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Alles Geschichte - Der History-Podcast

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Dec 20, 2024 • 23min

EURASIEN IM MITTELALTER - Mythos Marco Polo

Marco Polos Reisen nach Asien versprechen nicht nur Abenteuer, sondern enthüllen auch faszinierende kulturelle Einblicke. Die Beziehungen zwischen Europa und dem Osten im 13. Jahrhundert zeigen, wie historische Kontexte Reisen beeinflussen. Interessant ist Marcos positive Sicht auf die Mongolen, wo Kublai Khan als gerechter Herrscher erscheint. Außerdem wird das Erbe von Marco Polo und die Authentizität seiner Berichte diskutiert, während sein Mythos über Jahrhunderte hinweg verschiedene Interpretationen und Sehnsüchte geprägt hat.
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Dec 20, 2024 • 21min

EURASIEN IM MITTELALTER - Globalisierung um das Jahr 1000

Große Veränderungen passierten um das Jahr 1000: Die Wikinger kamen in Neufundland an, der Welthandel begann sich vor allem in Asien und Afrika zu entwickeln, in Europa brachten mildes Klima und Erfindungen Agrarüberschuss, die Städte wuchsen. Die Epoche war aber auch von Endzeitstimmung geprägt. Von Brigitte Kramer (BR 2022) Credits Autorin: Brigitte Kramer           Regie: Frank Halbach Es sprachen: Hemma Michel, Christian Baumann Technik:Roland Böhm Redaktion: Thomas Morawetz Im Interview: Dr. Johannes Preiser-Kapeller, Prof. Dr. Kristin Skottki Linktipps: Alles Geschichte (2024): Altes Arabien – Als Spanien arabisch war Fast 800 Jahre lang herrschten auf der Iberischen Halbinsel arabische Fürsten, Emire, Kalifen. Diese Epoche wird Al Andalus genannt. Al Andalus war eine Glanzzeit für Kultur und Naturwissenschaften. Aber nicht nur das: Christen, Juden und Muslime lebten in dieser Epoche lange meist friedlich mit- und nebeneinander. Aber ab dem 12. Jahrhundert kam es zu immer mehr gewalttätigen Auseinandersetzungen. Von Bernd-Uwe Gutknecht (BR 2013) JETZT ANHÖREN Deutschlandfunk (2020): Die Grönland-Mission Im Jahr 999 bekam der Wikinger Leif Eriksson vom norwegischen König den Auftrag, das Gebiet im Atlantik zu christianisieren. Kirchen wurden gebaut und Klöster errichtet. Doch in der abgeschiedenen Region wurde der neue Glaube kaum praktiziert. Der Grund: fehlende Priester. JETZT ANHÖREN Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN   Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: MUSIK SPRECHERIN Im Jahr 1000 eröffneten die Fahrten der Wikinger von Skandinavien nach Kanada erstmals eine Route von Europa nach Amerika. Die US-amerikanische Historikerin Valerie Hansen setzt dieses Ereignis in ihrem Buch „Das Jahr 1000, als die Globalisierung begann“ mit der Entstehung eines globalen Netzwerkes gleich: Waren, Wissen und Menschen konnten erstmals quer über den Globus transportiert werden – theoretisch zumindest. SPRECHERMitgekriegt hat die Anlandung von Leif Eriksson vor Neufundland allerdings kaum jemand. Und viel passiert ist auf dieser ersten, europäisch-amerikanischen Achse auch nicht. Anderswo auf dem Globus dagegen schon. Hansens knapp 400 Seiten dickes Buch erklärt, wie die Welt um die erste Jahrtausendwende aussah, wer mit wem wo Handel trieb und wie groß die kulturellen und wirtschaftlichen Unterschiede der Regionen damals waren. Geschätzte 250 Millionen Menschen lebten damals auf der Welt, davon allein 100 Millionen in China. Die meisten Menschen wussten gar nichts von anderen Völkern und Kulturen. Dazu fehlten ihnen Bildung und Zeit. Ihr Leben glich sich in gewisser Weise, sagt der Wiener Historiker Johannes Preiser-Kapeller: O 0 JPK80 bis 90 Prozent der Bevölkerung sind in der Landwirtschaft tätig und deren Leben ist natürlich ein sehr stark von harter Arbeit, von Entbehrungen geprägtes. Das können wir auch sehen, etwa in paläo-pathologischen Befunden. Wenn man Skelette dieser Menschen sich anschaut, dass die eigentlich starke Belastungserscheinungen haben, auch immer wieder von Phasen durch, wenn nicht von Hunger, zumindest von Mangelernährung. Im Gegensatz etwa zu den Skeletten der Eliten, wo man eben zeigen kann, dass die besser ernährt waren. Die waren größer, die haben mehr Fleisch konsumiert. Die haben manchmal mehr Verletzungen, weil sie dann eben im Krieg kämpften. SPRECHERINAbgesehen von einigen Gelehrten der islamischen Welt hatten im Jahr 1000 nur wenige überhaupt eine Vorstellung von der Welt. Die vollständigste Weltkarte – die den größten Teil Afro-Eurasiens, aber nichts von Amerika zeigte –wurde erst im Jahr 1154 auf Sizilien angefertigt. MUSIK SPRECHERDie Welt war also alles andere als globalisiert, wenn man den Begriff im modernen Zusammenhang versteht: Alles ist weltweit vernetzt und verfügbar, heute vor allem durch’s Internet, aber auch durch Containerschiffe, Flugzeuge, Hochgeschwindigkeitszüge. Der Begriff Globalisierung, geprägt in den 1960er Jahren, hat etwas mit Gleichzeitigkeit, Geschwindigkeit und Technologie zu tun – und ist in diesem Sinne natürlich nicht auf das Jahr 1000 anwendbar. SPRECHERINImmerhin gibt es an der Wende vom Früh- zum Hochmittelalter vielleicht aber dennoch „globalisierende Tendenzen“. Kleriker und Herrschende kommunizierten zunehmend schriftlich. Die Europäer begannen, Arabisch zu lernen und arabische Texte zu übersetzen, und so gelangten immer mehr Kenntnisse über die islamische Welt nach Europa. Auch spirituell war die Welt in Bewegung: Die Weltreligionen begannen, sich zu verbreiten. Das Christentum kam nach West-, Ost- und Nordeuropa, zeitgleich breitete sich der Islam in Westafrika und Zentralasien aus. Und christliche und muslimische Lehren erkannten das Judentum als legitime Religion an. Kristin Skottki ist Mittelalterexpertin. Sie lehrt an der Universität von Bayreuth:  O 1 Skottki Das Mittelalter ist ja eigentlich ne Zeit, die in der Global- Geschichtsschreibung, sagen wir mal immer relativ hinten runterfällt, weil man immer davon ausgeht, dass natürlich die Globalisierung ein Phänomen der Moderne ist. Oder die meisten setzen das eben frühestens ab 1500 an, mit der Entdeckung der Amerikas … SPRECHEREntdeckung Amerikas durch die Spanier, die darüber auch ausführlich und zeitnah berichtet haben, im Gegensatz zu den Skandinaviern 500 Jahre zuvor. O 2 SkottkiDie Quellenlage für Westeuropa um Eintausend ist einfach nicht besonders gut, so dass das Alltagsleben sich da relativ schlecht nachvollziehen lässt. SPRECHERIN Auch Johannes Preiser-Kapeller hält Hansens Einordnung der Nordamerika-Expeditionen für gewagt: O 3 JPKHansen in ihrem Buch verknüpft das dann sehr spekulativ mit der Idee, dass dann die Wikinger vielleicht sogar weiter bis Mittelamerika vorgestoßen sein, weil dort in bestimmten Darstellungen der Maya auf blonde Menschen auftauchen. Das ist aber reine Spekulation. Also wir haben keine Belege, dass die Wikinger über diese kurzzeitigen Besitzungen oder Kolonien, die sie da in Nordamerika hatten, weiter nach Süden vorgestoßen sind. MUSIK SPRECHERAls Quelle der Amerika-Expeditionen dient vor allem die Vinland-Saga – Vinland war der Name, den die Nordmänner einer