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Dec 5, 2024 • 23min

Bodenentsiegelung - Wenn Asphalt und Beton weichen

Bodenentsiegelung macht Städte grüner und hilft, dass wertvolles Regenwasser versickern kann. Doch die Zauberlösung gegen Flächenfraß ist sie nicht. Denn ein von Beton und Zement befreiter Boden braucht Jahrhunderte, um all seine natürlichen Funktionen wieder zu erlangen. Von Brigitte Kramer Credits Autorin dieser Folge: Brigitte Kramer Regie: Kirsten Böttcher Es sprachen: Werner Härtl, Gudrun Skupin Technik: Matthieu Belohradsky Redaktion: Bernhard Kastner Im Interview:Nadine Pannicke-Prochnow, Geo-und Agrarwissenschaftlerin, Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung, LeipzigJuliane Albrecht, Juristin, Leibniz-Institut für ökologische Raumentwicklung (IÖR), DresdenMatthias Rühl, Ingenieur und Raumplaner, Sugenheim/Mittelfranken  Diese hörenswerten Folgen von Radiowissen könnten Sie auch interessieren: Beton - Fasern, Poren, BakterienJETZT ENTDECKEN Die Geschichte der Stadt - Urbanes Leben als Motor der GesellschaftJETZT ENTDECKEN Sand - Überall vorhanden und doch zu knappJETZT ENTDECKEN Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion: Wie wir ticken - Euer Psychologie Podcast Wie gewinne ich die Kraft der Zuversicht? Warum ist es gesund, dankbar zu sein? Der neue Psychologie Podcast von SWR2 Wissen und Bayern 2 radioWissen gibt Euch Antworten. Wissenschaftlich fundiert und lebensnah nimmt Euch „Wie wir ticken“ mit in die Welt der Psychologie. Konstruktiv und auf den Punkt. Immer mittwochs, exklusiv in der ARD Audiothek. ZUM PODCAST Literatur:Studie des Umweltbundesamtes „Bessere Nutzung von Entsiegelungspotenzialen zur Wiederherstellung von Bodenfunktionen und zur Klimaanpassung“: ZUR HOMEPAGE Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. RadioWissen finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | RadioWissen JETZT ENTDECKEN Das vollständige Manuskript gibt es HIER. Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: O-Ton 1 Matthias Rühl Wir haben die Bewerbung von Ipsheim damit begründet, dass wir gesagt haben, Ipsheim ist ein Asphaltsee. Das war wirklich so, dass alle Flächen im Ort komplett asphaltiert waren, also versiegelt waren. SPRECHER Der Raumplaner Matthias Rühl betreut seit mehr als 25 Jahren die Gemeinde Ipsheim in Mittelfranken, sowie rund zehn andere Orte in der Region. Er berät die Gemeinderäte in Sachen nachhaltige Städtebauförderung. Matthias Rühl setzt sich für mehr Grün in Städten und Dörfern ein.  O-Ton 2 Matthias Rühl Bei jeder Maßnahme, die wir gemacht haben, war es eine Entsiegelung. Es ist viel Pflaster gekommen. Natürlich sind wir mitten in einem Ortskern bei den öffentlichen Flächen immer in der Notwendigkeit, dass es ja Verkehrsflächen sind. Man muss drauf gehen, man muss drauf fahren. Also Pflaster mit breiten Fugen oder eben ungebundene Bauweise. Das heißt, dass es auf Splitt verlegt ist und dass Regenwasser vor Ort versickert. ATMO 1 Baustelle in der Stadt SPRECHER drüber Pflastersteine statt Asphalt, das ist eine Form der Teilentsiegelung: Dichte Flächen werden aufgerissen und durch Pflaster oder Rasengitter ersetzt. Der Grund ist weiterhin befestigt, aber er nimmt Regenwasser auf – eine wichtige Bodenfunktion. Und er bietet Gräsern und Blumen Raum für Wurzeln. Vollentsiegelung bedeutet, dass Asphalt und Beton komplett weichen und das Erdreich freigelegt wird. Darauf können dann Sträucher oder Bäume wachsen, es entstehen Grünanlagen oder Parks. ATMO Stadtpark + Musik 2: Und was sagen die Freunde? -  38 Sek SPRECHER drüber Bodenentsiegelung wurde als eine effektive Maßnahme zur Klimaanpassung erkannt, vor allem in dicht bebauten Stadtteilen oder Ortskernen. Pflanzen binden Kohlendioxid und Staub, befeuchten die Luft, sorgen im Sommer für Kühlung. Derzeit herrschen in versiegelten Innenstädten bis zu zehn Grad höhere Temperaturen als im Umland. Und: Grün schlägt zwischen Wohnblocks Frischluftschneisen, steigert die Lebensqualität in Städten die Bewohner erleben, wie die Jahreszeiten wechseln. (Musik weg) Trotzdem müssen Menschen wie Matthias Rühl noch Überzeugungsarbeit leisten: O-Ton 3 Matthias Rühl Jeder Baum macht Dreck, heißt es immer. Dann sage ich: Ein Auto macht eher Dreck. Also ein Baum lebt ja, das ist ein Lebewesen wie wir auch. Er ist nur nicht so schnell wie wir. Und natürlich verliert er Blätter. Wir verlieren auch Haare und alles Mögliche. Das verstehen manche Leute nicht. Die Jüngeren glaube ich schon eher. Es gibt halt ein paar ganz Alte, die das noch ganz anders sehen. Da hat man einen Baum eher mit der Motorsäge gepflegt. SPRECHER Auch auf privaten Grundstücken steigern freie Flächen den Wert. Das ist besonders bei Altstadtsanierungen wichtig. Matthias Rühl spricht von „Aufräumen“: O-Ton 4 Matthias Rühl Das spielt eine große Rolle, weil der Altstadtkern ohnehin sehr stark überbaut ist. Im Laufe der letzten Jahrhunderte, muss man schon sagen, sind halt viele Anbauten entstanden und Nebengebäude und Garagen und alles Mögliche. Und wenn man jetzt in diesen Ortskern wieder Leben reinbringen möchte, in leerstehende Gebäude zum Beispiel, den Bestand weiter zu nutzen, zu verändern, das muss natürlich modernisiert werden. Das sind teilweise Häuser, wo vielleicht seit 80 oder 100 Jahren nichts gemacht wurde. Aber die Freiflächen muss man genauso betrachten, weil sonst braucht man ja das Haus gar nicht sanieren. Es ist Lebensnotwendigkeit, denn wenn Sie irgendwo wohnen wollen, dann brauchen Sie auch Freiflächen. Wenn Sie diese grünen Freiflächen nicht haben, ist es unattraktiv. ATMO Dorfstille SPRECHER drüber Auf dem Land, in Dörfern, wo die Jüngeren weggezogen sind, ist das Problem ähnlich:  O-Ton 5 Matthias Rühl Wo früher Landwirtschaft war, da gab es Ställe, da gibt es Scheunen, da gibt es irgendwelche Maschinenhallen, die jetzt aber nicht mehr in Gebrauch sind. Und manches kann man eben nicht mehr umnutzen. Einen alten Schweinestall werde ich schwer zu einer Wohnnutzung umfunktionieren können. Da muss halt mal was abgebrochen werden. Und dann muss ich aber auch ein Konzept haben: Was mache ich mit dieser Fläche? ATMO Baustelle   SPRECHER drüber  Neuer Wohnraum ist die erste Option. Deutschland braucht Wohnungen und eine Bebauung bringt dem Eigentümer oder der Eigentümerin Geld. Letztlich braucht es Überzeugung, um sich gegen ein Gebäude und für eine Wiese, einen Garten oder einen Park zu entscheiden. Man muss den Wert von Freiraum erkennen.   MUSIK 3: Und was sagen die Freunde? – siehe vorne – 31 Sek SPRECHER drüber  Theoretisch wird Entsiegelung in Deutschland gefördert, und zwar in mehreren Gesetzen: Im Paragrafen 179 des Baugesetzes steht ein „Rückbau- und Entsiegelungsgebot“:   Eine Gemeinde kann einen Eigentümer dazu verpflichten, den Abriss oder Teilabriss eines Gebäudes zu dulden, wenn dieses …  MUSIK 1 weg  ZITATORIN „… den Festsetzungen eines Bebauungsplans nicht entspricht und ihnen nicht angepasst werden kann oder Missstände oder Mängel aufweist, die auch durch eine Modernisierung oder Instandsetzung nicht behoben werden können“.  