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Nov 27, 2024 • 22min

Die Sehnsucht nach dem intensiven Leben

Gänsehautmomente reißen uns Menschen aus der Monotonie des Alltags. Alles scheint uns dann intensiv! Plötzlich sind unsere Sinne auf scharf gestellt. In solchen Momenten fühlen wir uns extrem lebendig! Von Anja Mösing Credits Autorin dieser Folge: Anja Mösing Regie: Kirsten Böttcher Es sprachen: Stefan Wilkening, Susanne Schroeder Technik: Moritz Herrmann Redaktion: Susanne Poelchau Im Interview: Dr. med. Arndt Büssing, Professor für Lebensqualität,Spiritualität und Coping an der Universität Witten/Herdecke  Diese hörenswerten Folgen von Radiowissen könnten Sie auch interessieren: Hier und jetzt - im Fokus der Achtsamkeit   HIER Literatur: Büssing, Arndt: Innehalten. Vom Einfluss ehrfürchtigen Staunens auf das Wohlbefinden. Pustet Verlag, Regensburg 2024. – Verblüffend und schlüssig erklären in diesem Buch ExpertInnen aus den Fachbereichen Medizin, Psychiatrie, Psychologie und Theologie was für einen hohen Stellenwert die Fähigkeit zu Staunen für unser Leben einnimmt. Mit einfachen Handlungsanweisungen für Selbstversuche.Garcia, Tristan: Das intensive Leben. Eine moderne Obsession.  Suhrkamp Verlag, Berlin 2017 – mitreißend geschriebener Essay des französischen Philosophen. Zeigt die Vielfältigkeit der weltumspannenden Sucht nach intensivem Leben auf, Garcia fordert eine Ethik der Intensität.Kast, Verena: Mehr Zeit für die Seele. Der Weg zur Lebendigkeit. Patmos Verlag, Ostfildern 2022 - die Schweizer Psychologin zeigt, wie wir aus einem Strudel von überfordernden Aktivitäten zu ausgewählten Aktionen kommen können und uns so wieder intensiver und lebendiger fühlen. Linktipps: Staunendes Innehalten - ein zweichwöchiges Interventionsmodul  - die Informationen und Hintergründe dazu hier entdecken Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Radiowissen finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Radiowissen JETZT ENTDECKEN Das vollständige Manuskript gibt es HIER. Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: ERZÄHLER Im Freibad: Wimmelndes Leben, Sonne auf nackter Haut und der Duft von gechlortem Wasser in der Nase. Und dann: nach einigem Zögern das erste Mal vom Fünfmeterbrett ins Schwimmbecken springen! Was für ein intensiver Moment! ATMO Hubschrauber  ERZÄHLER  Die Berge: Mit dem Helikopter durch ein verschneites Gipfelpanorama fliegen, sich auf einem Gipfel mit unberührtem, glitzerndem Pulverschnee absetzen lassen. Und dann auf die Skier und: Einfach nur talwärts! Was für eine intensive Erfahrung!  MUSIK 1 aus ZSP 1    Büssing Ich denke, jeder möchte gerne ein intensives Leben führen. Also ganz viele Augenblicke haben, die besonders sind. Die einen heraus holen aus dem Alltag, der ja oft genug als gewöhnlich und flach erscheint.  ERZÄHLERIN  Arndt Büssing ist Mediziner und Professor für Lebensqualität, Spiritualität und Coping an der Universität Witten/Herdecke. Büssing beschäftigt sich damit, wie das Wohlbefinden von Menschen positiv beeinflusst werden kann.  ZSP 2    Büssing Und alles, was mit Erleben zu tun hat, das ist für mich total spannend. ERZÄHLERIN  Viele Menschen empfinden ihren Alltag nicht als spannend. An sich geht es ihnen gut, aber ihr Leben plätschert so vor sich hin, sie fühlen sich in alltäglichen Routinen gefangen wie in einem Morast. Viele sehnen sich nach den Gänsehautmomenten ihrer Kindheit und Jugend zurück: nach intensivem Leben! MUSIK 2: Forever – 35 Sek ERZÄHLER „Das intensive Leben? Eine moderne Obsession!“ So urteilte der französische Philosoph Tristan Garcia in seinem gleichnamigen Essay aus dem Jahr 2017. Garcia beschreibt, wie heute einfach alles toll und großartig und intensiv sein soll. Wie wir permanent nach plötzlichen Erregungen suchen, nach starken Empfindungen: Ob es die Wandfarbe in der Wohnung ist oder der Orgasmus, die nächste Party oder der Energy-Drink, der Urlaub oder der neueste Krimi. Alles soll uns ein intensives Lebensgefühl garantieren und Schauer über den Rücken jagen.  ERZÄHLERIN  Klingt anstrengend! Und irgendwie auch falsch. Arndt Büssing versucht in seinen Forschungen aber, erst mal gar nicht zu definieren, was ein richtiges und was ein falsches intensives Leben ist:  ZSP 3    Büssing Denn jeder Mensch empfindet natürlich anders, was für ihn intensiv ist. Und dann hat jeder seine eigenen Trigger und Auslöser, die für ihn wichtig sind. Also mich interessiert vielmehr das Erleben, die Reaktionen darauf, unabhängig von dem, was die Auslöser sind und ob jemand sagt: Das war für mich besonders intensiv oder nicht. Denn es gibt natürlich die großen Situationen, es gibt die kleinen Situationen, und alle haben ihre Bedeutung, und alle können zu etwas beitragen. ERZÄHLERIN  Grundsätzlich könnte man sagen, intensive Erlebnisse tragen dazu bei, sich lebendig zu fühlen. Interessant ist: Vorhersagen, lassen sie sich nicht! Selbst beim teuer bezahlten Helikopter-Flug oder dem Sprung vom Fünfmeterbrett könnte auch nichts als ein flaues Gefühl im Magen oder Enttäuschung herauskommen.  ERZÄHLER Wir wissen aber inzwischen gut, was im Körper abläuft, wenn wir einen freudigen Gänsehautmoment erleben, erklärt Mediziner Büssing. Es sind ganz archaische körperliche Abläufe, die schon unsere Ahnen kannten. Zum Beispiel bei der Begegnung mit einem Säbelzahntiger:  MUSIK 3: ARD-Labelmusik Expedition  -  1:03 Min ZSP 4    Büssing Ich versuche es mal einfach: Wir haben also ein limbisches System. Das ist mit der Verarbeitung dieser entsprechenden Emotionen beschäftigt, die also diese Erlebnis-Trigger auslösen: Freude und Aufregung zum Beispiel. Und dann wird das sympathische Nervensystem, also unser Alarmsystem, aktiviert. Dadurch wird Adrenalin und Noradrenalin freigesetzt. Unser Herz schlägt schneller und wir atmen tiefer und schneller. Diese Stresshormone machen auch diese sogenannte Gänsehaut aus.  MUSIK 3 kurz frei ZSP 5    Büssing So und jetzt haben wir diese Sympathikus Aktivität, und die führt dazu, dass wir alles intensiver wahrnehmen. Wir sind ja quasi im Fluchtmodus.  MUSIK 3 kurz frei, weiter darüber: ERZÄHLERIN Alle Sinne sind jetzt auf scharf gestellt. Geschickt können wir flüchten: Vielleicht mit einem Seil auf einen Platz, den der Säbelzahntiger nicht erreichen kann. Und wir überleben die Begegnung! MUSIK 3 mit Akzent kurz frei und aus  ZSP 6    Büssing Und nun kommt dann das Belohnungssystem ins Spiel! Wenn es also ein intensives, berührendes Erlebnis ist - das kann natürlich auch ein tolles Essen sein oder besondere Menschen, mit denen man gerade zusammensitzt - dann wird dieses Belohnungssystem im Gehirn aktiviert. Damit wird dann dieser Neurotransmitter Dopamin freigesetzt, was mit dem Gefühl von Vergnügen und Zufriedenheit einhergeht. Davon will man natürlich immer mehr haben, um dieses gute Empfinden noch aufrechterhalten zu können. Das kann ja kein dauernder Alarmzustand sein. Und dann kommt das parasympathische Nervensystem ins Spiel, das all diese Stressreaktionen wieder herunterreguliert, uns beruhigt und aus diesem Ausnahmezustand wieder zurückholt. ERZÄHLERIN Dieses System aus intensiver Aktion und rauschhaftem Glücksgefühl am Schluss war über Hundertausende von Jahren hinweg sehr förderlich fürs menschliche Überleben. Es hat unseren Mut befeuert. Wie wenige hätten sonst in archaischen Zeiten riskiert, sich beim Erlegen eines wilden Ebers eine Verletzung zu holen? Einen Knochenbruch oder tödliche Wunden? Die  Tollkühnheit bei der Nahrungsbeschaffung wurde so von körpereigenen Glücksduschen belohnt.  