland die alleinige Schuld am Kriegsausbruch gegeben wurde, empfanden viele als demütigend. Und die hohen Reparationszahlungen lösten in weiten Teilen der Bevölkerung eine Welle der Empörung aus. Die junge deutsche Republik stand vor enormen politischen und wirtschaftlichen Herausforderungen. Wer war schuld an der Misere?  MUSIK:  Unexpected signals 0‘20 ERZÄHLER: Die Schuldigen, so trommelte die rechte Propagandamaschinerie, das waren die Novemberverbrecher, die Verräter in der Heimat, die für die Revolution verantwortlich waren, die der Front das Rückgrat gebrochen haben, die den kämpfenden Soldaten in den Rücken gefallen sind, ihnen den Dolchstoß versetzt haben.  O10 STEBER  Der Begriff des Dolchstoßes, der funktioniert sehr, sehr gut, weil er auch so bildlich ist. Der Begriff nimmt Bezug auf eine für den deutschen Nationalismus ganz bekannte Szene in der Nibelungensage, die von Richard Wagner in den großen Opern, die ja so zum Grundarsenal einer deutschen nationalistischen bürgerlichen Kultur in der Zeit gehören, dann in Musik und in Szenen umgesetzt wurde im Ring des Nibelungen, wo nämlich der Schurke Hagen den großartigen Helden Siegfried, der von den Göttern ausersehen ist, in einem unfairen Kampf von hinten den Dolchstoß in den Rücken versetzt und auf die Art und Weise das Gute, den Inbegriff des guten deutschen und des nationalen Helden dann zum Fallen bringt. Und das ist ein Bild, das in den Köpfen von jedem gebildeten Deutschen, aber auch weit darüber hinaus ganz präsent war.  Musik: Z8022611109 Der Prangertag 0‘20 ERZÄHLERIN: Die Legende vom Dolchstoß in den Rücken der unbesiegten deutschen Armee tauchte in der deutschen Öffentlichkeit bereits bei Kriegsende auf. Rechte Verschwörungstheorien nahmen Fahrt auf. Demobilisierte Soldaten und junge Männer schlossen sich Freikorps an, paramilitärischen Freiwilligenverbänden, die zunehmend nationalistisch und gewaltbereit auftraten. Aus ihnen ging unter anderem die rechtsextreme Terrororganisation Consul hervor, die verantwortlich war für eine Reihe politischer Morde in der Weimarer Republik. Währenddessen wurde ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss eingesetzt, um die Geschehnisse rund um den Ersten Weltkrieg zu untersuchen: Ausbruch, versäumte Friedensmöglichkeiten, Ursachen des Zusammenbruchs. Paul von Hindenburg gab als ehemaliges Mitglied der Obersten Heeresleitung in einer öffentlichen Sitzung sein Statement ab – und nutzte die Gelegenheit, um jede Verantwortung von sich zu weisen und die Dolchstoßlegende zu forcieren. Das war Wasser auf die Mühlen der nationalistischen Presse, die in der Weimarer Republik dominierte. Zu dem rechten Verlagsimperium von Alfred Hugenberg gehörten zahlreiche Zeitungen und Zeitschriften, die mit Artikeln, Karikaturen und Schmähgedichten die demokratische Ordnung der Weimarer Republik und ihre führenden Politiker angriffen.  ERZÄHLER: Von gefügigen Werkzeugen fremder Mächte ist da die Rede, von Erfüllungspolitikern, die verantwortlich sind für das deutsche Unglück, von Novemberverbrechern, die die kämpfenden deutschen Soldaten verraten und von Landesverrätern, die deutsche Arbeiterinteressen verkauft haben.   O11 STEBER Und das sind dann exponierte Männer, wie etwa Matthias Erzberger, der noch für die Regierung Max von Baden, also die noch während des Kaiserreichs eingesetzte demokratisierte Regierung, den Waffenstillstand von Compiègne unterzeichnet, ein Zentrumspolitiker ein gemäßigter Konservativer, der persönlich verantwortlich gemacht wird und der sich beständig mit diesem Vorwurf, ein  Novemberverbrecher zu sein, konfrontieren lassen muss, der gehetzt wird, gejagt wird von rechtsextremen paramilitärischen Einheiten und dann schließlich tatsächlich im August 1921 auch ermordet wird.  Musik:  Dark operation red. 0‘35 ERZÄHLERIN: Vor seiner Ermordung hatte es eine Pressekampagne gegen Matthias Erzberger gegeben – angeführt von Karl Helfferich, einem Politiker der Deutschnationalen Volkspartei in enger Zusammenarbeit mit der rechten Hugenberg-Presse.  ERZÄHLER: Matthias Erzberger wurde beschimpft, ihm wurde Korruption unterstellt, die Unterzeichnung des Waffenstillstandsvertrages vorgeworfen und damit die Verantwortung für die sogenannte Schmach und Not Deutschlands gegeben. Und ihm wurde offen mit dem Tod gedroht. ERZÄHLERIN: Schließlich ging Matthias Erzberger juristisch mit einer Beleidigungsklage gegen Karl Helfferich vor. Doch der nutzte das Gericht als Bühne und arbeitete eng mit der Hugenberg-Presse zusammen, die seine beleidigenden Auslassungen sofort veröffentlichte. Auf Matthias Erzberger wurde ein erstes Attentat verübt. Vor dem Gerichtsgebäude verletzte ihn ein Schuss schwer an der Schulter. Als dann der Attentäter vor Gericht stand, trug er seine Kriegsuniform mit Orden und bekannte sich zur Monarchie. ERZÄHLER: Unter Hinweis auf Helfferich gab er an, dass er Erzberger für den Hauptschuldigen am Zusammenbruch hält und dass er der Ansicht ist, dass Erzberger wissentlich gegen das Volkswohl arbeitet. Deshalb dachte er sich, es muss etwas getan werden.   