Region an der amerikanischen Ostküste gaben, vermutlich zwischen New Jersey und dem Sankt-Lorenz-Golf. Die Texte der Saga, die erst im 13. und 14. Jahrhundert verfasst wurden, also mehrere hundert Jahre nach den Ereignissen, dienten der Unterhaltung aber auch der Verherrlichung von Ruhmestaten der Vorfahren – viele Historiker lehnen sie als zuverlässige Quellen ab. SPRECHERINLaut Vinland-Saga legte Leif Eriksson genau im Jahr Tausend im Nordosten Kanadas an. Er war von Island über Grönland gekommen und suchte vor allem Holz zum Schiffsbau. Es folgten mehrere Expeditionen, bei denen mit den kanadischen Ureinwohnern Handel aufgebaut wurde. MUSIK SPRECHERUnabhängig von den Sagas gibt es handfeste Beweise für die Präsenz der Wikinger in Nordamerika: Im Jahr 1960 begann das norwegische Paar Helge und Anne-Stine Ingstad mit Ausgrabungen an der kanadischen Küste. Die Beschaffenheit der Landschaft ist dort so, wie sie in der Grönland-Saga beschrieben wird: Ebenes, bewaldetes Land, das sanft zum Meer hin abfällt. In L’Anse aux Meadows, an der äußersten Nordküste der kanadischen Insel Neufundland, legten die Ingstads über mehrere Jahre insgesamt acht Gebäude frei, in denen sie Reste einer Schmiede, einer Feuerstelle und verrostete Nägel fanden. Eisenverarbeitung war damals in Nordamerika weitgehend unbekannt. Schließlich fanden sie auch eine bronzene Ringnadel. Skandinavier nutzten solche Nadeln, um damit ihre Umhänge im Nacken zusammenzuhalten. Doch wie lange die Skandinavier dort waren, wie wichtig der Ort war und wie weit sie auf dem amerikanischen Kontinent herumkamen – dazu fehlen verlässliche Quellen. SPRECHERINValerie Hansen schreibt, der Kontakt zwischen den beiden Bevölkerungsgruppen habe sich auf einige Gespräche, gelegentliche Tauschgeschäfte und hin und wieder Handgemenge reduziert. Schließlich gaben die Skandinavier nach wenigen Jahren L’Anse aux Meadows auf und wandten sich anderen Gebieten zu.Selbst Hansen kommt somit zu dem Schluss, dass, verglichen mit anderen Begegnungen der Skandinavier um das Jahr 1000, der Kontakt mit den amerikanischen Ureinwohnern kaum langfristige Auswirkungen hatte. Allerdings gibt es seit den 980er Jahren bis ins späte 14., frühe 15. Jahrhundert anderswo im geografisch als Nordamerika zu betrachtenden Teil der Welt stabile, europäische Siedlungen: O 4 JPKWas aber stimmt, ist, dass Grönland dauerhaft besiedelt wird. Da entstehen zwei Siedlungen und Grönland ist ja geografisch Teil schon von Nordamerika. Und diese Kolonien wären tatsächlich mit dem Rest Europas vernetzt. MUSIK SPRECHERWie sah Westeuropa rund um das Jahr 1000 aus? Es gab kaum Städte. Paris, eines der europäischen Zentren, hatte etwa 20.000 bis 30.000 Einwohner. Die Herrscher hatten noch keinen festen Wohnsitz, und es gab einen sehr starken Christianisierungs-Schub. Karl der Große hatte in Europa schon vor 200 Jahren begonnen, das Christentum zu verbreiten, auch mit Gewalt. Und jetzt? Kristin Skottki: O 5 SkottkiDa sind ganz interessanterweise um 1000 vor allem die einheimischen Herrscher:innen dabei, selbst das Christentum anzunehmen, weil sich das für sie sozusagen als doppelter Gewinn herausstellt. Einerseits können sie damit nämlich die missionarischen Tätigkeiten ihrer Nachbarn abwehren, und andererseits ist es natürlich die schriftliche Kultur, die mit dem Christentum Einzug hält und natürlich auch die Institution wie eben Kirchen und Klöster, eine ganz wichtige Herrschafts- und Machtbasis. SPRECHERINDie europäische Missionierung verfolgte die Strategie der Ausbreitung des Glaubens von oben nach unten: O 6 SkottkiDann gibt es sozusagen die kirchliche Nacharbeit durch die Priester, Prediger, Bischöfe. Und das gilt natürlich insbesondere für Mitteleuropa und Osteuropa. Und wann kommt sozusagen das Christentum dann wirklich bei den Leuten an? Ich würde jetzt einfach mal so behaupten nach zwei bis drei Generationen, so 60 bis 90 Jahre, nachdem eben so ein Territorium offiziell christlich geworden ist, können wir wohl schon davon ausgehen, dass dann auch in der Tiefe die Leute vertraut sind mit dem Christentum. MUSIK SPRECHERUnd politisch? Wo heute Teile von Deutschland, Italien, Österreich und Frankreich sind, lag das Ostfrankenreich. Es wurde regiert von der sächsischen Dynastie der Ottonen, den damals mächtigsten Männern Westeuropas. Und wie lebten die Menschen in diesem Reich? Die Bauern stellten auf Fruchtwechsel um, was die Ernten steigerte und die Versorgung mit Nahrung verbesserte. Sie begannen, zwischen Rüben und Klee, Gerste und Weizen abzuwechseln. Pferdegezogene Pflüge, Windmühlen, eisernes Werkzeug kamen erstmals zum Einsatz. SPRECHERINImmer mehr Fläche wurde landwirtschaftlich genutzt – Europas Landschaft veränderte sich. Die Bevölkerung wuchs, auch weil in Westeuropa zwischen dem 10. und 13. Jahrhundert die so genannte mittelalterliche Warmzeit herrschte. SPRECHERGlobalisiert, also vernetzt, waren die Menschen hier aber nicht. Westeuropa war damals, wie Johannes Preiser-Kapeller sagt, nur das „westliche Anhängsel“ einer Welt, die sich vor allem rund um den Indischen Ozean und in Asien entwickelte. MUSIK SPRECHERIN Die chinesische Hafenstadt Guangzhou war damals zum Beispiel schon eine Millionenstadt. Metallarbeiter hatten dort um 1000 gelernt, Eisendraht zu härten, Magnetnadeln daraus zu fertigen und so die ersten frei beweglichen Kompassnadeln herzustellen. Der Kompass brachte den chinesischen Handelsschiffen enorme Vorteile, denn er zeigte im Gegensatz zum Astrolabium auch bei bedecktem Himmel den Weg. SPRECHERDie Chinesen exportierten am Übergang vom 10. zum 11. Jahrhundert hochwertige Keramik und andere Waren in den Mittleren Osten, nach Afrika, Indien und Südostasien, und importierten vor allem Aromastoffe, Perlen und Edelsteine. China befand sich nicht erst in der Phase der Vorbereitung auf die Globalisierung, es lebte mittendrin, wie Valerie Hansen schreibt. Auch Chinesen der unteren städtischen Schichten profitierten von den Importwaren, zum Beispiel für Körperdüfte und Raum-Aromen: Die Menschen badeten selten. SPRECHERINZurück ins „rückständige“ Europa. Kristin Skottki findet hier an der ersten Jahrtausendwende viele Ereignisse spannender als die Fahrten der Skandinavier über den Atlantik: O 7 SkottkiDas Kalifat von Cordoba um die Zeit ist für mich persönlich sogar eigentlich der fast interessanteste Ort in Westeuropa um 1000 –  wirklich eine internationale Metropole. Offensichtlich hat eben diese Gesellschaft derartig prosperiert, weil man eben besonders tolerant und weltoffen war. SPRECHERCórdoba in Südspanien war mit 450.000 Menschen die größte Stadt Europas. Auf der Iberischen Halbinsel lebten Moslems, Christen und Juden unter muslimischer Herrschaft, die fast 800 Jahre dauerte. O 8 SkottkiDa ist eben Wissensaustausch da, da haben wir eine internationale Metropole, die eingebunden ist in diese globalisierte Welt, die Valerie Hansen ja so stark betont. Sie lässt ja Westeuropa doch auch in ihrem Buch weitestgehend außen vor. Genau aus diesen Gründen, weil da einfach, muss man sagen, im Vergleich