SPRECHER  Leere Garagen, Kasernen, Fabrikanlagen …. Ställe, Verkaufsräume, Lagerhallen – könnten also alle weg. Und im Bundesbodenschutzgesetz aus dem Jahr 1999 besagt der Paragraf fünf, dass … ZITATORIN „Die Bundesregierung per Rechtsverordnung und mit Zustimmung des Bundesrates Grundstückseigentümer dazu verpflichten kann, bei dauerhaft nicht mehr genutzten Flächen, deren Versiegelung im Widerspruch zu planungsrechtlichen Festsetzungen steht, den Boden so weit wie möglich und zumutbar wiederherzustellen“.  MUSIK 4: Aufbruch – xxx – 59 Sek SPRECHER drüber  Die beiden Paragrafen wurden allerdings nach Recherchen von Juliane Albrecht kaum angewandt. Albrecht ist Juristin und arbeitet am Leibniz-Institut für ökologische Raumentwicklung in Dresden. Sie nennt sie „nicht vollzugstauglich“. Sie fordert, dass das Baugesetz und das Bodenschutzgesetz überarbeitet werden. Sprich: Sie müssen an die heutigen, drastischen Umwelt-Herausforderungen angepasst werden – und hier hat Entsiegelung eine große Bedeutung.  MUSIK  hoch  SPRECHER drüber  Auch auf öffentlichem Grund wird Entsiegelung gefördert, hier wird sie auch öfter umgesetzt. Die Kommunen bekommen Subventionen, wenn sie Grünflächen schaffen, das steht in den Städtebauförderungsrichtlinien. Und die „Baunutzungsverordnung“ setzt  Gemeinden Obergrenzen für Bebauung und Versiegelung . Dazu kommt die sogenannte „Eingriffsregelung“ im Naturschutzgesetz aus den 1970er Jahren:  O-TON 6 Juliane Albrecht Das wichtigste Instrument in der Praxis ist eigentlich die Naturschutzrechtliche Eingriffsregelung. Diese ist im Bundesnaturschutzgesetz verankert und besagt letztlich, dass wenn man in Natur und Landschaft eingreift, zum Beispiel eine Straße neu baut oder eine andere bauliche Anlage errichtet und in den Naturhaushalt eingreift, dass man dann eine Kompensation erbringen muss. Und diese Kompensation, die kann eben durchaus auch in Form von Entsiegelungsmaßnahmen erbracht werden. Musik 5: Detached –1:50 Min SPRECHER Juliane Albrecht hat im Jahr 2022 mit anderen Fachleuten im Auftrag des Bundesumweltamtes einen Forschungsbericht erstellt. Er heißt „Bessere Nutzung von Entsiegelungspotenzialen zur Wiederherstellung von Bodenfunktionen und zur Klimaanpassung“ und soll politische Entscheidungen erleichtern – für mehr Entsiegelung. In der Praxis wird zum Ausgleich von neu verbrauchtem, also verbautem Boden, auch tatsächlich immer wieder an anderer Stelle Boden entsiegelt. Das Problem: Es gibt zu wenig Grundstücke, die zur Entsiegelung taugen. Und: Die Ausgleichsvorschrift ist nicht zwingend. Derzeit muss man lediglich „verstärkt prüfen“, ob ausgleichende Entsiegelungen möglich sind. Außerdem ist Kompensieren ein Deal, bei dem die Natur draufzahlt. Denn Bodenversiegelung heißt, fruchtbare Erde luft- und wasserdicht abzudecken. Das führt zum Verlust aller physikalischen, chemischen und biologischen Bodenfunktionen und ist erstmal irreversibel. Boden ist ein komplexes Ökosystem, das aus Bakterien, Pilzen, Tieren, Wurzeln, Steinen, Erde und organischen Resten besteht. Er spielt eine zentrale Rolle im Naturhaushalt, vor allem für die Wasser- und Nährstoffkreisläufe. Der Mensch kann diesen Naturzustand nicht einfach wiederherstellen, er muss sich über Jahrhunderte wieder von selbst bilden. Ist es also sinnvoll, hier fruchtbare Erde unter Asphalt oder Zement zu begraben, für eine Wohnsiedlung, einen Straßenausbau oder einen Gewerbepark, und dort überbauten und verdichteten, also toten Boden, freizulegen?  ATMO Wiese, Vögel, Insekten SPRECHER Natürlicher Boden wächst in unseren Breiten einen Millimeter pro Jahr. Das heißt: ein Meter Boden entsteht in etwa tausend Jahren.  Der fruchtbare Mutterboden und der Unterboden eines Ackers sind also mehrere tausend Jahre alt. ATMO Baustelle SPRECHER drüber Jeden Tag werden in Deutschland durchschnittlich 55 Hektar neu versiegelt. Es war aber mal schlimmer: Im Jahr 2000 waren es noch 129 Hektar pro Tag. Das zeigt, dass es ein Problembewusstsein gibt. ATMO 1 weg Bis 2030 sollen weniger als 30 Hektar am Tag neu in Anspruch genommen werden, und bis 2050 strebt die Bundesregierung in ihrer Nationalen Nachhaltigkeitsstrategie sogar eine „Netto Null“-Versiegelung an. Die zugrunde liegende Erkenntnis lautet: Boden ist ein endliches Gut. Das heißt: Auch bei kompletter Entsiegelung, Sanierung und Wiederherstellung einiger Funktionen wird aus Boden, der von Asphalt und Beton „befreit“ ist, kein gesunder, fruchtbarer Boden.  MUSIK 6: Fragile life – 1:17 Min SPRECHER drüber Der Naturzustand ist also kurz- und mittelfristig unerreichbar. Trotzdem ist Bodenentsiegelung sinnvoll und notwendig, denn eine der Bodenfunktionen, die physikalische, ist relativ schnell wieder hergestellt: Die Wasserbindung. Schwieriger wird es bei den chemischen Funktionen, der Speicherung von Nährstoffen zum Beispiel für gesundes Pflanzenwachstum. Die findet im Mutterboden statt, der nach der Entsiegelung schichtweise neu aufgetragen werden muss.  MUSIK 2 hoch  SPRECHER drüber Bodenlebewesen schließlich, wie Regenwürmer, Tausendfüßler, Asseln oder Milben erfüllen enorm wichtige biologische Funktionen. Sie zersetzen Biomasse, also abgestorbenes organisches Material wie Laub oder tote Tiere. Dabei entstehen Nährstoffe für Pflanzen, die mit ihren mehr oder weniger tiefen Wurzeln den Boden durchlüften und auflockern. Viele Pflanzen dienen uns als Nahrung. Ohne lebendige Böden gäbe es also auch uns nicht. Sie sind wortwörtlich unsere Lebensgrundlage.   Was muss sich ändern, damit mehr Boden freigelegt wird? O-TON 7 Juliane Albrecht Man braucht Entsiegelungskataster, dass man überhaupt erst einmal die Information auch hat, wo Flächen sind, die in Betracht kommen. Man braucht aber auch für die Behörden, von oben sage ich mal, eine Rückendeckung. Man braucht Vollzugshinweise. Ist natürlich, wenn man so diese Regelung anwendet und auch gar keine Rechtsprechung hat, keine Rechtssicherheit, dann fürchten Sie ja teilweise dann natürlich auch die Auseinandersetzung mit den Bürgern. Es kann zu Gerichtsverhandlungen kommen. Also da ist meines Erachtens wirklich so eine strategische Herangehensweise erforderlich. SPRECHER   Es fehlen eine Strategie und eine klare Rechtslage, das ist Juliane Albrechts Erkenntnis. Das Naturschutzgesetz aus den 1970er Jahren wird immer wieder überarbeitet, mit Handlungsempfehlungen und neuen Berechnungsschlüsseln zum Flächenausgleich. In Berlin beispielsweise soll der Abriss von mehrstöckigen Gebäuden als Ausgleichsmaßnahme besonders berücksichtigt werden, weil dabei große Lücken im Stadtbild entstehen, die die Luftzirkulation verbessern und also der Klimaanpassung dienen.     MUSIK 7: Und was sagen die Freunde? – siehe vorn – 31 Sek  SPRECHER drüber  Im Koalitionspapier der Bundesregierung ist zumindest eine Handlungsabsicht verankert: Darin steht, dass das Bodenschutzrecht von 1999 angepasst werden soll, an die Artenvielfaltskrise und die Klimakrise. Und dass Entsiegelung einen neuen Stellenwert bekommen soll. Und im neuen Klimaanpassungsgesetz von November 2023 ist Entsiegelung Teil der Lösung:  ZITATORIN „Träger öffentlicher Aufgaben sollen darauf hinwirken, dass versiegelte Böden, deren Versiegelung dauerhaft nicht mehr für deren Nutzung notwendig ist, in den natürlichen Bodenfunktionen, soweit dies erforderlich und zumutbar ist, wiederhergestellt und entsiegelt werden.