ERZÄHLER Und noch heute im Zeitalter von Pizza-Service und wohl temperierter Wohnung suchen viele Sensation-Seeker nach ähnlich starken Herausforderungen. ZSP 7    Büssing  Ich denke, man fühlt sich dann lebendig und intensiv. Das ist sehr genau das, was erstrebt wird mit diesem Kick-Erlebnis. Es ist etwas Besonderes. Ich bin in einer herausfordernden Situation. Und die Gefahr wird dann manchmal auch zu dem Kick, der aber auch einen Nachteil hat: Es könnte ja auch schief gehen. MUSIK 4 „something just like this“ –  51 Sek  ERZÄHLERIN Viele Teenager lieben Situationen dieser Art! Dabei ist es als Kind und als Jugendlicher, sogar noch als junger Erwachsener ohnehin leicht, aufregende Dinge zu tun und sich intensiv lebendig zu fühlen. So Vieles macht man in dieser Zeit zum ersten Mal: Zum ersten Mal Klassenfahrt, zum ersten Mal glücklich verliebt, zum ersten Mal guter Sex, zum ersten Mal Urlaub ohne die Eltern.  ERZÄHLER Oft wirkt es allerdings, als würden gerade junge Leute gerne Dinge tun,  die sehr leicht schief gehen können, sich bei Erfolg aber umwerfend intensiv anfühlen: Train-Surfing an S-Bahnen, Paragliding, oder tollkühne Sprünge beim Parcouring durch die Innenstadt.   (Musik aus) ZSP 8    Büssing Ich glaube nicht, dass es auf die Teenager begrenzt ist. Bei denen fällt es vielleicht besonders auf. Aber auch die Midlife-Crisis, in meinem Alter, wenn ich Männer sehe, die ungewöhnliche Dinge machen! Wahrscheinlich ist das genau das Gleiche: Ich will etwas Besonderes in meinem Leben erleben können. Es muss etwas Herausragendes sein, weil es eben zu einer Routine geworden ist. Ehepartner, die sind automatisch da und deswegen ist es nichts Besonderes mehr und deswegen muss es woanders gesucht werden. Und dann ist eben dieses Aufregende der Nervenkitzel. Dann fühlt man sich lebendig! Musik 5: Lovers in Japan – siehe vorn – 30 Sek ERZÄHLER  Der Klassiker: Fremdgehen! Sexuelle Abenteuer. Oder Extremsport: Marathonlaufen, Triathlon, Bodybuilding. Fern- bzw. Abenteuerreisen:   Besteigung des Mount Everest, Alpencross mit dem Mountainbike, Tauchen am australischen Great Barriere Riff.   Musik aus Aber was ist, wenn man irgendwann den fünften Marathon gelaufen ist. Die Affäre zur Nebenbeziehung wird oder man alle Kontinente unseres Planeten bereist hat? ZSP 9    Büssing Also, dieses intensivere Leben, das wird allgemein so verstanden, dass alles, was uns reizt und fasziniert, eigentlich eine immer intensivere Ausprägung braucht. Alles muss größer, schneller und stärker werden. Aber eine größere Herausforderung, größere Intensität der Emotionen und so weiter, das hat irgendwie auch seine Grenze. Das kann ja auf Dauer gar nicht gut gehen. Denn irgendwann sind natürlich auch die intensivsten Olympischen Spiele des Lebens vorbei. Man kommt gar nicht mehr hinterher. Und was bleibt dann? ERZÄHLERIN Genau hier wird es für Emotionspsychologen richtig interessant: Wie könnten wir es schaffen, unsere Sehnsucht nach dem intensiven Leben ein Leben lang zu stillen?  ERZÄHLER Wieder Staunen zu lernen, wäre schon mal ein Anfang, meint Arndt Büssing.  ZSP 10    Büssing Was Kindern sehr gut gelingt! Sie bleiben leichter irgendwo hängen und sind fasziniert von etwas. Was uns im Lauf des Lebens viel verloren gegangen ist.  MUSIK 6: Grapefruit diet – 1:04 Min  ERZÄHLERIN Zweijährige Kinder, die eine volle Stunde die Konstruktion eines Teebeutels bis in all seine Einzelteile erforschen. Dreijährige, die vor einer Ameisenstraße in die Hocke gehen und sie hingebungsvoll beobachten: Wir alle kennen diese Art des gebannten Staunens kleiner Kinder.  ERZÄHLER Sollte uns ausgerechnet eine kindliche Fähigkeit aus dem alltäglichen Strudel unbefriedigender Ablenkungen und Routinen retten können? Uns wieder öfter Momente mit Gänsehaut bescheren? Arndt Büssing glaubt daran und nennt die notwendige Fähigkeit ehrfürchtiges Staunen, oder staunendes Innehalten.  ERZÄHLERIN Im Englischen nennt man es „Awe“ – Ehrfurcht! Und seit ein paar Jahren publizieren Emotionsforscher zu diesem Phänomen. Nur ist das deutsche Wort Ehrfurcht heute etwas aus der Zeit gefallen und Ehrfurcht klingt merkwürdig:  ZSP 11    Büssing Ja! Einige Leute fühlen sich dadurch irritiert, weil die Furcht steckt darin. Und da muss ich noch jemanden Ehre erweisen. Das wurde vielleicht früher einem König entgegengebracht, den man ja verehren musste und den man auch zu Recht fürchten musste. Deswegen war eher der Versuch zu sagen: Es heißt staunendes Innehalten, um Ehrfurcht einmal anders umschreiben zu können. In den alten Büchern war das Thema Ehrfurcht immer mit Religiosität assoziiert, aber es ist keine Grundvoraussetzung. Also auch alle anderen Menschen: nicht-religiöser, nicht-spiritueller Art sind empfindungsfähig, sind von etwas berührt und bewegt. Und es kann auch ihr Leben verändern!   Musik 7: De Luca et Umbra -  47 Sek ERZÄHLERIN In der Bibel gibt es die berühmte Szene, in der sich Moses vor dem brennenden, aber nicht verbrennenden Dornbusch zunächst staunend und dann ehrfürchtig niederwirft, als Gott zu ihm daraus spricht. Das kann als klassische Ehrfurcht-Situation gelten: Als Mensch wird man klein vor so etwas Großem, auch demütig.  ERZÄHLER Im alltäglichen Leben sehen Situationen, die uns ehrfürchtig staunen lassen, natürlich anders aus als in der Bibel. Arndt Büssing selbst ist eher zufällig auf die Wirkung dieser Empfindung gestoßen: ZSP 12    Büssing Im Zuge dieser Forschungsprojekte, die ich gemacht hatte, bin ich immer wieder darüber gestolpert, dass einzelne Personen gesagt haben, dass etwas sie „besonders bewegt“ hat. Das war das Motiv des ehrfürchtigen Staunens. Und das gelingt auch nicht-religiösen Menschen. Auch die sind in bestimmten Situationen von etwas Besonderem fasziniert. Halten vielleicht staunend in ihrem Tun inne. Sind ganz gefangen, von etwas berührt. Und Hartmut Rosa würde das vielleicht als Resonanz bezeichnen. Das ist auch ein ganz guter und auch passender Begriff.  ERZÄHLER „Ein vibrierender Draht zwischen uns und der Welt“, so hat es der Soziologe Hartmut Rosa in einem Interview mit dem Berliner Tagesspiegel formuliert. Er plädiert für eine neue Art von Kontakt, die wir pflegen sollten. Und zwar nicht nur untereinander, sondern überhaupt: mit der Welt um uns herum. Und das hat viel mit Lebendigkeit zu tun, sagt Arndt Büssing: ZSP 13    Büssing Ich trete mit etwas in Verbindung, lass mich berühren, und es hat einen Nachklang in mir. Wenn diese Empfindungen, dann groß und tief sind, dann wird vielleicht auch mein Leben anders. Ich werde vielleicht bewusster, schaue tiefer hin, werde achtsamer.  ERZÄHLERIN Groß und tief sind für manche Frauen die Momente nach der Geburt ihres Kindes. Für andere sind es ihre einmaligen sportlichen Höchstleistungen, oder Momente von besonderer Kreativität, von inniger Liebe und Sex. Sie gehören zu den sogenannten „Peak Moments“: den Gipfelerfahrungen unseres Lebens.  ERZÄHLER Die Bedeutung solcher Momente, in denen wir komplett im Hier und Jetzt sind, wo die Zeit still zu stehen scheint und wir quasi mit der Welt verschmelzen, hatte schon der US-amerikanische Sozialpsychologe Abraham Maslow Mitte der 1960er Jahre erkannt. Maslow ist Begründer der Positiven Psychologie. Seine Forschungen zu den Ursachen mentaler Gesundheit haben gezeigt, dass Gipfelerfahrungen unbedingt dazu gehören. Sie sind so intensiv, so erschütternd, dass sie eine große Strahlkraft auf unser ganzes Leben entwickeln. ZSP 14    Büssing Ja! Das, was mich bewegt, macht ja auch einen Eindruck. Das heißt, dieser Eindruck wird auch in meinen Erinnerungen gespeichert. Ich werde mich immer wieder mit Freude daran erinnern und vielleicht doch die Sehnsucht haben: Kann ich das nicht wieder haben? Dann sind wir wieder in dieser olympischen Disziplin: Ich möchte immer wieder solche besonderen Augenblicke haben! Was natürlich nicht funktioniert. Und das ist eben das Schöne! Wir nennen es vielleicht einen „wunderbaren Augenblick“. Und Wunder kann man nicht reproduzieren. Und sie sollen etwas Einmaliges sein, sonst würden sie ihren Wert verlieren.  