Eigentlich Podcast

Micz & Flo
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Sep 11, 2025 • 47min

EGL086 Pickup-Physik deiner E-Gitarre: Humbucking und Phasendrehung richtig planen (Stromgitarre 7)

"On the solo to Bohemian Rhapsody, I've got the neck pickup working out of phase with the center pickup. (...) This setting produces a very sweet harshness." -- Brian May, QueenConcerts 23.05.2005 Wieder eine Sommerloch-Episode zum Thema Stromgitarren – diesmal, um ein für alle Mal zu erklären, was Humbucking und Out-of-Phase eigentlich miteinander zu tun haben und was nicht. Der Humbucking-Effekt entsteht rein technisch durch zwei Spulen mit entgegengesetzter Wicklungsrichtung, die nahe beieinanderliegen und dadurch Brummgeräusche auslöschen – völlig unabhängig von der Magnetpolung. Erst wenn es darum geht, wie das eigentliche Gitarrensignal (also die Saitenschwingung) durch beide Spulen geleitet wird, kommt die Magnetpolarität ins Spiel. Dann entscheidet sich, ob der Klang voll und durchsetzungsstark („in Phase“) oder dünn und nasal („out of phase“) klingt – und dabei kann der Brumm immer noch unterdrückt sein oder nicht, je nach Kombination von Wicklung und Magneten. Klingt kompliziert? Deshalb erklärt Micz es Flo. Denn wenn Flo es kapiert hat, dann können es wirklich alle verstehen. Shownotes Link zur Strecke auf Komoot EGL086 | Wanderung | Komoot Links zur Episode Brian May über seine Git. Sounds in QueenZone discussion #543051 Kirk Hammets about his 1959 Les Paul "Greeny" Pink Panther - " I Would like to buy a Hamburger" - YouTube Tonabnehmer / Pickups auf Wikipedia P.A.F. (pickup) auf Wikipedia Humbucker Pickup auf Wikipedia Alter Post: Tschechiens Kulturinstitut in Berlin: aktiver Vermittler der tschechischen Kultur in der Welt Tschechisches Zentrum Berlin in Wikipedia Pressemeldung der Botschaft der Tschechischen Republik zum Umzug Mitwirkende Micz Flor Instagram Twitter YouTube (Channel) Website Florian Clauß Bluesky Mastodon Soundcloud Website Verwandte Episoden EGL023 Eigentliches Tonabnehmer-Wissen in Stromgitarre Teil 2: Single-Coil, Humbucker, Coil-Tapping -Splitting, Magnete, Spulen, Alumitone Pickups.EGL067 Dummy Coil zähmt Jaguar Kralle: Out-of-Phase Wiring Diagram für Single Coil Pickups in Stromgitarre 6 Wir sprechen heute über zwei „Fehler“ der Gitarrenelektronik. Es geht um Humbucking (Brummen mittels zweier Spulen auslöschen) und Phasendrehung („Out-of-Phase“ Sound, in dem sich die Signale zweier Spulen größtenteils auslöschen). Zumindest letzerer ist für viele ein Feature und kein Fehler. In vielen Wiring Diagrams ist „Out-of-Phase“ in der Verschaltung fest eingeplant. Wer das hier durchhört kann endlich die Frage beantworten: Wie kann ich zwei Pickups so miteinander verdrahten, dass ich kein Brummen aber den „Out-of-Phase“ Sound bekomme? In Foren und Gesprächen werden diese Begriffe oft vermischt oder verwechselt, obwohl sie technisch gesehen zwei ganz unterschiedliche Dinge beschreiben. Wer seine E-Gitarre wirklich verstehen will – sei es zum Modden, Reparieren oder einfach aus Interesse – tut gut daran sich das folgende noch mal klar zu machen. Hum Bucking geht über die Spule und hat mit den Magneten nichts zu tun Der sogenannte Humbucking-Effekt entsteht durch das gezielte Zusammenspiel zweier Spulen (Coils) mit entgegengesetzter Wicklungsrichtung. Diese beiden Spulen können nebeneinander oder auch übereinander angeordnet sein. Bei entgegengesetzter Wicklung gleichen sich die Störsignale in den beiden Spulen gegenseitig aus, weil die Wellenberge des einen Signals auf die Wellentäler des anderen treffen. Micz erklärt dies anhand des Bildes von zwei Uhren, die eine läuft rechtsrum, die andere links. Die Amplituden der Zeiger gemessen zur vertikalen Achse gleichen sich aus. Je dichter die beiden Spulen beieinander liegen, desto exakter wirken die Auslöschungseffekte und desto effektiver ist die Brummunterdrückung. Dies ist vor allem wichtig im Hinterkopf zu behalten, wenn wir später über den „Out-of-Phase“ Sound sprechen. Dieser sogenannte Humbucking-Effekt beruht rein auf der elektrischen Verschaltung und Wickelrichtung der Spulen und hat zunächst nichts mit der Ausrichtung der Magneten zu tun. Ein klassisches Beispiel dafür ist der Gibson PAF. „PAF“ (Patent Applied For) war die Prägung auf dem Pickup und wurde zum Synonym für diesen Humbucker. Hier sind zwei Spulen nebeneinander angeordnet: eine mit einstellbaren Schraubpolen und eine mit festen Slugs. Die Schraubenspule ist in der Regel südmagnetisch, die Slug-Spule nordmagnetisch. Beide Spulen sind gegenläufig gewickelt und elektrisch so verschaltet, dass sich das Brummen auslöscht, während das Gitarrensignal erhalten bleibt. Diese sorgfältig abgestimmte Kombination aus Wicklungsrichtung und Magnetpolarität ist das Herzstück des charakteristischen Humbucker-Sounds. So gesehen ist eine Fender Telecaster mit zwei unterschiedlich gewickelten und entgegengesetzt gepolten Single-Coil-Pickups technisch betrachtet ebenfalls ein Humbucker – auch wenn die Spulen nicht in einem gemeinsamen Gehäuse untergebracht sind. Auch eine Gibson Les Paul Junior mit nur einem einzelnen Humbucker an der Bridge-Position entspricht prinzipiell diesem Aufbau. Der Unterschied ist, dass im Humbucker die Spulen in Reihe, in der Telecaster parallel geschlatet sind. Für Hum Bucking ist dies jedoch irrelevant. Der entscheidende Unterschied liegt im Abstand der Spulen zueinander. Bei der Telecaster befinden sich Hals- und Steg-Pickup physisch weit voneinander entfernt. Dadurch wirkt der Humbucking-Effekt zwar prinzipiell, ist aber deutlich schwächer ausgeprägt, weil sich die Störsignale in den beiden Spulen aufgrund des größeren Abstands nicht exakt auslöschen. Im Gegensatz dazu liegen die beiden Spulen in einem klassischen Humbucker wie beim PAF direkt nebeneinander, was zu einer wesentlich präziseren Unterdrückung von Brummgeräuschen führt. So gesehen hat der einzelne Humbucker in der Les Paul Junior einen effektiveren Humbucking-Effekt als das Pickup-Paar einer Telecaster. Die Magnetfelder haben keinen Einfluss auf das Hum Bucking Die Magnetfelder im Pickup erzeugen das notwendige statische Feld für die Induktion durch die Saiten, sie bestimmen aber nicht, ob Störsignale ausgelöscht werden. Humbucking und das Thema „in Phase“ bzw. „Out-of-Phase“ hängen also nur dann zusammen, wenn zusätzlich zur Wicklungsrichtung auch die magnetische Ausrichtung berücksichtigt wird. „On the solo to Bohemian Rhapsody, I’ve got the neck pickup working out of phase with the center pickup. In this particular setting, I have the two switches for the neck and middle pickup turned on but the bridge pickup turned off. On top of that, one of the phase switches is clicked up instead of down (it really doesn’t matter which one.) This setting produces a very sweet harshness.“ Brian May, QueenConcerts 23.05.2005 „Out-of-Phase“ in Abhängigkeit von Wicklungsrichtung, Magnetfeld und Abstand der Spulen An dieser Stelle lässt sich gut zum Thema „in-Phase“ und „Out-of-Phase“ überleiten. Entscheidend ist hier die Ausrichtung der Magneten, also ihre Polarisierung. Wenn zwei Pickups zwar elektrisch entgegengesetzt gewickelt, aber gleich magnetisiert sind, dann löschen sich zwar Brummgeräusche gegenseitig aus – das gewünschte Signal der Saitenschwingung jedoch nicht. Es entsteht ein sogenannter „in-Phase“-Sound. Das ist der „normale“ Sound. Wenn hingegen entweder die elektrische Phase (also Wicklungsrichtung oder Anschlussbelegung) oder die magnetische Polarisierung eines Pickups verdreht ist, kommt es zur Auslöschung von Teilen des Nutzsignals. Das Ergebnis ist ein „Out-of-Phase“-Sound: dünn, höhenreich, leicht nasaler Klang mit deutlich verringertem Tieftonanteil. Der Abstand der Spulen voneinander kommt hier zum Tragen, wie eingangs schon angedeutet. Je weiter die Coils voneinander entfernt sind, desto weniger wird nicht nur das Brummen ausgelöscht, sondern eben auch das Signal. Innerhalb eines Humbucker Pickup (verglichen z.B. mit den beiden Pickups einer Fender Telecaster) werden mehr Anteile des Brummens UND des Signals ausgelöscht. Jetzt schauen wir noch mal auf Miczs Bild mit den Uhren, die sich auslöschen: eine läuft rechts-, die andere linksherum. Die Amplituden der Zeiger gemessen zur vertikalen Achse löschen sich gegenseitig aus. Die Summer ist Null. Aber… Wenn wir die Uhren nicht ganz genau gleichzeitig starten, dann hat das wenig Einfluss auf die Auslöschung der Stundenzeiger. Diese brauchen sechs Stunden für eine halbe Umdrehung. Drei, vier Sekunden machen da keinen Unterschied. Aber die Sekundenzeiger sind viel empfindlicher. Wenn ein Zeiger schon bei Sekunde 5 ist, wenn die Andere Uhr beginnt, dann ist da eine deutliche Differenz zu messen – verglichen mit den Stundenzeigern. Deshalb klingen die „Out-of-Phase“ Signale höher, hohler, nasaler, oder wie auch immer sie beschrieben werden: die tieferen Frequenzen sind die Stundenzeiger, die besser ausgelöscht werden. Die hohen Frequenzen sind die Sekundenzeiger, die mehr Amplitude herstellen. Deshalb ist mehr von diesen zu hören (die wiederum auch in der Kurve stark verändert werden). Wichtig noch und „Merke“: der „Out-of-Phase“ Effekt ist nur hörbar, wenn beide Pickups gleichzeitig aktiv sind – etwa in der Mittelstellung einer Dreiwegschaltung an sind. „Out-of-Phase“ mit Switch oder Verdrahtung „Out-of-Phase“ Sound wird oft mittels eines Kipp-, Schiebe- oder Push-Pull-Schalters hergestellt. Dabei werden einfach die Anschlüsse einer Spule getauscht. Dies geht nicht bei allen Pickups. Gerade bei älteren kommen meist nur zwei Drähte aus dem Pickup: Erdung (Masse) und Signal (Hot). Neuer Pickups haben meist fünf Kabel: Masse und 2 x für jede Spule. Vorteil dieser Herangehensweise: man kann einfach zwischen beiden Modi hin- und herschalten. Nachteil: bei Out-of-Phase wird entfällt die Brummunterdrückung. „Out-of-Phase“ UND Hum Bucking durch Umkehr der Magnete Was viele überrascht: Auch bei einem „Out-of-Phase“-Sound kann der Humbucking-Effekt vollständig erhalten bleiben. Das ist dann der Fall, wenn zwei Spulen unterschiedlich gewickelt sind, aber dieselbe magnetische Ausrichtung haben. Brummgeräusche löschen sich aus – das Signal der Saitenschwingung dagegen teilweise. Umgekehrt kann es auch vorkommen, dass zwei gleich gewickelte Spulen mit entgegengesetzter Magnetpolarität einen sehr ähnlichen Klang erzeugen, der ebenfalls „Out-of-Phase“ klingt – in diesem Fall aber nicht brummfrei ist, weil der Humbucking-Effekt entfällt. Entscheidend für die Brummunterdrückung ist also immer die Kombination aus Wicklung und Magnetrichtung – nicht der Klang allein. Das gleiche Prinzip gilt auch bei der Verwendung von zwei Humbuckern, wie man sie etwa bei einer Gibson Les Paul findet. In der Mittelstellung (Bridge + Neck) kommt es auch hier auf die Phase und Polarisierung der Pickups an. Wer gezielt einen „Out-of-Phase“-Sound anstrebt – sei es in Reihenschaltung (seriell) oder in Parallelschaltung –, muss entweder die elektrische Phase eines der Pickups umdrehen (z. B. durch Vertauschen von Hot und Masse) oder die magnetische Polarität einer der Spulen verändern. Letzteres lässt sich durch das vorsichtige Umdrehen des Magneten innerhalb des Pickups erreichen. Für Telecaster-Spieler (oder andere Single-Coil Gitarren) bedeutet das: Wer in der Mittelstellung einen charakteristisch nasalen „Out-of-Phase“-Sound erzeugen möchte, sollte gezielt nach einem Steg- oder Hals-Pickup suchen, der zur bereits verbauten Gegenseite eine gleiche magnetische Orientierung, aber eine entgegengesetzte Wicklungsrichtung aufweist. Nur so bleibt der Humbucking-Effekt erhalten. Korrektur zur Tour: „Tschechische Botschaft“ und das „Tschechische Zentrum Berlin“ Die „Tschechische Botschaft“ und das „Tschechische Zentrum Berlin“ sind gerade nicht in dem Gebäude, das wir fotografiert haben. Diese befanden sich bis Januar 2023 in der Wilhelmstraße 44. Aufgrund einer umfassenden, mehrjährigen Sanierung dieses Botschaftsgebäudes – initiiert durch das tschechische Außenministerium – war ein Standortwechsel erforderlich. Seit Januar 2023 befindet sich das Tschechische Zentrum Berlin daher vorübergehend in den Räumlichkeiten des Goethe-Instituts Berlin in der Neue Schönhauser Straße 20, 10178 Berlin. Die Verlegung dient der Aufrechterhaltung des Programmbetriebs während der Bauarbeiten und wurde als Übergangslösung kommuniziert. Mehr dazu in den Links der Shownotes.
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Aug 28, 2025 • 1h 1min