ERZÄHLERIN: Das Gericht zeigte sich dem Attentäter gegenüber verständnisvoll. Der Mordversuch wurde als schwere Körperverletzung interpretiert und mit achtzehn Monaten Haft bestraft.  MUSIK:  Constant fear red. 0‘15 Wenige Monate später fielen die tödlichen Schüsse auf Matthias Erzberger. Die beiden Attentäter stammten aus dem Kreis der rechtsmilitanten Terrororganisation Consul.  O12 STEBER Und diese Formel vom Dolchstoß, gekoppelt eben mit der Formel von den Novemberverbrechern, funktioniert auch deshalb so gut im rechten Milieu, weil das eine Integrations-Formel ist, auf die sich alle einigen können. Diese Rechte nach 1918/19 ist sehr heterogen, da gibt es ganz unterschiedliche Strömungen, und die sind sich selber in vielerlei Hinsicht nicht grün. Aber sie können sich darauf einigen, dass die Schuldigen quasi an der Misere des deutschen Volkes diese angeblichen Novemberverbrecher sind, die in konspirativer Absicht – und das steckt dann ja auch hinter diese Dolchstoßlegende – die in konspirativer Absicht, in verschwörerischer Absicht, ganz bewusst und planmäßig darauf hingewirkt hätten, dass die deutsche Kampfkraft an der Front zusammenbricht und auf die Art und Weise eine Revolution erst ermöglicht worden wäre. In rechtsextremen Kreisen wird die Erzählung dann noch mit dem antisemitischen Element angereichert, und dann sind es die Juden, die quasi als große Verschwörer hinter dieser ganzen Geschichte stehen. ERZÄHLER: Pressekampagnen und Morddrohungen gegen demokratische Politiker gehörten zum Alltag in der Weimarer Republik und wurden auch von der aufstrebenden NSDAP genutzt. Zielscheibe der Angriffe von rechts waren unter anderem Reichspräsident Friedrich Ebert von der SPD, sein Parteikollegen Philipp Scheidemann, der mit Blausäure attackiert wurde, der liberale Außenminister Walther Rathenau, der antisemitisch angefeindet und von Angehörigen der Organisation Consul ermordet wurde … Die rechten Verschwörungslegenden entfalteten eine ungeheure Macht.  Z8021994115 Ambuscade 0‘30 Die Gerüchte um den angeblichen Dolchstoß und die Diffamierung der demokratischen Politiker als Novemberverbrecher wirkten destabilisierend auf die Weimarer Republik und waren lebensgefährlich für die betroffenen Politiker. O13 STEBER Da sieht man, welche mobilisierende Kraft diese Begriffe haben, aber gleichzeitig auch, welche Gewalt hinter diesen Begriffen steckt. 
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Dec 5, 2024 • 22min

Der Regenwurm - Unsichtbare Designer der Erde

Viele ekeln sich vor Würmern. Doch dieses kleine Tier ist maßgeblich für die Bodenqualität verantwortlich und gilt Biobauern als Indikator für die Fruchtbarkeit der Erde. Weltweit gibt es 670 Arten. Von Geseko von Lüpke (BR 2015) CreditsAutor dieser Folge: Geseko von LüpkeRegie: Eva DemmelhuberEs sprachen: Hemma Michel, Christian Baumann, Peter VeitTechnik: Susanne HarasimRedaktion: Bernhard Kastner Das Manuskript zur Folge gibt es HIER. Diese hörenswerten Folgen von radioWissen könnten Sie auch interessieren: Mikrokosmos Erde - Das wundersame Bodenleben JETZT ANHÖREN Linktipps: Ein spannender Beitrag mit interessanten Bildern von BR Wissen:Vom Tauwurm zum Kompostwurm | Regenwürmer - ideale Untermieter für den GartenJETZT ANSEHEN Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. RadioWissen finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | RadioWissen JETZT ENTDECKEN
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Dec 5, 2024 • 24min

Gemeinsinn - Widerstandskraft in schwierigen Zeiten

Gemeinsinn ist seit der Antike ein zentraler Bestandteil des menschlichen Zusammenlebens. In Krisenzeiten zeigt sich, wie wichtig Solidarität und gemeinsame Verantwortung sind. Es wird diskutiert, wie der Gemeinsinn in modernen Herausforderungen wie Klimawandel und Inflation neu interpretiert werden kann. Zivilgesellschaftliche Initiativen, wie Bücherschränke und Repair-Cafés, fördern das solidarische Handeln. Schließlich wird betont, dass kollektive Bemühungen entscheidend sind, um eine gerechte Gesellschaft zu schaffen.