ERZÄHLERIN Auch Abraham Maslow glaubte, Gipfelmomente seien in jedem Leben vorhanden, aber eben etwas Seltenes. Immer wieder neue große Wunder erleben zu wollen, um sich lebendig und gut zu fühlen, das funktioniert nicht, da ist auch Arndt Büssing sicher. Was dagegen gut funktionieren kann: Das Besondere in eigenen Leben zu entdecken, indem man feiner in seiner Wahrnehmung wird.  Musik 8: The Dress –  46 sek ZSP 15    Büssing Das können natürlich auch die kleinen Erlebnisse sein, die einen kurzfristig innehalten lassen, von denen man dann vielleicht ganz fasziniert ist und die einen Lächeln lassen. Auch das hat natürlich seine Bedeutung, und ist schön und gut. Es muss nicht immer dieses große Tiefe sein, das Fantastische! ERZÄHLER Jeder kennt das. Wenn wir an einem gewöhnlichen Tag zufällig jemandem auf der Straße begegnen und ein paar Worte wechseln, gehen wir danach anders weiter: Belebter! In ihrem Buch „Mehr Zeit für die Seele. Der Weg zur Lebendigkeit“ beschreibt die Schweizer Psychologin Verena Kast wie wichtig für uns sinnliche Eindrücke sind: Der Duft vom Kaffee, der Dampf über der Tasse Tee. Solche kleinen Dinge.  Musik aus ERZÄHLERIN Ähnlich wie Hartmut Rosa plädiert Verena Kast dafür, sich immer wieder Zeit zu nehmen, um sich bewusst einzulassen auf unsere Umgebung, sei es zu Hause oder in der Natur. Viele Facetten von Freude und Verbindung zu Menschen und der Welt können wir dann erleben und so immer wieder neu bemerken, dass das Leben bereichernder und schöner ist, als erwartet.  ERZÄHLER Um noch mehr über ehrfurchtsvolles Staunen herauszufinden, hat Professor Arndt Büssing eine weitere Studie begonnen:   ZSP 16   Büssing Wir haben uns angeschaut: Was empfindet jemand? Wie empfindet jemand? Wie intensiv? Und wie häufig empfindet jemand so etwas wie dieses staunende Innehalten? Gefühle von Dankbarkeit, die sich dann anschließend einstellen können. Da haben wir uns unterschiedlichste Personengruppen angeschaut: Meditierende, Yogaübende, Ordensleute, Normalmenschen, Studierende, Patienten mit Schmerzerkrankungen. Unterschiedlichste Menschengruppen, auch Personen mit depressiven Erkrankungen.  ERZÄHLERIN Im Ergebnis fiel auf, dass es sehr deutliche Unterschiede im Empfinden gibt:  ZSP 17    Büssing Das ist jetzt nicht so, dass es Menschen gibt, die so etwas gar nicht empfinden würden. Aber es fällt eben deutlich dabei auf, dass diejenigen, die einen bewussten Lebensstil haben: also die Yoga-Übenden, die Ordensleute zum Beispiel, die auch eine religiöse oder spirituelle Praxis haben, die das also auch häufig einüben, so dass sie es leichter wahrnehmen, die haben viel höhere Scores gehabt als andere Personengruppen.  ERZÄHLERIN Sie haben also deutlich besser abgeschnitten hinsichtlich Erlebnissen, die als intensiv empfunden wurden. Auf der Basis der zahlreich beantworteten Fragebögen und tiefergehenden Interviews hat Büssing inzwischen ein Programm entwickelt, dass er „Staunendes Innehalten“ nennt. Der positive Einfluss von kleinen Ritualen auf das Wohlbefinden soll möglichst vielen zugutekommen. ERZÄHLER Das ganze Programm ist kostenlos im Internet auf den Seiten der Universität Witten/Herdecke erhältlich. Für einen Zeitraum von zwei bis höchstens drei Wochen kann man mit Hilfe dieses Materials üben, wie Staunen und Innehalten im Alltag funktionieren. Und man kann dabei beobachten, wie sich der eigene Alltag dadurch verändert, wie das Lebensgefühl sich intensiviert. ZSP 18    Büssing Gut. Das kann also jeder so selbständig für sich gestalten, wie es zu seiner Lebenssituation passt. Dabei werden also für jeden Tag bestimmte, meditativ und anregende Texte bereitgestellt, die man dann mit in den Tag hineinnehmen kann. Werden auch weitere Vorschläge gemacht, die in einem Booklet zu finden sind, dass man sich kostenlos herunterladen kann. ERZÄHLERIN Auffällig ist, dass jeder Tag durch die Vorschläge in diesem mehrwöchigen Programm einen klaren Rhythmus bekommt:  ATMO aus Archiv: Vogelgezwitscher morgens… ERZÄHLER Der Tag soll morgens mit einer kurzen Zeit der Stille begonnen werden, um sich zu sammeln und eine besondere Atmosphäre zu schaffen, seine natürliche Umwelt wahrnehmen. Und dann kommt etwas Zeit für einen speziellen kleinen Text zur Inspiration. An Tag eins handelt er von einer schönen Situation, in der man einmal Kaffee getrunken hat. Es folgt eine kleine Zeit der Meditation, egal ob im Gehen oder Sitzen.  ATMOS Schritte auf Kies, Kreuzblende von Vogelgezwitscher in Grillenzirpen ERZÄHLERIN Für den Nachmittag wird immer ein kleiner Spaziergang empfohlen, von dem man etwas mitbringen soll, das einen berührt hat. Diese Gegenstände bekommen für die Zeit des Programms einen besonderen Platz in der Wohnung. Auch eine kurze Zeit für einen Tee oder Kaffee soll man sich einräumen und ihn bewusst genießen.  ATMOS aus nach Wohnungstür zu ZSP 19    Büssing Besonders wichtig erscheint mir, dass auch ein Tagesrückblick am Abend erfolgt: Was mich bewegt hat, womit ich in Resonanz gegangen bin, besonders mit diesem anregenden Tages-Text. Das kann man dann noch in einem Tagebuch aufschreiben, in das man immer wieder hineinschauen kann, wenn man das Gefühl hat, nichts ist toll in meinem Leben! Man kann es wieder zu Rate ziehen und stellt fest: Doch! Mich hat etwas bewegt und berührt. Und es war eine Zeit, die kann ich vielleicht auch wiederholen: Indem ich mich daran erinnere, wie das noch mal ging.  ERZÄHLERIN Schon beim Anschauen des Booklets, das liebevoll mit Fotos und Texten gestaltet ist, lässt sich ahnen: Ja, das könnte etwas bewirken! So anregend sind die täglichen Aufgaben. Aber lässt sich unser Gefühl, dass wir ein intensives Leben führen, durch das ehrfürchtige Staunen wirklich steigern? Hat nicht jeder sein eigenes, persönliches Limit? ZSP 20    Büssing Es ist immer schwierig. Man kann Personen finden, die haben, wenn man das jetzt quantifizieren wollte, schon sehr hohe Ehrfurchts-Scores. Da kann man vermutlich nicht mehr noch mehr steigern, weil sie schon sehr bewusst sind. Aber mit Personen, wo noch Platz nach oben ist, da kann man tatsächlich dieses Erleben auch weiter trainieren.  ERZÄHLER Gerade Menschen mit depressiven Erkrankungen fällt es deutlich schwerer zu staunen oder die Lebendigkeit und Verbundenheit mit der Welt zu empfinden. Da wäre noch viel möglich, glaubt Büssing, vieles haben wir selbst in der Hand. Seine Überlegungen und Forschungsergebnisse hat er in seinem 2024 erschienenen Buch „Innehalten“ zusammengefasst.  ATMOS Amselgezwitscher, Park, Schritte ERZÄHLERIN Wer also ein intensiveres Leben führen möchte, könnte schon heute beginnen: Ein kurzer bewusster Spaziergang wäre ein Anfang! Musik 9: Grapefruit diet – siehe vorn– 36 Sek ZSP 21    Büssing Und dann stellt man irgendwann fest, dass es eigentlich gar nicht so schwierig, mit offenen, aufmerksamen Augen durchs Leben zu gehen. In einer bestimmten Tradition nennt man das dann Achtsamkeit. Das kann man eigentlich nennen, wie man möchte. Es geht um eine Resonanzfähigkeit, Berührungsfähigkeit, dass ich all das in Anführungszeichen „Heilige“ in meinem Leben tatsächlich wieder wahrnehmen kann. Ich kann mich vielleicht noch mehr freuen über all das, was ich mich umgibt und noch besser wertschätzen. Denn eigentlich ist nichts von all dem, was uns umgibt und unser Leben ausmacht, selbstverständlich.  
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Nov 27, 2024 • 23min