zu anderen Regionen der Welt nicht so wahnsinnig viel Spannendes passiert ist. Also es ist ja auch ein Plädoyer gegen den Eurozentrismus. MUSIK SPRECHERINDoch bleiben wir noch zumindest zum Teil in Europa, denn nicht nur auf der iberischen Halbinsel, auch im östlichen Mittelmeerraum netzwerkte man schon. Das Byzantinische Reich, das sich um das Jahr 1000 auf Teile der heutigen Türkei und des Balkans beschränkte, brachte bedeutende Werke des Rechts, der Literatur und Kunst hervor und spielte bei der Christianisierung des Balkanraums und Russlands eine wichtige Rolle. In der Hauptstadt Konstantinopel – heute Istanbul – vertrat der Patriarch die Oströmische Kirche – und stand mit dem Papst in ewigem Konkurrenzkampf, gegenseitige Exkommunikation inbegriffen. MUSIK SPRECHERByzanz stand auch mit Skandinavien im Austausch, denn die Nordmänner legten nicht nur nach Westen ab, sie erkundeten auch die Ostsee: Etwa um das Jahr 1000 eröffneten sie neue Routen in Osteuropa, die viel ergiebiger, langfristiger und folgenschwerer waren als die Verbindung über den Atlantik. Heute kennen wir diese Skandinavier als die Rus, die Russland ihren Namen gaben. Sie waren den Bevölkerungsgruppen der Wälder Osteuropas überlegen. Diese lebten von Fischfang und Fallenstellen und betrieben sozusagen ambulante Landwirtschaft: Im Frühjahr säten sie bestimmte Pflanzen, die sie bei ihrer Rückkehr im Herbst ernteten. SPRECHERINDie skandinavischen Einwanderer handelten mit Pelzen und versklavten Einheimische, die sie an byzantinische und muslimische Abnehmer verkauften: In Konstantinopel und Bagdad waren „slawische Sklaven“ sehr gefragt. Die Wörter ähneln sich seit dem elften Jahrhundert, als das griechische Wort Sklabos, Slawe, seine ursprüngliche Bedeutung verlor und für „Sklave“ verwendet wurde, wie Hansen erklärt. Das Gold und Silber, das die Rus in Osteuropa in großen Mengen verdienten, revolutionierte die Wirtschaft in der alten Heimat: Im heutigen Norwegen, Schweden und Dänemark entstanden Städte, Wohlstand verbreitete sich. Der Handel mit osteuropäischen Pelzen und Sklaven war also viel lukrativer als die Verbindungen nach Neufundland. SPRECHER Wachstum, Fortschritt, Entwicklung - auch durch Kriege und Sklaverei. Das späte 10., frühe 11. Jahrhundert war eine wegweisende Zeit für die Europäer Wie empfanden die Menschen ihre Gegenwart? Hatten sie das Gefühl, in einer Zeit zu leben, die etwas Besonderes war? Johannes Preiser-Kapeller erkennt vor allem eine Phase der Stabilität: O 9 JPK Also etwa in Westeuropa enden dann im späten 10. Jahrhundert die Einfälle der Ungarn in Mitteleuropa, der arabischen Seefahrer im Mittelmeerraum und auch allmählich der Wikinger in Skandinavien. Das heißt, es wird etwas ruhiger, auch an den Außengrenzen. Ähnliches kann man für Byzanz beobachten. O 10 JPKWas wir uns aber nicht vorstellen dürfen, ist, dass deswegen dann eine große Aufbruchsstimmung gibt. Also man hat das jetzt nicht wahrgenommen, so wie das heute oft ist mit einem Fortschrittsnarrativ. Ja, jetzt beginnt das neue Jahrtausend und alles wird besser. Das ist vor allem eine moderne Idee. SPRECHERINWer hat sich damals in der christlichen Welt überhaupt Gedanken über eine mögliche Zäsur gemacht, wie sie das runde Jahr 1000 bedeuten könnte? – Vor allem Kleriker spekulierten über das volle Jahrtausend seit Christi Geburt, aber auch nur einige. SPRECHERDer Großteil der Weltbevölkerung lebte ohnehin in einer anderen Zeitrechnung, und auch in Europa wird die Datierung, die mit Christi Geburt beginnt, erst um 1500 von der Kirche offiziell anerkannt. Viele nennen das Jahr 1000 einfach das zweite Jahr der Herrschaft von Papst Silvester dem Zweiten. Und die, die im Jahr 1000 leben und es als ein besonderes Datum wahrnehmen ... O 11 JPK … die sind doch sehr stark in Denkmustern drinnen, die die Vergangenheit verklären und weniger auf eine hoffnungsvolle Zukunft setzen. SPRECHERINAlso herrschte eher eine gedrückte Stimmung? Es hing tatsächlich etwas in der Luft. Kristin Skottki: O 12 SkottkiWie kommen die Leute überhaupt darauf, im Jahr 1000 vielleicht irgendwas Besonderes zu erwarten? Und zwar gibt es so ein paar Passagen in der Offenbarung des Johannes, die man dann wiederum mit Texten aus dem Alten Testament auch kombiniert hat. Und in der Offenbarung des Johannes wird beispielsweise beschrieben, dass eben nach 1000 Jahren wird der Antichrist für dreieinhalb Jahre freigelassen und treibt sein Unwesen und dann besiegt ihn Christus. SPRECHERDie Texte beschreiben in sehr bildhafter Sprache Katastrophen, Kriege und Seuchen als Zeichen dafür, dass Christus kommen und das Weltgericht abhalten wird. Glaubten die Menschen also, das Jüngste Gericht sei nah? Tatsächlich wurden viele Kirchen gebaut und viele Pilgerfahrten unternommen, wohl um vorsorglich das eigene Sündenkonto auszugleichen. O 13 SkottkiDas Interessante ist aber, dass diese biblischen Texte viel weniger auf die Hölle fokussieren. Das interessiert die eigentlich weniger als vielmehr eben diese Hoffnung auf das himmlische Reich, auf das Himmelreich, auf diese Erlösung, auf die Auferstehung. Also witzigerweise ist tatsächlich die Endzeiterwartung grundsätzlich nach diesem biblischen Zeugen erst mal etwas, worauf man sich freuen kann. Denn die Rezipienten dieser Texte, die waren ja davon überzeugt, sie sind ja Christen, sie sind wahrhaft Gläubige, also wird das für sie gut ausgehen. MUSIK SPRECHERINVorfreude auf das Jüngste Gericht? Die Angst vor Hölle und Fegefeuer wurde erst im 13. Jahrhundert gezielt verbreitet. Glückselige Christen des 11. Jahrhunderts also? Die Historiker sind sich uneins, weil sich das ohnehin magere Quellenmaterial nicht eindeutig interpretieren lässt: O 14 SkottkiDas Hauptproblem ist natürlich, dass im Nachhinein Endzeiterwartungen immer enttäuscht wurden, bis heute ist die Welt noch nicht komplett untergegangen, und das war im Grunde auch eigentlich etwas Peinliches für die Christen im Mittelalter. Denn der Kirchenvater Augustinus, der ja schon im fünften Jahrhundert nach Christus lebte, aber im Mittelalter extrem wichtig war, der hatte den Christen im Grunde ein Beschäftigungsverbot für die Endzeit auferlegt. ATMO (Uhr tickt) SPRECHER Einige, gerade Intellektuelle, warteten also nicht auf eine Zukunft in einer globalisierten Welt, sondern auf den Untergang der Welt. Leif Eriksson, der vermutlich erste Europäer auf amerikanischem Boden spielte in der Epoche kaum eine Rolle, ja die Entdeckungsfahrten waren nicht einmal für die Nordmänner selbst von großer wirtschaftlicher oder kultureller Bedeutung – abgesehen davon, dass sie den Stoff für Heldensagen lieferten. SPRECHERINAll das weiß auch die US-amerikanische Historikerin Valerie Hansen. Sie nutzt die Ereignisse in ihrer Heimat vor allem dazu, um unser Interesse an der ersten Jahrtausendwende zu wecken. Die Welt war viel vernetzter, als wir das auf Anhieb vermuten. Globalisiert war sie allerdings nicht. Dazu tickten die Uhren damals noch zu langsam. MUSIK & ATMO
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Dec 20, 2024 • 22min