“ Beides kann man als Ergebnis des Forschungsberichts zum Entsiegelungspotenzial deutscher Böden werten.  MUSIK 8: „Und was sagen die Freunde?“ – s.o. – 7 Sek O-TON 8 Nadine Pannicke-Prochnow Insgesamt habe ich den Eindruck, dass seit der Veröffentlichung der Studie das Thema Entsiegelung schon mehr ins gesellschaftliche und auch ins politische Bewusstsein gerückt ist. Wir brauchen hier auch ein Umdenken. Es ist tatsächlich auch zu beobachten, dass sich zunehmend mehr Kommunen mit dem Thema beschäftigen und geeignete Flächen und Maßnahmen identifizieren, vor allem auch im Hinblick auf eine wassersensible Stadtentwicklung und zur Umsetzung des Schwammstadtprinzips, was ja auch viel wieder in Richtung Klimaanpassung leisten und beitragen kann.  SPRECHER  Nadine Pannicke-Prochnow (sprich: Pánnicke-Prochnoff) hat das Expertenteam geleitet, das im Auftrag des Bundesumweltamtes 2022 die Studie erstellt hat. Die Geo- und Agrarwissenschaftlerin arbeitet heute am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung in Leipzig. Die Arbeit war für sie ernüchternd und lehrreich, auch, weil das Thema erstmals so umfassend behandelt wurde:  O-TON 9 Nadine Pannicke-Prochnow Es war definitiv Neuland für mich. Ich habe festgestellt, dass die Flächen für Entsiegelungsmaßnahmen eben sehr knapp sind, also nur circa ein halbes bis ein Prozent der Flächen in unseren deutschen Städten können für Vollentsiegelungsmaßnahmen genutzt werden. Gerade weil diese Möglichkeiten eben wirklich sehr knapp sind, ist es umso wichtiger, diese wenigen Gelegenheiten dann eben auch zu nutzen.  SPRECHER Doch wie nutzt man die wenigen Flächen am besten? Zum Beispiel auch durch unspektakuläre Teilentsiegelung kleiner Flächen, auch auf dem eigenen Grundstück: O-TON 10 Nadine Pannicke-Prochnow Im Endeffekt sollten wir uns einfach bei jeder versiegelten Fläche fragen, ob die Versiegelung, so wie sie vorhanden ist, wirklich notwendig ist oder ob sie so umgestaltet werden kann, dass die Auswirkungen der Versiegelung reduziert werden. Wenn kleinere Teilflächen zum Beispiel in den Innenhöfen entsiegelt und bepflanzt werden oder der Belag ausgetauscht wird. Und teilweise sind eben Teilentsiegelungsmaßnahmen auch wirklich kostengünstiger, was das Ganze dann eben auch für private Flächen Eigentümerinnen und Eigentümer auch attraktiver macht. Also das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile.  Musik 9: Indetectable - 1:28 Min SPRECHER drüber  Boden im großen Stil freizulegen ist dagegen enorm aufwändig: Die Stadt Berlin empfiehlt beispielsweise Folgendes: Neue Erde muss entsprechend der natürlichen Bodenschichten aufgetragen werden. Das Bodenmaterial sollte nicht durcheinandergeraten und der Hauptbodenart vor Ort entsprechen. Das Ganze sollte bei trockener Witterung und in möglichst wenigen Schritten passieren, und vor allem nicht unter Einsatz schwerer Maschinen, die den Boden verdichten. Empfohlen werden Kettenfahrzeuge mit großer Lauffläche. Dann müssen Nährstoffe zugefügt und Pflanzen eingesetzt werden, die mit ihren Wurzeln den Boden festigen und durchlüften und organisches Material zum Humusaufbau liefern. Bei unterkellerten Gebäuden ist der Aufwand noch viel größer: Da überhaupt kein Boden mehr da ist, muss auf Kies und Stein meterhoch Erde aufgetragen werden, wenn dort wieder etwas leben und wachsen soll. Dazu kommt: Die Entsorgung der Baumaterialien – Beton, Ziegel, Mörtel, Fliesen, Glas, Holz, Metall, Gips und Dämmmaterialien – ist teurer, als ein Gebäude einfach stehen zu lassen. Und wer weiß schon, was unter der abgetragenen Fläche ist? Bauschutt, Unrat, Kies … im schlimmsten Fall: Altlasten. O-TON 11 Nadine Pannicke-Prochnow Gerade bei alten Gewerbe- und Industriestandorten haben wir teilweise Kontaminationen im Boden, die da teilweise noch schlummern. Also seien es eben Schwermetallrückstände oder Rückstände von Mineralölen, die irgendwo ausgelaufen sind und dort eben im Boden lagern. Dass das Ganze, dass diese Schadstoffe im Endeffekt ausgespült werden, im Grundwasser landen und sich dann dort eben auch großflächiger verteilen, das wollen wir natürlich verhindern. Also sprich, wenn wir die diese Sperrschicht für den Niederschlag entfernen, dann müssen wir eben auch mögliche Schadstoffe, die sich da im Boden befinden, mit entfernen. SPRECHER Sind die Flächen freigelegt, können sie mehrfach genutzt werden. Nadine Pannicke-Prochnow bietet kreative Lösungen an: O-TON 12 Nadine Pannicke-Prochnow Da gibt es zum Beispiel Möglichkeiten, dass man Sportflächen oder Freizeitflächen schafft, die dann aber im Fall von Starkregenereignissen auch als Flächen genutzt werden können, um eben diese Wassermassen erst einmal zwischenzuspeichern und aufzufangen. Oder inwiefern gibt es die Möglichkeit, dass wir diese Grünflächen in den Wohngebieten, die wir dort schaffen wollen, auch für eine regionale Produktion und Wertschöpfung nutzen können? Also sprich, inwiefern kann man hier die essbare Stadt zum Beispiel schaffen? Oder inwiefern können wir hier kleine Streuobstwiesen schaffen? Und für diese multifunktionalen Flächennutzungsansätze, denke ich, haben wir definitiv Luft nach oben. SPRECHER  Entsiegelung bringt Mehrwert. Aber sie ist keine Zauberlösung. Deswegen rät Nadine Pannicke-Prochnow zu einem ganz neuen Umgang mit dem „endlichen Gut“ Boden:  O-TON 13 Nadine Pannicke-Prochnow Also langfristig ist es hier schlauer, eine Flächenkreislaufwirtschaft zu etablieren, also das heißt vorhandene Flächen und Gebäude so lange und so oft wieder zu nutzen, wie es geht. In vielen Fällen bedeutet das ein Umbauen oder Umgestalten von Gebäuden und Flächen, um sie den neuen Anforderungen anzupassen. Unterm Strich ist es also ökologisch und volkswirtschaftlich nachhaltiger, den vorhandenen Bestand an gebauter Umwelt so gut wie möglich weiter und wieder zu nutzen. Das spart nicht nur Ressourcen und Kosten für die Gesellschaft, sondern reduziert eben auch die Notwendigkeit für neue Flächeninanspruchnahmen und neue Versiegelungen. Musik 10: Fragile life – siehe oben – 22 Sek SPRECHER  Boden ist Lebensgrundlage. Er leistet zentrale Dienste im Naturhaushalt. Er ist ein komplexes Gefüge, das leicht zerstört werden kann. Und Boden ist erschöpflich und definitiv kein Konsumgut.  O-TON 14 Nadine Pannicke-Prochnow Wir sollten besser mit dem auskommen und haushalten, was wir bereits haben, anstatt immer wieder neu zu beanspruchen, und auf der anderen Seite gleichzeitig gebrauchte Gebäude ungenutzt verfallen zu lassen und dann am Ende zu entsorgen. MUSIK 11: Indetectable – siehe oben – 52 Sek SPRECHER drüber  Die ideale Zukunftsstadt ist also einerseits grüner und offener, zugleich werden bestehende Gebäude intensiver genutzt, um den Verbrauch von fruchtbarem Boden im Umland zu vermeiden. Was fehlt, sind eine Strategie und eine klare Rechtslage, die den Weg dahin weisen und erleichtern. Und ein Umdenken, das die Erkenntnis bringt, dass Boden ein endliches Gut ist, dessen Naturzustand durch Verbauung verloren geht. Entsiegelung ist wichtig, aber sie löst nicht alle Probleme. Den Schaden, den Versiegelung anrichtet, kann sie nur zum Teil und unter großem Aufwand beheben.
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Dec 5, 2024 • 21min