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Dec 5, 2024 • 23min

Bodenentsiegelung - Wenn Asphalt und Beton weichen

Bodenentsiegelung macht Städte grüner und hilft, dass wertvolles Regenwasser versickern kann. Doch die Zauberlösung gegen Flächenfraß ist sie nicht. Denn ein von Beton und Zement befreiter Boden braucht Jahrhunderte, um all seine natürlichen Funktionen wieder zu erlangen. Von Brigitte Kramer Credits Autorin dieser Folge: Brigitte Kramer Regie: Kirsten Böttcher Es sprachen: Werner Härtl, Gudrun Skupin Technik: Matthieu Belohradsky Redaktion: Bernhard Kastner Im Interview:Nadine Pannicke-Prochnow, Geo-und Agrarwissenschaftlerin, Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung, LeipzigJuliane Albrecht, Juristin, Leibniz-Institut für ökologische Raumentwicklung (IÖR), DresdenMatthias Rühl, Ingenieur und Raumplaner, Sugenheim/Mittelfranken  Diese hörenswerten Folgen von Radiowissen könnten Sie auch interessieren: Beton - Fasern, Poren, BakterienJETZT ENTDECKEN Die Geschichte der Stadt - Urbanes Leben als Motor der GesellschaftJETZT ENTDECKEN Sand - Überall vorhanden und doch zu knappJETZT ENTDECKEN Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion: Wie wir ticken - Euer Psychologie Podcast Wie gewinne ich die Kraft der Zuversicht? Warum ist es gesund, dankbar zu sein? Der neue Psychologie Podcast von SWR2 Wissen und Bayern 2 radioWissen gibt Euch Antworten. Wissenschaftlich fundiert und lebensnah nimmt Euch „Wie wir ticken“ mit in die Welt der Psychologie. Konstruktiv und auf den Punkt. Immer mittwochs, exklusiv in der ARD Audiothek. ZUM PODCAST Literatur:Studie des Umweltbundesamtes „Bessere Nutzung von Entsiegelungspotenzialen zur Wiederherstellung von Bodenfunktionen und zur Klimaanpassung“: ZUR HOMEPAGE Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. RadioWissen finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | RadioWissen JETZT ENTDECKEN Das vollständige Manuskript gibt es HIER. Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: O-Ton 1 Matthias Rühl Wir haben die Bewerbung von Ipsheim damit begründet, dass wir gesagt haben, Ipsheim ist ein Asphaltsee. Das war wirklich so, dass alle Flächen im Ort komplett asphaltiert waren, also versiegelt waren. SPRECHER Der Raumplaner Matthias Rühl betreut seit mehr als 25 Jahren die Gemeinde Ipsheim in Mittelfranken, sowie rund zehn andere Orte in der Region. Er berät die Gemeinderäte in Sachen nachhaltige Städtebauförderung. Matthias Rühl setzt sich für mehr Grün in Städten und Dörfern ein.  O-Ton 2 Matthias Rühl Bei jeder Maßnahme, die wir gemacht haben, war es eine Entsiegelung. Es ist viel Pflaster gekommen. Natürlich sind wir mitten in einem Ortskern bei den öffentlichen Flächen immer in der Notwendigkeit, dass es ja Verkehrsflächen sind. Man muss drauf gehen, man muss drauf fahren. Also Pflaster mit breiten Fugen oder eben ungebundene Bauweise. Das heißt, dass es auf Splitt verlegt ist und dass Regenwasser vor Ort versickert. ATMO 1 Baustelle in der Stadt SPRECHER drüber Pflastersteine statt Asphalt, das ist eine Form der Teilentsiegelung: Dichte Flächen werden aufgerissen und durch Pflaster oder Rasengitter ersetzt. Der Grund ist weiterhin befestigt, aber er nimmt Regenwasser auf – eine wichtige Bodenfunktion. Und er bietet Gräsern und Blumen Raum für Wurzeln. Vollentsiegelung bedeutet, dass Asphalt und Beton komplett weichen und das Erdreich freigelegt wird. Darauf können dann Sträucher oder Bäume wachsen, es entstehen Grünanlagen oder Parks. ATMO Stadtpark + Musik 2: Und was sagen die Freunde? -  38 Sek SPRECHER drüber Bodenentsiegelung wurde als eine effektive Maßnahme zur Klimaanpassung erkannt, vor allem in dicht bebauten Stadtteilen oder Ortskernen. Pflanzen binden Kohlendioxid und Staub, befeuchten die Luft, sorgen im Sommer für Kühlung. Derzeit herrschen in versiegelten Innenstädten bis zu zehn Grad höhere Temperaturen als im Umland. Und: Grün schlägt zwischen