James Bond - Männlichkeit im Spiegel der Zeit

James Bond, britischer Geheimagent, schreibt seit Jahrzehnten Kinogeschichte, erfolgreich und ausdauernd. Als Weltenretter und Frauenmagnet profiliert er sich immer wieder neu und spiegelt Männlichkeitsideale und den Zeitgeist. Von Brigitte Kohn (BR 2023)Autorin dieser Folge: Brigitte Kohn Regie: Sabine Kienhöfer Es sprachen: Katja Amberger und Thomas Birnstiel Technik: Regine Elbers Redaktion: Bernhard Kastner Das Manuskript zur Folge gibt es HIER. Interviewpartner/innen: Stefani Brusberg-Kiermeier, Professorin für Englische Literatur und Didaktik an der Universität Hildesheim;Prof. Werner Greve, Professor für Psychologie an der Universität Hildesheim Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. RadioWissen finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | RadioWissen JETZT ENTDECKEN
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Nov 26, 2024 • 24min

Die Geschichte des Aufzugs - Wie der Fahrstuhl die Welt veränderte

Ohne den Aufzug sähe unser Alltag um einiges beschwerlicher aus. Und die Häuser in unseren Städten hätten nie besonders weit in die Höhe wachsen können. Doch der Fahrstuhl ist keine Erfindung unserer Zeit. Seine Anfänge reichen weit zurück. Der Aufzug, wie wir ihn heute kennen, entstand schließlich ab Mitte des 19. Jahrhunderts. Autor: David Globig (BR 2023)CreditsAutor dieser Folge: David GlobigRegie: Rainer SchallerEs sprachen: Katja Amberger, Kia AhnsenTechnik: Andreas LuckeRedaktion: Iska Schreglmann Interviewpartner/innen: Dr. Heinz-Jürgen Beste, wissenschaftlicher Referent, Deutsches Archäologisches Institut Rom;Prof. Andreas Bernard, Kulturwissenschaftler, Leuphana-Universität Lüneburg;Christian Tauss, Gründer des Wiener Aufzug Museums;Beate Höhnle, Testturm-Managerin, TK Elevator, Rottweil Diese hörenswerten Folgen von radioWissen könnten Sie auch interessieren: Seilbahnen - Am Drahtseil auf Gipfel und durch StädteJETZT ANHÖREN  Die Mikrowelle - Vom Radargerät in die KücheJETZT ANHÖREN  Klang-Speicher - Von der Wachswalze zum USB-StickJETZT ANHÖREN  Linktipp: Wiener Aufzug Museum:EXTERNER LINK | https://www.aufzugmuseum.at/ Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion: Newsjunkies | Ein Podcast von rbb24 InforadioEin Tag, ein großes Nachrichten-Thema. Das liefert "Newsjunkies". Wir fragen nach dem Warum und geben Antworten und Hintergründe.JETZT ANHÖREN Literaturtipp: Andreas Bernard: "Die Geschichte des Fahrstuhls. Über einen beweglichen Ort der Moderne", FISCHER Taschenbuch, Frankfurt a. M. 2006. Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.RadioWissen finden Sie auch in der ARD Audiothek:ARD Audiothek | RadioWissenJETZT ENTDECKEN
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Nov 26, 2024 • 23min

Die Wurst - Von Tradition bis Tofu

Wenn es um der Deutschen liebste Speisen geht, landet man schnell bei der Wurst. Mehr als 27 Kilogramm Wurst und Schinken verzehrt jeder von uns durchschnittlich im Jahr. Und die Auswahl ist schier unübersichtlich. Radiowissen rückt der Wurst als Nahrungsmittel und Kulturgut auf die Pelle. Autorin: Susanne Hofmann (BR 2023)CreditsAutorin dieser Folge: Susanne HofmannRegie: Sabine KienhöferEs sprachen: Thomas Birnstiel, Jerzy May, Julia CortisTechnik: Daniela RöderRedaktion: Iska Schreglmann Das Manuskript zur Folge gibt es HIER. Im Interview:Dr. Wolfger Pöhlmann, Kunsthistoriker und Wurstexperte;Eva Kirchberger, Diplom-Ökotrophologin vom Verbraucherservice Bayern;Anton Schreistetter, Metzgermeister und Schulleiter der Fleischerschule des Fleischerhandwerks Augsburg  Diese hörenswerten Folgen von radioWissen könnten Sie auch interessieren: Abgrenzung durch Essen - Wie soziales Bewusstsein unsere Ernährung bestimmtJETZT ANHÖREN Nutztierställe im Wandel - Eine Frage der HaltungJETZT ANHÖREN Fettleibigkeit - Warum werden wir dick?JETZT ANHÖREN Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:Ein Tag, ein großes Nachrichten-Thema. Das liefert "Newsjunkies". Der Podcast fragt nach dem Warum und gibt Antworten und Hintergründe.NewsjunkiesZUM PODCAST Buchtipp:Wolfger Pöhlmann: Es geht um die Wurst, Knaus Verlag, 2017 Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.RadioWissen finden Sie auch in der ARD Audiothek:ARD Audiothek | RadioWissenJETZT ENTDECKEN
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Nov 25, 2024 • 23min