EGL085 Eigentlich Keyboards – der mechanische Podcast

Tippen beim Reden und redend tippen... Tobs ist wieder zu Gast bei „Eigentlich Podcast”. Vor zwei Jahren haben wir über Webfonts gesprochen. In dieser Folge knüpfen wir an das Thema Schriften an, allerdings aus einer eher praktischen Perspektive: Wir sprechen über mechanische Keyboards. Und wir brechen mit einem Grundprinzip des Podcasts: Diesmal nehmen wir nicht im Laufen, sondern beim Tippen auf. Flo besucht Tobs in dessen Arbeitszimmer und wird in die hohe Kunst des Keyboardbauens eingewiesen. Tobs hat sich in letzter Zeit intensiv mit Cases, Switches und Keycaps beschäftigt und viele verschiedene Varianten und Kombinationen ausprobiert, um das perfekte Keyboard zu finden. Die Keyboard-Verkostung ist dramaturgisch klassisch aufgebaut. Tobs präsentiert acht verschiedene Modelle, und wir arbeiten uns in der Reihenfolge zum beliebtesten vor. Flo lernt die Unterschiede in Haptik, Klang und Design kennen. So kann er sich in Vorbereitung zur nächsten Episode die einzelnen Komponenten besorgen, um dann mit Tobs gemeinsam sein eigenes Keyboard zusammenbauen zu können. Shownotes Links zur Episode Computer keyboard - Wikipedia – Wikipedia Printed circuit board - Wikipedia – Wikipedia https://www.gmk.net/shop/gmk-keycap-switch-puller-tool Keyboard technology - Wikipedia – Wikipedia List of keyboard switches - Wikipedia – Wikipedia Cherry AG - Wikipedia – Wikipedia UTF-8 - Wikipedia – Wikipedia Ergonomic keyboard - Wikipedia – Wikipedia QWERTY - Wikipedia – Wikipedia Keyboard layout - Wikipedia – Wikipedia Umschalttaste – Wikipedia Feststelltaste – Wikipedia em (Schriftsatz) – Wikipedia Monkeytype | A minimalistic, customizable typing test Commodore 64 – Wikipedia 8BitDo Retro Mechanical Keyboard - C64 Edition | 8BitDo SA Profile – KPrepublic Clicky Switches|AKKO Germany Nuphy Air75 : Wireless & Low Profile Keyboard Mechanical – NuPhy VIA | VIA Flow84, the Smoothest Mechanical Keyboard EPOMAKER x AULA F75 LUMINKEY65 Severance (TV series) - Wikipedia – Wikipedia Atomic Keyboard | Making Severance Themed Keyboard | MDR Dasher Keyboard | Data General Dasher Inspired Keyboard | Lumon Terminal Pro Akko Rosewood Keyboard Switch (45pcs) - AKKO Germany DR-70F – D-R Design KTT Cabbage Tofu Linear Switch vs KTT Kang White Linear Switch · Milktooth Neo65 – Qwertykeys MMD Princess Linear V4 Switches (10pcs) – MonacoKeys MK Basic Blue PBT Keycap Set – MonacoKeys Keycaps by GMK | Premium Tastenkappensets Agar – KBDfans® Mechanical Keyboards Store Gateron Oil King Switch Review — ThereminGoat's Switches Typeplus x YiKB PCB-Mounted Screw-In Stabilizers – MonacoKeys PBTfans no signal R2 – KBDfans® Mechanical Keyboards Store Mitwirkende Tobias Kunisch (Keyboarder) mastodon website linkedin twitter Florian Clauß (Tippender) Bluesky Mastodon Soundcloud Website Verwandte Episoden EGL036 Webfonts – wie die Schriften eigentlich ins Internet gekommen sind... Hier die einzelnen Keyboards mit Switches und Caps, die wir in der Episode durchgegangen sind: 1. Lofree Flow84 Flaches 84‑Tasten‑Low‑Profile‑Board mit Fokus auf ein sanftes Tippgefühl und mobiles, designorientiertes Setup. 75%/84‑Tasten‑Boards integrieren F‑Tasten und Navigation kompakt in den Hauptblock und sparen Platz gegenüber Full‑Size – guter Kompromiss aus Funktion und Größe Switches: Lofree Phantom Switches Tactile Tactile Low‑Profile‑Charakter, für ein knackiges Feedback bei geringer Bauhöhe gedacht 2. NuPhy Air75 v2 Schlankes 75%‑Low‑Profile‑Keyboard für Schreibtisch und unterwegs; legt Wert auf flaches Tippgefühl und Portabilität. 75%: Funktionsreihe vorhanden, Navigation dicht angedockt gegenüber 65% mehr Direktzugriff auf F‑Tasten, bleibt kompakt Switches: Gateron Brown Low Profile V2 Taktile, leise Low‑Profile‑Variante als seriennaher Standard 3. 8BitDo Retro Mechanical Keyboard (Bluetooth) Retro‑inspiriertes Board im C64‑Look mit moderner Mechanik und Drahtlos‑Option – richtet sich an Nostalgie‑Fans mit aktuellem Workflow. Je nach Layoutgröße gilt: TKL/80% verzichtet auf Numpad, spart Platz bei nahezu voller Funktionalität Full‑Size bietet Nummernblock, ist aber deutlich breiter Switches: Kailh Box White V2 Sound: laut, clicky Operating: 45±15 gf; Tactile: 55±15 gf; Pre‑travel: 1.8±0.4 mm; Total Travel: 3.6±0.3 mm; Return Force: ≥15 gf 4. Epomaker Aula F75 Kompaktes 75%‑Board mit Funktionsreihe, als preisbewusste Custom‑Basis geeignet. 75% ist sinnvoll, wenn Funktions-Tasten regelmäßig genutzt werden, ohne die Breite eines TKL/Full‑Size in Kauf zu nehmen Switches: MMD Vivian V2 (Linear) Lineare, „thocky“ Switches mit hart‑cremigem Bottom‑out und weichem, gedämpftem Top‑out PUM‑Bottom + modifizierter UPE‑Stem liefern einen tiefen, satten Ton mit leicht plastikartiger Note. Top Housing: Modified Nylon 12; Bottom: Modified PUM; Stem: Modified UPE; Spring: 18 mm; Pre‑Travel: 1.9 mm; Total: 3.9 mm; Operating: 53 gf; Bottom‑out: 60 gf; 5‑Pin; LED‑Diffusor; factory lubed. Caps: „Just my Type“ PBT Double‑Shot, YMK‑Profil, Weiß‑Grau (Dye‑Sub‑Legenden) 5. Luminkey 65 65%‑Custom‑Formfaktor; verzichtet auf F‑Reihe, behält Pfeiltasten – beliebt als alltagstauglicher Kompromiss 65% ist wie 75%, aber ohne F‑Reihe – spart nochmals Platz viele Funktionen per Layers erreichbar Switches: Akko Rosewood (Linear) Tiefer, „thocky“ Bottom‑out und weicher, ebenfalls tiefer Top‑out klanglich nahe an klassischen Full‑Travel‑Switches und ohne die scharfe Long‑Pole‑Charakteristik. Top: PA12; Bottom: PA6; Stem: Nylon; Operating: 40 ± 5 gf; Bottom‑out: 50 g; Pre‑Travel: 2.0 ± 0.5 mm; Total: 4.0 mm; 5‑Pin; factory lubed Caps: Room 101 Apricot Yellow) Cherry‑Profil, PBT 6. Neo 65 Hochwertiges 65%‑Alu‑Kit von Qwertykeys; solide Verarbeitung und klarer Sound‑Focus. 65% als kompakter Daily‑Driver: Pfeiltasten bleiben dediziert F‑Funktionen wandern in Layers – ergonomisch und platzsparend Switches: MMD Princess Linear V4 Cremiger Grundklang im Mittelton mit hart‑cremigem Bottom‑out und weichem, „crispy“ Top‑out der snappy Eindruck entsteht u. a. durch den kürzeren Hub und die Materialpaarung Top/Bottom: PC; Stem: LY Spring: 20.4 mm (extended);Pre‑Travel: 2.0 mm; Total: 3.6 mm;Operating: 53 gf; Bottom‑out: 60 gf; 5‑Pin; factory lubed Caps: Monacokeys Basic Blue Cherry‑Profil 7. Agar60 (KBDfans) Klassisches 60%‑Kit – extrem kompakt 60% verzichtet auf F‑Reihe und den dedizierten Navigationsblock maximaler Platzgewinn, aber mehr Layer‑Nutzung erforderlich Switches: Gateron Oil King Sehr tief und „thocky“ im Sound, dadurch insgesamt eher leise ideal für ein dunkleres, gedämpftes Klangprofil Linear; Travel ca. 4.0 mm; PCB/5‑Pin; Stem: POM; Top: Nylon; Bottom: „Ink Mixture“; Factory lubed Caps: PBTFans No Signal Das Set ist von elektronisch erzeugten TV‑Testbildern wie Indian‑Head, SMPTE‑Farbbalken und dem PTV‑Kreis inspiriert macht die Tastatur gewissermaßen zum Kalibrierungswerkzeug; die früher in Sendepausen oder bei Störungen gezeigten Testkarten sind heute Popkultur und erscheinen etwa in Fallout 4 oder Life on Mars. 8. DaringRun 70F 70% liegt zwischen 65% und 75%: mehr Tasten als 65, bleibt deutlich schmaler als TKL sinnvoll, wenn Pfeiltasten und ein paar zusätzliche Keys gebraucht werden, aber F‑Reihe optional ist Switches: KTT Cabbage Tofu V2 Sanfte, leise Linears mit klarem/hellen Töne beim Loslassen (PC‑Top) und vollem, tiefem Bottom‑out (Nylon‑Bottom) ab Werk lubed, 22‑mm‑Feder, ausgewogenes Tippgefühl. Typ: Linear; Housing: PC (Top) / Nylon (Bottom); Stem: POM; Spring: 22 mm; Actuation: 45 g; Bottom‑out: 53 g; Pre‑Travel: 1.90 mm; Total: 4.00 mm Caps: Jamón Keycaps 173 Tasten, Cherry‑Profil, Doubleshot
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Aug 14, 2025 • 1h 25min

EGL084 Sigmund Freud: seine "Outsider" Biographie im Filmessay

"Ein Ersatz für die Hypnose ist bisher nicht gefunden worden" -- Sigmund Freud, Die endliche und die unendliche Analyse, in: Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse, Band 23 (1937), Heft 2, Seite 221. Wir sprechen über Sigmund Freud und den Film „Outsider. Freud“ direkt, nachdem wir das dokumentarische Filmessay im Moviemento gesehen haben. Der Film interessiert sich weniger für die bekannten Theorien und Meinungen rund um Psychoanalyse, sondern für die inneren Widersprüche, das biografische Einbetten und die visuelle Übersetzbarkeit der Theorien. Mit Briefauszügen, Interviews und historischem Material sowie mit einer traumartigen Bildsprache nähert sich der Film dem Menschen Freud. Als ungeplante dritte Folge zu den Eigentlich-Podcast Episoden 78 und 80, stellen wir gegen Ende Jungs "Das Rote Buch" und Freuds "Die Traumdeutung" nebeneinander. Regisseur Yair Qedar hat in Animationen ungedeutete Träume Freuds vorgestellt. Archivaufnahmen stellen Bezüge zwischen Innenwelt und Zeitgeschichte her. Ganz besonders ist die Rekonstruktion von Freuds Behandlungsraum in Wien anhand von über hundert Detailfotos. Shownotes Link zur Laufstrecke Laufstrecke dieser Episode auf komoot Links zur Episode Ersatzstadt Video: Autoschilderstadt hinter dem Friedhof Sigmund Freud: Die endliche und die unendliche Analyse| Projekt Gutenberg Diplomatische Vertretung des Heiligen Stuhls: Apostolische Nuntiatur Der Marathon-Mann Drei Kränkungen der Menschheit nach Freud Yair Qedar | Wikipedia Film Review and Interview by Hannah Brown, 2025 "Outsider. Freud" Trailer | YouTube Mitwirkende Micz Flor Instagram Twitter YouTube (Channel) Website Florian Clauß Bluesky Mastodon Soundcloud Website Verwandte Episoden EGL078 Das Rote Buch: C.G. Jung als Religionsstifter oder Wissenschaftler?EGL080 Chaosmagie und Psychotherapie: wissenschaftlicher Anspruch trifft magische Wirkmacht Wir kommen gerade aus dem Kino. Movimento, Berlin. Der Film: Outsider. Freud von Yair Qedar. 66 dichte Minuten, die weniger über die Psychoanalyse lehren, als die Menschen Sigmund Freud vorzustellen. Wir reden beim Gehen, wie eigentlich immer im Eigentlich Podcast, durch die Stadt, dieses Mal durch Kreuzberg. Auf der Karte sieht die Tour wie ein Zeichen der Unendlichkeit aus, deren Weg uns in gleichen Teilen durch die Lebenden wir die Toten, entlang des Friedhofs, führt. Qedars Film nähert sich Sigmund Freud nicht als Monument, sondern als Mensch – verletzlich, körperlich, alternd, zwischen Rauchen und Schmerzen, zwischen Nazis und Katholizismus. Kein Biopic, kein Theoriepanorama. Vielmehr ein Fragmentbild, ein Mosaik aus Fotografien, Dokumenten, Stimmen, die nicht erklären, sondern begleiten und Fragen stellen. Freud wird hier als Außenseiter beschrieben – im Titel, aber auch jenseits davon. Als Jude im Wien des frühen 20. Jahrhunderts, als Intellektueller im Exil, als Denker, der sich zwischen Wissenschaft, Kunst und Mythos bewegte. Qedar lässt ihn wandern: durch Räume, durch Zeiten, durch Bedeutungsfelder. Seine Couch ist kein neutraler Ort, sondern eine Bühne der inneren Landschaften. Der Film zeigt den Raum in der Berggasse 19 nicht nur als Praxis, sondern als verdichteten Symbolraum – überfüllt mit archäologischen Objekten, mit Göttern, Ahnen, Toten. Eine Forscherin des Freud Museums Wien spricht wie von einem Tunnel, durch der in die Analyse führt – dunkelrot, eng, gefasst von stummen Figuren, die aus anderen Zeiten zu kommen scheinen. Masken, Fragmente, Totems. Alles blickt zurück. Nichts ist zufällig. Die Inszenierung dieses Raums ist mehr als Ästhetik – sie ist selbst Theorie, selbst Deutung. In diesem Setting wird das Gespräch zur Ritualhandlung, zum Übergang. Zeit verschränkt sich: Antike und Moderne, Mythos und Gegenwart, Erinnerung und Verdrängung. Wir sprechen über das Setting der Psychoanalyse – nicht als klinisch-sauberen Raum, sondern als dichten Text, als Gewebe aus Kulturgeschichte und Subjektivität. Freud, wie Qedar ihn zeigt, war weniger Architekt klarer Begriffe als Suchender, Leser, Sammler. Seine Theorie ist in dieser Lesart keine geschlossene Lehre, sondern ein Schichtenmodell, ein palimpsestisches Denken: Das Unbewusste nicht als Ding, sondern als Bewegung, als Echo, als Spur.
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Jul 31, 2025 • 1h 39min