EURASIEN IM MITTELALTER - Reiternomaden

In den weiten Steppengebieten Zentralasiens lebten über Jahrtausende Reiternomaden, die von Zeit zu Zeit auch in den Westen vorrückten. Vom 5. bis ins 10. Jahrhundert nach Christus gründeten Hunnen, Awaren und Ungarn in Europa drei aufeinander folgende frühmittelalterliche Reiche.Von Thomas Grasberger (BR 2024) Credits Autor: Thomas Grasberger Regie: Christiane Klenz Es sprachen: Katja Amberger, Thomas Loibl, Christopher Mann Technik: Laura Picerno Redaktion: Thomas Morawetz Im Interview: Arnold Muhl Linktipps: Radiowissen (2022): Attila und die Hunnen – Das Kriegervolk aus der Steppe Attila heißt "Väterchen", aber am Rhein und am Tiber nannte man den Hunnenkönig nur die "Geißel Gottes". Wenn seine Reitertrupps unter schrecklichem Kriegsgeheul auf ihre Gegner losstürmten, schien sich die Hölle geöffnet zu haben: Mit ihren kahl rasierten Schädeln, plattgedrückten Nasen und narbenzerfurchten Gesichtern sahen sie wie Dämonen aus. (BR 2010) JETZT ANHÖREN ZDF (2019): Die Geschichte von Mensch und Pferd Wann, wo und wie wurde erstmals das Pferd gezähmt? Der Film folgt den Spuren einer einzigartigen Beziehung zwischen Menschen und einem Tier, eine Beziehung, die die Welt verändert hat. JETZT ANSEHEN Deutschlandfunk (2021): Die Gene der Barbaren   Wenig ist wirklich bekannt über die Gruppen von Menschen die zwischen dem 3. und 8. Jahrhundert durch Europa, Asien und Afrika zogen. Wer waren sie? Und was trieb sie an? Was wir über sie wissen und erzählen, beruht auf einer recht dünnen Quellenlage. DNA-Analysen könnten einige ihrer Geheimnisse verraten. JETZT ANHÖREN Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: MUSIK Erzähler„Ex oriente lux“ – lautet ein lateinisches Schlagwort: „Aus dem Osten kommt das Licht!“ Gemeint ist das Tageslicht der aufgehenden Sonne. Manchmal aber erschienen am östlichen Horizont auch dunkle Wolken. Staubwolken, aus denen urplötzlich furchteinflößende, schreiende Gestalten auf kleinen Pferden heraus stürmten. Zitator„Gedrungene“ Figuren mit „starken Gliedern“ und „muskulösen Nacken“, „entsetzlich entstellt und gekrümmt“, sodass man sie für „zweibeinige Bestien“ halten könnte. ErzählerinSchreibt der römische Historiker Ammianus Marcellinus im späten vierten Jahrhundert nach Christus. Die berittenen Fremdlinge, die Ammianus in seiner Römischen Geschichte dämonisiert, kommen aus den Weiten Zentralasiens. Es sind die Hunnen, die als erstes Steppenvolk bis nach Mittel- und Westeuropa vorstoßen. ErzählerFür die Römer sind sie nur wilde „Barbaren“ ohne festen Wohnsitz. Auf dem Rücken ihrer Pferde lebend, ziehen sie – stets gierig nach Gold – plündernd, mordend und brandschatzend durch die Lande. ErzählerinWas die Historiker der Spätantike über die Hunnen berichten, ist nicht völlig falsch, aber voller Klischees und Stereotype. Und genau dieses Bild vom grausamen Steppenkrieger hat sich tief ins kollektive Gedächtnis eingegraben und lange nachgewirkt. MUSIK ErzählerDenn nach den Hunnen kamen in den folgenden Jahrhunderten weitere Reiternomaden: Awaren, Magyaren, Mongolen. Dass diese zähen und kampferprobten Steppenreiter mehr waren als nur marodierende Invasoren und blutrünstige Krieger, belegen heute viele archäologische Befunde und wertvolle Kunstschätze. Als Hirten, Handwerker und Händler brachten sie ihre eigenen Moden, Bräuche und Technologien mit nach Europa. ATMO (MUSEUM GERÄUSCHE) ErzählerIm Landesmuseum für Vorgeschichte in Halle an der Saale waren 2023 zahlreiche Nomaden-Schätze zu bewundern. Prunkvolle Anhänger aus Gold und Granate, reich verzierte hunnische Gürtelschnallen und Fibeln oder eine künstlerisch gestaltete Schale mit einem gehörnten Löwen aus einem awarischen Schatz. „Reiternomaden in Europa“ hieß die Ausstellung, die ihre Besucher in eine schillernde Welt entführte: MUSIK ErzählerinDie Welt der Hunnen, Awaren und Ungarn. Vom 5. bis ins 10. Jahrhundert nach Christus gründeten sie in Europa drei aufeinander folgende frühmittelalterliche Reiche. Ihre Basislager schlugen sie am westlichsten Rand der eurasischen Steppenzone auf. Diese unendlich weite Landschaft erstreckt sich über 7000 Kilometer, von der Mongolei und dem Nordwesten Chinas bis ins heutige Ungarn und an die Ostgrenze Österreichs. ErzählerIn der pannonischen Tiefebene, dem sogenannten Karpatenbecken, fanden die Nomadenvölker vertrautes Terrain, sagt Arnold Muhl, Kurator am Landesmuseum für Vorgeschichte in Halle. Denn Klima und Vegetation waren hier ganz ähnlich wie in den kargen Gegenden Innerasiens. Dort war es oft sehr heiß, aber auch sehr kalt, in jedem Fall aber trocken und für Ackerbau ungeeignet. ZSP 1 Muhl Halbwüsten 0,17Also verlegt man sich auf die Viehwirtschaft, und zwar anspruchslose Tiere. Und damit das überhaupt trägt, muss das auch eine gewisse Anzahl sein. Aber dafür muss ich halt die verschiedensten Weideplätze aufsuchen und wenn irgendwas abgegrast ist, dann muss ich halt dann wirklich schon mehrere Dutzend Kilometer weiterziehen. ErzählerDie Reiterhirten waren also ständig unterwegs mit ihren Herden – mit Kamelen, Schafen, Ziegen, Rindern, vor allem aber mit Pferden. Bevor Kleinkinder richtig laufen konnten, saßen sie schon auf dem nicht allzu hohen Ross. Gut reiten zu können, das war für Hirten überlebenswichtig. Denn auch inner-nomadische Konkurrenzkämpfe um gute Weideplätze waren keine Seltenheit. ZSP 2 Muhl Pferd 0,16Nicht umsonst ist das Pferd das verehrteste Tier bei den Reiternomaden. Wir wissen schon, dass im vierten Jahrtausend vor Christus die Leute dort Pferdewirtschaft betrieben, und das Pferd ist aus dieser Art der des Wirtschaftens nicht herauszudenken. MUSIK ErzählerinWer als Hirte ständig unterwegs ist, reist besser mit leichtem Gepäck. Auch dauerhafte Behausungen wären hinderlich. Deshalb haben sich bei den Reitervölkern die Jurten durchgesetzt. Jene traditionellen Nomaden-Zelte, die in Kasachstan, Kirgisien und der Mongolei bis heute weit verbreitet sind. ErzählerDie in Halle ausgestellte kirgisische Jurte hat einen Durchmesser von etwa acht und eine Höhe von vier Metern. Ihre runde Form bietet wenig Angriffsfläche für den kalten Wind der Steppe. Vor allem aber lässt sich so eine Jurte leicht auf- und abbauen. ZSP 3 Muhl Jurte 0,15Diese geniale Konstruktion, die hat sich über die Jahrtausende bewährt. Ein Scherengitter, das sie zusammenklappen können. Dann einzelne Spanten, die auch sehr leicht sind, und sofort haben sie, wenn sie noch viel Filz haben, eine wunderbare, warme Behausung. MUSIK ErzählerinPferd und Jurte haben eine lange Tradition. Bereits 1000 Jahre vor dem Einzug der Hunnen berichtet der antike griechische Historiker Herodot im fünften vorchristlichen Jahrhundert von den Kimmeriern und den Skythen. Die Kimmerier – eine Föderation von einzelnen Stammesgruppen – tauchten im zehnten Jahrhundert vor Christus am östlichen Rand Europas auf. ZSP 4 Muhl Kimmerier 0,13Es gibt einige wenige Spuren, aber das waren eben auch Reiternomaden. Und die wollten hier gar nicht siedeln. Das wäre auch gar nicht ihr Lebensraum gewesen, sondern man suchte schon Profit zu schlagen, vor allem durch Sklaverei, Sklavenhandel. ErzählerinMitte des 7. vorchristlichen Jahrhunderts werden die Kimmerier vertrieben, von den Skythen, die in den Steppengebieten der Ukraine und Südrusslands das erste Nomadenreich Europas