Fetischismus - Der Reiz der Gegenstände

Der Fetisch: In der Ethnologie ein Gegenstand, dem magische Kraft zugeschrieben wird. In der Psychologie wird der Begriff Fetischismus verwendet bei sexuellen Vorlieben für bestimmte Objekte, Materialien oder Körperteile. Therapiebedürftig oder einfach eine besondere Spielart menschlicher Sexualität? Von Frank HalbachCredits Autorin dieser Folge: Frank Halbach Regie: Martin Trauner Es sprachen: Christoph Jablonka, Sophie RogallRedaktion: Bernhard Kastner Im Interview: Prof. Dr. Victor Blüml, Facharzt für Psychiatrie, Psychotherapeutische Medizin und Psychoanalytiker; Stefanie Grohmann, Paar- und Sexualtherapeutin Diese hörenswerten Folgen von Radiowissen könnten Sie auch interessieren: Asexualität - Keine Lust auf die Lust?  HIER Das Kamasutra - Leitfaden für Liebe, Eroitk und Lebensweise  HIER  Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion: Wie wir ticken - Euer Psychologie Podcast Wie gewinne ich die Kraft der Zuversicht? Warum ist es gesund, dankbar zu sein? Der neue Psychologie Podcast von SWR2 Wissen und Bayern 2 Radiowissen gibt Euch Antworten. Wissenschaftlich fundiert und lebensnach nimmt Euch "Wie wir ticken" mit in die Welt der Psychologie. Konstruktiv und auf den Punkt. Immer mittwochs, exklusiv in der ARD Audiothek und freitags überall, wo ihr sonst eure Podcasts hört. ZUM PODCAST Literatur: Victor Blüml, Matthias Schmidt (Hg.): Sigmund Schriften zum Fetischismus, Wien 2025.Hartmut Böhme: Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne, Reinbek 2006.Hartmut Böhme: Fetischismus und Sexualität. Auf dem Weg zu einem metapsychologischen Konzept. Binet, Krafft-Ebing, Freud. In: Johannes Cremerius, Gottfried Fischer, Ortrud Gutjahr (Hg.): Kulturtheorie, Würzburg 2005 Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Radiowissen finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Radiowissen JETZT ENTDECKEN Das vollständige Manuskript gibt es HIER.  
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Dec 4, 2024 • 22min

Unter Hochstaplern - Das Impostor Syndrom

Menschen, die am sogenannten Impostor Syndrom leiden, schreiben ihre Erfolge nicht den eigenen Fähigkeiten zu, sondern Faktoren wie Glück, Zufall oder Hilfe von Anderen. Sie glauben, dass andere sie überschätzen würden - und sind deshalb ständig in Sorge, entlarvt zu werden. Von Maike Brzoska (BR 2023) Credits Autorin dieser Folge: Maike Brzoska Regie: Kirsten Böttcher Es sprachen: Susanne Schroeder, Hemma Michel Technik: Christiane Gerheuser-Kamp Redaktion: Susanne Poelchau Das Manuskript zur Folge gibt es HIER. Im Interview:Dr. Michaela Muthig, Buchautorin „Und morgen fliege ich auf“;Dr. Mona Leonhardt, Psychologin an der Frankfurter Goethe-Universität;Dr. Kay Brauer, Psychologe an der Universität Halle-Wittenberg Diese hörenswerte Folge von radioWissen könnte Sie auch interessieren: Selbstwert – Mut zur SchwächeJETZT ANHÖREN Wir empfehlen außerdem eine Folge von Jobstories: Der Coaching-Podcast von BR 24: Angst vor der Arbeit – So bleibst du mental gesundJETZT ANHÖREN Literaturtipps: Michaela Muthig: Und morgen fliege ich auf. Vom Gefühl, den Erfolg nicht verdient zu haben. dtv Verlag. 2021. Sabine Magnet: Und was, wenn alle merken, dass ich gar nichts kann? mvg Verlag. 2018. Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. RadioWissen finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | RadioWissen JETZT ENTDECKEN
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Dec 3, 2024 • 23min

Pflicht zur Hilfsbereitschaft? - Eine Philosophie des Füreinander

Die Hilfsbereitschaft in Krisensituationen wird eindrucksvoll mit einem aktuellen Beispiel nach einem Brand beleuchtet. Spannende Diskussionen über menschliche Natur und den Kampf zwischen Egoismus und Altruismus eröffnen neue Perspektiven. Kants kategorischer Imperativ wird als ethisches Fundament vorgestellt und mit modernen Gesellschaftsfragen verknüpft. Philosophische Überlegungen zu Mitleid und die Herausforderungen altruistischen Handelns werden klar herausgearbeitet. Empathie und persönliche Gespräche schaffen echte menschliche Verbindungen.
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Dec 3, 2024 • 23min

Die Zentralbanken - Big Player der Politik

Zu Gast sind Joscha Wullweber, Politikwissenschaftler und Autor des Begriffs "Zentralbankkapitalismus", Nils Herger, Ökonom mit Fokus auf Zentralbanken, und Leon Wansleben, Soziologe am Max-Planck-Institut. Sie diskutieren die historische Entwicklung der Zentralbanken und deren Rolle bei Krisen. Besonders spannend ist, wie Zentralbanken von Goldbindung zu Schuldenfinanzierung übergegangen sind und welche sozialen Auswirkungen dies hat. Auch die Zusammenarbeit mit Regierungen und die Herausforderung der Inflationsbekämpfung stehen im Mittelpunkt.
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Dec 2, 2024 • 23min

Die glückliche Gesellschaft - Kann man von Finnland lernen?