Unterschätzte Moore - Was sich im Torf verbirgt

Viele Moore sind in den letzten Jahrzehnten trockengelegt worden, um sie für die Landwirtschaft zu nutzen. Das Problem: Trockengelegte Moore setzen Unmengen von Treibhausgasen frei. Autorin: Jenny von Sperber (BR 2017) Credits Autorin dieser Folge: Jenny von Sperber Regie: Eva Demmelhuber Es sprachen: Beate Himmelstoß, Axel Wostry, Clemens Nicol Technik: Miriam Böhm Redaktion: Gerda Kuhn Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. RadioWissen finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | RadioWissen JETZT ENTDECKEN
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Nov 25, 2024 • 22min

Misogynie - Die Abwertung des Weiblichen

Misogynie hat viele Gesichter - und eine lange Geschichte. Seit der Antike wurde die Frau als unvollkommenes, defizitäres Wesen betrachtet, heute nimmt der Frauenhass gerade starke Frauen ins Visier. Von Beate Meierfrankenfeld (BR 2020) Credits Autorin dieser Folge: Beate Meierfrankenfeld Regie: Christiane Klenz Es sprachen: Katja Bürkle, Shenja Lacher, Beate Himmelstoß Technik: Roland Böhm Redaktion: Bernhard Kastner Das Manuskript zur Folge gibt es HIER. Interviewpartner/innen:Prof. Dr. Andrea Geier, Literaturwissenschaftlerin (Universität Trier); Nicole Schöndorfer, Feministin, Journalistin (Wien); Jasna Strick, Autorin, Feministin, Aktivistin (Berlin) Diese hörenswerten Folgen von radioWissen könnten Sie auch interessieren: Das Frauenstimmrecht - Der erste Schritt zur GleichberechtigungJETZT ANHÖREN Frauenstimmrecht in der Schweiz - Der lange Weg zur WahlurneJETZT ANHÖREN Simone de Beauvoir - Feministin und PhilosophinJETZT ANHÖREN Frauenberufe um 1900 - Aufbrüche und GrenzenJETZT ANHÖREN Anita Augspurg - Eine radikale Feministin und PazifistinJETZT ANHÖREN Das Fräulein vom Amt - Am Nerv der ZeitJETZT ANHÖREN Linktipp: Frauen ins Rampenlicht! Der Instagramkanal frauen_geschichte versorgt Sie regelmäßig mit spannenden Posts über Frauen, die Geschichte schrieben. Ein Angebot des Bayerischen Rundfunks. EXTERNER LINK | INSTAGRAMKANAL frauen_geschichte Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. RadioWissen finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | RadioWissen JETZT ENTDECKEN
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Nov 25, 2024 • 20min

Creative Writing - Kann man Schreiben lernen?

Hanns-Josef Ortheil, Autor und Professor für kreatives Schreiben in Hildesheim, diskutiert die Frage, ob kreatives Schreiben erlernt werden kann oder ob es eine angeborene Fähigkeit ist. Er beleuchtet Unterschiede zwischen den USA und Deutschland in der Schreibausbildung. Ein spannender Aspekt ist die heilende Kraft des Schreibens, die emotionale Distanzierung und Selbstreflexion fördert. Ortheil erklärt, wie kreative Workshops helfen, Schreibblockaden zu überwinden und das emotionale Wohlbefinden zu steigern.
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Nov 25, 2024 • 25min

Schwarmintelligenz - Was kann das Kollektiv?

Wenn sich Fische zu einem Schwarm zusammenfinden, um den Attacken eines Fressfeindes zu entgehen, spricht man von kollektiver Intelligenz. Auch der Mensch kann kognitive Probleme unter bestimmten Bedingungen im Schwarm besser lösen als der beste Experte allein. Was kann er von Vögeln, Bienen und Ameisen lernen? Autorin: Roana Brogsitter (BR 2023) Credits Autorin dieser Folge: Roana Brogsitter Regie: Kirsten Böttcher Es sprachen: Sven Hussock, Susanne Schroeder Technik: Michael Krogmann Redaktion: Nicole Ruchlak Das Manuskript zur Folge gibt es HIER. Interviewpartner/innen:Prof. Jens Krause, Verhaltensbiologe Humboldt Universität Berlin und Leibniz Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei;Prof. Sanaz Mostaghim, Informatikerin Institut für Intelligente Kooperierende Systeme Universität Magdeburg;Prof. Christoph Bieber, Politikwissenschaftler Center for Advanced Internet Studies Diese hörenswerten Folgen von radioWissen könnten Sie auch interessieren: Intelligente Krähen - Tierische WerkzeugbauerJETZT ANHÖREN Ameisen - Staatenbildende Insekten der SuperlativeJETZT ANHÖREN Linktipp: In der Gruppe schlauer: Die SchwarmintelligenzTiere sind im Schwarm oft schlauer – aber wie machen sie das? Mehr dazu in der TV-Doku von „W wie Wissen“.JETZT ANSEHEN Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion: Kinder der Flucht – Frauen erzählenPodcastserie mit 4 Folgen | ARD AudiothekWas bedeutet es, die Heimat zu verlassen? Wie kann das Ankommen gelingen?Shahrzad Osterer präsentiert die bewegenden Geschichten von vier Frauen und Müttern, deren Leben von einer Flucht geprägt wurde.JETZT IN DER ARD AUDIOTHEK HÖREN Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. RadioWissen finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | RadioWissen JETZT ENTDECKEN
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Nov 22, 2024 • 24min