errichten. Auch für diese Reiternomaden ist der Menschenhandel ein lukratives Geschäftsmodell. ZSP 5 Muhl Sklaven 0,16Bei den Skythen ist es haargenau das Gleiche. Und letztendlich wissen wir das auch von den Awaren und den Magyaren, also die sogenannten Ungarn. Und später auch die Mongolen. Das war ein festes Budget, das schon eingeplant ist, dass man Leute versklavt und verkauft. MUSIK ErzählerinTausend Jahre, nachdem Kimmerier und Skythen aus der Weltgeschichte verschwunden waren, tauchten die Hunnen in Europa auf. Über ihre genaue Herkunft und Ethnizität streiten die Gelehrten. Eine direkte Abstammung von den chinesischen Reiternomaden der Xiongnu hält die neuere Forschung für unwahrscheinlich. Eventuell könnte der prestigeträchtige Name „Hunnen“ von anderen, ethnisch heterogenen Reiternomaden-Gruppen übernommen worden sein. ZSP 6 Muhl Hunnen 0,24Wir wissen aber nur, dass diese Hunnen tatsächlich aus der Mongolei kamen und dann nach dem Prinzip einer Wanderlawine viele Völker mit sich gerissen haben. Zum Schluss tauchten die irgendwo auf und haben gesagt: Passt mal auf, entweder ihr werdet Hunnen oder ihr sterbt. Da haben die meisten gesagt: Ja, machen wir halt mit. Und es gab hier natürlich auch viel zu verdienen. Also der Khan der Hunnen der hat nur damit zu tun gehabt, alle Leute zufriedenzustellen. ErzählerVielleicht rührt daher jene „schreckliche Begierde“, „fremdes Gut zu rauben“, wie der Historiker Ammianus klagt. Für ihn waren die Hunnen, die seit 375 nach Christus das Abendland aufmischten und eine zweihundert Jahre dauernde Völkerwanderung auslösten, die furchtbarsten aller Krieger, Zitatorweil sie im Fernkampf mit Pfeilen kämpfen, die mit spitzen Knochen anstelle von Pfeilspitzen (…) zusammengefügt sind. ErzählerIn der Halleschen Ausstellung war ein Lendenwirbelknochen zu sehen, durchschlagen von einer hunnischen Pfeilspitze. Eine tödliche Verletzung, die nicht selten war. Denn die geschwungenen Reflexbögen der Hunnen schleuderten die Pfeile mit enormer Wucht, sagt Kurator Muhl. ZSP 7 Muhl dreikantig 0,13Das durchschlägt alles. Und das Problem ist, die Pfeile sind nicht normal wie bei uns, zweikantig, sondern dreikantig. Und das ist ein Problem, denn dreikantige Wunden, die wachsen nicht von alleine zu. Die kann ich auch ganz schlecht nähen. Also das ist absolut tödlich. ErzählerinVor allem, wenn hunderte solcher Geschosse auf die Gegner niedergehen. Wie man sich so einen Pfeilhagel vorstellen muss, zeigte ein Videofilm in der Ausstellung. Der ungarische Bogenbauer Lajos Kassai, Jahrgang 1960, ist ein Meister des traditionellen Pferdebogenschießens. Ohne Sattel reitet er im vollen Galopp und schießt seine Pfeile im Sekundentakt ab – nach vorne, nach hinten, zur Seite. Selbst im Sprung trifft Kassai noch ein ums andere mal ins Ziel. ZSP 8 Muhl Video 0,15Mit einer Frequenz schießt er da und trifft jedes Mal. Also das ist irre. Und die konnten das alle. So was gab´s in Europa gar nicht. Und wenn davon 300 Leute auf einen zukommen, dann machen sie gar nichts mehr. Dann nützt ihr kleiner Schild und ihr kleines Kettenhemdchen gar nix. ErzählerKein Wunder, dass die Steppenkrieger gefürchtet waren. Zumal sie auch recht exotisch aussahen. Allerdings waren nur 20 Prozent der hunnischen Krieger vom Phänotyp erkennbar asiatisch, sagen Wissenschaftler. Viele hunnische Verbündete waren nämlich Germanen, Alanen oder Sarmaten. Ein buntes Völkergemisch also, allerdings nur an der Basis. ZSP 9 Muhl hunnischer Kern 0,20Die Hunnen haben immer die Oberschicht gestellt. Die Familie um Attila beispielsweise und seine Söhne und seine Brüder, die stellten den Kern. In dieses beratende Gremium, in diesen Generalstab konnten natürlich dann auch germanische Häuptlinge und sarmatische Häuptlinge mit aufsteigen. Das ist kein Problem. Aber die Zügel in der Hand hatte immer dann tatsächlich die asiatische Familie. MUSIK ErzählerinDer legendenumrankte, charismatische Hunnenkönig Attila ging als „Geißel Gottes“ ins kollektive Gedächtnis ein. Seit 444 Alleinherrscher der Hunnen, führte er sein Heer bei Kriegszügen gegen Ost- und Westrom bis nach Mittel- und Westeuropa. Zum militärischen Showdown mit Westrom kam es dann im Nordosten Frankreichs. ErzählerDort traf Attilas Heer im Juni 451 auf den einstigen Verbündeten Flavius Aëtius. Der war zwischenzeitlich der mächtigste Mann Westroms. Die Schlacht auf den Katalaunischen Feldern verlief für beide Seiten sehr verlustreich und endete ohne klaren Sieger. Attilas Nimbus aber war danach zerstört, sagt Arnold Muhl. ZSP 10 Muhl Attila 0,31Die Hunnen sind nur so lange erfolgreich, wie Attila es schafft, andere zu besiegen, sich genügend Gold oder Besitztümer anzueignen, die er verteilen kann. Jetzt kommt er dann aber auf die Katalaunischen Felder, trifft auf Aëtius, der selber auch bei den Hunnen eine Zeit lang gelebt hat. Der kennt die Taktik. Und dann passiert eines: Attila gewinnt nicht. Es wird zwar immer gesagt, er hätte verloren. Stimmt nicht. Es ging unentschieden aus, aber Attila zog sich zurück, weil er gemerkt hat: Da kommt er nicht weiter. Und da hieß es: Oh, der ist ja doch nicht unschlagbar. ErzählerinIm Jahr nach der unentschiedenen Schlacht stirbt Attila. Seine Söhne können nicht an die Erfolge des Vaters anknüpfen. Es folgen militärische Niederlagen und bald auch inner-hunnische Konflikte. Das Konstrukt ihrer Herrschaft zerfällt. Und die Clans ziehen mit ihren Herden zurück in die Steppe. MUSIK ErzählerDie Geschichte der Hunnen in Europa dauert nur 80 Jahre. Entsprechend gering sind die Siedlungsspuren, die sie hinterlassen haben. Aber das Bild vom blutrünstigen Steppenkrieger prägen sie höchst nachhaltig. Jahrhundertelang wird es in den Köpfen der Europäer herumspuken. ErzählerinTeils zu Unrecht, wie Wissenschaftler der englischen Universität Cambridge zeigen konnten. Viele der ehemaligen Reiternomaden waren nämlich sesshaft geworden und trieben Viehzucht. Die angeblich so wilden Hunnen lebten mit den lokalen Bauern friedlich zusammen, sie waren kaum mehr voneinander zu unterscheiden. MUSIK ErzählerEin Jahrhundert nach den Hunnen tauchen wieder Reiternomaden in Europa auf – das Turkvolk der Awaren. Ihre ethnischen Wurzeln sind unklar, fest steht nur: Auch sie kamen aus der Mongolei. In den Steppen Asiens war der Name „Awaren“ damals weit verbreitet. Gleich mehrere nomadische Gruppen nannten sich so. ErzählerinAls Mitte des sechsten Jahrhunderts in der Mongolei das Steppenreich der Róurán zerfiel, machte sich einer dieser Stammesverbände auf den Weg nach Westen. An die 20.000 Awaren-Krieger mit ihren Familien zogen in kleineren Gruppen nach Europa und siedelten zunächst an der unteren Donau. Im Jahr 568 nahmen sie das Karpatenbecken in Besitz. ErzählerIhr Reich sollte 250 Jahre bestehen. Zum Zeitpunkt der größten Ausdehnung erstreckte es sich vom heutigen Niederösterreich bis weit nach Rumänien hinein. Dort hatten die Awaren ihre Verwaltungs- und Machtzentren. Aber sie blieben weiterhin mobil, sagt Arnold Muhl. ZSP 11 Muhl mobil 0,16Man weiß zum Beispiel von den Awaren, dass sie auch ihre Kontakte bis weit bis 3000 oder 4000 Kilometer in die Steppe zurückhalten. Also da gibt es Heiratsverbindungen, das heißt, die bleiben nicht hier, sondern das ist wie die Seidenstraße auf und ab. Man kommuniziert miteinander. Und das wissen wir übrigens