Wohnblocks Frischluftschneisen, steigert die Lebensqualität in Städten die Bewohner erleben, wie die Jahreszeiten wechseln. (Musik weg) Trotzdem müssen Menschen wie Matthias Rühl noch Überzeugungsarbeit leisten: O-Ton 3 Matthias Rühl Jeder Baum macht Dreck, heißt es immer. Dann sage ich: Ein Auto macht eher Dreck. Also ein Baum lebt ja, das ist ein Lebewesen wie wir auch. Er ist nur nicht so schnell wie wir. Und natürlich verliert er Blätter. Wir verlieren auch Haare und alles Mögliche. Das verstehen manche Leute nicht. Die Jüngeren glaube ich schon eher. Es gibt halt ein paar ganz Alte, die das noch ganz anders sehen. Da hat man einen Baum eher mit der Motorsäge gepflegt. SPRECHER Auch auf privaten Grundstücken steigern freie Flächen den Wert. Das ist besonders bei Altstadtsanierungen wichtig. Matthias Rühl spricht von „Aufräumen“: O-Ton 4 Matthias Rühl Das spielt eine große Rolle, weil der Altstadtkern ohnehin sehr stark überbaut ist. Im Laufe der letzten Jahrhunderte, muss man schon sagen, sind halt viele Anbauten entstanden und Nebengebäude und Garagen und alles Mögliche. Und wenn man jetzt in diesen Ortskern wieder Leben reinbringen möchte, in leerstehende Gebäude zum Beispiel, den Bestand weiter zu nutzen, zu verändern, das muss natürlich modernisiert werden. Das sind teilweise Häuser, wo vielleicht seit 80 oder 100 Jahren nichts gemacht wurde. Aber die Freiflächen muss man genauso betrachten, weil sonst braucht man ja das Haus gar nicht sanieren. Es ist Lebensnotwendigkeit, denn wenn Sie irgendwo wohnen wollen, dann brauchen Sie auch Freiflächen. Wenn Sie diese grünen Freiflächen nicht haben, ist es unattraktiv. ATMO Dorfstille SPRECHER drüber Auf dem Land, in Dörfern, wo die Jüngeren weggezogen sind, ist das Problem ähnlich:  O-Ton 5 Matthias Rühl Wo früher Landwirtschaft war, da gab es Ställe, da gibt es Scheunen, da gibt es irgendwelche Maschinenhallen, die jetzt aber nicht mehr in Gebrauch sind. Und manches kann man eben nicht mehr umnutzen. Einen alten Schweinestall werde ich schwer zu einer Wohnnutzung umfunktionieren können. Da muss halt mal was abgebrochen werden. Und dann muss ich aber auch ein Konzept haben: Was mache ich mit dieser Fläche? ATMO Baustelle   SPRECHER drüber  Neuer Wohnraum ist die erste Option. Deutschland braucht Wohnungen und eine Bebauung bringt dem Eigentümer oder der Eigentümerin Geld. Letztlich braucht es Überzeugung, um sich gegen ein Gebäude und für eine Wiese, einen Garten oder einen Park zu entscheiden. Man muss den Wert von Freiraum erkennen.   MUSIK 3: Und was sagen die Freunde? – siehe vorne – 31 Sek SPRECHER drüber  Theoretisch wird Entsiegelung in Deutschland gefördert, und zwar in mehreren Gesetzen: Im Paragrafen 179 des Baugesetzes steht ein „Rückbau- und Entsiegelungsgebot“:   Eine Gemeinde kann einen Eigentümer dazu verpflichten, den Abriss oder Teilabriss eines Gebäudes zu dulden, wenn dieses …  MUSIK 1 weg  ZITATORIN „… den Festsetzungen eines Bebauungsplans nicht entspricht und ihnen nicht angepasst werden kann oder Missstände oder Mängel aufweist, die auch durch eine Modernisierung oder Instandsetzung nicht behoben werden können“.  SPRECHER  Leere Garagen, Kasernen, Fabrikanlagen …. Ställe, Verkaufsräume, Lagerhallen – könnten also alle weg. Und im Bundesbodenschutzgesetz aus dem Jahr 1999 besagt der Paragraf fünf, dass … ZITATORIN „Die Bundesregierung per Rechtsverordnung und mit Zustimmung des Bundesrates Grundstückseigentümer dazu verpflichten kann, bei dauerhaft nicht mehr genutzten Flächen, deren Versiegelung im Widerspruch zu planungsrechtlichen Festsetzungen steht, den Boden so weit wie möglich und zumutbar wiederherzustellen“.  MUSIK 4: Aufbruch – xxx – 59 Sek SPRECHER drüber  Die beiden Paragrafen wurden allerdings nach Recherchen von Juliane Albrecht kaum angewandt. Albrecht ist Juristin und arbeitet am Leibniz-Institut für ökologische Raumentwicklung in Dresden. Sie nennt sie „nicht vollzugstauglich“. Sie fordert, dass das Baugesetz und das Bodenschutzgesetz überarbeitet werden. Sprich: Sie müssen an die heutigen, drastischen Umwelt-Herausforderungen angepasst werden – und hier hat Entsiegelung eine große Bedeutung.  