EGL083 London in Serien: zwischen Geldwäsche und Genrekunst

"London calling to the faraway towns / Now war is declared and battle come down / London calling to the underworld / Come out of the cupboard, you boys and girls" The Clash, 1979 Flo hat in letzter Zeit viele Serien geschaut, die in London spielen: MobLand, I May Destroy You, Fleabag, Disclaimer, The Agency, Industry, Slow Horses, Ted Lasso, The Capture und Gangs of London. London steht als Spielort für Serien auf Platz drei hinter L. A. und New York City. In dieser Folge ist Flo der Frage nachgegangen, warum sich London in der Serienproduktion so hervorgetan hat, zumal der Brexit England doch wirtschaftlich zurückgeworfen hat. Doch England war in der Filmindustrie schon immer präsenter als seine europäischen Nachbarländer. Allein durch die Sprache können sich englische Produktionen größere Märkte erschließen, wohingegen deutsche und französische Produktionen auf Sprachbarrieren im internationalen Raum stoßen. Auch die großen Streamingdienste haben sich in den letzten Jahren in Londoner Studios eingemietet. Serien wie „Game of Thrones” und die „Harry Potter”-Filme trugen maßgeblich dazu bei, dass sich in den ersten Dekaden der 2000er eine starke Infrastruktur in der Filmindustrie in London ausbauen konnte. Gerade im Bereich der visuellen Effekte (VFX) sind viele kleine Studios entstanden, die auf dem Weltmarkt eine führende Position eingenommen haben. Dies erklärt zum Teil, warum so viele Serien in London spielen. Ein weiterer Grund ist, dass viel Geld aus dubiosen Quellen nach London geflossen ist, welches neben der Finanzierung von Großbauprojekten wie The Shard oder One Hyde Park auch viele Schattenproduktionen in der Filmbranche finanziert hat. London ist als Geldwäscheanlage bekannt. In dieser Episode tauschen wir uns über solche Geschichten und Gerüchte aus und können viele eigene London-Erlebnisse einbringen. Flo ist fasziniert davon, wie sich die Skyline von London in den letzten Jahrzehnten verändert hat. Micz kann von seiner Zeit in den 90ern berichten, als er in London lebte und die Gentrifizierung des Stadtteils Shoreditch miterlebte. London ist vielseitig und unberechenbar, wie sich die Stadt auch in den Serien spiegelt. Hinter der glatten Fassade lauern Abgründe, aber auch Chancen... Shownotes Links zur Laufstrecke EGL083 | Wanderung | Komoot Squadrats Links zur Episode James Bond – Wikipedia Friends – Wikipedia Chernobyl (Fernsehserie) – Wikipedia Shining (1980) – Wikipedia Emily in Paris – Wikipedia City of London - Wikipedia – Wikipedia Sex and the City – Wikipedia London - Wikipedia – Wikipedia Black Doves - Wikipedia – Wikipedia MobLand - Wikipedia – Wikipedia Guy Ritchie - Wikipedia – Wikipedia Tom Hardy - Wikipedia – Wikipedia Pierce Brosnan - Wikipedia – Wikipedia Paramount+ - Wikipedia – Wikipedia Shaun the Sheep - Wikipedia – Wikipedia Game of Thrones - Wikipedia – Wikipedia Peaky Blinders (TV series) - Wikipedia – Wikipedia Harry Potter (film series) - Wikipedia – Wikipedia Dogs of Berlin – Wikipedia Kleo – Wikipedia Im Angesicht des Verbrechens – Wikipedia Achtsam Morden – Wikipedia Shoreditch – Wikipedia Tate Gallery of Modern Art – Wikipedia Clive Barker’s Book of Blood – Wikipedia Thatcherismus – Wikipedia Canary Wharf - Wikipedia – Wikipedia Big Bang (financial markets) - Wikipedia – Wikipedia Kowloon Walled City - Wikipedia – Wikipedia List of tallest buildings and structures in London - Wikipedia – Wikipedia The Shard - Wikipedia – Wikipedia William the Conqueror - Wikipedia – Wikipedia Battle of Hastings - Wikipedia – Wikipedia The Gherkin - Wikipedia – Wikipedia Umgestaltung von Paris während des Zweiten Kaiserreichs – Wikipedia Centre Georges-Pompidou – Wikipedia Provisional Irish Republican Army - Wikipedia – Wikipedia Baltic Exchange bombing - Wikipedia – Wikipedia 1993 Bishopsgate bombing - Wikipedia – Wikipedia 1996 Manchester bombing - Wikipedia – Wikipedia Terraced house - Wikipedia – Wikipedia The Blitz - Wikipedia – Wikipedia Thomas Pynchon - Wikipedia – Wikipedia Barbican Centre - Wikipedia – Wikipedia Brutalismus – Wikipedia Le Corbusier – Wikipedia The Agency (2024 TV series) - Wikipedia – Wikipedia Michael Fassbender - Wikipedia – Wikipedia Attack the Block - Wikipedia – Wikipedia Hebbel am Ufer – Wikipedia Tino Sehgal – Wikipedia Industry (TV series) - Wikipedia – Wikipedia Terroranschläge am 7. Juli 2005 in London – Wikipedia Closed-circuit television - Wikipedia – Wikipedia Traffic and Environmental Zone - Wikipedia – Wikipedia Brand im Bahnhof King’s Cross St. Pancras – Wikipedia The Capture (TV series) - Wikipedia – Wikipedia Adolescence (TV series) - Wikipedia – Wikipedia My Beautiful Laundrette - Wikipedia – Wikipedia Slow Horses - Wikipedia – Wikipedia Apple TV+ - Wikipedia – Wikipedia Gary Oldman - Wikipedia – Wikipedia Willem Dafoe - Wikipedia – Wikipedia Ted Lasso - Wikipedia – Wikipedia I May Destroy You - Wikipedia – Wikipedia Michaela Coel – Wikipedia Fleabag - Wikipedia – Wikipedia Phoebe Waller-Bridge – Wikipedia Peep Show (British TV series) - Wikipedia – Wikipedia Vierte Wand – Wikipedia Disclaimer (TV series) - Wikipedia – Wikipedia Severance (TV series) - Wikipedia – Wikipedia Alfonso Cuarón - Wikipedia – Wikipedia Harry Potter und der Gefangene von Askaban (Film) – Wikipedia Children of Men - Wikipedia – Wikipedia Gravity (2013 film) - Wikipedia – Wikipedia Cate Blanchett - Wikipedia – Wikipedia Gangs of London (TV series) - Wikipedia – Wikipedia Sherlock (TV series) - Wikipedia – Wikipedia The Crown (TV series) - Wikipedia – Wikipedia Homepage | Film London https://film-london.files.svdcdn.com/production/Film-London-Code-of-Practice_2025-updated-July.pdf Mitwirkende Florian Clauß (Erzähler) Bluesky Mastodon Soundcloud Website Micz Flor Instagram Twitter YouTube (Channel) Website London, dieses geschichtsträchtige Kapital des Vereinigten Königreichs, hat sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten zu einem der bedeutendsten Produktionsstandorte für internationale Serienproduktionen entwickelt. Die Stadt fungiert dabei nicht nur als pittoreske Kulisse, sondern wird zum narrativen Protagonisten, der die Geschichten formt und durchdringt. Was sich auf den Bildschirmen abspielt, ist jedoch mehr als bloße Unterhaltung – es ist eine vielschichtige Diagnose urbaner Pathologien, die gleichzeitig Symptom und Spiegel jener Strukturen ist, die sie zu kritisieren vorgibt. Die Transformation Londons zum globalen Produktionszentrum lässt sich nicht ohne die wegweisende Rolle der Harry-Potter-Filmreihe verstehen. Zwischen 1997 und 2011 schuf diese Mega-Produktion nicht nur die infrastrukturellen Voraussetzungen mit dem Ausbau der Leavesden Studios, sondern etablierte auch eine kontinuierliche Beschäftigungsstruktur für tausende Crew-Mitglieder. Eine ganze Generation von VFX-Künstlern, Set-Designern und Kostümbildnern wurde hier ausgebildet, während die Produktionsausgaben von über einer Milliarde Pfund Hollywood demonstrierten, dass sich Investitionen in Großbritannien lohnen. Diese Entwicklung mündete 2007 in verbesserten Steueranreizen, die den Standort zusätzlich attraktiv machten. Den entscheidenden Wendepunkt für die Serienproduktion markierte jedoch Game of Thrones. Die zwischen 2011 und 2019 produzierte Fantasy-Saga bewies, dass Premium-Fernsehen Kinoqualität erreichen kann, und etablierte London als Post-Production-Zentrum und VFX-Hub von Weltrang. Die britischen Crews demonstrierten Hollywood-Standards und setzten neue technologische Maßstäbe mit virtuellen Sets und Crowd-Simulationen. Diese Entwicklung ebnete den Weg für die Streaming-Revolution, die London endgültig als internationalen Produktionsstandort zementierte. Das zeitgenössische Serienportrait der britischen Hauptstadt offenbart eine Stadt der Widersprüche. In kaum einer Produktion wird dies so brutal und ungeschönt dargestellt wie in „Gangs of London“ (2020-), der aufwendigsten britischen Crime-Serie überhaupt. Unter der Regie von Gareth Evans, bekannt für „The Raid“, entfaltet sich ein multi-ethnisches Crime-Babylon, in dem internationale Verbrecherfamilien – Iren, Albaner, Pakistaner, Kurden und Nigerianer – um die Kontrolle der Londoner Unterwelt kämpfen. Der Mord an Finn Wallace, dem mächtigsten Gangster der Stadt, löst einen Machtkampf aus, bei dem sein Sohn Sean (Joe Cole) auf Rache sinnt, während der Undercover-Cop Elliot Finch (Ṣọpẹ́ Dìrísù) die Organisation infiltriert. Die Serie wurde als „The Wire meets John Wick“ gefeiert – ein Gewaltexzess mit Stil, der revolutionäre Action-Sequenzen mit komplexen Machtstrukturen verbindet. Diese rohe Darstellung urbaner Gewalt steht in starkem Kontrast zu Serien wie „Industry“, die das toxische Milieu der Londoner Finanzwelt seziert, oder „The Crown“, die die Verstrickungen zwischen Establishment und zweifelhaften Geschäftspartnern wie der Al-Fayed-Familie beleuchtet. Während „Sherlock“ die viktorianische Detektivtradition in die Gegenwart überführt und dabei die Stadt als labyrinthischen Tatort inszeniert, nutzt „Killing Eve“ London als Spielfeld für ein tödliches Katz-und-Maus-Spiel, bei dem die mysteriöse Organisation „The Twelve“ ihre Operationen durch die undurchsichtigen Finanzstrukturen der City finanziert. Besonders aufschlussreich sind jene Produktionen, die sich explizit mit Londons Rolle als globale Drehscheibe für Geldwäsche auseinandersetzen. „McMafia“ (2018) thematisiert direkt die Mechanismen, durch die schmutziges Geld in der Londoner City gewaschen wird, während „The Night Manager“ den Waffenhandel über die britische Hauptstadt abwickelt. „Devils“ (2020-2022) porträtiert die City of London als moralfreie Zone, in der alles käuflich ist. Guy Ritchies „The Gentlemen“ treibt diese Thematik auf die Spitze, indem Cannabis-Gewinne durch eine Filmproduktionsfirma gewaschen werden – eine beißende Satire auf die Verschränkung von Unterhaltungsindustrie und organisiertem Verbrechen. Die jüngere Serienlandschaft zeigt dabei eine bemerkenswerte Vielfalt in der Auseinandersetzung mit urbanen Traumata. „I May Destroy You“ von Michaela Coel durchbricht Tabus in der Darstellung sexueller Gewalt und ihrer Aufarbeitung, während „Fleabag“ die emotionale Verlorenheit einer Generation zwischen ironischer Distanz und verzweifelter Sehnsucht nach Authentizität einfängt. „Disclaimer“ von Alfonso Cuarón dekonstruiert die Mechanismen medialer Skandalisierung, und „The Capture“ führt vor, wie allgegenwärtige Überwachungstechnologie zur Manipulation von Wahrheit eingesetzt werden kann. Die Architektur der Stadt selbst wird dabei zum stummen Zeugen dieser Narrative. The Shard, mit seinen 310 Metern das höchste Bauwerk Großbritanniens, hat zur Prägung des Begriffs „Oligarchitektur“ beigetragen – eine Architektur, die Macht und Reichtum manifestiert, während sie gleichzeitig soziale Ungleichheit zementiert. Norman Fosters Gherkin und der Tower 42, zwischen 1971 und 1979 nach Plänen des aus der Schweiz stammenden britischen Architekten Richard Seifert erbaut, ragen als Symbole der Finanzmetropole in den Himmel. Diese Wolkenkratzer bilden die vertikale Kulisse für Serien wie „Succession“, in der die Waystar Royco-Dynastie ihre Londoner Operationen von gläsernen Türmen aus orchestriert. Selbst vermeintlich leichtere Produktionen wie „Ted Lasso“ können sich der Gravitation Londons nicht entziehen. Die Serie mag vordergründig vom amerikanischen Optimismus handeln, der auf britischen Zynismus trifft, doch unter der Oberfläche verhandelt sie Fragen von Zugehörigkeit und Identität in einer globalisierten Metropole. „Slow Horses“, basierend auf Mick Herrons Romanen, zeigt die Kehrseite des Geheimdienstapparats – gescheiterte Spione, die in einem heruntergekommenen Büro am Rande der Stadt ihr Dasein fristen, während die glänzende Fassade des MI5 die wahren Machenschaften verbirgt. Diese Vielfalt der Perspektiven offenbart London als narrative Projektionsfläche par excellence. Die Stadt mit ihrer über zweitausendjährigen Geschichte – von der römischen Gründung Londiniums im Jahr 43 n. Chr. über die strategische Bedeutung als Handelshafen bis zur modernen Finanzmetropole – verleiht den Geschichten eine Tiefe, die über das rein Visuelle hinausgeht. Die noch heute sichtbaren Fragmente der römischen Stadtmauer oder die Erinnerung an Boudiccas Zerstörung der Stadt im Jahr 60 n. Chr. schaffen ein historisches Palimpsest, auf dem sich zeitgenössische Narrative entfalten. Was sich in dieser Serienlandschaft manifestiert, ist ein komplexes Geflecht aus künstlerischer Ambition, ökonomischen Zwängen und narrativer Selbstreflexion. Die paradoxe Situation wird besonders deutlich, wenn man bedenkt, dass viele dieser kritischen Produktionen durch genau jene Strukturen finanziert werden, die sie anprangern. Die großzügige Filmförderung, die laxe Registrierung von Produktionsfirmen und die als „kreative Buchhaltung“ euphemisierte Steuervermeidung schaffen ein Umfeld, in dem Kunst zur perfekten Cover-Story wird – schließlich ist sie „subjektiv“. Die besten Serien über London sind jene, die die Stadt nicht romantisieren, sondern ihre Abgründe ausleuchten. Von der brutalen Gangster-Oper „Gangs of London“ über die Finanzwelt-Satire „Industry“ bis zur Geheimdienstkritik in „Slow Horses“ – sie alle zeichnen das Bild einer Stadt, die ihre Seele verkauft hat, aber großartige Geschichten darüber zu erzählen weiß. Doch gerade diese kritische Perspektive wird durch die Strukturen ermöglicht, die sie hinterfragt. So entsteht ein faszinierendes Spannungsfeld zwischen künstlerischer Integrität und ökonomischer Abhängigkeit, das die Serienproduktion in London zu einem Seismographen zeitgenössischer urbaner Realitäten macht. Die Stadt erzählt ihre Geschichte durch die Serien, die in ihr produziert werden – und diese Geschichten erzählen mehr über London, als es auf den ersten Blick scheinen mag.
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Jul 17, 2025 • 35min

EGL082 Zombies in Psychoanalyse: Jenseits des Lustprinzips

Der Podcast taucht tief in die psychoanalytische Betrachtung von Zombies ein. Die unheimliche Faszination für Untote spiegelt unsere inneren Konflikte wider. Mit Freuds Theorien wird deutlich, dass Zombies symbolisch für Verdrängtes stehen. Melanie Kleins Konzepte verdeutlichen die kindlichen Konflikte zwischen guten und bösen Teilobjekten. Die ambivalenten Kräfte im Verhältnis zur Mutter werden ebenso beleuchtet und deren Einfluss auf männliches Verhalten analysiert. Letztendlich zeigen Lacans Ideen, wie Zombies unsere ungeordneten Wünsche repräsentieren.
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Jul 3, 2025 • 1h 57min

EGL081 28 Years Later - Heart of Kindness: Eine Befreiung aus der deterministischen Apokalypse