durch die genetischen Untersuchungen. MUSIK ErzählerDie Krieger der awarischen Oberschicht zeigten sich traditionsbewusst. Selbst wenn sie schon sesshafter geworden waren, verstanden sie sich weiter als Nomaden, die ihre Tracht und Umgangsformen bewahrten. In der Ausstellung von Halle stand gleich am Eingang die Rekonstruktion eines höchst eindrucksvollen Awarenreiters auf seinem Pferd. ErzählerinStolz und wild entschlossen dreinblickend, mit langen, geflochtenen Haaren und zotteligem Vollbart, in seiner Rechten eine Lanze, so als wolle er den kostbaren Goldschatz in der Vorhalle des Museums verteidigen. Dieser awarische Panzerreiter, sagt Kurator Muhl, verkörpert auf perfekte Weise den Steppenkrieger des Frühmittelalters. ZSP 12 Muhl awarischer Reiter 0,13Man sieht an ihm alles, was ein Reiternomade braucht. Seinen Bogen, sein Schwert, seine Lanze, ein sehr fittes Pferd, einen Sattel. Und als Aware natürlich Steigbügel. Damit hat er alles, was er braucht. ErzählerinUnd was dem Gegner Angst einjagt. Kein Heer, nicht einmal das byzantinische, war damals in der Lage, sich diesen Panzerreitern erfolgreich zu widersetzen. Was auch an der Rüstung der Awaren lag. ZSP 13 Muhl Lamellen 0,12Das sind Lamellen aus Eisen, kleine Lamellen, die man zu einem ganz beweglichen Panzer zusammengeschnürt hat und die viel besser gegen Pfeile helfen als Kettenhemden. Damit war man doch relativ gut geschützt. ErzählerAls Angriffswaffe diente den Awaren der sogenannte Kompositbogen. Zusammengesetzt aus einem Holzteil, das auf der Innenseite mit Sehnen zusammengeleimt und auf der Rückseite mit einem dünnen Horn verstärkt ist, entwickelt er eine hohe Durchschlagskraft. Der untere Bogenteil ist kürzer als der obere. Dadurch werden die awarischen Kämpfer zu Pferd beweglicher. ErzählerinSie überraschen den Feind mit blitzschnellen Attacken, schießen reitend ihre Pfeile ab und fechten mit gekrümmten Säbeln. Entscheidend für diese Art des Kämpfens ist ein kleines Utensil, das dem Reiter Halt gibt: der eiserne Steigbügel. Erst die Awaren haben diese revolutionäre Erfindung nach Europa gebracht, sagt Arnold Muhl. ZSP 14 Muhl Steigbügel 0,20Das ist eine tatsächlich entscheidende Änderung, weil das verändert das Reiten völlig. Vorher gab es diesen Steigbügel nicht. Heute erscheint uns das völlig selbstverständlich. Aber wenn man bedenkt: Römer, Griechen, die hatten keinen. Und erst mit dem Steigbügel ist ein Reiten, wie man es dann später bei der Kavallerie oder beim Rittertum sieht, erst möglich. ErzählerPanzerrüstung, Steigbügel, Säbel – das Erbe der Steppe besteht vor allem aus militärischen Neuerungen, die die Armeen des Westens später übernommen haben. Ohne die Awaren wäre also das europäische Rittertum des Mittelalters gar nicht denkbar. MUSIK ErzählerDie Schätze der Awaren sind fast sprichwörtlich. Das meiste Gold aber haben sie nicht durch Kampf und Raub eingeheimst, sondern durch Schutzzahlungen und diplomatische Geschenke. Denn die Awaren waren in Europa schnell zum politischen Player aufgestiegen, zu einem Faktor im Machtgefüge. Erzählerin566 hatten sie die Franken besiegt und im Jahr darauf die ostgermanischen Gepiden in Pannonien unterworfen. Um ihren Machtbereich auch auf dem Balkan zu erweitern, wandten sich die Awaren schließlich gegen Byzanz und belagerten im Jahr 626 die schwer befestigte Hauptstadt Konstantinopel. An deren Mauern aber bissen sich die awarischen Panzerreiter und Bogenschützen letztlich die Zähne aus, sagt Arnold Muhl. ZSP 15 Muhl Verlust 0,23Also die holen sich da eine ziemlich blutige Nase, sind dann ziemlich geschwächt. Auch Teile ihrer unterworfenen Slawen lösen sich dann auf, ein Teil ihrer Macht geht flöten. Und die Franken nutzen die Situation und greifen die ein paar Mal an. Das führt zu einem gewissen Substanzverlust letztendlich. Aber erst tatsächlich, als sie untereinander zerstritten sind, sind die dann so schwach, dass sie dann einzeln aufgerieben werden. ErzählerEnde des 8. Jahrhunderts erobert und plündert Frankenkönig Karl, der spätere Kaiser Karl der Große, das wohlhabende Awarenreich im Donau-Theiß-Zwischenstromland. Nur zwei Jahrzehnte später sind die Awaren aus den Annalen verschwunden. Ihr 250 Jahre währendes Reich ist Geschichte. Und die Reste der awarischen Bevölkerung gehen in anderen Volksgruppen auf. MUSIK ErzählerAber es dauert keine hundert Jahre, da tauchen aus den Steppen Asiens erneut Reitervölker auf. Die Ungarn oder Magyaren, wie sie sich selbst nennen. Ihre Urheimat lag östlich des Urals, und ihr Idiom, das zur finno-ugrischen Sprachenfamilie gehört, klang in europäischen Ohren reichlich fremd. Auch sie lassen sich in der pannonischen Tiefebene nieder. Und starten von hier aus ihre Raubzüge. ErzählerinWie ein Wirbelsturm fegen die Ungarn Ende des 9. Jahrhunderts über Mitteleuropa hinweg. Leicht gerüstet und äußerst wendig, führen sie blitzschnelle Reiterattacken aus. Die schwerfälligen gepanzerten Fußsoldaten des bayerischen Heeres erleiden im Jahr 907 vor Pressburg eine vernichtende Niederlage gegen diese pfeilschnellen Madjaren. Die werden zur permanenten Bedrohung. Sie zerstören Dörfer und plündern Klöster. In ihre Pfeilspitzen bohren sie Löcher. Dadurch entsteht im Flug ein heulendes, pfeifendes Geräusch, das die Gegner in Angst und Schrecken versetzt. ErzählerinDie ostfränkische Landbevölkerung verschanzt sich hinter hohen Erdwällen und tiefen Gräben. Oft genug vergeblich. Wie schon die Hunnen ein halbes Jahrtausend zuvor werden auch die magyarischen Reiternomaden zum Alptraum Europas. Als blutsaufende Bestien verschrien, galten sie als Vorboten einer drohenden Apokalypse. Die schriftkundigen Mönche sahen in den schamanistischen Heiden den personifizierten Satan. Aber waren diese Ungarn wirklich so grausam wie sie beschrieben werden? ZSP 16 Muhl erfolgreich 0,22Nicht grausamer als die anderen. Das hat sich damals nicht viel gegeben. Ein Menschenleben zählte nicht so besonders viel. Aber sie waren halt erfolgreich wieder durch ihre Reiterei, auch mit ihren Säbeln waren sie ein bisschen besser ausgerüstet. Also das war für die Leute kein Spiel, wenn die hier anrückten. Weil auch die wieder militärisch so erfolgreich waren, dass man dem wenig entgegenzusetzen hatte. ErzählerinMitte des 10. Jahrhunderts enden die Ungarneinfälle. König Otto I. kann 955 auf dem Lechfeld vor den Toren Augsburgs das militärisch weit überlegene ungarische Heer vernichtend schlagen. In den Jahrzehnten danach wird das Nomadenvolk langsam sesshaft. Und gut katholisch. Fürst Stephan christianisiert seine heidnischen Magyaren und gründet im Jahr 1000 das Königreich Ungarn. Als einziges der bedeutenden Steppenvölker können sich diese Ungarn in Mitteleuropa bis heute behaupten. MUSIK ErzählerAber schon Mitte des 13. Jahrhunderts tauchten erneut Reiternomaden auf. Die mongolischen Stämme der Goldenen Horde unter Batu Khan dringen bis Niederschlesien, Ungarn, Mähren und Niederösterreich vor. ErzählerinHunnen, Awaren, Ungarn, Mongolen. Die Geschichte der Reiternomaden auf dem europäischen Kontinent ist lang, auch wenn manche ihrer Reiche nur kurz bestanden. Als Krieger, aber auch als Hirten und Händler haben die eurasischen Steppenvölker Spuren hinterlassen. Sie sind Teil unserer europäischen Geschichte.
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Nov 29, 2024 • 22min