MUSIK  hoch  SPRECHER drüber  Auch auf öffentlichem Grund wird Entsiegelung gefördert, hier wird sie auch öfter umgesetzt. Die Kommunen bekommen Subventionen, wenn sie Grünflächen schaffen, das steht in den Städtebauförderungsrichtlinien. Und die „Baunutzungsverordnung“ setzt  Gemeinden Obergrenzen für Bebauung und Versiegelung . Dazu kommt die sogenannte „Eingriffsregelung“ im Naturschutzgesetz aus den 1970er Jahren:  O-TON 6 Juliane Albrecht Das wichtigste Instrument in der Praxis ist eigentlich die Naturschutzrechtliche Eingriffsregelung. Diese ist im Bundesnaturschutzgesetz verankert und besagt letztlich, dass wenn man in Natur und Landschaft eingreift, zum Beispiel eine Straße neu baut oder eine andere bauliche Anlage errichtet und in den Naturhaushalt eingreift, dass man dann eine Kompensation erbringen muss. Und diese Kompensation, die kann eben durchaus auch in Form von Entsiegelungsmaßnahmen erbracht werden. Musik 5: Detached –1:50 Min SPRECHER Juliane Albrecht hat im Jahr 2022 mit anderen Fachleuten im Auftrag des Bundesumweltamtes einen Forschungsbericht erstellt. Er heißt „Bessere Nutzung von Entsiegelungspotenzialen zur Wiederherstellung von Bodenfunktionen und zur Klimaanpassung“ und soll politische Entscheidungen erleichtern – für mehr Entsiegelung. In der Praxis wird zum Ausgleich von neu verbrauchtem, also verbautem Boden, auch tatsächlich immer wieder an anderer Stelle Boden entsiegelt. Das Problem: Es gibt zu wenig Grundstücke, die zur Entsiegelung taugen. Und: Die Ausgleichsvorschrift ist nicht zwingend. Derzeit muss man lediglich „verstärkt prüfen“, ob ausgleichende Entsiegelungen möglich sind. Außerdem ist Kompensieren ein Deal, bei dem die Natur draufzahlt. Denn Bodenversiegelung heißt, fruchtbare Erde luft- und wasserdicht abzudecken. Das führt zum Verlust aller physikalischen, chemischen und biologischen Bodenfunktionen und ist erstmal irreversibel. Boden ist ein komplexes Ökosystem, das aus Bakterien, Pilzen, Tieren, Wurzeln, Steinen, Erde und organischen Resten besteht. Er spielt eine zentrale Rolle im Naturhaushalt, vor allem für die Wasser- und Nährstoffkreisläufe. Der Mensch kann diesen Naturzustand nicht einfach wiederherstellen, er muss sich über Jahrhunderte wieder von selbst bilden. Ist es also sinnvoll, hier fruchtbare Erde unter Asphalt oder Zement zu begraben, für eine Wohnsiedlung, einen Straßenausbau oder einen Gewerbepark, und dort überbauten und verdichteten, also toten Boden, freizulegen?  ATMO Wiese, Vögel, Insekten SPRECHER Natürlicher Boden wächst in unseren Breiten einen Millimeter pro Jahr. Das heißt: ein Meter Boden entsteht in etwa tausend Jahren.  Der fruchtbare Mutterboden und der Unterboden eines Ackers sind also mehrere tausend Jahre alt. ATMO Baustelle SPRECHER drüber Jeden Tag werden in Deutschland durchschnittlich 55 Hektar neu versiegelt. Es war aber mal schlimmer: Im Jahr 2000 waren es noch 129 Hektar pro Tag. Das zeigt, dass es ein Problembewusstsein gibt. ATMO 1 weg Bis 2030 sollen weniger als 30 Hektar am Tag neu in Anspruch genommen werden, und bis 2050 strebt die Bundesregierung in ihrer Nationalen Nachhaltigkeitsstrategie sogar eine „Netto Null“-Versiegelung an. Die zugrunde liegende Erkenntnis lautet: Boden ist ein endliches Gut. Das heißt: Auch bei kompletter Entsiegelung, Sanierung und Wiederherstellung einiger Funktionen wird aus Boden, der von Asphalt und Beton „befreit“ ist, kein gesunder, fruchtbarer Boden.  MUSIK 6: Fragile life – 1:17 Min SPRECHER drüber Der Naturzustand ist also kurz- und mittelfristig unerreichbar. Trotzdem ist Bodenentsiegelung sinnvoll und notwendig, denn eine der Bodenfunktionen, die physikalische, ist relativ schnell wieder hergestellt: Die Wasserbindung. Schwieriger wird es bei den chemischen Funktionen, der Speicherung von Nährstoffen zum Beispiel für gesundes Pflanzenwachstum. Die findet im Mutterboden statt, der nach der Entsiegelung schichtweise neu aufgetragen werden muss.  