Harmonie der Welt - Das schwingende Universum

Bereits in der Antike war Astrophysik bzw. Astronomie und Musik eng miteinander verbunden und gipfelte in der Idee einer "Sphärenmusik". Warum fasziniert diese Vorstellung viele Menschen bis heute? Von Martin SchrammCredits Autor dieser Folge: Martin Schramm Regie: Martin Trauner Es sprachen: Thomas Birnstiel, Hemma Michel, Jerzy May, Christoph Jablonka Redaktion: Thomas Morawetz Im Interview: Dr. Markus Nielbock, Max-Planck-Institut für Astronomie, Heidelberg; Pierre Leich, Wissenschaftshistoriker, Nürnberg Diese hörenswerten Folgen von Radiowissen könnten Sie auch interessieren: Giordano Bruno - Nichts unter der Sonne ist neuAm 17. Februar 1600 landet Giordano Bruno auf dem Scheiterhaufen, einer der unbequemsten und zugleich genialsten Denker der Renaissance. Wie konnte es soweit kommen?  HIER Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Radiowissen finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Radiowissen JETZT ENTDECKEN Das vollständige Manuskript gibt es HIER. Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: SPRECHER Der Blick nach oben - in den klaren Sternenhimmel - seit Jahrtausenden bringt er Menschen zum Grübeln: Majestätisch ziehen die Planeten ihre Bahnen zwischen den funkelnden Sternen. Merkur, Venus, Mars, Jupiter, Saturn, Uranus - der Nachthimmel wird gleichsam zur „Bühne“ für die ewige Reise der Planeten durchs All. SPRECHERIN Eine „Reise“, die Fragen aufwirft: Folgt sie irgendwelchen Gesetzen? Ist sie Teil einer größeren „kosmischen Ordnung“? Ausdruck einer „universellen Harmonie“? Am Ende einer Harmonie, die man sogar hören kann? SPRECHER Die Vorstellung einer Art „Sphärenmusik“ begeistert Menschen seit Jahrhunderten. SPRECHERIN Andere wiederum halten sie für genauso originell, wie unsinnig. Denn was genau sollte da eigentlich „erklingen“? Eine Art „Sternen-Konzert?“ Eine „Ballade der Planeten“? SPRECHER Und was können Wissenschaftler heute mit dieser Vorstellung noch anfangen? MUSIK (Cosmos) ZITATOR Die Idee - oder: Das Schwingende Universum SPRECHER Die Vorstellung einer „Sphären-" oder „Himmelsharmonie“ taucht bereits in der Antike, in der Gedankenwelt der Pythagoreer auf. Die Grundidee: Die Planeten erzeugen durch ihre streng gleichförmigen Kreisbewegungen Töne - eine Art kosmischer Zusammenklang, eine Harmonie stellt sich ein. SPRECHERIN Eine Harmonie, die auf besonderen Zahlenverhältnissen gründet. Pythagoras macht damals nämlich einen wegweisenden Schritt: Er glaubt, dass man die schon lange vor ihm postulierte „Harmonie des Universums“ auch mathematisch erklären kann. SPRECHER Zufällig entdeckt er, dass die Höhe eines Tons von der Länge der Saite und deren Schwingungen abhängt. Dass sich Intervalle also durch Zahlenverhältnisse darstellen lassen. Durch ganz besondere Zahlenverhältnisse. SPRECHERIN Eindrücklich demonstrieren lässt sich das am sogenannten „Monochord“. Einem Apparat, bei dem eine einzige Saite über einen länglichen Resonanzkasten gespannt ist. SPRECHER Verändert man die Saitenlänge, stellen sich besondere Klänge ein, Klänge die wir als besonders „konsonant“ empfinden: Oktave (SOUND), Quinte (SOUND), Quart (SOUND), Terz (SOUND), Sext (SOUND) usw. SPRECHERIN Und diese besonderen „Zusammenklänge“, entsprechen besonderen „Proportionen“, den Verhältnissen einfacher, ganzer Zahlen: 1:1, 1:2, 2:3, 3:4 usw. SPRECHER Die faszinierende Erkenntnis: Musik folgt offenbar einfachen mathematischen Gesetzen. SPRECHERIN Und diese Vorstellung wird dann schnell auf den ganzen Kosmos bezogen. D.h. auf die damalige Vorstellung einer göttlich geschaffenen Welt, in deren Zentrum die Erde steht. Eine Erde, die von „kristallinen Kugelschalen“ umgeben ist, von kristallinen „Sphären“. - Der Wissenschaftshistoriker Pierre Leich: 01-O-TON Leich  Sphären „Ja, man hat in der Antike die Vorstellung gehabt, dass es so eine Art kristalline Sphäre aus einem himmlischen Stoff gibt, die gewissermaßen als Träger der Bewegung der Gestirne fungieren. Denn dass die Gestirne sich zumindest scheinbar um die Erde drehen, das sieht man ja unmittelbar. Und die Vorstellung, dass die Bewegungen in irgendeiner Weise fixiert werden müsste, entspricht auch dem, was wir auf der Erde erwarten würden. Wenn wir eine Uhr bauen oder derartiges. Und die Planeten, die hat man sich dann entweder auf diesen kristallinen Sphären sozusagen draufgepappt irgendwie vorgestellt. oder auch zwischen den Sphären. Beide Varianten sind durchaus immer wieder vorgekommen.“ SPRECHER Kristalline Schalen, auf denen sich Planeten um den Nabel der Welt, die Erde bewegen - eine Vorstellung, die uns heute reichlich seltsam anmutet, die damals aber durchaus plausibel erscheint. Denn irgendetwas musste die Gestirne schließlich auf ihrer Bahn halten, dafür sorgen, dass sie nicht einfach weg drifteten. Dass unsichtbare Gravitationskräfte die Planeten leiten, sollte erst viel später ein gewisser Isaac Newton beschreiben. SPRECHERIN Damals völlig plausibel erschien den Menschen auch die Vorstellung, dass Planeten, bzw. die Sphären, „Töne“ erzeugen. Es entsprach der alltäglichen Beobachtung, dass Dinge, die schwingen, die sich bewegen, eben „klingen“. - Der Astrophysiker Markus Nielbock: 02-O-TON Nielbock  Die göttliche Ordnung „Und je nachdem in welchem Abstand von der Erde und welcher Geschwindigkeit von der Erde sich diese Sphäre mit den Planeten und am Schluss dann den Fixsternen bewegt, gibt das unterschiedliche Abfolgen von Tönen, die man mit der Musik identifizieren kann. Das ist im Prinzip der Grundgedanke dieser Sphärenmusik. Man sieht hier sozusagen die Ordnung des Kosmos widergespiegelt in Tönen, in einer Art von Musik. Und der Grundtenor ist ja, das ist die gleiche Ordnung, die gleiche göttliche Ordnung, die alles wirklich bestimmt.“ SPRECHER Musik und Gestirne folgen den gleichen Gesetzen. Die Zahl wird zur „Klammer“, zum „ordnenden Faktor“, der Himmel und Musik verbindet. SPRECHERIN Bereits in der Antike wird diese Idee allerdings auch heftig diskutiert. Vor allem die berechtigte Frage: Wenn der Kosmos tatsächlich schwingt und tönt - warum hört man dann nichts davon auf der Erde? SPRECHER Die „Sphären-Harmoniker“ überboten sich durch alle möglichen Erklärungen: Von „Naja, wenn etwas ununterbrochen erklingt, dann nimmt man es eben irgendwann nicht mehr wahr, es wird zu einer Art Hintergrundrauschen“ - bis hin zur steilen These, dass eben nur Auserwählte wie Pythagoras selbst die Himmelsharmonie tatsächlich „hören“ könnten. SPRECHERIN Doch kritische Denker wie Aristoteles überzeugte das nicht. Er meldet Zweifel an, Zweifel an einer Sphärenharmonie, die man tatsächlich „hören“ könnte – und spart nicht mit Polemik: ZITATOR 1 Aristoteles – (Vom Himmel) „Die Behauptung es entstünde bei der Bewegung der Gestirne eine Musik, in dem die Töne zusammenstimmten, ist zwar fein und originell, aber keineswegs wahr….((Nicht nur ist es unsinnig, dass wir nichts hören, sondern auch, dass wir abgesehen von dieser Sinneswahrnehmung nichts merken sollten…)) es ist vielmehr wahrscheinlich, dass wir nichts hören, und die Körper keine gewaltsame Einwirkung erleiden, weil kein Ton vorhanden ist!