STEINZEIT UND DANACH - Das Rätsel der „Glockenbecherleute“

Vor rund 4500 Jahren begannen die Menschen der Glockenbecherkultur, ihre Toten neu zu bestatten und spezielle Becher ins Grab zu legen. Mit innovativen DNA-Analysen wird erforscht, wie Migration und kultureller Austausch die Entwicklung dieser Gemeinschaft beeinflussten. Die handwerklichen Techniken des Töpferns werden anschaulich erklärt, und die Rolle von Paläogenetik in der modernen Forschung wird beleuchtet. Zudem wird die Bedeutung dieses Phänomens für den Übergang zur Bronzezeit thematisiert.
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Nov 29, 2024 • 23min

STEINZEIT UND DANACH - „Ackern“ und Gewalt in der Jungsteinzeit

In der Jungsteinzeit entstand das Konzept der Sesshaftigkeit und die ersten Bauern begannen, Ackerland zu bewirtschaften. Es werden spannende Einblicke in die soziale Struktur und die kulturelle Bedeutung von Megalithbauten gegeben. Ein faszinierendes Fresko mit stilisierten Frauenfiguren offenbart tiefere gesellschaftliche Praktiken. Zudem wird die zunehmende Gewalt und deren Auswirkungen auf soziale Strukturen untersucht. Archäologische Funde zeigen, wie sich das Leben und die Techniken der Menschen vor 7.500 Jahren entwickelten.
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Nov 29, 2024 • 25min

STEINZEIT UND DANACH - Überleben in der Eiszeit

Dr. George McGlynn, Wissenschaftler und Experte für Eiszeitfunde, diskutiert faszinierende Aspekte des Lebens unserer Vorfahren vor 30.000 Jahren. Er beleuchtet den bedeutenden Fund eines fast vollständig erhaltenen Skeletts und dessen Bedeutung für unser Verständnis der frühen Homo sapiens. Zudem erfährt man, wie Klimaarchäologen die Lebensbedingungen in dieser kalten Zeit rekonstruiert haben und welche genetischen Verbindungen es zwischen Eiszeitmenschen und modernen Menschen gibt. Spannend wird auch die unerwartete Vielfalt unter den Jägern und Sammlern thematisiert.
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Nov 18, 2024 • 22min

DAS KOLOSSEUM - Ein Bau für Blut, Brot und Spiele

Gladiatorenspiele, Tierkämpfe und Schiffsschlachten - die Veranstaltungen im Kolosseum sollten unterhalten und die Macht des Kaisers feiern. Genauso wie der Bau - ein architektonisches Meisterwerk der Antike. Von Lukas Grasberger (BR 2020) Credits Autor dieser Folge: Lukas Grasberger Regie: Martin Trauner Es sprachen: Beate Himmelstoß, Friedrich Schloffer, Jerzy May, Marlene Reichert Technik: Robin Auld Redaktion: Nicole Ruchlak Im Interview:Dr. Marcus Junkelmann: Historiker und Experimentalarchäologe, Mainburg Dr. Heinz-Jürgen Beste: Archäologe, Deutsches Archäologisches Institut, RomMarie Jackson: Professorin für Geologie und Geophysik, University of Utah Martin Crapper: Professor für Maschinenbau und Bauingenieurwesen, Northumbria University, Newcastle Noch mehr Interesse an Geschichte? Dann empfehlen wir: ALLES GESCHICHTE - HISTORY VON RADIOWISSEN
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Nov 15, 2024 • 25min

DER WESTEN (3/3) - Was kann aus ihm werden?

Der Westen wird als ambivalenter Akteur in einer sich wandelnden globalen Ordnung beleuchtet. Die Experten diskutieren den Einfluss neuer Mächte wie China und die Herausforderungen für die traditionelle NATO. Zuwanderung und ihre Erfolge in der Gesellschaft stehen ebenfalls im Fokus, während Nostalgie in politischen Bewegungen kritisch hinterfragt wird. Schließlich wird die globale Wahrnehmung des Westens untersucht, insbesondere in Hinblick auf seine koloniale Vergangenheit und den Umgang mit Menschenrechten.
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Nov 15, 2024 • 25min