MUSIK 2 hoch  SPRECHER drüber Bodenlebewesen schließlich, wie Regenwürmer, Tausendfüßler, Asseln oder Milben erfüllen enorm wichtige biologische Funktionen. Sie zersetzen Biomasse, also abgestorbenes organisches Material wie Laub oder tote Tiere. Dabei entstehen Nährstoffe für Pflanzen, die mit ihren mehr oder weniger tiefen Wurzeln den Boden durchlüften und auflockern. Viele Pflanzen dienen uns als Nahrung. Ohne lebendige Böden gäbe es also auch uns nicht. Sie sind wortwörtlich unsere Lebensgrundlage.   Was muss sich ändern, damit mehr Boden freigelegt wird? O-TON 7 Juliane Albrecht Man braucht Entsiegelungskataster, dass man überhaupt erst einmal die Information auch hat, wo Flächen sind, die in Betracht kommen. Man braucht aber auch für die Behörden, von oben sage ich mal, eine Rückendeckung. Man braucht Vollzugshinweise. Ist natürlich, wenn man so diese Regelung anwendet und auch gar keine Rechtsprechung hat, keine Rechtssicherheit, dann fürchten Sie ja teilweise dann natürlich auch die Auseinandersetzung mit den Bürgern. Es kann zu Gerichtsverhandlungen kommen. Also da ist meines Erachtens wirklich so eine strategische Herangehensweise erforderlich. SPRECHER   Es fehlen eine Strategie und eine klare Rechtslage, das ist Juliane Albrechts Erkenntnis. Das Naturschutzgesetz aus den 1970er Jahren wird immer wieder überarbeitet, mit Handlungsempfehlungen und neuen Berechnungsschlüsseln zum Flächenausgleich. In Berlin beispielsweise soll der Abriss von mehrstöckigen Gebäuden als Ausgleichsmaßnahme besonders berücksichtigt werden, weil dabei große Lücken im Stadtbild entstehen, die die Luftzirkulation verbessern und also der Klimaanpassung dienen.     MUSIK 7: Und was sagen die Freunde? – siehe vorn – 31 Sek  SPRECHER drüber  Im Koalitionspapier der Bundesregierung ist zumindest eine Handlungsabsicht verankert: Darin steht, dass das Bodenschutzrecht von 1999 angepasst werden soll, an die Artenvielfaltskrise und die Klimakrise. Und dass Entsiegelung einen neuen Stellenwert bekommen soll. Und im neuen Klimaanpassungsgesetz von November 2023 ist Entsiegelung Teil der Lösung:  ZITATORIN „Träger öffentlicher Aufgaben sollen darauf hinwirken, dass versiegelte Böden, deren Versiegelung dauerhaft nicht mehr für deren Nutzung notwendig ist, in den natürlichen Bodenfunktionen, soweit dies erforderlich und zumutbar ist, wiederhergestellt und entsiegelt werden.“ Beides kann man als Ergebnis des Forschungsberichts zum Entsiegelungspotenzial deutscher Böden werten.  MUSIK 8: „Und was sagen die Freunde?“ – s.o. – 7 Sek O-TON 8 Nadine Pannicke-Prochnow Insgesamt habe ich den Eindruck, dass seit der Veröffentlichung der Studie das Thema Entsiegelung schon mehr ins gesellschaftliche und auch ins politische Bewusstsein gerückt ist. Wir brauchen hier auch ein Umdenken. Es ist tatsächlich auch zu beobachten, dass sich zunehmend mehr Kommunen mit dem Thema beschäftigen und geeignete Flächen und Maßnahmen identifizieren, vor allem auch im Hinblick auf eine wassersensible Stadtentwicklung und zur Umsetzung des Schwammstadtprinzips, was ja auch viel wieder in Richtung Klimaanpassung leisten und beitragen kann.  SPRECHER  Nadine Pannicke-Prochnow (sprich: Pánnicke-Prochnoff) hat das Expertenteam geleitet, das im Auftrag des Bundesumweltamtes 2022 die Studie erstellt hat. Die Geo- und Agrarwissenschaftlerin arbeitet heute am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung in Leipzig. Die Arbeit war für sie ernüchternd und lehrreich, auch, weil das Thema erstmals so umfassend behandelt wurde:  O-TON 9 Nadine Pannicke-Prochnow Es war definitiv Neuland für mich. Ich habe festgestellt, dass die Flächen für Entsiegelungsmaßnahmen eben sehr knapp sind, also nur circa ein halbes bis ein Prozent der Flächen in unseren deutschen Städten können für Vollentsiegelungsmaßnahmen genutzt werden. Gerade weil diese Möglichkeiten eben wirklich sehr knapp sind, ist es umso wichtiger, diese wenigen Gelegenheiten dann eben auch zu nutzen.  