"The idea of the father taking a 12-year-old boy to the mainland 28 days after the infection is insane. Nobody would do that. But 28 years after the infection, clearly it's okay." - Danny Boyle 28 Years Later – wir sind schon alle ganz aufgeregt, den Film endlich im Kino sehen zu können, seit mindestens 28 Tagen, wenn nicht sogar Wochen. Der Trailer des Films, spektakulär mit den treibenden Rhythmen des Gedichts "Boots" von Rudyard Kipling vertont, hat uns schon vor Monaten in freudige Schockstarre versetzt. Eigentlich war ein Kinogang von Flo und Micz geplant, der aber spontan aus Gründen nicht stattfinden konnte. Flo hat dann eine Woche später den Film "28 Years Later" mit seinem Sohn Luc im Kino gesehen. Vorher haben die beiden ihre Erwartungen an den Film als Einstieg in diese Episode aufgenommen, um dann zu prüfen, wie sich diese eingelöst haben. tl;dr: Es ist wie erwartet, aber doch ganz anders. So ist auch der Konsens der Kritiken zum Film. Danny Boyle und Alex Garland haben ein Kunstwerk geschaffen, das in der Ästhetik und in der Geschichte überzeugt. Das erste Drittel des Films löst alles ein, was wir von der Fortsetzung erwarten: Eine kleine militarisierte Gemeinschaft hat sich behaglich nach der Apokalypse ohne Strom und sonstige zivilisatorische Errungenschaften auf einer kleinen Insel im schottischen Gezeitenland eingerichtet. Zu den Initiationsritualen gehört, dass die Jungen der Gemeinschaft mit ihren Vätern auf das Festland ziehen, um den ersten Todesschuss auf einen Infizierten zu praktizieren. So zieht auch Spike mit seinem Vater Jamie los. Wir als Zuschauer bekommen eine Ahnung, welche Blüten das Virus nach 28 Jahren treiben kann. Es kommt dann, wie es kommen muss: Die beiden fliehen vor den schnellen Infizierten, schaffen es nicht mehr rechtzeitig zur Ebbe auf die Insel und müssen auf dem Dachboden eines verlassenen Hauses nächtigen. Dort sieht Spike ein verheißungsvolles Feuer, das der Vater als das Werk eines verrückten Doktors abtut. In einer spektakulären Nachtszene, gejagt von einem Alpha-Zombie, erreichen sie gerade so wieder das Dorf. Spike hat das Ritual bestanden und wird von der Gemeinschaft mit Bier und Liedern gefeiert. Doch er ist nicht zufrieden. Er möchte seiner todkranken Mutter helfen, die in der Dorfgemeinschaft nicht die richtige medizinische Versorgung bekommt. So zieht Spike heimlich mit seiner Mutter wieder aufs Festland los und erlebt auf dieser Reise seine wahrhaftige Initiation. Danny Boyle lässt sich in seinen Filmen nicht so richtig auf ein Genre festlegen und schafft ein ganz eigenes Werk aus verschiedenen filmischen Materialien. 28 Years Later verspricht eigentlich einen Horrorfilm, entwickelt sich aber zu einem Coming-of-Age-Roadmovie. Wir begegnen der Figur Dr. Kelson, der seine eigene künstlerische Form gefunden hat, mit den Auswüchsen der Katastrophe umzugehen, und dabei eine neue Menschlichkeit schafft, die sich aus der deterministischen Apokalypse befreien kann: Memento mori, im Tod sind alle gleich – dies kann sehr kitschig wirken, aber durch die ständigen Brüche im Filmstil können wir die Botschaft annehmen. Micz, der den Film nicht gesehen hat, ließ sich vom aufwühlenden Gesprächsfluss von Flo mitreißen und war am Ende der Episode ganz verschwitzt. Shownotes Links zur Laufstrecke EGL081 | Wanderung | Komoot Berlin-Friedrichshain – Wikipedia Boxhagener Platz – Wikipedia Links zur Episode 28 Years Later – Wikipedia Danny Boyle – Wikipedia Alex Garland – Wikipedia 28 Days Later – Wikipedia 28 Weeks Later – Wikipedia Boots (poem) - Wikipedia – Wikipedia Rudyard Kipling – Wikipedia 28 Years Later | Interview with Danny Boyle & Alex Garland | EOH TV Zweiter Burenkrieg – Wikipedia Immersion (Film) – Wikipedia Warfare (Film) – Wikipedia George A. Romero – Wikipedia Lucio Fulci – Wikipedia Sunshine (2007) – Wikipedia 28 Years Later: The Bone Temple - Wikipedia – Wikipedia A Clockwork Orange (film) - Wikipedia – Wikipedia Coming-of-age story - Wikipedia – Wikipedia Road movie - Wikipedia – Wikipedia Das Fest (Film) – Wikipedia Anthony Dod Mantle – Wikipedia Bullet Time – Wikipedia John Woo – Wikipedia St.-Crispins-Tag-Rede – Wikipedia Abide with Me - Wikipedia – Wikipedia Blair Witch Project – Wikipedia Spinal Tap – Wikipedia Black Summer (TV series) - Wikipedia – Wikipedia Ralph Fiennes – Wikipedia Jan Švankmajer – Wikipedia Katakomben von Paris – Wikipedia Cimetière du Montparnasse – Wikipedia Serge Gainsbourg – Wikipedia Agnès Varda – Wikipedia Jean-Paul Sartre – Wikipedia Simone de Beauvoir – Wikipedia Jane Birkin – Wikipedia Fondation Cartier – Wikipedia Ron Mueck – Wikipedia Adaptive Radiation – Wikipedia Herz der Finsternis – Wikipedia The Last of Us – Wikipedia Psychogeographie – Wikipedia Die Klapperschlange – Wikipedia World War Z – Wikipedia #248 - 28 Years Later (Live in Berlin) - CUTS - Der kritische Film-Podcast Dawn of the Dead (2004) – Wikipedia Zombie (Film) – Wikipedia Zombie 2 – Wikipedia Die Nacht der lebenden Toten – Wikipedia Dario Argento – Wikipedia Tom Savini – Wikipedia Der Zombie Survival Guide – Wikipedia Das schwarze Loch – Wikipedia Mitwirkende Florian Clauß (Erzähler) Bluesky Mastodon Soundcloud Website Luc Micz Flor Instagram Twitter YouTube (Channel) Website Verwandte Episoden EGL038 Dogma 95: Das Fest - wie Authentizität auf der Leinwand sehr real wirken kann…EGL066 Roadmovies I: Civil WarEGL076 Abide with Me: Entstehung, Bedeutung und Vermächtnis von H. F. Lytes bekanntester HymneEGL082 Zombies in Psychoanalyse: Jenseits des Lustprinzips Von der Apokalypse zur Normalität Als Jim (Cillian Murphy) 2002 in Danny Boyles „28 Days Later“ auf der verlassenen Westminster Bridge erwacht, prägt sich ein Bild in das kollektive Gedächtnis des Kinos ein, das prophetischer nicht hätte sein können. Was damals als radikale Neuerfindung des Zombie-Genres galt, wurde während der COVID-19-Pandemie zur gespenstischen Realität: leere Straßen, zusammengebrochene Institutionen, die Fragilität der Zivilisation. Nun, 23 Jahre später, kehren Boyle und sein langjähriger Kollaborateur Alex Garland mit „28 Years Later“ zurück – nicht nur zu ihrem Genre-definierenden Werk, sondern zu den fundamentalen Fragen über Gesellschaft, Überleben und Menschlichkeit in Zeiten der Krise. Die Evolution eines Genres Die „28“-Reihe markiert einen Wendepunkt in der Geschichte des Zombie-Films. Während George Romeros klassische Untoten-Trilogie das Genre begründete und über Jahrzehnte definierte, unternahmen Boyle und Garland 2002 einen radikalen Bruch mit etablierten Konventionen. Ihre „Infizierten“ waren keine wiederbelebten Toten, sondern von einem Rage-Virus befallene Menschen – schnell, brutal, getrieben von purer Wut. Diese Neuinterpretation war mehr als eine ästhetische Entscheidung; sie reflektierte die Ängste einer beschleunigten, vernetzten Welt, in der Bedrohungen sich viral ausbreiten. Der Kameramann Anthony Dod Mantle, bekannt durch seine Arbeit mit Thomas Vinterbergs Dogma-Film „Das Fest“, brachte eine rohe, dokumentarische Ästhetik ein, die den Film aus den Konventionen des Horrorgenres löste. Die auf digitalen Kameras gedrehten, körnigen Bilder vermittelten eine Unmittelbarkeit und Authentizität, die das Publikum direkt in das Chaos katapultierte. Diese stilistische Entscheidung war radikal – Cillian Murphy erschien in Weitaufnahmen teilweise nur als „zwei Farbquadrate“, wie Boyle es rückblickend beschreibt. „28 Years Later“: Rückkehr in eine veränderte Welt Nach über zwei Jahrzehnten nehmen Boyle und Garland mit „28 Years Later“ den 28er-Zyklus wieder auf, dem Auftakt einer geplanten neuen Trilogie. Der Film, der am 19.6 in den deutschen Kinos startete, verspricht keine bloße Wiederholung bewährter Formeln, sondern eine tiefgreifende Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Transformationen der vergangenen Jahre.Die Handlung setzt auf Holy Island ein, einer Gezeiteninsel vor der englischen Küste, wo eine isolierte Gemeinschaft überlebt hat. Der zwölfjährige Spike lebt hier mit seinen Eltern Jamie und Isla in einer Gesellschaft, die sich radikal verändert hat. Bei Ebbe unternehmen bewaffnete Gruppen Expeditionen aufs Festland, um die noch immer präsenten Infizierten zu jagen – eine Routine, die zur grausamen Normalität geworden ist. Coming-of-Age in der Apokalypse Im Zentrum steht Spikes Initiationsgeschichte, die Boyle und Garland als verstörende Perversion traditioneller Übergangsriten inszenieren. Der aggressive Vater Jamie, brillant verkörpert von Aaron Taylor-Johnson, praktiziert eine Form „schwarzer Pädagogik“, indem er seinen traumatisierten Sohn zur Zombie-Jagd zwingt. „Schau nicht weg, Spike. Das soll dir eine Lehre sein“, befiehlt er, während sie Infizierte töten – eine Szene, die den Verlust kindlicher Unschuld in einer Welt ohne Gnade zeigt. Die Evolution der Infizierten Eine der faszinierendsten Entwicklungen des Films ist die Diversifizierung der Infizierten über 28 Jahre. Garland und Boyle präsentieren verschiedene Typen: die „Slowlows“, schwerfällige, fast mitleiderregende Kreaturen; die klassischen rasenden Infizierten; und die „Alpha-Zombies“, besonders aggressive Exemplare, die in Rudeln jagen. Diese Evolution macht die Infizierten weniger zu hirnlosen Monstern als zu einer Art degenerierter Parallelgesellschaft – eine Entscheidung, die die Grenze zwischen „uns“ und „ihnen“ bewusst verwischt. Dr. Kelson und die Kunst des Memento Mori Eine der eindrucksvollsten Figuren ist Dr. Kelson, gespielt von Ralph Fiennes, ein auf dem Festland lebender Arzt, der über die Jahre monumentale Kunstwerke aus menschlichen Überresten erschaffen hat. Seine Knochentürme und Schädelskulpturen fungieren als makabres Memento Mori – eine Mahnung an die Vergänglichkeit, die tief in der europäischen Kulturgeschichte verwurzelt ist. Diese Darstellung greift auf eine lange Tradition zurück, von mittelalterlichen Beinhäusern wie dem Sedlec-Ossarium in Tschechien bis zu den Pariser Katakomben. Doch während historische Ossuarien meist gemeinschaftliche, religiös legitimierte Projekte waren, erscheint Kelsons Werk als einsame Obsession eines Überlebenden – ein individueller Versuch, dem Massensterben Sinn zu verleihen. Die Ambivalenz dieser Figur – zwischen Wahnsinn und Weisheit, zwischen Künstler und Totenpriester – spiegelt die Unmöglichkeit wider, in einer post-apokalyptischen Welt angemessene Formen des Gedenkens zu finden. Zeitdiagnose und gesellschaftliche Regression „28 Years Later“ ist mehr als ein Zombie-Film – es ist eine beißende Kritik an aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen. Die isolierte Inselgemeinschaft mit faschistoiden Anklänge liest sich als düstere Post-Brexit-Allegorie. Die Gemeinschaft hat sich abgeschottet, pflegt einen aggressiven Tribalismus und erzieht ihre Kinder zu Kriegern. Besonders die Szene, in der Kinder geschlechtsspezifisch ausgebildet werden – Jungen lernen Bogenschießen, Mädchen andere Fertigkeiten – wirkt wie ein Kommentar zur Rückkehr traditioneller Geschlechterrollen. Der Film wird untermalt von Rudyard Kiplings Gedicht „Boots“ (1903), dessen repetitiver Rhythmus die Monotonie militärischen Drills evoziert, sowie Ausschnitten aus Laurence Oliviers „Henry V.“ – Verweise auf ein glorifiziertes, militaristisches Geschichtsbild. Die Figur des schwedischen Soldaten Erik, der bereut, dem Militär beigetreten zu sein, um „etwas Sinnvolles“ zu tun, spricht direkt aktuelle Debatten über Remilitarisierung und „Kriegstüchtigkeit“ in Europa an. Seine Geschichte warnt vor der Romantisierung militärischer Lösungen für gesellschaftliche Probleme. Ästhetische Innovationen und Kritikpunkte Visuell knüpft „28 Years Later“ an die Innovationen des Originals an, ohne sie bloß zu kopieren. Anthony Dod Mantle kehrt als Kameramann zurück und entwickelt neue visuelle Strategien. Besonders beeindruckend sind die „Bullet-Time“-ähnlichen Effekte bei Kampfszenen, die mit einem Setup aus bis zu zehn iPhones realisiert wurden – Boyle nennt es scherzhaft „poor man’s bullet time“. Diese Momente, in denen Pfeile das Filmmaterial zu „zerschießen“ scheinen, schaffen eine neue Form der Immersion. Allerdings neigt der Film laut Kritikern auch zu „entsetzlichem Kitsch“, besonders in den symbolüberladenen Memento-Mori-Szenen. Die Mischung verschiedener Genre-Ästhetiken – von Mittelalter-Epos über Monty Python bis Performance-Theater – wird als „Diskurs-Kollage“ kritisiert, die keine kohärente Vision entwickelt. Der Film wirke „so ratlos wie wir alle“, was einerseits ehrlich, andererseits unbefriedigend sei. Die Trilogie als Zeitkapsel Betrachtet man die „28“-Reihe als Ganzes, offenbart sich eine faszinierende Chronologie gesellschaftlicher Ängste. „28 Days Later“ (2002) reflektierte post-9/11-Paranoia und die Angst vor plötzlichen, unkontrollierbaren Bedrohungen. „28 Weeks Later“ (2007) thematisierte militärische Besatzung und die Illusion von Sicherheit – deutliche Parallelen zum Irak-Krieg. „28 Years Later“ (2025) konfrontiert uns nun mit den Langzeitfolgen von Krisen: transgenerationales Trauma, gesellschaftliche Regression und die Normalisierung des Ausnahmezustands. Interview-Einblicke: Boyle und Garland über ihre Vision In Interviews betonen beide Kreative, wie sehr die COVID-19-Pandemie ihre Herangehensweise beeinflusst hat. „Die Erfahrung war stark“, sagt Boyle. „Am Anfang ist man sehr vorsichtig und nach einiger Zeit wird man mit der Situation etwas entspannter.“ Diese Normalisierung des Unnormalen ist zentral für „28 Years Later“ – was in den ersten Filmen undenkbar war (ein Vater nimmt seinen 12-jährigen Sohn zur Zombie-Jagd mit), ist nach 28 Jahren zur akzeptierten Routine geworden. Garland fügt hinzu, dass die Infizierten selbst eine Evolution durchgemacht haben: „Sie haben gelernt mit der Situation umzugehen, um nicht zu verhungern. Sie jagen in Rudeln.“ Diese Anpassung macht sie paradoxerweise menschlicher und bedrohlicher zugleich. Besonders aufschlussreich ist Garlands Kommentar zur gesellschaftlichen Rückwärtsgewandtheit: „Es gibt eine Tendenz zurückzublicken, was aber nur mit cherrypicked memories und Gedächtnisverlust einhergeht.“ Der Film kritisiere die „Make things great again“-Mentalität der letzten Jahre, die selektive Geschichtsschreibung und die Unfähigkeit, sich eine progressive Zukunft vorzustellen. Ein notwendiger Film zur richtigen Zeit? „28 Years Later“ ist kein perfekter Film. Die Kritik an seiner fragmentarischen Struktur, dem überladenen Diskurs und dem unbefriedigenden Cliffhanger-Ende ist berechtigt. Als eigenständiges Werk mag er enttäuschen, als Teil einer größeren Erzählung und als Zeitdiagnose jedoch ist er hochrelevant. Der Film stellt die richtigen Fragen: Wie verändert langanhaltende Krise eine Gesellschaft? Welche Formen nimmt Initiation an, wenn traditionelle Strukturen kollabieren? Wie gedenken wir der Toten, wenn die Normalität selbst tot ist? Dass er keine eindeutigen Antworten liefert, mag frustrierend sein, spiegelt aber ehrlich unsere eigene Orientierungslosigkeit in Zeiten multipler Krisen wider. Die wahre Stärke der „28“-Trilogie liegt in ihrer Fähigkeit, den Zombie-Film als Vehikel für gesellschaftliche Reflexion zu nutzen. Wie schon George Romero wussten Boyle und Garland: Die wahren Monster sind nicht die Infizierten, sondern die Systeme, die sie hervorbringen – seien es nun Tierversuchslabore, militärische Strukturen oder tribalistisch Gemeinschaften, die ihre eigenen Kinder brutalisieren. In einer Zeit, in der Pandemien, Klimakrise und gesellschaftliche Polarisierung unsere Normalität definieren, erscheint „28 Years Later“ weniger als Unterhaltung denn als notwendige Konfrontation mit unseren kollektiven Ängsten. Der Film mag keine Lösungen bieten, aber er zwingt uns, genau hinzuschauen – auch wenn wir, wie der junge Spike, am liebsten wegschauen würden.
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Jun 19, 2025 • 1h 6min

EGL080 Chaosmagie und Psychotherapie: wissenschaftlicher Anspruch trifft magische Wirkmacht