Viel Natur, viel Platz, viele Saunen. Und dazu eine verantwortungsvolle Politik in Sachen Bildung, Gesundheit, Energie. Es klingt nach einem recht einfachen Rezept, das die Finnen laut Umfragen seit Jahren zum glücklichsten Volk der Welt macht. Dabei ist es dort oft kalt und dunkel. Was können wir von Finnland lernen? Von Bernd-Uwe Gutknecht (BR 2023) Credits Autor dieser Folge: Bernd-Uwe Gutknecht Regie: Frank Halbach Es sprachen: Katja Amberger, Christian Baumann, Diana Gaul, Jerzy May Technik: Mechthild Homburg Redaktion: Iska Schreglmann Das Manuskript zur Folge gibt es HIER. Interviewpartner/innen:Milla Bruneau, Executive Director of Green Lahti;Julia Kykkänen, Profi-Skispringerin;Maaria Alén, Sauna-Heilerin;Ari Yrgölä, Feriendorf Lehmonkärki;Katja Pantzar, Sisu-Expertin, Autorin;Marjo Kyllönen, Head of Education der Stadt Helsinki;Laura Aalto, Executive Director for Culture and Leisure der Stadt Helsinki;Eemeli Hakoköngas, Sozialpsychologe an der Universität Helsinki Diese hörenswerten Folgen von radioWissen könnten Sie auch interessieren: Der Mensch ist ein Tänzer - Vom Glück der BewegungJETZT ANHÖREN Mit eigenen Händen - Vom Glück, etwas zu erschaffenJETZT ANHÖREN Literaturtipps: Katja Pantzar: „Sisu: Der finnische Weg zu Mut, Ausdauer und innerer Stärke“.Die Autorin hat in mehreren Ländern weltweit gelebt und vergleicht die Mentalität der Finnen mit anderen Völkern.  Bernd Gieseking: „Finne dein Glück: Eine Spurensuche im Land der Mitternachtssonne“. Der Autor ist auf jeden Fall Finnland-Fan, beschreibt die glücklichen Finnen auf sehr unterhaltsame Weise. Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. RadioWissen finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | RadioWissen JETZT ENTDECKEN
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Dec 1, 2024 • 23min

Aids - Das (fast) vergessene HI-Virus

Dietmar Schranz, HIV-Schwerpunktarzt in Berlin, erinnert sich an die Anfänge der Aids-Epidemie und die schockierenden gesellschaftlichen Reaktionen. Er berichtet, wie die Krankheit von einem Todesurteil zu einer behandelbaren chronischen Erkrankung wurde. Die bahnbrechende Einführung der Kombinationstherapie aus den 90ern hat das Leben von HIV-Patienten drastisch verbessert. Schranz thematisiert auch die Bedeutung von niederschwelligen HIV-Tests und die fortwährenden Herausforderungen im Gesundheitssystem, besonders im Kontext von Stigmatisierung.
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Nov 28, 2024 • 23min

Ernst Bloch - Denken heißt hoffen

Ernst Bloch ist der Philosoph der Hoffnung. Ein Mensch im Zeitalter der Extreme, den auch im Anblick der Katastrophe das Vertrauen in die Utopie nicht verlässt. Ein Denker, der auch uns das Hoffen lehren kann. Von Jerzy Sobotta (BR 2021)Autor dieser Folge: Jerzy Sobotta Regie: Irene Schuck Es sprachen: Beate Himmelstoß, Andreas Neumann, Stefan Wilkening Technik: Urusula Kirstein Redaktion: Bernhard Kastner Diese hörenswerten Folgen von Radiowissen könnten Sie auch interessieren: "Hoffnung - Die Stille Kraft" Sie stirbt bekanntlich zuletzt: die Hoffnung. Doch zuvor kann sie einiges bewirken, sie kann unerkannte Kräfte mobilisieren, individuelles Leid lindern – aber auch den Blick auf die Welt verändern. HIER Das Manuskript zur Folge gibt es HIER.
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Nov 28, 2024 • 25min