SPRECHER Doch wie nutzt man die wenigen Flächen am besten? Zum Beispiel auch durch unspektakuläre Teilentsiegelung kleiner Flächen, auch auf dem eigenen Grundstück: O-TON 10 Nadine Pannicke-Prochnow Im Endeffekt sollten wir uns einfach bei jeder versiegelten Fläche fragen, ob die Versiegelung, so wie sie vorhanden ist, wirklich notwendig ist oder ob sie so umgestaltet werden kann, dass die Auswirkungen der Versiegelung reduziert werden. Wenn kleinere Teilflächen zum Beispiel in den Innenhöfen entsiegelt und bepflanzt werden oder der Belag ausgetauscht wird. Und teilweise sind eben Teilentsiegelungsmaßnahmen auch wirklich kostengünstiger, was das Ganze dann eben auch für private Flächen Eigentümerinnen und Eigentümer auch attraktiver macht. Also das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile.  Musik 9: Indetectable - 1:28 Min SPRECHER drüber  Boden im großen Stil freizulegen ist dagegen enorm aufwändig: Die Stadt Berlin empfiehlt beispielsweise Folgendes: Neue Erde muss entsprechend der natürlichen Bodenschichten aufgetragen werden. Das Bodenmaterial sollte nicht durcheinandergeraten und der Hauptbodenart vor Ort entsprechen. Das Ganze sollte bei trockener Witterung und in möglichst wenigen Schritten passieren, und vor allem nicht unter Einsatz schwerer Maschinen, die den Boden verdichten. Empfohlen werden Kettenfahrzeuge mit großer Lauffläche. Dann müssen Nährstoffe zugefügt und Pflanzen eingesetzt werden, die mit ihren Wurzeln den Boden festigen und durchlüften und organisches Material zum Humusaufbau liefern. Bei unterkellerten Gebäuden ist der Aufwand noch viel größer: Da überhaupt kein Boden mehr da ist, muss auf Kies und Stein meterhoch Erde aufgetragen werden, wenn dort wieder etwas leben und wachsen soll. Dazu kommt: Die Entsorgung der Baumaterialien – Beton, Ziegel, Mörtel, Fliesen, Glas, Holz, Metall, Gips und Dämmmaterialien – ist teurer, als ein Gebäude einfach stehen zu lassen. Und wer weiß schon, was unter der abgetragenen Fläche ist? Bauschutt, Unrat, Kies … im schlimmsten Fall: Altlasten. O-TON 11 Nadine Pannicke-Prochnow Gerade bei alten Gewerbe- und Industriestandorten haben wir teilweise Kontaminationen im Boden, die da teilweise noch schlummern. Also seien es eben Schwermetallrückstände oder Rückstände von Mineralölen, die irgendwo ausgelaufen sind und dort eben im Boden lagern. Dass das Ganze, dass diese Schadstoffe im Endeffekt ausgespült werden, im Grundwasser landen und sich dann dort eben auch großflächiger verteilen, das wollen wir natürlich verhindern. Also sprich, wenn wir die diese Sperrschicht für den Niederschlag entfernen, dann müssen wir eben auch mögliche Schadstoffe, die sich da im Boden befinden, mit entfernen. SPRECHER Sind die Flächen freigelegt, können sie mehrfach genutzt werden. Nadine Pannicke-Prochnow bietet kreative Lösungen an: O-TON 12 Nadine Pannicke-Prochnow Da gibt es zum Beispiel Möglichkeiten, dass man Sportflächen oder Freizeitflächen schafft, die dann aber im Fall von Starkregenereignissen auch als Flächen genutzt werden können, um eben diese Wassermassen erst einmal zwischenzuspeichern und aufzufangen. Oder inwiefern gibt es die Möglichkeit, dass wir diese Grünflächen in den Wohngebieten, die wir dort schaffen wollen, auch für eine regionale Produktion und Wertschöpfung nutzen können? Also sprich, inwiefern kann man hier die essbare Stadt zum Beispiel schaffen? Oder inwiefern können wir hier kleine Streuobstwiesen schaffen? Und für diese multifunktionalen Flächennutzungsansätze, denke ich, haben wir definitiv Luft nach oben. SPRECHER  Entsiegelung bringt Mehrwert. Aber sie ist keine Zauberlösung. Deswegen rät Nadine Pannicke-Prochnow zu einem ganz neuen Umgang mit