"... chaos magic has no history. Every culture and generation rewrites the eternal verities of magic in terms of its own symbolism and idiosyncrasies; only the underlying practical techniques of magic really matter." -- Peter J. Carroll in Liber Null Diesen zweiten Teil der Episode über Wissenschaft, Evidenz, C. G. Jung und "Das Rote Buch" beginnen wir mit einem Ausflug in die Magie. Zuerst hören wir noch einmal einen Auszug aus dem zauberhaften Roman "Jonathan Strange & Mr. Norrell". Damit hatten wir auch den ersten Teil abgeschlossen. Und dann stolpern wir hinein in die sogenannte Chaosmagie, eine magische Praxisform, die in den späten 1970er-Jahren entstand. Der Übergang ist so holprig, dass Flo anfangs vermutet, Peter Carroll sei ein weiterer Charakter des Romans. Vielmehr hat Peter J. Carroll mit den Werken "Liber Null" und "Psychonaut" eine theoretische und praktische Grundlage für eine neue Praxis der Magie formuliert, die heute als Chaosmagie bezeichnet wird. Carrolls Ansatz betont den pragmatischen Umgang mit magischen Techniken und versucht, diese von überlieferten rituellen und symbolischen Systemen zu lösen. Und – deshalb kommt die Chaosmagie in dieser Folge vor – er beansprucht ein empirisch orientiertes Vorgehen, das die Wirksamkeit von Praktiken anhand subjektiver Erfahrung überprüft. Wir befinden uns also mitten in der Frage: Was ist Wissenschaft? Und drehen jetzt das Rad noch einmal weiter: Ist Magie Wissenschaft? Wir drehen das Rad dann noch ein Stück weiter und erreichen so wieder die Praxen der Psychotherapeut:innen, beziehungsweise die psychotherapeutische Praxis – insbesondere Körperarbeit und Atemtechniken. Shownotes Link zur Laufstrecke Eigentlich Podcast Links zur Episode Chaosmagie auf Wikipedia The Men Who Stare at Goats auf Rotten Tomaties Peter J. Carroll auf Wikipedia Austin Osman Spare auf Wikipedia Liber Null von Peter J. Carroll auf archive.org Liber Null & Psychonaut von Peter J. Carroll auf archive.org Ort der Kraft oder magischer Ort Liste von Psychotherapie- und Selbsterfahrungsmethoden Inception (2010) - Opening The Safe Scene - YouTube Arthur C. Clarke's three laws The Feynman Lectures on Physics (1963) > Vol I: The Relation of Physics to Other Sciences > 3-6 Psychology The History of Chaos Magic, Psychogeography & Psychedelics in Magic | Julian Vayne - YouTube Talking Chaos Magic and Breathwork with Dave Lee – Rune Soup Mitwirkende Micz Flor Instagram Twitter YouTube (Channel) Website Florian Clauß Bluesky Mastodon Soundcloud Website Verwandte Episoden EGL063 Psychosen, UFOs, Archetypen: C.G. Jung über Außerirdische und das kollektive UnbewussteEGL078 Das Rote Buch: C.G. Jung als Religionsstifter oder Wissenschaftler?EGL084 Sigmund Freud: seine „Outsider“ Biographie im Filmessay Wer die Folge 78 noch nicht gehört hat, sollte das vielleicht tun. Da bilden wir den Boden für diese Episode. Wir sprechen über C.G. Jung, sein Jahrzehnte nach dem Tod veröffentlichtes Buch „Das Rote Buch“, über Spiritualität, Wissenschaft und Psychotherapie. In dieser zweiten Folge machen wir einen bewussten Schritt raus aus der Comfort Zone der Wissenschaft, über das Ziel hinaus und hinein in die Magie. Ganz speziell eben die Chaosmagie, deren Begründer ist Peter J. Carroll mit den Publikationen „Liber Null“ und „Psychonaut“. (Meine Zitate beziehe ich aus der Fassung „Liber Null and Psychonaut“ (Weiser Books, Newburyport, 2022), die mir als E-Book vorliegt, weshalb ich keine Seitenzahlen angebe, sondern die jeweiligen Kapitel.) Eine Zusammenfassung seines Denkens liefert uns Peter J. Carroll gleich in den ersten Zeilen der Einleitung. Magische Fähigkeiten ergeben sich demnach aus veränderten Bewusstseinszuständen, die sich in der „Realität“ entwickeln lassen und keiner symbolischen Abstraktionen bedürfen: Magic is an intensely practical, personal, experimental art. Two major themes run through this book: that altered states of consciousness are the key to unlocking one’s magical abilities; and that these abilities can be developed without any symbolic system except reality itself. — Peter J. Carroll In: „Liber Null and Psychonaut“, Kapitel: „Introduction“ (Weiser Books, Newburyport, 2022) Wir verlassen in diesem zweiten Teil über C.G. Jung und „Das Rote Buch“ also die Wissenschaft durch Jungs metaphysische Hintertürchen in eben diesem roten Buch. Anstatt die Regler am Mischpult alle von null auf den richtigen Wert zu schieben, stellen wir jetzt erst mal alles auf zehn und regeln dann runter. Steigen wir also in die Magie ein. Peter J. Carrolls „Liber Null“ verfolgt einen anderen Zugang als Jung, doch es entsteht eine strukturelle Nähe. Auch „Liber Null“ ist eine Sammlung von Texten, die keine dogmatische Lehre etablieren wollen. Stattdessen formuliert Carroll eine methodische Praxis, in der Magie als Technik der Aufmerksamkeitslenkung begriffen wird. „Mind and Matter“ bei Jung und Carroll Wie ähnlich sich die Weltbilder von C.G. Jung und Peter J. Carroll (Chaosmagie) sind, möchte ich mit zwei Zitaten illustrieren. Gehen wir gleich mal ans Eingemachte, „straight to the heart of the matter“, wie Carroll schreibt. Sein Wortwitz versteht sich erst beim zweiten Lesen, „the matter“, die Materie. Die Frage nach dem Universum und dem Bewusstsein darin und Allem: If we proceed straight to the heart of the matter and ask of magic what is the nature of consciousness and the universe and everything, we get this answer: they are spontaneous, magical, and chaotic phenomena. The force which initiates and moves the universe, and the force which lies at the center of consciousness, is whimsical and arbitrary, creating and destroying for no purpose beyond amusing itself. — Peter J. Carroll In: „Psychonaut“, Kapitel „Chaos: The Secret of the Universe“ Das Wesen des Bewusstseins, des Universums und von allem, so Carroll, bestehe aus den gleichen spontanen, magischen und chaotischen Phänomenen. Wir stellen erst mal C.G. Jungs Gedanken in dieser Frage daneben: And so psychical events are realities. (…) Because the psyche, if you understand it as a phenomenon that takes place in so-called living bodies, is a quality of matter, as our bodies consist of matter. We discover that this matter has another aspect, namely, a psychic aspect. — C.G. Jung In: „Jung on elementary psychology. A discussion Between C.G. Jung and Richard I. Evans (1976, P. 93) Jung versteht psychische Ereignisse als als eine Eigenschaft der Materie. Zwar ist die Psyche ein Phänomen, das sich in sogenannten lebenden Körpern vollzieht, da diese Körper aber aus Materie bestehen, schlussfolgert Jung, dass diese Materie noch einen weiteren Aspekt hat, nämlich einen psychischen Aspekt. Diese beiden Konzeptionen liegen nicht weit auseinander und ich möchte das auch gerne so stehen lassen, denn es geht mir nicht darum das Universum zu erklären. Vielmehr geht es mir darum die Verwandschaft spezieller Schulen magischen und psychotherapeutischen Denkens (ausgehend von C.G. Jung) zu illustrieren. Jung und Carroll leiten aus den eben zitierten Gedanken über die Beschaffenheit der Welt als Ganzes verwandte, wenn auch unterschiedliche Annahmen ab. Jung baut so eine Brücke aus dem Individuum, dem individuellen Unbewussten hin zum kollektiven Unbewussten und den Archetypen. Er geht gewissermaßen den Weg vom Individuum in das Universum. Carroll geht den umgekehrten Weg. Der Grund unter allem sei das Chaos. Und dieses bleibe unergründbar, auch wenn wir alle aus diesem Chaos entstanden, quasi „gemacht“, sind, weil die Prozesse unseres Verstandes so gebaut sind, dass wir immer nach Kausalitäten suchen, also Ursache und Wirkung: Now it is very difficult to imagine events arising spontaneously without prior cause, even though this happens every time one exerts one’s will. For this reason, it has seemed preferable to call the root of these phenomena chaos. It is impossible for us to understand chaos, because the understanding part of ourselves is built out of matter, which mainly obeys the statistical form of causality. Indeed, all our rational thinking is structured on the hypothesis that one thing causes another. It follows then that our thinking will never be able to appreciate the nature of consciousness or the universe as a whole because these are spontaneous, magical, and chaotic by nature. — Peter J. Carroll In: „Psychonaut“, Kapitel: „Chaos: The Secret of the Universe“ Chaos und Magie und Chaosmagie Doch wenn alles aus dem unergründbaren Chaos entstanden sei, den wir nicht verstehen können, ließe sich dann ableiten, dass Chaos, Magie und Bewusstsein das gleiche sein könnten? Carroll schlängelt sich entlang der Materie in unserem Hirn, in dem es chaotisch zugeht und in dem aber auch Zustände verändert werden können: Might it not be that consciousness, magic, and chaos are the same thing? Consciousness is able to make things happen spontaneously without prior cause. This usually happens within the brain, where that part of consciousness we designate “will” tickles the nerves to make certain thoughts and actions occur. (ebd.) Und wenn die Materie im Gehirn vom Bewusstsein (Consciousness) verändert werden kann, wo ziehen wir dann die Grenze? Wenn es das außerhalb des Körpers tut, wird es als Magie bezeichnet. Im Umkehrschluss benennt hier Carroll die Essenz der Definition von Magie: Occasionally, consciousness is able to make things happen spontaneously outside the body when it performs magic. Any act of will is magic. (ebd.) Diese Definition ist nicht leicht zu übersetzen. „Jeder Akt des Willens ist Magie“, es ist eine Willenshandlung, die folglich eine Willenskraft beinhaltet. Wir können also mit dem Bewusstsein in die Welt wirken. Und das Gegenteil ist auch der Fall: Conversely, any act of conscious perception is also magic; an occurrence in nervous matter is spontaneously perceived in consciousness. Sometimes that perception can occur directly without the use of the senses, as in clairvoyance. (ebd.) „Clairvoyance“ lässt sich als „Hellsehen“ übersetzen, also die Fähigkeit, Dinge wahrzunehmen, die außerhalb der normalen Sinneswahrnehmung liegen. Jetzt haben wir also eine Definition von Magie und ein Feld, in dem sie wirkt (dem unergründlichen Chaos). Die Magie ist für Carroll gewissermaßen die Grenze und Verbindung zwischen Chaos und uns Menschen. Das Chaos ist unergründbar, ungerichtet und folgt keinen Gesetzen, keiner Kausalität und keinem Sinn. Die Menschen und ihr Denken sind dem immanenten Wunsch unterworfen Ursachen für Wirkungen zu finden, diese Ordnung herzustellen. Der Mensch will immer etwas (vergleiche Nietzsche, Schopenhauer, Freud) und die Magie ist aus dieser Blickrichtung ein Willensakt, der etwas gezielt bewirken will. Auf der anderen Seite steht das Chaos. Und die Chaosforschung (höre dazu den ersten Teil, Folge 78) lehrt uns in Kausalität gefangenen Wesen, dass es wenig Ursache bedarf (Schmetterling), um viel zu bewirken (Hurricane). Von Seiten des Chaos ist die Magie ein Impuls, eine Energie, eine Bewegung (alles natürlich Begriffe, die wir als in Kausalität gefangene Wesen benutzen, aber die es im Chaos nicht gibt). Oder hier noch mal in den Worten von Carroll: Magic is the science and art of causing change to occur in conformity with will. — Peter J. Carroll In: „Liber Null“, Kapitel: „Liber MMM“ Veränderung durch Willenskraft, dass ist die Essenz. Carroll hat eine „whatever works“ Einstellung zu magischen Praktiken. Rituale, Symbole, Orden und andere höheren Strukturen sind nicht notwendig, bzw. müssen immer wieder neu beweisen, dass sie notwendig sind, um Magie zu betreiben. Carroll hat einen wissenschaftlichen Anspruch an magische Praktiken. Magische Novizen sollen sich deshalb einen Block zulegen und darin aufschreiben, was sie tun und mit welchem Ergebnis. Und Ergebnisse sollen auch mit anderen geteilt werden, um festzustellen, ob die Praktiken die beschriebenen Effekte wirklich erwirken. Mit diesen Anforderungen an die magische Praxis sind wir nicht weit weg vom Doppelblindverfahren medizinischer Evidenzforschung. A magical diary is the magician’s most essential and powerful tool. It should be large enough to allow a full page for each day. Students should record the time, duration, and degree of success of any practice undertaken. They should make notes about environmental factors conducive (or otherwise) to the work. — Peter J. Carroll In: „Liber Null“, Kapitel „Liber MMM“ Die Magie zu ergründen, bzw. die eigenen magischen Fähigkeiten zu entdecken und entwickeln, ist also ein fortwährendes Experiment. Es gibt jedoch notwendige Fähigkeiten, die sich trainieren lassen, um diesen experimentellen Pfad effektiv zu verfolgen: This course is an exercise in the disciplines of magical trance, a form of mind control having similarities to yoga, personal metamorphosis, and the basic techniques of magic. Success with these techniques is a prerequisite for any real progress with the initiate syllabus. (ebd.) Wer sich mit Achtsamkeit, Atemübungen und Körperarbeit in der Psychotherapie beschäftigt hat, dem könnten die folgenden Konzepte bekannt vorkommen (beim Lesen des folgenden Textauszugs bitte das Wort Magie wie von magischer Hand streichen): To work magic effectively, the ability to concentrate the attention must be built up until the mind can enter a trancelike condition. This is accomplished in a number of stages: absolute motionlessness of the body, regulation of the breathing, stopping of thoughts, and magical trances (concentration on objects, concentration on sound, and concentration on mental images). MotionlessnessArrange the body in any comfortable position and try to remain in that position for as long as possible. Try not to blink or move the tongue or fingers or any part of the body at all. Do not let the mind run away on long trains of thought but rather observe oneself passively. What appeared to be a comfortable position may become agonizing with time, but persist! Set aside some time each day for this practice and take advantage of any opportunity of inactivity which may arise. Record the results in the magical diary. One should not be satisfied with less than five minutes. When fifteen have been achieved, proceed to regulation of the breathing. BreathingStay as motionless as possible and begin to deliberately make the breathing slower and deeper. The aim is to use the entire capacity of the lungs but without any undue muscular effort or strain. The lungs may be held full after inhalation for a few moments, or empty after exhalation for a few moments to lengthen the cycle. The important thing is that the mind should direct its complete attention to the breath cycle. When this can be done for thirty minutes, proceed to “not-thinking.” Not-ThinkingThe exercises of motionlessness and breathing may improve health, but they have no other intrinsic value aside from being a preparation for not-thinking, the beginnings of the magical trance condition. While motionless and breathing deeply, begin to withdraw the mind from any thoughts which arise. The attempt to do this inevitably reveals the mind to be a raging tempest of activity. Only the greatest determination can win even a few seconds of mental silence, but even this is quite a triumph. Aim for complete vigilance over the arising of thoughts and try to lengthen the periods of total quiescence. Like the physical motionlessness, this mental motionlessness should be practiced at set times and also whenever a period of inactivity presents itself. The results should be recorded in your diary. (ebd.) In Kombination der Annahme der Chaosmagie, dass das Geistige – verstanden als Gedankenprozesse in neuronalen Strukturen – nicht nur innerhalb des Körpers, sondern ebenso außerhalb desselben materielle Wirkungen hervorrufen kann, und der Annahme, dass eine bestimmte körperliche Verfasstheit für die magische Wirksamkeit von Magier\:innen notwendig, wenn auch nicht hinreichend ist, ergibt sich eine nachvollziehbare Argumentationslinie: Die Sorge um geistige und körperliche Gesundheit ist integraler Bestandteil magischer Praxis oder zumindest ein zentrales Anliegen derselben. In dieser Perspektive positioniert sich Magie deutlich gegen ein medizinisch-psychiatrisches Paradigma, das den Menschen vorrangig als zu reparierende Funktionsinstanz innerhalb eines sozialen Systems behandelt. Stattdessen wird eine Form der Selbstsorge und Selbstermächtigung betont, die mentale Selbstverteidigung ebenso einschließt wie körperliche Fürsorge durch milde, natürliche Mittel. So heißt es bei Peter J. Carroll: Magic is opposed to a psychiatry and medicine designed to patch up the damaged automaton and plug it back into the system. Instead, it would rather that individuals learn to handle their own mental self-defense and treat their bodies with gentler remedies such as herbs.— Peter J. Carroll, in: Psychonaut, Kapitel: „New Aeon Magic“ Wir sind also auf dem Weg von der Magie in die Psychosomatik und Psychotherapie. Magie und Psychotherapie Der Begriff „Magie“ ist der Psychotherapie keineswegs fremd. So etwa beim Konzept des „sicheren Ortes“: ein imaginierter innerer Rückzugsraum, der im Rahmen der Psychotherapie entwickelt wird und in belastenden Situationen Stabilität und Schutz bieten kann. Dieser Ansatz findet in verschiedenen therapeutischen Verfahren Anwendung, unter anderem bei der Traumatherapie. Verwandt sind der „Ort der Kraft“, der Schutz und innere Stärke gibt. Es sind gewissermaßen magische Orte, imaginiert, geistig und im Geiste besucht – und wirksam. Wer sich tiefer mit solchen Konzepten beschäftigen möchte, findet eine Vielzahl weiterführender Ansätze auf der Wikipedia-Seite „Liste von Psychotherapie- und Selbsterfahrungsmethoden“ (Link in den Shownotes). Geneigte Leser:innen mögen sich fragen: worauf wollen die den jetzt hinaus? Unsere Exit-Stragie für die Parabel von Wissenschaft, Magie und Psychotherapie beginnen wir mit einem Zitat des britischen Mathematikers, Physikers und Science-Fiction-Schriftstellers Arthur C. Clarke. In einem kurzen Satz verbindet Clarke die scheinbar beziehungslosen Begriffe Magie und Technik sehr elegant und einleuchtend: Jede hinreichend fortschrittliche Technologie ist von Magie nicht zu unterscheiden. Any sufficiently advanced technology is indistinguishable from magic. — Arthur C. Clarke In: „Hazards of Prophecy: The Failure of Imagination“ 1962 Der Begriff “advanced technology” ist eng mit einem wissenschaftlich geprägten Weltbild verknüpft und lässt sich in diesem Kontext am treffendsten mit “fortschrittliche” übersetzen. Es impliziert eine Bewegung in Richtung Zukunft. Semantisch verwandte Ausdrücke wie “accelerate the progress”, “move forward” oder “raise to a higher rank” verdeutlichen den inhärenten Fortschrittsgedanken. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass die Wortherkunft zunächst eine gegenteilige Richtung andeutet: Das lateinische “ab ante” bedeutet wörtlich von vorn oder “aus dem Vorher”, was eher eine Rück- als eine Vorwärtsbewegung nahelegt. Dennoch ist anzunehmen, dass Arthur C. Clarke mit der Verwendung des Begriffs “advanced technology” tatsächlich auf den Aspekt des Fortschritts abzielt, der der technologischen Entwicklung eingeschrieben ist. Demnach erscheint eine Technologie, sobald sie einen bestimmten Entwicklungsstand überschritten hat, aus der Außenperspektive als Magie. Ihre bloße Existenz setzt jedoch einen kulturellen Kontext voraus, in dem sie nicht als magisch, sondern als technisch und rational erklärbar gilt. In der Kultur, in der die jeweilige Technologie entstanden ist, wird sie als solche erkannt und eingeordnet. (Wie aktuelle Entwicklungen im Bereich der großen Sprachmodelle diese klare Unterscheidung zwischen Technologie und Magie zunehmend herausfordern, soll an dieser Stelle lediglich angedeutet werden.) Was Clarkes Satz so geschmackvoll macht ist die Verwandlung statischer Begriffe in einen dynamischen Prozess. Greifen wir mal hoch ins Regal und sagen, dass wir semantisch eine Form der Heisenbergschen Unschärferelation beobachten: Begriffe lassen sich nicht gleichzeitig eindeutig definieren und in ihrer Bedeutungsverschiebung begreifen. In dieser Episode geht es nicht um Technik und Magie, sondern um Wissenschaft, Psychotherapie und Magie. Doch können wir Clarkes Satz problemlos weiter fassen, verallgemeinern, wenn wir sagen: Jede unerklärliche Technik oder Praxis, die wiederholbare Veränderung bewirkt, erscheint wie Magie. Mit dem wissenschaftlichen Blick und dieser Erkenntnis im Rücken, schauen wir noch einmal frisch auf die vorangegangenen Gedanken. Wenn wir evidenzbasierte psychotherapeutische Methoden mit Magie „alignen“ wollen, schauen wir zuerst auf die vordergründigen Definitionen der jeweiligen Begriffe. Arthur C. Clarke illustriert mit einfacher Eleganz, dass sich das Dinge sich verwandeln können und zwar nur weil sich die Definition der Begriffe sich wandeln. In seinem Statement wird aus Magie Technik, wenn die Fähigkeit gegeben ist, diese zu erkennen und zu erfassen. Landläufig würde man vielleicht sagen: wenn die Zeit reif ist. It used to be said that magic was what we had before science was properly organized. It now seems that magic is where science is actually heading. — Peter J. Carroll In: „Psychonaut“, Kapitel: „Introduction“ Das lasse ich mal so stehen. Und ich schließe diesen Post mit einem Zitat, dass mir (völlig anonymisiert) letzte Woche ein:e Patient:in mit in die Sitzung gebracht hat. Zufall??!. Es passt einfach so gut hier her: Next, we consider the science of psychology. Incidentally, psychoanalysis is not a science: it is at best a medical process, and perhaps even more like witch-doctoring. It has a theory as to what causes disease—lots of different “spirits,” etc. The witch doctor has a theory that a disease like malaria is caused by a spirit which comes into the air; it is not cured by shaking a snake over it, but quinine does help malaria. So, if you are sick, I would advise that you go to the witch doctor because he is the man in the tribe who knows the most about the disease; on the other hand, his knowledge is not science. — The Feynman Lectures on Physics (1963) > Vol I: The Relation of Physics to Other Sciences > 3-6 Psychology Abschließend ein paar Gedanken zum Titelbild für diese Episode. Im Titel sollte „Chaosmagie“ vorkommen, so viel war klar, aber — wie in der Episode deutlich wird — sind wir keine Magier. Wir schauen von außen auf die magische Praxis, die in dieser Episode einen zentralen Platz hat und gleichzeitig aber nur ein Teil der Geschichte ist. Um das Coverbild zu erstellen, haben wir die KI bemüht und uns in den Vorgaben an dem Look & Feel anderer Bilder im Podcast-Universum orientiert, die sich mit Chaosmagie beschäftigen, bzw. in denen Menschen sprechen, die Chaosmagie praktizieren oder praktiziert haben. Die Chaosmagie ist nicht nur für Magier, sondern wird auch von Hexen und anderen praktiziert, weshalb wir den Menschen, der auf dem Titelbild abgebildet ist in Diversität auch androgyn gestalten wollten.
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Jun 5, 2025 • 1h 35min

EGL079 Gedenkstätte Hohenschönhausen - eine Führung mit dem Zeitzeugen Hendrik Voigtländer