Die Vampirfledermaus - Der soziale Blutsauger

Sind Vampire nur Figuren der Legende? Tatsächlich leben in Südamerika drei Fledermausarten, die sich ausschließlich von Blut ernähren. Ihre Vorliebe bringt diesen Flattertieren - die übrigens gut zu Fuß sind - einige Schwierigkeiten. Von Christiane Seiler Credits Autorin dieser Folge: Christiane Seiler Regie: Kirsten Böttcher Es sprach: Kathrin von Steinburg Technik: Moritz Herrmann Redaktion: Bernhard Kastner Im Interview: Simon Ripperger, Fledermausexperte, Landesamt für Umwelt in Bayern; Sebastian Stockmaier, Verhaltensbiologe in Knoxville, Tennessee; Remigiusz Kozinsky und Olga Polak, Neuer Zoo Poznan Diese hörenswerten Folgen von Radiowissen könnten Sie auch interessieren: Warum Tiere kooperieren - Altruismus im Tierreich  Hier entdecken Der Tanz der Vampiere - Dracula in der Musik  Hier entdecken Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion: Linktipps:Carter Lab: Website des Verhaltensbiologen Gerald Carter von der Ohio State University. Mit regelmäßigen Updates zur Vampirfledermausforschung und diversen Videos mit spannenden Details aus dem Leben dieser Tiere. HIERLiteratur: Uwe Schmidt, Vampirfledermäuse. Spektrum Akademischer Verlag; 1. Edition (7. Dezember 1995). Die Monographie, zuerst erschienen 1979, ist die einzige umfassende deutschsprachige Publikation über das Thema. Sebastian Stockmaier: Bat behavioral immune responses in social contexts: current knowledge and future directions. Artikel zu Fragestellungen über das Sozialverhalten erkrankter Vampirfledermäusehttps://www.frontiersin.org/journals/immunology/articles/10.3389/fimmu.2023.1232556/full Simon Ripperger und Gerald Carter: Social foraging in vampire bats is predicted by long-term cooperative relationships. Artikel über die Tragfähigkeit von Freundschaften unter Vampirfledermäusen. https://journals.plos.org/plosbiology/article?id=10.1371/journal.pbio.3001366 Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Radiowissen finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Radiowissen JETZT ENTDECKEN Das vollständige Manuskript gibt es HIER. Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: 01 OT Kozinsky / Polak You can see one of them here, on the left side, between the wooden trunk and the wall. (läuft weiter, als Atmo unter folgendem Text) Sprecherin Zwei Mitarbeiter des Neuen Zoos von Poznan zeigen mir eine Rarität: Die Vampirfledermäuse. 1996 bezogen die ersten Exemplare ihren Käfig im Nachttierhaus, eine Gabe des Zoologischen Instituts der Universität Bonn. Nirgendwo sonst in Europa werden Vampirfledermäuse noch im Zoo gehalten. Aber auch hier in Polen geht ihre Ära wohl zu Ende. 02 OT Kozinsky / Polak They are not endangered species. Our main task is breeding of endangered species. And we try to concentrate on this. We are not an entertainment place. We are more educational and breeding center… Polak: And today this cave is too small for bats. Kozinsky: We try to be better places for our inhabitants…  Sprecherin (auf vorigen O-Ton) Die Vampirfledermäuse seien keine bedrohte Art, erklären Remigiusz Kozinsky, der im Zoo für die Bildungsarbeit zuständig ist, und Olga Polak, die Kuratorin des Nachttierhauses. Ihr Zoo sei nicht zum Entertainment da, sondern für Umweltbildung und die Zucht bedrohter Tierarten. Außerdem sei der Käfig mittlerweile zu klein, die Standards haben sich geändert.  03 OT Kozinsky / Polak Olga, close the door... ((läuft weiter als Atmo unter folgendem Text) Sprecherin Die beiden geleiten mich vorsichtig in den Lebensbereich der Vampirfledermäuse, der mit einer Glasscheibe zum Publikumsbereich abgetrennt ist. Innen brennt Licht, noch ist es Tag für die nachtaktiven Tiere.  04 OT Kozinsky / Polak Autorin: There is one … (ab hier als Atmo unter folgendem Text) Musik 2: Plus minus aus: Silver kobalt –  47 Sek  Sprecherin An der hinteren Wand sehe ich einen nachgebildeten hohlen Baumstamm, darin zwei kleine dunkel behaarte Fledermäuse mit spitzen Ohren und runden aufgeworfenen Nasen kopfüber von der Decke hängen. Als wir uns nähern, verziehen sie sich weiter nach hinten, ins Dunkle. Auf dem Boden, in einer kleinen Edelstahlschüssel, steht ihre Mahlzeit bereit: Schweineblut. In dem Käfig leben vier männliche Exemplare der Art Desmodus rotundus, auf Deutsch: die Gemeine Vampirfledermaus.  05 OT Ripperger Ja, also es gibt ja die Fledermäuse mit über 1.400 Arten, aktuell weltweit, also eine sehr große und diverse Säugetiergruppe und von den Vampirfledermäusen gibt es tatsächlich nur drei Arten, die ausschließlich in Lateinamerika vorkommen. Sprecherin Sagt Dr. Simon Ripperger. Er ist als Biologe beim Landesamt für Umwelt in Bayern als Fledermausexperte tätig.  06 OT Ripperger Und der gemeine Vampir, das ist ja die häufigste Art von diesen dreien, deswegen wird er auch regelmäßig beforscht, weil, er ist einfach zu finden in der Wildnis. Man kann ihn einfach halten in Gefangenschaft und das macht ihn natürlich zu einem idealen Forschungsobjekt.  Musik 3: Plus minus aus: Silver kobalt – siehe oben– 19 Sek  Sprecherin Die Neugier der Wissenschaftler erregt diese Fledermausart vor allem aus drei Gründen: wegen ihrer einzigartigen Ernährungsweise, weil sie in Lateinamerika die Rinderbestände schädigt und weil sie ein hochkomplexes Sozialleben hat. 07 OT Kozinsky / Polak Remigius: I can see some poo ... (ab hier unter folgendem Text) Sprecherin In Poznan, unter dem Schlafplatz der Fledermäuse, ist eine schwarze Substanz zu erkennen. Die Ausscheidungen der Tiere, unverdauliche Überreste ihrer Blutmahlzeit. 08 OT Ripperger Ja, also der Kot von den Vampirfledermäusen, der ist fast teerartig, also sehr zäh, dickflüssig und schwarz und der Kot von anderen Fledermäusen ist ja eher krümelig und trocken im Normalfall.   Sprecherin Simon Ripperger hat in Lateinamerika, vor allem in Panama, Ruhequartiere der Vampirfledermäuse besucht.  09 OT Ripperger Und sobald man nah an den Baum rankommt, riecht man sofort, dass es ein Vampirfledermausbaum ist. Weil der, also der Kot, der verströmt einen extremen Ammoniumgeruch. Und Ammonium ist wahnsinnig unangenehm, weil es eben giftig ist. Also das heißt, wenn wir in so einen Vampirbaum reingehen, man kann in diese Vampirbäume tatsächlich einfach reinlaufen in vielen Fällen, weil das einfach riesige, uralte Bäume sind, die komplett ausgefault sind, also so fast wie Höhlenbäume. Und da muss man dann natürlich einen Mundschutz tragen, also eine aktive Schutzmaske gegen Ammoniumdämpfe.       10 OT Kozinsky / Polak (Kinderstimmen) Kozinsky: There is one... (ab hier unter folgendem Text) Sprecherin  Im Nachttierhaus von Poznan ist das Tageslicht erloschen, Besucher strömen hinein. Machen neben uns vor der dicken Glasscheibe zum Vampirfledermauskäfig Halt. In der schummrigen Beleuchtung nehme ich ein Tier wahr, das sich der Blutschüssel nähert, sich an den Rand hockt, mit seltsam angewinkelten Vorderbeinen.  11 OT Kozinsky / Polak (Kinderstimmen) He is licking… Autorin: now he looks around a little bit (Ab hier als Atmo unter folgendem Sprechertext) Sprecherin Das Tier beschnuppert den Inhalt, sieht sich um, schnuppert vielleicht dem Menschengeruch nach, den wir im Käfig hinterlassen haben. Dann stakst es am Rand der Schüssel entlang, auf Beinen, deren gefaltete Flughäute jetzt sichtbar sind. 12 OT Kozinsky / Polak His tongue is for licking the blood from the dish (Ab hier als Atmo unter folgendem Sprechertext) Sprecherin Kurz ist eine spitze Zunge zu sehen. Das Tierchen taucht sie in den Inhalt der Schüssel. Springt dann mit einem großen Satz aus dem Blickfeld. Musik 4: The brides -  1:09 Min Sprecherin Vampire, das weiß jedes Kind, sind Wesen, die Blut trinken. Geschichten von Vampiren und Untoten geistern seit Jahrhunderten durch die europäische Welt der Legenden und Mythen. Sprachwissenschaftler haben herausgefunden, dass das Wort ‚Vampir‘ in verschiedenen Varianten aus dem Slawischen stammt und seit dem ersten Jahrtausend nach Christus gebräuchlich ist. Geschichten von Untoten, die die Lebenden in verschiedenen Gestalten heimsuchen und sich an deren Blut laben, sind offenbar über die ganze Welt verbreitet. Als Eroberer und Forschungsreisende sich von Europa aus in immer entferntere Gegenden aufmachten, trat auch das Wort Vampir seine Weltreise an. In Asien, Afrika und Amerika trafen diese Abenteurer und Entdecker auf neue Mythen von mörderischen Fabelwesen. Schauergeschichten von blutsaugenden Fledermäusen machten die Runde:  13 OT Ripperger Es gibt schon aus der Frühzeit der Besiedelung durch die Europäer in Lateinamerika solche Berichte. Als die Conquistadores angelandet sind und mit ihren Soldaten und dem Vieh, den Pferden und den Kühen ankamen, dass Schwärme von Vampirfledermäusen über Mensch und Vieh hergefallen sind.  