“ SPRECHER Natürlich sind wir heute schlauer: In den Weiten des Weltalls ist es tatsächlich gespenstisch still. Es fehlt schlicht und einfach ein Medium wie beispielsweise Luft, das Schallwellen transportieren könnte. SPRECHERIN Stattdessen ist dort draußen vor allem eines: nichts. Ein nahezu perfektes Vakuum. Selbst wenn im All also etwas schwingt, explodiert oder kollidiert - wir können es nicht hören. SPRECHER Und vielleicht ist das auch ganz gut so. - Pierre Leich: 03-O-TON Leich  Sonne “Im Falle der Sonne, denke ich, dürfen wir alle auch ganz froh sein, dass dem so ist. Denn wenn man sich vorstellen würde zwischen der Sonne und uns wäre ein Medium, was den Schall überträgt, dann wäre es ja hier auf der Erde so unglaublich laut, dass wir überhaupt nichts mehr hören könnten. ((Also hätte sich dann mit Sicherheit weder Gehör, noch Stimme entwickeln können. Also wir können sogar froh sein, dass uns da keine Geräusche erreichen.)) Aber es schwingt ja auch immer der Gedanke mit, dass es gar nicht um Geräusche im engeren Sinn geht, sondern tatsächlich nur um mathematische Proportionen.“ SPRECHER Ein genialer Mathematiker - zugleich einer der profiliertesten theoretischen Astronomen um 1600, sollte die Tradition dieser pythagoreischen Harmonievorstellungen wieder aufgreifen: Johannes Kepler. ((SPRECHERIN Dieser scharfsinnige Denker ist davon überzeugt, dass sich der uralte Glaube an ein musikalisch schwingendes Universum durchaus wissenschaftlich untermauern lässt - und zwar mit den physikalischen Gesetzen des 17. Jahrhunderts.)) MUSIK (Cosmos) ZITATOR Weltharmonik - oder: Die Vermessung des Himmels SPRECHER Von der Erde aus betrachtet, malen manche Planeten seltsame Linien an den Himmel, wundersame Schleifen. Vor allem der Mars scheint nicht ganz zu wissen, was er will, irrt gleichsam umher: kehrt plötzlich seine Richtung um, usw. SPRECHERIN Passt das zum „rationalen Plan“ eines Schöpfers? Lässt Gott die Planeten tatsächlich wie „verirrte Reisende“ am Himmel wandern? Das konnte nicht sein. SPRECHER Folgte man Kopernikus - und geht davon aus: nicht die Erde ist der Mittelpunkt des Kosmos, sondern die Sonne, um die die Planeten kreisen -, dann entwirren sich die Schleifen plötzlich. Plötzlich ergeben sie Sinn. SPRECHERIN Johannes Kepler prüft Kopernikus Theorie mithilfe komplizierter mathematischer Berechnungen - und anhand der besten Beobachtungsdaten, die es damals gibt: den Daten, die der dänische Astronom Tycho Brahe gesammelt hatte. SPRECHER Und doch ist es ein jahrelanger Kampf, bis Kepler sich endlich dazu durchringt, ein revolutionäres Ergebnis anzuerkennen: Die Planeten bewegen sich nicht in perfekten Kreisen, sondern in Ellipsen. Und zwar nicht um die Erde, sondern um die Sonne! SPRECHERIN Kepler muss also ausgerechnet jenen vollkommenen Kreis opfern, der für Astronomen bis dahin als „Garant für Perfektion“ galt. - Markus Nielbock: 04-O-TON Nielbock  Traditionsbruch „Das war ja auch ein Teil dieser Vorstellung, dass das alles eine göttliche Ordnung hat. Und was ist göttlicher, was ist perfekter als ein perfekter Kreis? Und Kepler hat dann später gesehen: ja geht nicht mit dem Kreis, das ist völlig unmöglich, als er dann die Marsbahn sich angeguckt hat, machen wir doch eine Ellipse draus. Und das war dann schon ein ziemlich klarer Bruch zu einer Jahrtausend langen Tradition, was die Astronomie wirklich machte.“ SPRECHERIN Kepler korrigiert aber nicht nur die Vorstellung perfekter Kreisbahnen, er verabschiedet auch die Vorstellung, dass sich Planten völlig gleichförmig bewegen. Er stellt fest: Die Geschwindigkeit schwankt, die Planeten laufen in Sonnennähe schneller als in Sonnenferne. SPRECHER Den eigentlichen Volltreffer landet Kepler allerdings mit seinem sogenannten „dritten Gesetz“. Er entdeckt, dass es einen festen Zusammenhang gibt, zwischen den Abständen der Planeten zur Sonne und ihren Umlaufzeiten - also: Wie weit ein Planet von der Sonne entfernt ist, und wie schnell er sich dabei bewegt - das ist kein Zufall. Dahinter verbirgt sich eine nachprüfbare Gesetzmäßigkeit, ein Naturgesetz, eine Konstante, die man berechnen kann. SPRECHERIN Den Weg hin zu dieser Einsicht schildert Kepler im 5. Buch seiner „Weltharmonik“: ZITATOR 1 Kepler Weltharmonik „Am 8. März des Jahres 1618 ist diese Proportion in meinem Kopf aufgetaucht. Bei der Berechnung hatte ich aber zunächst keine glückliche Hand: Ich verwarf sie als falsch. Doch dann, am 15. Mai kam sie wieder - und triumphierte in einem neuen Anlauf über die Finsternis meines Geistes. Wobei sich zwischen meiner siebzehnjährigen Arbeit an den Tychonischen Beobachtungen und meiner gegenwärtigen Überlegung eine derart treffliche Übereinstimmung einstellte, dass ich zuerst glaubte, ich hätte geträumt - und das Gesuchte in den Beweisunterlagen vorausgesetzt.“ SPRECHER Doch Kepler hatte nicht geträumt. Er hat eine mathematisch nachprüfbare Gesetzmäßigkeit entdeckt. Die Formel lautet vereinfacht gesagt: „Die Quadrate der Umlaufzeiten zweier Planeten verhalten sich zueinander wie die dritten Potenzen der Bahnradien.“ SPRECHERIN Klingt kompliziert. Doch die entscheidende Botschaft ist letztlich: Alle Planeten folgen einem gemeinsamen Gesetz. Folgen einer klassischen Proportion, wie sie auch jedem antiken Mathematiker gefallen hätte. SPRECHER Das Gesetz gilt allerdings nur, wenn man davon ausgeht, dass sich die Planeten um die Sonne, nicht um die Erde drehen. - Pierre Leich: 05-O-TON Leich „Und insoweit hat Kepler mit dem dritten Keplerschen Gesetz nicht nur dieses Prinzip der Harmonie in den Bewegungen der Planeten des Sonnensystems wiederentdeckt, sondern er hat uns auch das für seine Zeit mit Abstand beste Argument für den Heliozentrismus überhaupt geliefert.“ SPRECHERIN Und: Auf Hunderten von Seiten versucht Kepler schließlich auch detailreich ganz konkrete harmonische Verhältnisse zwischen den einzelnen Planeten nachzuweisen. Dass die Abstände und Geschwindigkeiten der Planeten dabei variieren, erweist sich aus Keplers Sicht nun sogar als weiser göttlicher Plan. Wenn die Abstände variieren, bedeutet das nämlich: Es gibt nicht den einen ewig gleichen Ton – es entstehen vielmehr unterschiedliche Töne - und damit Intervalle, also „Zusammenklänge“. SPRECHER Konkret: Kepler berechnet ein Verhältnis – und zwar das der Geschwindigkeit in Sonnennähe und der Geschwindigkeit in Sonnenferne, für jeden einzelnen Planeten. Dieses Verhältnis ist nichts anderes ein Intervall, das er so jedem der damals bekannten sechs Planeten jeweils zu ordnen kann: SPRECHER/SPRECHERIN (im Wechsel): Erde: 27:28 / Mars: 5:6 / Saturn: 9:10 / Jupiter: ebenfalls 9:10 / Venus: 80:81 / Merkur: 3:4 SPRECHERIN Diese Intervalle der einzelnen Planeten setzt er wiederum miteinander in Beziehung, berechnet wie die einzelnen Planeten zueinanderstehen – und entdeckt dort Tonintervalle, ganzzahlige Verhältnisse, beispielsweise: SPRECHER/SPRECHERIN (im Wechsel): Saturn - Jupiter: 1:3 / Jupiter - Saturn: 2:1 / Erde - Mars: 3:2 / Erde – Venus: 3:5 usw. SPRECHER Kepler ordnet einzelnen Planeten sogar bestimmte Tonleiterleitern zu. Doch wer jetzt fragt: „Kann man das bitte mal hören, dieses <Konzert der Sterne>?“ - der wird enttäuscht: Zu „hören“, bzw. akustisch zu messen auf der Erde, gibt es da auch aus Keplers Sicht eigentlich nichts. SPRECHERIN Keplers Projekt „Harmonie der Welt“ verfolgt ein viel größeres Ziel: Getragen von einer tiefen religiösen Überzeugung will er eine Art göttlichen „Weltplan“ aufdecken: verborgene Harmonien und Proportionen, die alles durchdringen. Sprich: Kepler glaubt, dass die Welt auch im kleinsten Schneekristall eine Ordnung widerspiegelt.  SPRECHER Diese Ordnung im Großen und Kleinen zu entdecken, ist seine Mission. Er versucht also gleichsam Gottes Gedanken „nachzudenken“, seinen mathematischen Plan zu ergründen, wie er selbst schreibt: ZITATOR 1 Kepler (Weltharmonie) „Ich fühle mich von einer unaussprechlichen Verzückung ergriffen ob des göttlichen Schauspiels der himmlischen Harmonie. Denn wir sehen hier, wie Gott gleich einem menschlichen Baumeister, der Ordnung und Regel gemäß, an die Grundlegung der Welt herangetreten ist.