"Wenn ich jetzt rauskomme, da steht bestimmt jemand hinter der Tür und schlägt dir ins Gesicht. Konspirative Operation, Zersetzung des Menschen, es geht darum, dich zu brechen." Hendrik Voigtländer (Min 57:01) Ali Hackalife vom Podcast "Auch-interessant" ist wieder in Berlin. Wir nutzen die Gelegenheit unsere Reihe zu historischen Orten fortzusetzen und besuchen die Gedenkstätte Hohenschönhausen. Hohenschönhausen war das zentrale Untersuchungsgefängnis der Staatssicherheit. Von 1951 bis 1989 war die Anstalt Haftort für zahlreiche meist politische Gefangene, die dort oft monatelang in Untersuchungshaft verbrachten. Wir haben eine Führung gebucht und werden von Hendrik Voigtländer über das Gelände geführt. Er ist einer der Zeitzeugen, die neben den Historiker*innen Führungen im Auftrag der Gedenkstätte anbieten. Hendrik hat wegen eines Fluchtversuches im November 1988 in Hohenschönhausen gesessen, bevor er von der BRD freigekauft wurde. Hendrik berichtet von den Haftbedingungen und Foltermethoden der Stasi. Er schildert eindringlich den Alltag und die Zersetzung, die im Januar 1976 in Kraft getretenen Richtlinie Nr. 1/76 offiziell von der Stasi als Methode zum Umgang mit Nicht-Linientreuen Staatsbürger*innen verabschiedet wurde. Leider ist die Tonqualität nicht immer optimal, aber wir haben in der Postproduktion alles gegeben, um das Beste rauszuholen. Wir hoffen, dass trotz der Tonqualität die großartige und eindrucksvolle Führung von Hendrik ansatzweise so rüberkommt, wie wir sie vor Ort erlebt haben. Shownotes Links zur Laufstrecke EGL079 | Wanderung | Komoot Links zur Episode Auch-interessant.de | Ein Podcast von Ali Hackalife Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen – Wikipedia Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen: Führungen Entrismus – Wikipedia Talking about the World – with John Roderick | Auch-interessant.de Krokodil im Nacken – Wikipedia Klaus Kordon – Wikipedia Zersetzung (Ministerium für Staatssicherheit) – Wikipedia Stasi Tactics – Zersetzung | Max Hertzberg Walter Ulbricht – Wikipedia Goodbye DDR (Hörbuch-Download): Guido Knopp, Victor M. Stern, SAGA Egmont: Amazon.de: Bücher Deutsche Demokratische Republik – Wikipedia Erich Mielke – Wikipedia Ministerium für Staatssicherheit – Wikipedia Stasimuseum – Wikipedia Gaslighting – Wikipedia Sozialismus – Wikipedia Gregor Gysi – Wikipedia Werner Teske – Wikipedia Nahschuss – Wikipedia Josef Stalin – Wikipedia Erika Riemann – Wikipedia Schachnovelle – Wikipedia Folter – Wikipedia Dirk Zingler – Wikipedia Wolfgang Vogel (Rechtsanwalt) – Wikipedia Feature | Fluchtweg übers Bruderland – die bulgarisch-türkische Grenze | MDR.DE Buch "Grenzschicksale - Als das Grüne Band noch grau war" - Grünes Band Sachsen-Anhalt Brocken-Benno – Wikipedia Gefangenensammeltransportwagen der Deutschen Reichsbahn – Wikipedia Mitwirkende Hendrik Voigtländer (Führer und Zeitzeuge) Ali Hackalife YouTube (Channel) Bluesky Website Florian Clauß Bluesky Mastodon Soundcloud Website Die Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen: Erinnerungsort sowjetischer und DDR Repression Die Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen steht exemplarisch für die doppelte Diktaturerfahrung auf deutschem Boden im 20. Jahrhundert. Als authentischer Ort politischer Verfolgung unter sowjetischer Besatzung und SED-Herrschaft verkörpert sie die Kontinuitäten und Brüche kommunistischer Repressionspraxis zwischen 1945 und 1989. Die sowjetische Phase (1945-1951) und der Übergang zur DDR-Kontrolle (1951) Nach Kriegsende 1945 richtete der sowjetische Geheimdienst NKWD im Keller der ehemaligen Großküche der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt in Berlin-Hohenschönhausen ein Untersuchungsgefängnis ein. Diese als „Speziallager Nr. 3“ bezeichnete Einrichtung diente zunächst der Internierung von NS-Funktionären, entwickelte sich jedoch rasch zu einem Instrument politischer Säuberung. Hier wurden zunehmend Sozialdemokraten, bürgerliche Demokraten und vermeintliche „Klassenfeinde“ inhaftiert. Die Haftbedingungen in dieser frühen Phase waren von extremer Härte geprägt. Die Gefangenen vegetierten in überfüllten, fensterlosen Kellerzellen ohne sanitäre Einrichtungen. Systematische Unterernährung, Schlafentzug und physische Gewalt prägten den Haftalltag. Die Sterblichkeitsrate lag nach Schätzungen bei etwa 20 Prozent. Besonders perfide war das System der nächtlichen Verhöre, bei denen die Häftlinge durch psychischen Druck zu Geständnissen gezwungen wurden.Mit der Übergabe des Gefängnisses an das neu gegründete Ministerium für Staatssicherheit (MfS) im Jahr 1951 begann eine neue Phase der institutionellen Verfestigung. Die Stasi nutzte die bestehenden Strukturen und erweiterte sie systematisch. Zwischen 1951 und 1960 entstand auf dem Gelände ein moderner Gefängniskomplex mit über 200 Zellen und 100 Vernehmungsräumen, der als zentrale Untersuchungshaftanstalt der Staatssicherheit fungierte. Die Stasi-Ära: Perfektionierung psychologischer Zersetzung Die bauliche Gestaltung des Gefängnisses folgte einem ausgeklügelten System totaler Kontrolle. Das „U-Boot“ genannte Kellergefängnis verfügte über ein komplexes Ampelsystem, das jeglichen Kontakt zwischen Gefangenen verhindern sollte. Die Zellen waren schallisoliert, die Gänge mit Teppichen ausgelegt, um die akustische Orientierung zu erschweren. Diese „Architektur der Einsamkeit“ zielte auf die vollständige Desorientierung und Isolation der Häftlinge.Die Staatssicherheit entwickelte in Hohenschönhausen ein ausgefeiltes System psychologischer Verhörmethoden, das in der Forschung als „operative Psychologie“ bezeichnet wird. Im Gegensatz zur physischen Folter der sowjetischen Phase setzte die Stasi auf subtilere Methoden der Persönlichkeitszersetzung. Dazu gehörten: Systematische Desinformation über Angehörige Inszenierung von Scheinprozessen Einsatz von Zelleninformanten („Zellenspitzel“) Wechsel zwischen Drohungen und Versprechungen Erzwingung belastender Aussagen gegen Dritte Häftlingsgruppen und Haftgründe Die Mehrheit der in Hohenschönhausen Inhaftierten gehörte zur politischen Opposition der DDR. Dazu zählten Mitglieder von Widerstandsgruppen, Fluchthelfer, kritische Intellektuelle und Künstler. Prominente Häftlinge wie der Schriftsteller Jürgen Fuchs, die Bürgerrechtlerin Vera Lengsfeld oder die Künstlerin Bärbel Bohley prägten das kollektive Gedächtnis des Ortes. Eine zahlenmäßig bedeutende Gruppe bildeten gescheiterte Flüchtlinge und Ausreiseantragsteller. Die Kriminalisierung des Verlassens der DDR als „ungesetzlicher Grenzübertritt“ führte zu massenhaften Inhaftierungen. Besondere Aufmerksamkeit verdient die Inhaftierung westlicher Staatsbürger, die als Faustpfand im Kalten Krieg dienten. Die Fälle von entführten oder unter Vorwänden verhafteten Westdeutschen und Westberlinern illustrieren die internationale Dimension der Staatssicherheit. Die Transformation zum Erinnerungsort Die friedliche Revolution 1989 führte zur Auflösung der Staatssicherheit und zur Öffnung ihrer Gefängnisse. Am 14. Dezember 1989 besetzten Bürgerrechtler das Gelände in Hohenschönhausen und verhinderten die Vernichtung von Akten. Die Initiative ehemaliger Häftlinge war entscheidend für die Sicherung des Ortes als Gedänkstätte.Berlin-Hohenschönhausen verkörpert paradigmatisch die Herausforderungen deutscher Erinnerungskultur nach 1989. Als authentischer Ort kommunistischer Repression bewahrt sie nicht nur materielle Zeugnisse politischer Verfolgung, sondern fungiert als lebendiger Lernort demokratischer Bildung.
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May 22, 2025 • 1h 20min

EGL078 Das Rote Buch: C.G. Jung als Religionsstifter oder Wissenschaftler?

"Deine Stimme, den seltensten Wohllaut, wird man vernehmen im Gestammel des Ungeordneten, des Weggeworfenen und des als wertlos Verdammten." -- C.G. Jung: "Das Rote Buch" Liber Novus, Kapitel 8 "Gottes Empfängnis" Zwischen Empirie und Vision, Wissenschaft und Glauben. Wir nehmen uns der Frage an: Wie unterscheidet sich klassische empirische Forschung von C.G. Jungs Ansatz einer "neuen empirischen Psychologie"? Jung verstand unter Empirie nicht nur die systematische Beobachtung äußerer Phänomene, sondern auch die methodische Erkundung innerer Erlebniswelten. Für viele überschreitet er spätestens da die Grenzen der Wissenschaft, indem er subjektive Überzeugungen in seine Methodik mit einschließt. Seine Psychologie basiert auf der Überzeugung, dass solche subjektiven Erfahrungen, insbesondere Träume, Imaginationen und archetypische Bilder, wissenschaftlich ernst genommen und erforscht werden können. Im Zentrum dieser Auseinandersetzung steht *Das Rote Buch*, eine Art psychologisches Tagebuch und zugleich ein symbolisch verdichteter Erfahrungsraum, in dem Jung seine eigenen inneren Bilder und psychischen Prozesse dokumentierte und interpretierte. Die über zehn Jahre dauernde Entstehung des Buches werden auch beschrieben als eine Zeit, in der Jung fast schon psychotische Phasen hatte und regressiv mit Holzklötzen seiner Kindheit spielte. Schwer erschüttert von der Trennung Freuds, öffnete er seine tiefenpsychologische Theorie symbolischen, mythologischen und spirituellen Dimensionen. Ist das noch Wissenschaft? Tune in an find out (what we think). Shownotes Links zur Laufstrecke Eigentlich Podcast EGL078 Tour Links zur Folge Carl Gustav Jung - Wikipedia C.G. Jung-Institut Zürich Sternstunde Philosphie - Das Rote Buch von C.G. Jung YouTube Jungs Methode der aktiven Imagination erklärt Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie : Buch 1, Allgemeine Einführung in die reine Phänomenologie, Husserl, Edmund Alien: Covenant, Film 2017, Regie: Ridley Scott Contact, Film 1997, Regie: Robert Zemeckis Die Empirie des Übersinnlichen (Hauke Heidenreich) C. G. Jungs Konzept des kollektiven Unbewussten als Umdeutung Kants zwischen Okkultismus, Religion und Parapsychologie Placebo auf Wikipedia Chaosforschung Buch: Das Rote Buch von C.G. Jung (Abschnitt auf Wikipedia) Jonathan Strange & Mr. Norrell, Susanna Clarke, 2004 Chaosforschung: Chaos im Kopf?: Die nichtlineare Dynamik kann helfen, epileptische Anfälle vorherzusagen und das Erregerzentrum zu lokalisieren Mitwirkende Micz Flor Instagram Twitter YouTube (Channel) Website Florian Clauß Bluesky Mastodon Soundcloud Website Verwandte Episoden EGL080 Chaosmagie und Psychotherapie: wissenschaftlicher Anspruch trifft magische WirkmachtEGL082 Zombies in Psychoanalyse: Jenseits des LustprinzipsEGL084 Sigmund Freud: seine „Outsider“ Biographie im Filmessay Unsere Tour führt uns durch das Wuhletal in Berlin. Der Blick auf die Karte zeigt den schmalen Korridor der Natur, den wir mitten in der Stadt ablaufen. Das Erleben passt zur Folge: was wir Erleben, wie etwas scheint und was daran wirklich ist. Wir sprechen ja wieder über C.G. Jung, der sich an der Schnittstelle von Wissenschaft und Symbolik, von klinischer Psychologie und spiritueller Erfahrung bewegt. Ganz speziell werden wir in dieser Folge auch eine Passage aus dem „Das Rote Buch“ vorlesen. Wir sind beides: wohlwollend und kritisch. Kurzum: wir werden es niemandem recht machen. Im Zentrum Jungs „neuer empirischen Psychologie“ steht die These, dass das Subjekt selbst – mit all seinen inneren Bildern, Affekten und Bedeutungszuschreibungen – nicht als Störgröße, sondern als Ursprung jeder Erkenntnis begriffen werden muss. Ausgehend von Jungs Biografie, insbesondere seiner Kindheitserfahrungen und der Trennung von Freud, untersucht dieser Essay das Rote Buch als ein paradigmatisches Werk individueller Empirie. Zugleich wird eine kritische Reflexion der klassischen wissenschaftlichen Methodologie geboten und gefragt, inwiefern Phänomene wie Placeboeffekte, archetypische Bilder oder chaotische Selbstorganisation eine Erweiterung unseres empirischen Selbstverständnisses notwendig machen. Die klassische Wissenschaft versteht sich als objektiv, messbar und wiederholbar – ihre Verfahren beruhen auf einer möglichst großen Distanz zwischen Erkenntnissubjekt und -objekt. In der Psychologie allerdings stößt dieses Paradigma an seine Grenzen. Denn hier ist der Mensch nicht nur Beobachter, sondern auch Träger, Produzent und Medium der untersuchten Phänomene. C.G. Jung nahm diese Spannung ernst – und schlug einen radikal subjektiven Weg ein, den er dennoch als empirisch verstand. Bereits in seiner Kindheit hatte Jung intensive innere Erlebnisse: Halluzinationen, Visionen, symbolische Bilder. Besonders prägend war die Szene auf dem Münsterplatz in Basel, in der ihm ein blasphemischer Gedanke erschien – und er diesen schließlich als göttlich inspiriert akzeptierte. Daraus leitete er eine persönliche Religiosität ab, die jenseits von Dogma und Institution lag: die direkte, psychische Erfahrung des Numinosen. Die Kirche, so sein Fazit nach der enttäuschenden Erstkommunion, sei für ihn „ein Ort des Todes“. Zwischen 1914 und 1930 entstand das Rote Buch, ein visuelles und textuelles Monument der Selbstbeobachtung. Nach der Trennung von Freud, die Jung in eine tiefe Krise stürzte, begann er, seine Träume, Imaginationen und inneren Stimmen systematisch zu erkunden – und festzuhalten. Die Technik der aktiven Imagination, bei der das Unbewusste in einen Dialog mit dem Ich tritt, bildete das methodische Zentrum dieser Arbeit. Was sich hier zeigt, ist eine radikale, persönliche, aber dennoch strukturierte Form empirischer Erkenntnis. Jungs Theorie des kollektiven Unbewussten, gespeist aus Mythen, Märchen und Archetypen, stellt die klassische Vorstellung individueller Erfahrung infrage. Auch in der klinischen Praxis – z.B. im Umgang mit Psychosen oder der Deutung von Symbolen – zeigt sich: Die Sprache der Seele ist keine lineare, sondern eine poetisch-symbolische. Das bedeutet auch: Psychische Symptome sind nicht bloß Störungen, sondern Träger von Bedeutung – und damit Teil einer subjektiven Sinnökonomie. Wir machen einen kurzen Ausflug in sie Chaosforschung, die gezeigt hat, dass deterministische Systeme selbst bei minimalen Abweichungen unvorhersehbare Verläufe zeigen. Ursache und Wirkung müssen nicht so genau miteinander verknüpft sein, um von Naturwissenschaft sprechen zu können. Der Schmetterlingseffekt – entdeckt von Edward Lorenz – zeigt: Kleinste Ursachen können enorme Wirkungen haben. Die Chaosforschung ist auch der Neurophysiologie nahe, siehe das Beispiel zu Epilepsie in den Shownotes. Wie durch ein Fenster öffnet sich zum Schluss noch ein literarischer Ausblick mit Jonathan Strange & Mr. Norrell auf den zweiten Teil der Episode. Die Episode endet nämlich ungeplant am höchsten Punkt der Tour.
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May 8, 2025 • 1h 28min