Musik 5: Twelve Month - 1:25 Min Sprecherin Oft ging den Erzählern offenbar die Fantasie durch. Berichte über taubengroße Vampirfledermäuse stürzten Taxonomen, die neu entdeckte Tierarten beschreiben und benennen, in einige Verwirrung. So bezeichnete der berühmte schwedische Naturforscher Carl von Linné Mitte des 18. Jahrhunderts den großen asiatischen Flughund als „Vespertilio Vampyrus“, weil dieser, so Linné, bei schlafenden Dienern und an den Kämmen der Hähne Blut sauge. Ein Irrtum, denn ausgerechnet dieser große Flugsäuger ernährt sich ausschließlich von Obst und Nektar. Auch „Vampyrum Spectrum“, die größte Fledermausart Lateinamerikas, trägt den Namen zu Unrecht. Diese fleischfressende Art ernährt sich von kleinen Nagetieren und Vögeln. Erst ab Mitte des neunzehnten Jahrhunderts setzte sich bei den Zoologen die Erkenntnis durch, dass es nur in Lateinamerika jene drei klein gewachsenen Fledermausarten gibt, die sich ausschließlich vom Blut der Säugetiere und Vögel ernähren. Und manchmal, wenn auch sehr selten, vom Blut der Menschen.   Musik aus Sprecherin Vampirfledermäuse haben sich eine sehr spezielle ökologische Nische erobert und nehmen dafür einiges auf sich. Blut sättigt nicht nachhaltig, eine Fledermaus wird also schnell wieder hungrig, Fasten kann für sie tödlich sein. Überwintern, wie es die Insekten-fressenden Fledermäuse hierzulande tun, ist ebenfalls nicht möglich, weil mit der Blutmahlzeit keine Fettreserven gebildet werden können. Deshalb leben Vampirfledermäuse nur in ganzjährig warmen Gegenden. Manche Fähigkeiten anderer Fledermausarten, wie etwa eine ausgefeilte Ortung durch Ultraschalllaute und akrobatische Flugkünste, spielen für sie eine untergeordnete Rolle.  Musik 6: 1864 –  23 Sek Sprecherin Und die Zähne? An Halloween und Karneval gehört ein falsches Gebiss mit langen spitzen Fangzähnen bekanntermaßen zur Vampir-Grundausstattung. Nur beißt die Fledermaus, anders als ein sexy Gruselfilm-Vampir, nicht mit den Eckzähnen, sondern mit den Schneidezähnen.      Musik aus 14 OT Ripperger Die oberen vorderen Schneidezähne, die sind sehr stark modifiziert. Also die sind nach vorne gerichtet, fast sichelförmig und die Innenseite ist eben rasierklingenscharf. Und mit diesen beiden Zähnen können sie eben sehr effizient die Haut einritzen von Beutetieren. Und dann haben Sie natürlich auch eine ganze Reihe von weiteren Anpassungen an das Trinken von Blut. Also im Speichel sind Gerinnungshemmer für das Blut. Also das heißt, das Blut kann dann für längere Zeit aus der Wunde herausrinnen. Sie sind tatsächlich keine Blutsauger, wie man immer sagt, sondern sie lecken mit der Zunge das Blut auf. Auch auf der Zunge ist dann eine Hornplatte, mit der sie einerseits sehr effizient Haare von der Bissstelle entfernen können, andererseits wird diese Hornplatte vermutlich auch zum Schärfen der Zähne genutzt. Also es sind völlig verrückte Anpassungen für ein Säugetier. Sprecherin Bevor es aber ans Blutlecken geht, wohlgemerkt nicht ans Blutsaugen, muss das Tier die Beute finden. Auch dazu hat sich die Vampirfledermaus im Lauf der Evolution besondere Fähigkeiten zugelegt: 15 OT Ripperger Sie sind oft eben nicht im Flug unterwegs, wenn sie auf der Beute landen, sondern sie landen ein paar Meter neben der Beute und schleichen sich dann zu Fuß an. Man hat Versuche gemacht mit den Tieren, wie sie eben ihre Flügel und ihre Beine zum Laufen benutzen und hat sie auf kleine Laufbänder gesetzt. Und da hat man eben gesehen, dass die Tiere das Rennen wieder gelernt haben. Und so können die eben relativ zügig dann über den Boden sich der Beute annähern. Dann müssen sie natürlich auch einen guten Ort finden, an dem sie den Biss machen, an dem dann hoffentlich auch Blut austritt. Und dazu haben sie dann Wärmesensoren in der Schnauze, mit denen sie eben diese, ja, die Adern unter der Haut gut detektieren können. Sprecherin Vampirfledermäuse überfallen mit Vorliebe schlafende Beutetiere. Bis zu einer halben Stunde lang trinkt ein Tier an der selben Wunde und scheidet dabei immer wieder den wässrigen Anteil des Blutes aus, um Platz im Magen zu schaffen 16 OT Ripperger Und das ist wirklich verrückt, wenn man ein Tier fängt, das praktisch frisch vollgefressen ist. Die sehen wirklich aus, als wären sie schwanger. Und dann guckt man genauer hin und sieht: Nee, es ist doch ein Männchen. Und es ist einfach nur dieser prall gefüllte Bauch voll mit Blut. Und dieses Blut, die dunkle Farbe schimmert dann schwarz durch den Unterleib. Also es ist wirklich eine fantastische Erfahrung, so ein Tier in der Hand zu haben. Musik 7: The Moment I’m still awake -  31 Sek Sprecherin Vor der Kolonisierung Lateinamerikas waren Vampirfledermäuse vermutlich relativ selten. Sie konnten sich nur an Wildtieren und an domestizierten Lamas oder Meerschweinchen laben. Als die Eindringlinge aus Europa große Mengen an Rindern, Schweinen und Pferden mitbrachten, änderte sich das Nahrungsangebot für die gemeine Vampirfledermaus grundlegend. Die Tiere wurden zu Zivilisationsfolgern. 17 OT Ripperger Wenn man sich das vorstellt, heute diese Bäume, in denen die Fledermäuse ihr Quartier beziehen, an denen wir arbeiten, die stehen manchmal mitten auf der Viehweide. Die Fledermäuse fliegen aus diesem Baum raus und der Tisch ist bereits reich gedeckt.  Sprecherin Die Population der gemeinen Vampirfledermaus wuchs derartig, dass sie schon bald von den Viehzüchtern als lästige Schädlinge empfunden wurde. Denn am liebsten bedienen sich die Fledertiere an den Rindern: 18 OT Stockmaier Kühe sind natürlich quasi so ein bisschen wie der McDonald's. Der ist einfach da, der geht nirgendwo hin.  Sprecherin Sebastian Stockmaier. Er hat mit Simon Ripperger in Panama gearbeitet. Heute forscht der Verhaltensbiologe an der Universität von Knoxville in Tennessee. 19 OT Stockmaier Kühe, die bewegen sich nicht viel, die sind immer so auf ihrer Weide. Im Gegensatz zu jetzt Wildtieren, wo sie jetzt in den Dschungel müssten und sich einen Tapir suchen müssten.  Sprecherin Wenn manchmal mehrere Fledermäuse nachts an derselben Wunde trinken, tropft das Blut, wegen der im Fledermausspeichel enthaltenen gerinnungshemmenden Substanzen, noch lange aus der Wunde. Aber das Problem mit den Fledermausbissen ist nicht der Blutverlust. Durch den Kontakt des Speichels mit dem Blut werden Krankheitserreger übertragen, vor allem das Tollwut-Virus. Dieser Zusammenhang wurde in den 30er Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts erkannt und führte in den sechziger Jahren zu großangelegten Fledermaus-Vernichtungsaktionen unter anderem in Brasilien und Venezuela. Tausende Höhlen wurden mit Dynamit in die Luft gesprengt, zigtausende Fledermausquartiere mit DDT und anderen Giften ausgerottet. Dem fielen natürlich nicht nur Vampirfledermäuse zum Opfer. Heute gibt es Tollwutimpfungen. Aber Farmer sind oftmals nicht zimperlich, wenn sie Vampirfledermäuse auf ihrem Land entdecken: 20 OT Stockmaier Was viel verwendet wird, ist „vampiricide“. Das ist ein Mix aus Rattengift und Vaseline und was dann gemacht wird: Die Vampirfledermäuse werden gefangen und dieses Gift wird denen auf das Fell geschmiert. Die Idee ist dann, dass sie zurückgehen zu ihren Artgenossen, in ihren Baum, ihren roost, und dass die anderen das dann quasi durch dieses Grooming, durch diese Fellpflege, dass das Gift dann quasi durch die Gruppe sich überträgt.  