dem „endlichen Gut“ Boden:  O-TON 13 Nadine Pannicke-Prochnow Also langfristig ist es hier schlauer, eine Flächenkreislaufwirtschaft zu etablieren, also das heißt vorhandene Flächen und Gebäude so lange und so oft wieder zu nutzen, wie es geht. In vielen Fällen bedeutet das ein Umbauen oder Umgestalten von Gebäuden und Flächen, um sie den neuen Anforderungen anzupassen. Unterm Strich ist es also ökologisch und volkswirtschaftlich nachhaltiger, den vorhandenen Bestand an gebauter Umwelt so gut wie möglich weiter und wieder zu nutzen. Das spart nicht nur Ressourcen und Kosten für die Gesellschaft, sondern reduziert eben auch die Notwendigkeit für neue Flächeninanspruchnahmen und neue Versiegelungen. Musik 10: Fragile life – siehe oben – 22 Sek SPRECHER  Boden ist Lebensgrundlage. Er leistet zentrale Dienste im Naturhaushalt. Er ist ein komplexes Gefüge, das leicht zerstört werden kann. Und Boden ist erschöpflich und definitiv kein Konsumgut.  O-TON 14 Nadine Pannicke-Prochnow Wir sollten besser mit dem auskommen und haushalten, was wir bereits haben, anstatt immer wieder neu zu beanspruchen, und auf der anderen Seite gleichzeitig gebrauchte Gebäude ungenutzt verfallen zu lassen und dann am Ende zu entsorgen. MUSIK 11: Indetectable – siehe oben – 52 Sek SPRECHER drüber  Die ideale Zukunftsstadt ist also einerseits grüner und offener, zugleich werden bestehende Gebäude intensiver genutzt, um den Verbrauch von fruchtbarem Boden im Umland zu vermeiden. Was fehlt, sind eine Strategie und eine klare Rechtslage, die den Weg dahin weisen und erleichtern. Und ein Umdenken, das die Erkenntnis bringt, dass Boden ein endliches Gut ist, dessen Naturzustand durch Verbauung verloren geht. Entsiegelung ist wichtig, aber sie löst nicht alle Probleme. Den Schaden, den Versiegelung anrichtet, kann sie nur zum Teil und unter großem Aufwand beheben.
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Dec 5, 2024 • 21min

Fetischismus - Der Reiz der Gegenstände

Der Fetisch: In der Ethnologie ein Gegenstand, dem magische Kraft zugeschrieben wird. In der Psychologie wird der Begriff Fetischismus verwendet bei sexuellen Vorlieben für bestimmte Objekte, Materialien oder Körperteile. Therapiebedürftig oder einfach eine besondere Spielart menschlicher Sexualität? Von Frank HalbachCredits Autorin dieser Folge: Frank Halbach Regie: Martin Trauner Es sprachen: Christoph Jablonka, Sophie RogallRedaktion: Bernhard Kastner Im Interview: Prof. Dr. Victor Blüml, Facharzt für Psychiatrie, Psychotherapeutische Medizin und Psychoanalytiker; Stefanie Grohmann, Paar- und Sexualtherapeutin Diese hörenswerten Folgen von Radiowissen könnten Sie auch interessieren: Asexualität - Keine Lust auf die Lust?  HIER Das Kamasutra - Leitfaden für Liebe, Eroitk und Lebensweise  HIER  Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion: Wie wir ticken - Euer Psychologie Podcast Wie gewinne ich die Kraft der Zuversicht? Warum ist es gesund, dankbar zu sein? Der neue Psychologie Podcast von SWR2 Wissen und Bayern 2 Radiowissen gibt Euch Antworten. Wissenschaftlich fundiert und lebensnach nimmt Euch "Wie wir ticken" mit in die Welt der Psychologie. Konstruktiv und auf den Punkt. Immer mittwochs, exklusiv in der ARD Audiothek und freitags überall, wo ihr sonst eure Podcasts hört. ZUM PODCAST Literatur: Victor Blüml, Matthias Schmidt (Hg.): Sigmund Schriften zum Fetischismus, Wien 2025.Hartmut Böhme: Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne, Reinbek 2006.Hartmut Böhme: Fetischismus und Sexualität. Auf dem Weg zu einem metapsychologischen Konzept. Binet, Krafft-Ebing, Freud. In: Johannes Cremerius, Gottfried Fischer, Ortrud Gutjahr (Hg.): Kulturtheorie, Würzburg 2005 Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Radiowissen finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Radiowissen JETZT ENTDECKEN Das vollständige Manuskript gibt es HIER.  

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