EGL077 Auch interessant im Regierungsviertel

Ein Spaziergang mit Ali Hackalife durch die historische Mitte von Berlin. Zum 2. Mal ist Ali Hackalife als Gast bei Eigentlich-Podcast. Ali betreibt den wunderbaren Podcast auch-interessant mit vielen spannenden Gästen und Themen. Das letzte Mal haben wir uns beim 38c3 in Hamburg getroffen. Diesmal ist Ali in Berlin und wir haben uns in der Friedrichsstraße zu einem gemeinsamen Rundgang durch das Regierungsviertel verabredet. Ali erzählt von seiner Zeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Linken zur Corona-Hochzeit: von den Herausforderungen im politischen System, den Bedenken gegenüber digitalen Technologien und der Desillusionierung durch parteipolitische Dynamiken, die oft wichtiger erscheinen als die Themen selbst. Wir sprechen auch über die historische und kulturelle Dimension der Denkmäler und Gebäude, die uns auf unserem Weg begegnen: Reichstag, Brandenburger Tor und Siegessäule. Ein zentrales Thema ist auch die Deutungshoheit über historische Orte und ihre künstlerischen Repräsentationen, wie etwa die Verhüllung des Reichstags durch Christo. Aber auch in dieser Frage gehen wir viel weiter in die Geschichte zurück, bis in die Jungsteinzeit. Ali ist gerade aus England zurück und hat viel über Stonehenge zu erzählen. In den 50er Jahren wurde Stonehenge komplett umgestaltet und in eine Form gebracht, die nach heutigem Stand der Wissenschaft nicht der ursprünglichen kulturellen Praxis entspricht. Am Beispiel des Denkmals für die ermordeten Juden Europas diskutieren wir auch die Frage, inwieweit historische Stätten und Denkmäler persönliches oder kollektives Gedächtnis stiften können. Es ist also ein Potpourri an Themen, das durch Orte und Geschichte führt, und Ali glänzt wie immer mit Detailwissen und Anekdoten. Viel Spaß beim Hören. Shownotes Links zur Laufstrecke EGL077 | Wanderung | Komoot Links zur Episode Auch-interessant.de | Ein Podcast von Ali Hackalife Denkende Maschinen: Ali Hackalife im Gespräch mit Dr. Christian Schröter : Hackalife, Ali: Amazon.de: Bücher Denkende Maschinen - Hörbuch, ungekürzt Regierungsviertel (Berlin) – Wikipedia Reichstagsgebäude – Wikipedia COVID-19-Pandemie – Wikipedia iPhone 12 Pro – Wikipedia Politikwissenschaft – Wikipedia Verteilungsgerechtigkeit – Wikipedia Corona-Warn-App – Wikipedia Paul-Löbe-Haus – Wikipedia Marie-Elisabeth-Lüders-Haus – Wikipedia Jakob Maria Mierscheid – Wikipedia Tresor (Club) – Wikipedia Französische Botschaft in Berlin – Wikipedia Politische Immunität – Wikipedia Brandenburger Tor – Wikipedia Pariser Platz – Wikipedia Raum der Stille Die Linke – Wikipedia Figura (Bürostuhl) – Wikipedia Sturm auf den Reichstag – Wikipedia Peter Altmaier – Wikipedia Gregor Gysi im Gespräch mit Peter Altmaier - YouTube Platz der Republik (Berlin) – Wikipedia Siegessäule (Berlin) – Wikipedia Otto von Bismarck – Wikipedia Deutsche Einigungskriege – Wikipedia Deutsch-Dänischer Krieg – Wikipedia Deutsch-Französischer Krieg – Wikipedia Welthauptstadt Germania – Wikipedia Albert Speer – Wikipedia Nord-Süd-Achse (Berlin) – Wikipedia Große Halle – Wikipedia Maschsee – Wikipedia Marie-Elisabeth Lüders – Wikipedia Paul Löbe – Wikipedia Bundeskanzleramt (Deutschland) – Wikipedia Verhüllter Reichstag – Wikipedia Christo und Jeanne-Claude – Wikipedia Reichskanzlei – Wikipedia Hauptstadtbeschluss – Wikipedia England – mit Christian Gürnth | Auch-interessant.de Tate Gallery of Modern Art – Wikipedia Anish Kapoor – Wikipedia Marsyas (sculpture) - Wikipedia – Wikipedia The Unilever Series: Anish Kapoor: Marsyas | Tate Modern Anish Kapoor: Marsyas Tate Modern to host the first ever Flux-Olympiad and other unique events as part of UBS Openings: The Long Weekend – Press Release | Tate Drückjagd – Wikipedia sich etwas durch die Lappen gehen lassen – Wiktionary Geschichte Berlins – Wikipedia Berlin-Neukölln – Wikipedia Stonehenge – Wikipedia Jungsteinzeit – Wikipedia Sarsen – Wikipedia Megalith – Wikipedia Himmelsscheibe von Nebra – Wikipedia v. u. 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Die monumentalen Bauwerke und Denkmäler, die diesen Raum prägen, sind nicht nur architektonische Meisterwerke, sondern auch steinerne Zeugen deutscher Geschichte – vom Aufstieg Preußens über die Reichsgründung, zwei Weltkriege und die Teilung bis hin zur Wiedervereinigung und demokratischen Gegenwart. Eine Betrachtung dieser Wahrzeichen offenbart die komplexen Schichten der Berliner und deutschen Identität. Die Siegessäule: Monument preußischer Machtentfaltung Die Berliner Siegessäule, heute ein unverkennbares Symbol der Stadt, trägt in ihrer Geschichte die Spuren preußischer Machtpolitik und nationalsozialistischer Stadtplanung. Ursprünglich wurde das Monument 1873 auf dem damaligen Königsplatz (heute Platz der Republik) vor dem Reichstagsgebäude errichtet. Die Säule entstand als Denkmal für die drei siegreichen Kriege, die unter der Führung Preußens zur deutschen Einigung führten: den Deutsch-Dänischen Krieg von 1864, den Deutsch-Österreichischen Krieg von 1866 und den Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71. Die symbolische Bedeutung des Monuments ist vielschichtig: Das Bauwerk verkörpert den preußischen Militarismus und die Durchsetzung der kleindeutschen Lösung unter preußischer Führung. Die vergoldete, 8,3 Meter hohe Viktoria an der Spitze – im Volksmund liebevoll „Goldelse“ genannt – blickt triumphierend in den Himmel. Besonders bemerkenswert: Die Säule ist mit dem Metall von 16 erbeuteten dänischen, 35 österreichischen und 75 französischen Kanonen verziert, die zu vergoldeten Reliefs verarbeitet wurden – ein materialisierter Triumph über die besiegten Gegner. Die heutige Position der Siegessäule ist das Ergebnis nationalsozialistischer Stadtplanung. Im Rahmen von Albert Speers megalomanischen „Germania“-Plänen wurde das Monument 1938/39 an seinen heutigen Standort am Großen Stern versetzt. Bei dieser Verlegung erhöhte man die Säule durch ein zusätzliches Segment von ursprünglich 50,7 auf 66,9 Meter – ein Eingriff, der die imperiale Symbolik des Monuments noch verstärkte. Die Säule wurde Teil der monumentalen Ost-West-Achse (heute Straße des 17. Juni), die als Paradestrecke und Machtdemonstration des NS-Regimes dienen sollte. Die drei Einigungskriege: Preußens Weg zur Reichsgründung Die Kriege, denen die Siegessäule gewidmet ist, markieren entscheidende Etappen auf dem Weg zur deutschen Einigung unter preußischer Führung. Der Deutsch-Dänische Krieg von 1864 entbrannte um die Zugehörigkeit der Herzogtümer Schleswig und Holstein. Preußen und Österreich kämpften gemeinsam gegen Dänemark und sicherten sich die Kontrolle über diese strategisch wichtigen Gebiete. Nur zwei Jahre später, 1866, kam es zum Deutsch-Österreichischen Krieg, in dem Preußen gegen seinen ehemaligen Verbündeten antrat. Die Schlacht bei Königgrätz am 3. Juli 1866 brachte die Entscheidung zugunsten Preußens und beendete die österreichische Vorherrschaft im Deutschen Bund. Dieser Sieg ebnete den Weg für die preußische Dominanz in Deutschland und führte zur Gründung des Norddeutschen Bundes. Der Deutsch-Französische Krieg von 1870/71 vervollständigte schließlich den preußischen Einigungsprozess. Nach dem Sieg über Frankreich wurde am 18. Januar 1871 im Spiegelsaal von Versailles das Deutsche Kaiserreich proklamiert – mit dem preußischen König Wilhelm I. als deutschem Kaiser. Diese „Einigung von oben“ unter preußischer Führung prägte die politische Kultur des neuen Reiches nachhaltig. Preußische Geschichte: Vom Königreich zur europäischen Großmacht Die Geschichte Preußens, die in Berlins Architektur und Denkmälern allgegenwärtig ist, begann mit der Krönung Friedrichs III. von Brandenburg zum „König in Preußen“ am 18. Januar 1701 in Königsberg. Als Friedrich I. begründete er die preußische Monarchie, die in den folgenden zwei Jahrhunderten zur bestimmenden Macht in Mitteleuropa aufsteigen sollte. Unter Friedrich II., genannt „der Große“ (1740-1786), erlebte Preußen seinen Aufstieg zur europäischen Großmacht. Durch militärische Erfolge wie die Eroberung Schlesiens im Österreichischen Erbfolgekrieg und durch innere Reformen wie die Förderung der Aufklärung, des Handels und der Landwirtschaft formte Friedrich ein modernes Staatswesen. Seine Bauten in Berlin und Potsdam – allen voran Schloss Sanssouci – zeugen bis heute von dieser Blütezeit. Die napoleonische Ära brachte 1806 mit der vernichtenden Niederlage bei Jena und Auerstedt einen dramatischen Einschnitt. Doch die anschließende Reformzeit unter Staatsmännern wie Freiherr vom Stein und Wilhelm von Humboldt legte den Grundstein für die Modernisierung Preußens. Die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht, die Bildungsreform und die Bauernbefreiung schufen die Voraussetzungen für den späteren Wiederaufstieg. Die Ära Otto von Bismarcks (1862-1890) markierte schließlich den Höhepunkt preußischer Machtentfaltung. Als Ministerpräsident und später als Reichskanzler orchestrierte er die deutsche Einigung unter preußischer Führung. Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und dem Sturz der Monarchie 1918 verlor Preußen zwar seine Vormachtstellung, blieb aber als größtes Land der Weimarer Republik politisch bedeutsam. Die formelle Auflösung Preußens erfolgte erst 1947 durch den Alliierten Kontrollrat – ein symbolischer Schlussstrich unter eine Staatsidee, die Deutschland über Jahrhunderte geprägt hatte. Berlin: Von der mittelalterlichen Doppelstadt zur Metropole Die Geschichte Berlins beginnt lange vor dem Aufstieg Preußens. Die mittelalterliche Doppelstadt Berlin-Cölln, erstmals 1237 bzw. 1244 urkundlich erwähnt, entstand an einer günstigen Furt über die Spree. Im Jahr 1432 schlossen sich beide Städte zur „Berliner Union“ zusammen – ein erster Schritt zur Vereinigung, die 1709 mit der Gründung der Königlichen Haupt- und Residenzstadt Berlin offiziell vollzogen wurde. Mit der Krönung Friedrichs I. zum König in Preußen 1701 begann Berlins Aufstieg zur preußischen Hauptstadt. Die Stadt erfuhr unter den preußischen Herrschern eine umfassende bauliche Prägung. Friedrich Wilhelm I., der „Soldatenkönig“, erweiterte die Stadtmauern und schuf mit der Friedrichstadt ein neues Stadtviertel. Friedrich der Große ließ repräsentative Bauten wie das Forum Fridericianum (heute Bebelplatz) errichten und förderte die Ansiedlung von Handwerkern und Künstlern. Im 19. Jahrhundert entwickelte sich Berlin zur Industriemetropole. Die Bevölkerung wuchs explosionsartig von rund 170.000 Einwohnern im Jahr 1800 auf über 2 Millionen um 1900. Mit dem Groß-Berlin-Gesetz von 1920 entstand schließlich durch die Eingemeindung umliegender Städte und Dörfer die moderne Bezirksstruktur – ein administrativer Meilenstein, der Berlin zur flächenmäßig zweitgrößten Stadt Europas machte. NS-Zeit und Stadtplanung: Speers „Germania“ und die Umgestaltung Berlins Die nationalsozialistische Herrschaft hinterließ tiefe Spuren im Stadtbild Berlins. Albert Speer, Hitlers Architekt und späterer Rüstungsminister, entwickelte ab 1937 gigantomanische Pläne für die Umgestaltung Berlins zur „Welthauptstadt Germania“. Im Zentrum dieser Planungen stand eine monumentale Nord-Süd-Achse, die von einem 117 Meter hohen Triumphbogen im Süden bis zu einer 290 Meter hohen „Großen Halle“ im Norden reichen sollte. Während die meisten Elemente von „Germania“ Planungen blieben, wurde die Ost-West-Achse, die heutige Straße des 17. Juni, teilweise verwirklicht. Die Verlegung der Siegessäule vom Königsplatz zum Großen Stern war Teil dieser Umgestaltung. Nach dem Reichstagsbrand am 27. Februar 1933, den die Nationalsozialisten als Vorwand für die Aushebelung demokratischer Grundrechte nutzten, tagte das Parlament nicht mehr im Reichstagsgebäude. Stattdessen wurde die Neue Reichskanzlei zum eigentlichen Machtzentrum des NS-Regimes. Die „Germania“-Pläne offenbaren den totalitären Charakter des NS-Regimes: Architektur sollte hier nicht menschlichen Bedürfnissen dienen, sondern Macht demonstrieren und einschüchtern. Die wenigen realisierten Bauten wie das Reichsluftfahrtministerium (heute Bundesfinanzministerium) zeugen von diesem Anspruch. Die vollständige Umsetzung der Pläne hätte die historisch gewachsene Stadt weitgehend zerstört – ein Schicksal, das Berlin durch die Bombardierungen des Zweiten Weltkriegs dann auf andere, tragische Weise erlitt. Das Reichstagsgebäude: Vom Kaiserreich zur Demokratie Kein anderes Gebäude in Berlin verkörpert die Höhen und Tiefen deutscher Geschichte so eindrucksvoll wie das Reichstagsgebäude. Erbaut zwischen 1884 und 1894 nach Plänen des Architekten Paul Wallot, war es ursprünglich als Sitz des Reichstags des Deutschen Kaiserreichs konzipiert. Die berühmte Inschrift „Dem Deutschen Volke“ wurde erst 1916, mitten im Ersten Weltkrieg, angebracht – ein spätes Zugeständnis an die demokratische Idee. Am 9. November 1918, als der Erste Weltkrieg verloren war und die Monarchie zusammenbrach, verkündete Philipp Scheidemann vom Balkon des Reichstags die Republik. Während der Weimarer Zeit diente das Gebäude als parlamentarisches Zentrum, bis der Reichstagsbrand am 27. Februar 1933 den Nationalsozialisten als willkommener Vorwand für die Errichtung ihrer Diktatur diente. In der NS-Zeit tagte das gleichgeschaltete Parlament nicht mehr im Reichstag, sondern in der Krolloper. Im Zweiten Weltkrieg schwer beschädigt, wurde das Gebäude 1945 zum Schauplatz eines der ikonischsten Momente des 20. Jahrhunderts: Sowjetische Soldaten hissten die rote Fahne auf dem Dach – ein Bild, das zum Symbol für das Ende des Dritten Reiches wurde. Während der deutschen Teilung lag der Reichstag im britischen Sektor West-Berlins, nur wenige Meter von der Berliner Mauer entfernt. In den 1960er Jahren notdürftig renoviert, diente er für Ausstellungen und gelegentliche Sitzungen des Bundestags, ohne jedoch seine volle parlamentarische Funktion wiederzuerlangen. Nach der Wiedervereinigung 1990 beschloss der Deutsche Bundestag, seinen Sitz von Bonn nach Berlin zu verlegen. Der britische Architekt Norman Foster wurde mit der umfassenden Renovierung des Reichstags beauftragt, die von 1995 bis 1999 dauerte. Das markanteste Element des erneuerten Gebäudes ist die gläserne Kuppel, die Besuchern einen Rundblick über die Stadt ermöglicht und gleichzeitig den Plenarsaal von oben einsehbar macht – ein bewusstes Symbol für die Transparenz der demokratischen Institutionen. Die Reichstagsverhüllung: Kunstprojekt mit historischer Dimension Bevor der Reichstag zum Sitz des Deutschen Bundestags umgebaut wurde, fand dort im Sommer 1995 eines der spektakulärsten Kunstprojekte des 20. Jahrhunderts statt: die Verhüllung des Reichstagsgebäudes durch die Künstler Christo und Jeanne-Claude. Die Idee entstand bereits 1971 bei einem Berlin-Besuch Christos, doch der Weg zur Realisierung war lang und steinig. Nach mehreren abgelehnten Anfragen in den 1970er und 1980er Jahren und intensiver Lobby-Arbeit kam es am 25. Februar 1994 zu einer historischen Debatte im Deutschen Bundestag. Mit 292 zu 223 Stimmen – in einer fraktionsübergreifenden Abstimmung nach persönlicher Überzeugung – erteilten die Abgeordneten ihre Zustimmung zu dem Kunstprojekt. Die Umsetzung erforderte jahrelange technische Studien, Windtests und statische Berechnungen. Für die Verhüllung wurden 100.000 Quadratmeter feuerfestes Polypropylengewebe und 15,6 Kilometer blaue Seile verwendet. Über 90 professionelle Kletterer und 120 Monteure arbeiteten vom 17. bis 24. Juni 1995 an der Installation. Das Kunstwerk war für 14 Tage, vom 24. Juni bis 7. Juli 1995, zu sehen und zog über 5 Millionen Besucher an. Die Reichstagsverhüllung wurde vollständig durch den Verkauf von Christos Vorstudien und Kunstwerken finanziert – ohne Sponsoren oder öffentliche Gelder. Diese finanzielle Unabhängigkeit war den Künstlern wichtig, um ihre künstlerische Freiheit zu wahren. Die Wirkung des Projekts ging weit über das Ästhetische hinaus. Die Verhüllung transformierte das historisch belastete Gebäude vorübergehend in ein abstraktes Kunstwerk und schuf Raum für neue Assoziationen. Paradoxerweise betonte die Verhüllung die Architektur, indem sie sie dem direkten Blick entzog. Das Projekt gilt heute als Meilenstein der Kunst im öffentlichen Ra und als Symbol für das wiedervereinigte Berlin. Der befriedete Bezirk: Demokratische Sicherheitszone Um das Reichstagsgebäude und die umliegenden Parlamentsgebäude erstreckt sich heute ein besonderer