ATMO Fledermäuse Sprecherin Die Methode mit dem Vampirizid nützt das besonders soziale Verhalten der Tiere aus. Vampirfledermäuse in ihrem Ruhequartier hängen nicht einfach schlafend und reglos von der Decke, vielmehr beschäftigen sie sich intensiv miteinander. Die Jungen üben fliegen, Männchen kämpfen, und sehr viel Zeit verbringen die Tiere, alte wie junge, mit gegenseitiger Fellpflege. Nicht nur eng verwandte Tiere kraulen und belecken einander. Simon Ripperger: 21 OT Ripperger An Forschung in Gefangenschaft konnte man eben zeigen, dass die Tiere so scheinbar Vertrauen aufbauen. Man muss natürlich auch mal darüber nachdenken, was das alles voraussetzt. Also die Tiere müssen sich erstmal individuell erkennen, dann müssen sie auch ihre, ja die soziale Vergangenheit irgendwie bewerten können. Also wenn die Tiere praktisch anfangen mit Fellpflege, müssen sie irgendwie bewerten, führt das jetzt irgendwohin oder ist das eine Sackgasse? Ja, und das ist natürlich wirklich eine tolle kognitive Leistung, solche sozialen Interaktionen zu bewerten und auch strategisch zu planen. Und man geht da immer so davon aus, der Mensch, die Krone der Schöpfung und unsere sozialen Bindunwwwgen, das ist was ganz Besonderes. Aber das, was hier die Vampirfledermäuse machen, geht tatsächlich in diese Richtung. Musik 9: Plus minus – siehe vorn – 44 Sek Sprecherin Es kann Wochen oder Monate dauern, bis Vampire eine tragfähige Beziehung aufbauen. Ist sie erst einmal gefestigt, gehen die befreundeten Vampirfledermäuse noch einen Schritt weiter. Sollte eine von ihnen kein Jagdglück gehabt haben und hungrig in das Quartier zurückgekehrt sein, teilt die Freundin die Mahlzeit mit ihr, würgt Blut aus dem Magen hoch und gibt es ab, verzichtet also auf einen Teil ihrer Nahrung, damit die andere satt wird. Vampirfledermausweibchen tun dies regelmäßig für ihre Jungen und in dieser mütterlichen Fürsorge hat das Verhalten wohl auch seinen Ursprung. Aber sie teilen erstaunlicherweise nicht nur mit Verwandten.  22 OT Ripperger Und das hat eben viele Biologinnen und Biologen über die Jahre verwirrt, wie das eben evolutionär stabil sein kann, sagt man dazu also: wie kann sich so ein Verhalten manifestieren, wenn es eigentlich einen Nachteil mit sich bringt? Aber wenn wir das als wechselseitiges Verhalten betrachten, dann macht das natürlich plötzlich Sinn. Es ist tatsächlich so: Futter zu erhalten wird am besten dadurch vorhergesagt, wem ich früher mal Futter gegeben habe. Und daraus sieht man direkt ja, wenn ich einer anderen Fledermaus in Not helfe und es ist dann sehr wahrscheinlich, dass ich was zurückbekommen, wenn ich selbst in Not bin, dann macht das Ganze Sinn. Also dann kann das eben auch stabil sein, weil man profitiert selbst eben auch von diesem Investment in der Zukunft. Sprecherin Simon Rippergers Kollege Sebastian Stockmaier interessiert sich für die Frage, ob und wie Vampirfledermäuse ihr soziales Verhalten ändern, wenn sie erkrankt sind. Erste Studien zeigen, dass kranke Fledermäuse sich Artgenossen gegenüber teils reservierter verhalten.  23 OT Stockmaier Wir haben uns das noch nicht wirklich angeschaut, ob dann Fledermäuse die krank sind und die deswegen nicht raus können und jagen können, ob die dann von anderen versorgt werden und von wem die versorgt werden, ob es dann wirklich verwandte Fledermäuse sind oder ob es auch die anderen Artgenossen sind. Ja, das wissen wir nicht. Das ist interessant. Und wir haben schon Experimente geplant in der Zukunft, um uns das anzuschauen. Sprecherin Viele Forschungen wurden überhaupt erst möglich durch eine neuartige Generation von Bewegungstrackern, Sensoren, die die Begegnungen unter einzelnen Tieren aufzeichnen, ähnlich der während der Pandemie ab dem Jahr 2020 gebräuchlichen Corona-App. An der Entwicklung dieser Sensoren war Simon Ripperger beteiligt.  24 OT Ripperger Also es sind kleine Sensoren, die kleben wir auf den Rücken von Tieren auf, in dem Fall eben von den Vampirfledermäusen. Und dann fangen diese Sensoren an, miteinander zu kommunizieren und wir wissen im Sekundentakt genau, welche Tiere verbringen wie viel Zeit miteinander, sind die im Körperkontakt, sind die nur im gleichen Quartier. Und das im 24-Stunden-Takt und über ein, zwei Wochen. Und das ist natürlich eine Datenqualität, die war bis dahin undenkbar.  Sprecherin Bis dahin ließ sich das Verhalten der Vampirfledermäuse nur in Gefangenschaft detailliert beobachten. Die neuen Sensoren ermöglichen Antworten auf viel weitergehende Fragen. Etwa ob Freundschaften zwischen Fledermäusen, die in Gefangenschaft entstanden sind, auch in freier Wildbahn halten:  25 OT Ripperger Und nachdem wir diese Tiere freigelassen haben, in die Wildnis, konnten wir eben sehen, dass die Tiere, die sehr viel Zeit miteinander in Gefangenschaft verbracht haben und eben auch viel Zeit in Fellpflege investiert haben und gegenseitig Futter geteilt haben, dass die dann eben auch sehr viel Zeit in der Wildnis in engem Körperkontakt verbracht haben. Und das war eben ein starker Indikator dafür, dass diese sozialen Bindungen wirklich extrem stabil sind, selbst wenn sich das Umfeld der Fledermäuse komplett ändert. Und das war natürlich eine tolle Erkenntnis, weil ja, solche starken sozialen Bindungen kennt man tatsächlich nur von wenigen anderen Tierarten. Sprecherin Eine weitere Fragestellung hat das Team mit Hilfe der neuartigen Sensoren bereits erforscht: Ob nämlich Fledermäuse, die im Quartier enge Beziehungen pflegen, gemeinsam auf die Jagd gehen. Auch hier kam es zu überraschenden Erkenntnissen:  26 OT Ripperger Die verlassen das Quartier nicht zusammen, sondern einzeln, auch mit größeren Abständen, zehn, 20 Minuten oder auch länger. Und dann treffen sie sich aber wieder auf der Kuh. Und das war eben erstmal irritierend, weil die nächste Frage ist: Wie finden Sie sich denn wieder? Und da war dann eben interessant, dass wir Ruftypen aufgezeichnet haben. Also ich war dann wirklich Teil der Kuhherde und bin da mit einem Mikrofon und mit einer Videokamera mit den Kühen mitgelaufen und habe beobachtet, was die Tiere da machen. Und dort haben wir eben Ruftypen aufgezeichnet, die wir aus dem Quartier nicht kannten. Und das liegt eben nahe, dass das Signale sind für die Kooperationspartner, wo man eben zu finden ist. Und vielleicht auch ein Signal: Hier gibt es was zu fressen. Und das ist bisher nur Spekulation. Was die Funktion genau ist von diesen Rufen, das muss man in der Zukunft genau testen, wie sich die auswirken auf die sozialen Partner... Musik 10: Plus minus – siehe vorn – 52 Sek Sprecherin Fragen über Fragen. Wie werden kranke Fledermäuse im Quartier versorgt? Was teilen die Tiere einander mit ihren Rufen mit? Weitere Studien werden es zeigen. Eins ist sicher: Viele mögen Vampirfledermäuse gruselig finden oder für lästige Schädlinge halten. Aber in Sachen Fürsorge für andere sind sie vorbildlich. Das findet auch Remigius Kozinski vom Neuen Zoo in Poznan: 27 Poznan, Atmo Kinder, (darauf zügig  O-Ton 28) 28 OT Kozinsky We should learn to do like them. Try to help each other. In all difficult situations in our life.  Sprecherin Wir Menschen sollten uns ein Beispiel an den Vampirfledermäusen nehmen, meint er. Und in schwierigen Lebenslagen einander helfen.
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Nov 27, 2024 • 23min

Das Kondom - Von der Ziegenblase zum Massenartikel

Seit alters her umhüllen Männer ihren Penis, um Schwangerschaft und Krankheit zu verhindern. Doch von den ersten Kondomen aus Tierdärmen und Fischblasen bis zum modernen Präservativ aus Latex war es ein langer, wechselvoller Weg. Von Lukas Grasberger (BR 2021) Autor dieser Folge: Lukas Grasberger Regie: Martin Trauner Es sprachen: Julia Fischer, Michael Atzinger Technik: Robin Auld Redaktion: Iska SchreglmannDas Manuskript zur Folge gibt es HIER.Die Pille für die Frau, das Kondom für den Mann. Was gibt es für alternative Methoden zur Verhütung einer Schwangerschaft? Und wie zuverlässig sind diese? Unsere Kollegen von BR24 klären auf:BR24 | Welche Verhütungsmittel für Männer und Frauen gibt es?ZUM ARTIKEL

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