“ MUSIK (Cosmos) ZITATOR Das Konzert der Sterne - oder: Alles Zufall? SPRECHERIN Was konnten spätere Astronomen nun mit der Idee einer „Sphärenmusik“ - eines harmonisch „schwingenden Universums“, ja einer „Harmonie der Welten“ anfangen? Konnten sie an diese Vorstellung irgendwie anknüpfen? SPRECHER Man nehme: die Zahlenfolge 0, 3, 6, 12, 24, 48, 96 usw., also eine Reihe in der nach der Zahl drei jede Zahl das Doppelte der vorangegangenen ist. Dann addiere man zu jeder Zahl eine 4. SPRECHERIN Voilà, und schon kann man die Entfernungen aller bekannten Planeten von der Sonne bestimmen. SPRECHER Die Idee: die Abstände der Planeten von der Sonne lassen sich mit einer einfachen mathematischen Formel näherungsweise allein aus der Nummer ihrer Reihenfolge herleiten. SPRECHERIN Klingt erstaunlich - und diese Zahlenreihe gibt es tatsächlich. Sie nennt sich „Titius-Bode-Reihe“, benannt nach den Astronomen „Johann Daniel Titius“ und „Johann Elert Bode“ – veröffentlicht 1772. SPRECHER Die Regel stimmt mit den tatsächlichen Verhältnissen in unserem Sonnensystem ganz gut überein. Doch es gibt auch Unstimmigkeiten: Abweichungen von bis zu 5 % und mehr - z.B. bei Mars und Saturn. Pierre Leich: 06-O-TON Leich  Titus Bode Reihe „Man hat eine Zeit lang jetzt viele Exoplaneten gefunden. Da hat es natürlich auch Leute gegeben, die geguckt haben, ob man die Titius-Bode-Reihe bei diesen Planetensystemen auch feststellen kann. Dann gab es ein paar, dann war große Euphorie. Inzwischen hat man so viele, dass man auch wieder sagen muss, das war Zufall. Bei einigen passt das halt und bei den meisten aber nicht. Aber für den naturgesetzlichen Zusammenhang würde man schon fordern: entweder es gilt grundsätzlich immer, oder ist es halt Zufall.“ SPRECHERIN Auch die bereits von Kepler beschriebenen ganzzahligen harmonischen Verhältnisse der Bahnen und Sonnenumlaufzeiten von Planeten können Astronomen heute durchaus beobachten. SPRECHER Stern „HD 110067“ z.B. - von uns ca. 100 Lichtjahre entfernt - wird von sechs Planeten umkreist, deren Umlaufzeiten alle in ganzzahligen sogenannten „Resonanzverhältnissen“ stehen. SPRECHERIN Oder: Stern „TOI-178“ - rund 200 Lichtjahre von uns entfernt - auch er wird von sechs Planeten umkreist. Fünf davon bewegen sich in einem harmonischen Rhythmus. SPRECHER Und wir wissen heute auch, warum solche Effekte auftreten: Planeten oder andere Himmelskörper in einem System beeinflussen sich gegenseitig durch ihre Schwerkraft. SPRECHERIN Die Folge: Es stellen sich stabile harmonische Verhältnisse ein – zwischen den Umlaufzeiten der Planetenbahnen. Offenbar als das Ergebnis eines „Reifungsprozesses“: vom Chaos zur Ordnung. - Der Astrophysiker Markus Nielbock: O-TON Nielbock  Reifungsprozess „Das hat was damit zu tun, wie sich so ein System, was anfänglich tatsächlich chaotisch ist, sich im Laufe der Zeit entwickelt. Und man geht heute davon aus, dass eben durch die gravitative Wechselwirkung in so einem Planetensystem sich irgendwann ein Gleichgewichtszustand einstellt, der eben durch diese ganzzahligen Verhältnisse widergespiegelt wird. Und mit der Zeit pendelte sich das so ein, dass aus dem chaotischen System ein mehr oder weniger geordnetes System sich bildet. Und das zeichnet gerade ich sage mal relativ alte Planetensysteme aus, dass wir diese Verhältnisse dort finden.“ SPRECHER Bei jungen Systemen aber eher nicht. Sprich: Harmonische Verhältnisse sind in vielen Planetensystemen eben ein möglicher Zustand, aber eben nicht der einzige. SPRECHERIN Und: wenn Astronomen wie im Fall von TOI-178 einen „harmonischen Volltreffer“ landen, dann gibt es auch dort dennoch nichts zu „hören“. SPRECHER Wer tatsächlich etwas hören will, muss damals wie heute nachhelfen. Die Europäische Südsternwarte, kurz „ESO“ macht das z.B. gerne mit künstlerischen Animationen: die rhythmische Bewegung der Planeten um den Zentralstern soll so nicht nur optisch, sondern auch klanglich erfahrbar werden: Jedem Planeten wird ein Ton zugewiesen, der dann erklingt, wenn ein Planet entweder eine volle oder eine halbe Umlaufbahn vollendet hat. SOUND TOI-178 https://www.eso.org/public/videos/eso2102b/ SPRECHERIN Komplexe Ordnung soll so akustisch erfahrbar werden – wird aber eher nicht zum „berauschenden Klangerlebnis.“ SPRECHER Löst man sich schließlich vom Gedanken, einer wirklich hörbaren Ordnung in unserer Welt - öffnet sich ein weites Feld: Unsere Welt ist durchdrungen von wiederkehrenden Formen, Mustern und Strukturen.  SPRECHERIN Die existieren nicht zufällig, sondern folgen gleichsam „universellen Codes“. SPRECHER Z.B. der sogenannten Fibonacci-Zahlenfolge, bei der jede Zahl die Summe der beiden vorausgegangenen Zahlen ist und die eine Art „Wachstumsmuster“ in der Natur beschreibt: Blütenblätter, Äste und Samen – alles, was sich durchsetzt, wächst meist nach der Fibonacci-Folge. SPRECHERIN Prägend ist ebenso die unendliche Konstante Pi, auch als Kreiszahl bekannt. SPRECHER Auch fraktale Strukturen sind allgegenwärtig: Muster, die verkleinerte Kopien ihrer selbst zum Vorschein bringen, wenn man sie vergrößert. SPRECHERIN All das können Orientierungshilfen sein, um die Wunder der Natur zu erkennen - und Forschende versuchen genau diese Ordnung und die Gesetze dahinter zu verstehen. Denn ohne Gesetze wäre unsere Welt beliebig und zufällig, was sie offenkundig aber nicht ist. SPRECHER Doch all diese Beobachtungen, Formeln und Gesetze sind bislang eben nur „Bausteine“. Sie liefern keine allumfassende „Weltformel“, sind immer nur eine Annäherung. SPRECHERIN Und natürlich lauert auch immer die Gefahr, dass wir nur sehen, was wir sehen wollen. Bereits in Keplers „Weltharmonik“ wirkt manches doch erstaunlich konstruiert, fällt manche Proportion, weil sie nicht perfekt ist, eben unter den Tisch. SPRECHER Außerdem: Wer harmonische Beziehungen sucht, findet sie auch – irgendwo, irgendwann. Das hat u.a. der niederländische Astronom Cornelis de Jager eindrücklich auf die Schippe genommen: SPRECHERIN Er hat einfach nur vier Parameter seines holländischen Fahrrades vermessen: Pedalweg, Durchmesser des Vorderrads, der Lampe und der Klingel. SPRECHER Aus diesen sehr übersichtlichen vier Maßen hat er dann mit einfachen mathematischen Operationen erstaunliche physikalische Konstanten und astronomische Werte berechnet. SPRECHERIN Den Abstand zwischen Erde und Sonne z.B. mittels „Wurzel aus Pedalweg“ mal „Kubikwurzel Durchmesser der Klingel“ geteilt durch „Durchmesser der Lampe“. SPRECHER Und wer hätte das gedacht: Auch die Quotienten der Massen von Proton und Elektron, die Gravitationskonstante, die Feinstrukturkonstante und die Lichtgeschwindigkeit... SPRECHERIN ...all das steckt bereits drin -  SPRECHER - in einem einfachen holländischen Fahrrad.
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Nov 21, 2024 • 23min

Franziska zu Reventlow - Schriftstellerin, Rebellin und Freigeist

Ulla Egbringhoff, Publizistin und Biographin, ist Expertin für Frauen der Jahrhundertwende und hat eine Monografie über Franziska zu Reventlow verfasst. Sie erzählt von Reventlows rebellischem Leben in der künstlerischen Bohème um 1900 und ihrem Kampf für weibliches Selbstbewusstsein. Ihre kontroversen Beziehungen und die Kritik an patriarchalen Strukturen werden ebenso beleuchtet wie ihre Suche nach kreativer Freiheit und alternativen Lebensformen. Das Gespräch gibt Einblicke in die widerständige Rolle dieser faszinierenden Persönlichkeit.

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