Bereich, der offiziell als „befriedeter Bezirk“ bezeichnet wird – im Volksmund oft „Bannmeile“ genannt. Dieser Bezirk umfasst neben dem Reichstagsgebäude auch das Paul-Löbe-Haus und das Marie-Elisabeth-Lüders-Haus und wird im Norden etwa durch die Spree, im Osten durch die Wilhelmstraße, im Süden durch die Dorotheenstraße und im Westen durch die Scheidemannstraße und den Platz der Republik begrenzt. Die Einrichtung dieses besonderen Bezirks dient dem Schutz der parlamentarischen Arbeit und hat historische Gründe: In der Weimarer Republik hatten Demonstrationen vor dem Reichstag wiederholt Druck auf die Abgeordneten ausgeübt. Das „Gesetz über befriedete Bezirke für Verfassungsorgane des Bundes“ regelt heute die Bestimmungen für diesen Bereich, in dem Demonstrationen und öffentliche Versammlungen unter freiem Himmel grundsätzlich verboten sind. Ausnahmegenehmigungen können durch den Bundestagspräsidenten oder die Bundestagspräsidentin erteilt werden. Neben dem Demonstrationsverbot gelten im befriedeten Bezirk weitere Beschränkungen, etwa für Foto-, Film- und Fernsehaufnahmen in bestimmten Bereichen, ein verschärftes Waffenverbot sowie die Erlaubnis für strenge Zugangskontrollen. Diese Maßnahmen dienen der Sicherheit der Verfassungsorgane und sollen die ungestörte Funktionsfähigkeit der Demokratie gewährleisten. Das Brandenburger Tor: Vom Friedenstor zum Symbol der Einheit Das Brandenburger Tor, 1788-1791 von Carl Gotthard Langhans im frühklassizistischen Stil erbaut, hat im Laufe seiner Geschichte einen bemerkenswerten Bedeutungswandel erfahren. Ursprünglich als Friedenstor konzipiert – die von Johann Gottfried Schadow geschaffene Quadriga trägt die Friedensgöttin Eirene –, wurde es später zum Symbol nationaler Identität und militärischer Triumphe. Nach dem Sieg über Napoleon 1814 wurde die von den Franzosen entwendete Quadriga zurückgebracht und mit dem Eisernen Kreuz und dem preußischen Adler ergänzt – ein Symbol des Triumphes über Frankreich. Während der deutschen Teilung stand das Brandenburger Tor unmittelbar an der Berliner Mauer im sowjetischen Sektor und war für den normalen Verkehr gesperrt. Es wurde zum Symbol der schmerzlichen Trennung Deutschlands. Die Bilder vom 9. November 1989, als tausende Menschen auf der Mauer am Brandenburger Tor die Öffnung der Grenzen feierten, gingen um die Welt. Heute verbindet die Straße des 17. Juni – benannt nach dem Volksaufstand in der DDR 1953 – das Brandenburger Tor mit der Siegessäule und schafft so eine symbolische Achse, die verschiedene Epochen deutscher Geschichte verbindet. Berlins Wahrzeichen als Spiegel deutscher Geschichte Die historischen Wahrzeichen im Berliner Regierungsviertel erzählen die vielschichtige Geschichte einer Stadt und eines Landes. Von der preußischen Machtentfaltung über die Katastrophen des 20. Jahrhunderts bis zur demokratischen Gegenwart spiegeln sie die Brüche und Kontinuitäten deutscher Geschichte wider. In ihrer heutigen Nutzung und Symbolik sind sie nicht nur Erinnerungsorte, sondern auch lebendige Bestandteile einer demokratischen Kultur. Die Transformation des Reichstagsgebäudes vom Symbol kaiserlicher und später nationalsozialistischer Macht zum transparenten Sitz eines demokratischen Parlaments steht exemplarisch für den Wandel, den Deutschland durchlaufen hat. Die gläserne Kuppel, die Besuchern einen Blick auf die Arbeit der Abgeordneten ermöglicht, verkörpert das Ideal einer offenen, bürgernahen Demokratie. Berlins historische Wahrzeichen sind somit mehr als nur touristische Attraktionen – sie sind steinerne Zeugen einer komplexen Vergangenheit und zugleich Symbole für die Hoffnungen und Werte der Gegenwart. In ihrer Vielschichtigkeit fordern sie uns auf, Geschichte kritisch zu reflektieren und die Errungenschaften der Demokratie zu bewahren. Stonehenge: Neues Licht auf ein altes Rätsel Moderne Forschungsmethoden enthüllen die Geheimnisse eines der berühmtesten prähistorischen Monumente der Welt Seit Jahrhunderten fasziniert Stonehenge Gelehrte und Laien gleichermaßen. Doch erst in den letzten Jahrzehnten haben revolutionäre wissenschaftliche Methoden begonnen, die Geheimnisse dieses enigmatischen Monuments zu lüften. Die gewaltigen Steinkreise auf der Salisbury-Ebene in Südengland erzählen heute eine weitaus komplexere Geschichte, als wir je vermutet hätten. Die Revolution der archäologischen Methoden Die wissenschaftliche Erforschung von Stonehenge begann im frühen 20. Jahrhundert mit konventionellen Ausgrabungen. Doch erst die Einführung moderner Technologien hat unser Verständnis grundlegend verändert. „Die Radiokarbondatierung war ein Wendepunkt“, erklärt Professor Mike Parker Pearson von der University College London. „Sie hat uns ermöglicht, die chronologische Entwicklung von Stonehenge präzise zu rekonstruieren und die Hauptbauphase auf etwa 3000-2000 v. Chr. zu datieren.“ Heute ermöglichen nicht-invasive Prospektionsmethoden wie Bodenradar, Magnetometrie und LIDAR Einblicke, ohne das Monument zu beschädigen. Das Stonehenge Hidden Landscapes Project hat mit diesen Techniken ein komplexes System aus bis zu 20 Schächten rund um Durrington Walls entdeckt – eine Sensation, die zeigt, wie viel noch unter der Oberfläche verborgen liegt. Petrographische Untersuchungen haben einen der faszinierendsten Aspekte von Stonehenge enthüllt: Die kleineren „Blausteine“ stammen aus den Preseli-Bergen in Wales, etwa 250 Kilometer entfernt. „Die logistische Leistung, diese tonnenschweren Steine über solche Distanzen zu transportieren, ist beeindruckend“, sagt Dr. Richard Bevins vom National Museum of Wales. „Neueste Forschungen deuten sogar darauf hin, dass einige dieser Steine ursprünglich zu einem Steinkreis in Wales gehörten, der demontiert und nach Stonehenge transportiert wurde.“ Bioarchäologische Methoden liefern weitere Puzzleteile. Isotopenanalysen an menschlichen und tierischen Überresten geben Aufschluss über Ernährungsgewohnheiten und Migrationsmuster. Die Analyse alter DNA hat gezeigt, dass um 2500 v. Chr. – zeitgleich mit der Hauptbauphase von Stonehenge – ein signifikanter Bevölkerungsaustausch in Großbritannien stattfand, als kontinentale Gruppen der Glockenbecherkultur einwanderten. Die sakrale Landschaft – mehr als nur ein Steinkreis Eine der wichtigsten Erkenntnisse der modernen Forschung ist, dass Stonehenge nicht isoliert betrachtet werden darf. „Wir müssen Stonehenge als Teil einer komplexen rituellen Landschaft verstehen“, betont Dr. Susan Greaney von English Heritage. „Es war ein Element in einem ausgeklügelten System von Monumenten, die über Jahrhunderte entstanden sind.“ Die früheste Nutzung des Areals reicht bis etwa 8500 v. Chr. zurück, lange vor der Errichtung der berühmten Steinkreise. Die Hauptbauphase mit den massiven Sarsensteinen erfolgte um 2500 v. Chr. Zu dieser Zeit war die Landschaft bereits mit zahlreichen anderen Monumenten übersät: Grabhügeln, Prozessionswegen, Holzkreisen und dem nahegelegenen Siedlungskomplex von Durrington Walls. Besonders aufschlussreich ist die duale Organisation dieser Landschaft. „Durrington Walls scheint als ‚Land der Lebenden‘ fungiert zu haben, mit Häusern und Hinweisen auf Feste und Zeremonien“, erklärt Professor Parker Pearson. „Stonehenge hingegen war das ‚Land der Toten‘, ein Ort für Bestattungen und Ahnenverehrung.“ Beide Bereiche waren durch rituelle Prozessionswege verbunden, die teilweise dem Lauf des Flusses Avon folgten. Diese integrierte rituelle Landschaft funktionierte als komplexes System mit jahreszeitlichen Ritualen. Die präzise Ausrichtung von Stonehenge auf die Sonnenwenden – insbesondere die Wintersonnenwende – deutet auf einen ausgeklügelten Kalender hin, der kosmische Zyklen mit menschlichen Aktivitäten verband. Rituale und Funktionen – ein kosmisches Theater Die Frage nach der Funktion von Stonehenge hat Generationen von Forschern beschäftigt. Heute wissen wir, dass das Monument mehrere Funktionen erfüllte. Die präzise astronomische Ausrichtung ist unbestreitbar: Die Hauptachse ist exakt auf den Sonnenaufgang zur Sommersonnenwende und den Sonnenuntergang zur Wintersonnenwende ausgerichtet. „Die Analyse von Tierknochen zeigt, dass die Hauptaktivitäten im Winter stattfanden, besonders zur Wintersonnenwende“, erläutert Dr. Jane Evans von der University of Leicester. „Dies deutet auf große Feierlichkeiten hin, zu denen Menschen aus ganz Großbritannien zusammenkamen.“ Stonehenge diente auch als Bestattungsort. Archäologen haben die Überreste von 150-240 Individuen gefunden, die meisten kremiert. Die Isotopen- und DNA-Analysen dieser Überreste deuten darauf hin, dass es sich um eine Elite handelte, die aus verschiedenen Regionen Britanniens stammte. Interessanterweise gibt es Hinweise auf eine Verbindung zu Heilungsritualen. „Die überdurchschnittliche Zahl von Bestatteten mit Verletzungen könnte darauf hindeuten, dass Stonehenge als Ort der Heilung angesehen wurde“, erklärt Dr. Timothy Darvill von der Bournemouth University. „Einige der Blausteine aus Wales wurden möglicherweise wegen ihrer vermeintlichen heilenden Eigenschaften transportiert.“ Stonehenge erfüllte auch eine wichtige soziale Funktion. Der Bau erforderte die Koordination tausender Menschen und etwa 30.000 Arbeitstage – eine enorme Leistung für eine Gesellschaft mit schätzungsweise 200.000-300.000 Einwohnern in ganz Großbritannien. „Die Organisation eines solchen Projekts setzte komplexe soziale Strukturen voraus“, betont Dr. Colin Richards von der University of Manchester. „Der Bau selbst war vermutlich ebenso wichtig wie das fertige Monument – er schuf Gemeinschaft und stärkte soziale Bindungen.“ Die Gesellschaft hinter dem Monument Wer waren die Menschen, die Stonehenge errichteten? Die archäologischen Befunde zeichnen das Bild einer komplexen Gesellschaft im Übergang von der Jungsteinzeit zur Bronzezeit. Die Region Wessex war mit etwa 10-20 Menschen pro Quadratkilometer relativ dicht besiedelt. Die Menschen lebten in kleinen Siedlungen mit 3-5 Häusern und etwa 20-50 Personen. Die monumentale Phase von Stonehenge fällt zeitlich mit der Ausbreitung der Glockenbecherkultur zusammen, die um 2500 v. Chr. von Kontinentaleuropa nach Großbritannien kam. Diese Kultur ist durch charakteristische glockenförmige Keramikgefäße, frühe Metallurgie und standardisierte Bestattungssitten gekennzeichnet. Ab etwa 2200 v. Chr. entwickelte sich im südlichen England die Wessex-Kultur, die zur frühen Bronzezeit gehört. Sie ist bekannt für reiche Grabbeigaben, internationale Handelskontakte und fortgeschrittene Metallurgie. Ein herausragendes Beispiel ist das Grab von Bush Barrow, in dem ein Häuptling mit goldenen Artefakten und einer kunstvollen „Sonnenscheibe“ bestattet wurde. DNA-Analysen haben ein überraschendes Bild geliefert: Um 2500 v. Chr. wurde die neolithische Bevölkerung Großbritanniens weitgehend durch kontinentale Einwanderer ersetzt. „Diese demographische Veränderung fällt genau mit der Hauptbauphase von Stonehenge zusammen“, erklärt Dr. Ian Barnes vom Natural History Museum London. „Es ist verlockend, einen Zusammenhang zu vermuten, obwohl wir nicht wissen, ob dieser Bevölkerungsaustausch friedlich oder gewaltsam verlief.“ Die durchschnittliche Lebenserwartung betrug etwa 30-35 Jahre. Die Ernährung basierte auf Getreide, Fleisch und gesammelten Nahrungsmitteln. Isotopenanalysen zeigen, dass zu bestimmten Zeiten, besonders zur Wintersonnenwende, bis zu 4.000 Menschen bei Durrington Walls zusammenkamen – vermutlich für große Feste und Zeremonien. Religion und Kosmologie Die religiösen Vorstellungen der Menschen von Stonehenge können nur indirekt erschlossen werden. „Reverse Engineering in der Archäologie bedeutet, von materiellen Hinterlassenschaften auf immaterielle Konzepte zu schließen“, erklärt Professor Timothy Insoll von der University of Exeter. „Bei prähistorischen Gesellschaften ohne Schrift ist dies besonders herausfordernd.“ Dennoch lassen sich einige Grundzüge rekonstruieren. Die Religion der Glockenbecherkultur und der Wessex-Kultur scheint stark von dualistischen Konzepten geprägt gewesen zu sein: Leben und Tod, Tag und Nacht, Sommer und Winter. Die kosmologische Bedeutung von Stonehenge mit seiner präzisen astronomischen Ausrichtung deutet auf eine enge Verbindung zwischen Himmelsbeobachtung und religiösen Vorstellungen hin. „Die zyklische Ausrichtung neolithischer Heiligtümer ist ein weltweites Phänomen“, betont Dr. Clive Ruggles, Experte für Archäoastronomie. „Diese Monumente dienten als Vermittler zwischen kosmischen Zyklen und menschlichen Bedürfnissen. Sie waren gleichzeitig Kalender, Versammlungsorte und heilige Stätten.“ Ein ausgeprägter Ahnenkult scheint eine zentrale Rolle gespielt zu haben. Die Bestattungen in und um Stonehenge, oft mit standardisierten Beigaben und rotem Ocker, deuten auf komplexe Jenseitsvorstellungen hin. Die Grabhügeltradition der Wessex-Kultur mit wiederholten rituellen Handlungen an Gräbern verstärkt diesen Eindruck. Wasser spielte ebenfalls eine wichtige rituelle Rolle, wie die Nähe zum Fluss Avon und Deponierungen von Artefakten in Gewässern zeigen. Mit der Zeit scheint die Religion hierarchischer geworden zu sein, parallel zur zunehmenden sozialen Stratifizierung in der Wessex-Kultur. Kriegerische Auseinandersetzungen und gesellschaftlicher Wandel Obwohl die Hauptnutzungszeit von Stonehenge oft als friedliche Periode dargestellt wird, gibt es Hinweise auf Konflikte. Der „Stonehenge Archer“, ein Mann, der um 2300 v. Chr. durch drei Pfeilspitzen getötet wurde, deutet auf gewaltsame Auseinandersetzungen hin. Die massive demographische Veränderung um 2500-2200 v. Chr., die durch DNA-Analysen belegt ist, könnte ebenfalls nicht völlig friedlich verlaufen sein. Ab der mittleren Bronzezeit (ca. 1500 v. Chr.) gibt es deutlichere Anzeichen für eine zunehmende Militarisierung: Waffen werden häufiger in Grabbeigaben gefunden, und Schädelverletzungen nehmen zu. „Viele prähistorische Konflikte könnten ritualisiert gewesen sein“, gibt Dr. Richard Osgood, Archäologe beim UK Ministry of Defence, zu bedenken. „Die Grenze zwischen Krieg und Ritual war vermutlich fließend.“ Stonehenge heute – ein konstruiertes Monument? Ein wenig bekannter Aspekt von Stonehenge ist, dass sein heutiges Erscheinungsbild teilweise das Ergebnis moderner Eingriffe ist. Zwischen 1958 und 1959 wurden umfangreiche Restaurierungs- und Stabilisierungsarbeiten durchgeführt. Mehrere umgefallene Megalithen wurden wieder aufgerichtet und mit Betonfundamenten gesichert. Der Trilithon 6/7 wurde komplett rekonstruiert, mehrere Blausteine neu positioniert. „Die Dokumentation war nach heutigen Maßstäben unzureichend“, kritisiert Dr. Heather Sebire von English Heritage. „Viele archäologische Kontexte gingen verloren. Das ikonische Bild von Stonehenge, das wir heute kennen, ist teilweise ein Produkt dieser Nachkriegsrestaurierung.“ Diese Erfahrungen haben die archäologische Praxis nachhaltig beeinflusst und zu strengeren konservatorischen Prinzipien geführt. Stonehenge steht damit in einer Reihe mit anderen berühmten archäologischen Stätten, die erhebliche Umgestaltungen erfahren haben – von Arthur Evans‘ Betonrekonstruktionen in Knossos bis zu den komplett neu aufgebauten Abschnitten der Chinesischen Mauer. Ein komplexes Erbe Die moderne Forschung hat unser Verständnis von Stonehenge revolutioniert. Was einst als isoliertes Monument betrachtet wurde, erscheint heute als Knotenpunkt in einem komplexen Netzwerk ritueller Landschaften. Die Menschen, die es errichteten, waren keine primitiven Barbaren, sondern Mitglieder einer hochentwickelten Gesellschaft mit beeindruckenden astronomischen Kenntnissen, logistischen Fähigkeiten und komplexen religiösen Vorstellungen. Stonehenge verkörpert die Fähigkeit prähistorischer Gesellschaften, Gemeinschaftsprojekte von monumentalem Ausmaß zu realisieren. Es zeigt, wie Menschen vor mehr als 4.500 Jahren kosmische Zyklen mit ihrem Alltagsleben verbanden und eine Brücke zwischen Himmel und Erde, Leben und Tod, Vergangenheit und Zukunft schufen. Die Erforschung von Stonehenge ist noch lange nicht abgeschlossen. Mit jeder neuen Technologie und jedem neuen Ansatz werden weitere Facetten dieses außergewöhnlichen Monuments enthüllt. Wie Professor Mike Parker Pearson es ausdrückt: „Stonehenge ist nicht ein Rätsel, das gelöst werden muss, sondern ein komplexes Erbe, das wir immer besser verstehen lernen.“

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