DER WESTEN (2/3) - Wie uns die anderen sehen

Was "ungefähr" der Westen sein soll, ist wenig umstritten. Wer heute in "westlichen Gesellschaften" lebt, hat meist den diffusen Eindruck, irgendwie einer der vielen gängigen Normen zu entsprechen. Genaueres regelt jeder für sich selbst. Doch schon dieser individualistische Ansatz ist typisch für den Westen, beschreibt Jean-Marie Magro in seiner dreiteiligen Überlegung "Der Westen". Und "normal" finden das andere Gesellschaften, die nicht zum Westen gehören, nicht. Vor allem die politische Kultur des Westens reizt in anderen Teilen der Welt zu entschiedenem Widerspruch. Credits Autor: Jean-Marie Magro Regie: Christiane Klenz Es sprachen: Jean-Marie Magro, Thomas Loible, Jerzy May, Christopher Mann, Florian Schwarz, Benjamin Stedler, Peter Veit und Hemma Michel Technik: Wolfgang Lösch Redaktion: Thomas Morawetz und Nicole Ruchlak Im Interview: Joseph Hendrich, Sadiq Abba, Abubakar Umar Kari, Bertrand Badie, Stephan Lessenich, Thomas Gomart, Heinrich August Winkler, Anne Applebaum, Yasheng Huang Linktipps: Deutschlandfunk (2023): Putin und der Westen – Strategien der Destabilisierung   Der russische Präsident Wladimir Putin tut alles, um sich aus der Schlinge der Kriegsfolgen zu winden und seine Partner auf eine neue Allianz einzuschwören. Das gemeinsame Ziel: dem Westen schaden. Aber was hat Westen dem entgegenzusetzen? JETZT  ANHÖREN ARD alpha (2022): China und wir Innerhalb von wenigen Jahrzehnten haben sich die Machtverhältnisse zwischen China und Deutschland fundamental verschoben. Aus dem einstigen Empfängerland deutscher Entwicklungshilfe ist eine Weltmacht geworden, wirtschaftlich und politisch. Unsere Abhängigkeit von China würden wir gern verringern - aber in welchem Maß ist das überhaupt möglich? alpha-demokratie befasst sich mit den zentralen Fragen und Entwicklungen unserer Demokratie in einer unruhigen Welt - über die Aktualität hinaus. JETZT ANSEHEN Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: SPRECHERFreiheit, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, das sind, so behaupten viele, historische Errungenschaften des Westens. Gegen diese Werte kann man doch gar nichts haben, denken viele. Aber so einfach ist es nicht. Ich bin Jean-Marie Magro und das ist: Der Westen – Eine Überlegung in drei Teilen. Folge 2: Wie uns die anderen sehen. In vielen Teilen der Welt wird das Auftreten des Westens als anmaßend und belehrend wahrgenommen. Andere gehen sogar so weit zu sagen, die internationale Weltordnung sei von westlichen Staaten allein zu deren Vorteilen errichtet worden und müsse umgebaut werden. 2023 ging ein Zitat um den Erdball, ein Satz der aus Nigeria stammenden Generaldirektorin der Welthandelsorganisation WTO, Ngozi Okonjo-Iweala. Sie sagte auf einer Botschafterkonferenz im Auswärtigen Amt in Berlin: „Wenn wir mit China reden, bekommen wir einen Flughafen. Reden wir mit Deutschland, einen Vortrag.“ Joseph Henrich, Harvard-Professor für biologische Anthropologie und Autor von „Die seltsamsten Menschen der Welt“, kam schon in Folge eins zu Wort. Als ich den Satz zitiere, muss er lachen: 1 Joseph Henrich, Anthropologe und Psychologe, Harvard 10„Ja, ich glaube, das ist wahr. Und eines der Dinge, die ich in dem Buch versucht habe anzusprechen, ist, obwohl die allgemeinen Menschenrechte für mich einfach zu verstehen und wichtig sind: Es ist nicht so, dass alle von ihnen überzeugt sind.“ SPRECHERDer Westen dominiert seit Jahrhunderten Weltpolitik und Weltwirtschaft. Und, aus Sicht vieler Staaten im sogenannten Globalen Süden, zulasten der anderen. Selbst viele Jahre nach Kolonialismus und Sklaverei beuten westliche Länder noch immer andere aus – so lautet zumindest der Vorwurf. Besonders deutlich wird dieser in afrikanischen Staaten formuliert. Sadiq Abba ist Professor für Internationale Beziehungen an der Universität Abuja, der Hauptstadt Nigerias: 2 Sadiq Abba, Professor Internationale Beziehungen Uni Abuja 5„Wir haben genug. Afrika ist der westlichen Welt überdrüssig.  Es ist sehr wichtig, dass die westliche Welt damit beginnt, offen über ihr bösartiges Verhalten gegenüber Afrika zu sprechen.“ SPRECHERSadiq Abba spitzt in seiner Kritik sehr zu: Er sagt, Zitat: Die angeblich universellen Menschenrechte haben keinen Wert, weil für die Europäer ein Menschenleben in Westafrika weniger Wert hat als ein Straßenköter in Paris. Das sind die Doppelstandards des Westens. Zitat Ende. In den vergangenen Jahren habe ich häufig aus Marokko berichtet. Dort ist mir immer wieder der Vorwurf begegnet, dass sich westliche Staaten empört zeigen, wenn Russland in die Ukraine einmarschiert. Wenn aber in Afrika Menschen sterben, interessiere das die Weltgemeinschaft recht wenig. Besonders häufig wird auch der Vergleich zwischen Israel und Palästina gezogen. Hier verweisen Kritiker des Westens auf die Todeszahlen: Egal, ob man denen der Hamas glauben möchte oder nicht, klar ist: Auf palästinensischer Seite sterben viel mehr Menschen als auf israelischer. Trotzdem verurteilen westliche Staaten das Vorgehen der Netanjahu-Regierung zögerlicher als das der Hamas und liefern Israel sogar Waffen. Ein Vorwurf, der sich folgendermaßen zuspitzen lässt: Der Westen misst mit unterschiedlichem Maß. Egal, ob man sich dem Urteil anschließen will oder nicht: Es verdeutlicht, dass in einigen Teilen der Welt der Eindruck vorherrscht: Der Westen fordere andere auf, seine Regeln zu befolgen, halte sich selbst aber nur an diese, wenn sie ihm passen. Abubakar Umar Kari lehrt wie Sadiq Abba ebenfalls an der Universität Abuja. Der Politologe meint mit einem Blick auf die Geschichte: 3 Abubakar Umar Kari, Professor Politikwissenschaften Uni Abuja 5„Die westlichen Staaten predigen Dinge, die sie nicht ernsthaft glauben. Es gibt so viele Beispiele, z. B. sprechen sie von Demokratie und Freiheit, aber sie haben in der Vergangenheit diktatorische Regime unterstützt und Militärjuntas gefördert. Sie schaffen Monopole, sorgen für Instabilitäten und sie tolerieren Despoten. Das steht im Widerspruch zu ihrem Engagement.“ SPRECHERUnd der Vorwurf wird noch eine Runde weitergedreht: Einer der Hauptkritikpunkte, die sich der Westen immer wieder anhören muss, ist: „Eure Werte sind nicht die unseren: Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Freiheit – klingt gut, aber diese Werte habt ihr entworfen. Nicht wir.“ Bertrand Badie ist emeritierter Professor an der renommierten Pariser Hochschule Sciences Po. Er sagt: 4 Bertrand Badie 2, emeritierter Professor für int. Beziehungen Sciences Po Paris„Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948, ein sehr schönes Dokument. Es wurde von einer Kommission ausgearbeitet, in der nur Europäer und Amerikaner vertreten waren, mit zwei kleinen Ausnahmen:“ SPRECHEREine Ausnahme, so Badie, war ein Libanese, der aber als Maronit den katholischen Glauben praktizierte. Der andere war ein Chinese, der in den USA studiert hatte. Ein Ähnliches Bild liegt bei den Institutionen vor, die nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffen wurden: Die Vereinten Nationen mit fünf ständigen Mitgliedern im Sicherheitsrat, die jeweils ein Veto-Recht besitzen. Drei davon sind westlich, womit eine Machtverteilung entsteht, die weder im Verhältnis zur Bevölkerung noch zur wirtschaftlichen Stärke dieser Länder steht. Als Sonderorganisation der UN wurde auch der Internationale Währungsfonds gegründet, der Ländern in Zahlungsschwierigkeiten helfen soll, aber unter anderem wegen seiner drakonischen Sparforderungen immer wieder in der Kritik steht. Seit 1946 stammen alle seine Präsidentinnen und Präsidenten aus Europa. Ebenso eine Sonderorganisation der UN ist die Weltbank, die Entwicklungsprojekte finanzieren soll: Seit ihrer Gründung hatte nur eine Präsidentin keine US-amerikanische Staatsbürgerschaft, die Bulgarin Kristalina Georgiewa 2019, die nur kommissarisch für kurze Zeit übernahm. In den vergangenen Jahren wurden deshalb die Rufe nach einer neuen Weltordnung immer lauter. Einer Weltordnung, die nicht den Westen bevorteilt, sondern aufstrebende Mächte aus den unterschiedlichen Teilen der Welt mehr einbezieht. Das bekannteste und wahrscheinlich auch einflussreichste Bündnis haben die sogenannten BRICS-Staaten geschlossen: Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika. Der Nigerianer Sadiq Abba setzt hierauf große Hoffnungen: 5 Sadiq Abba, Professor Internationale Beziehungen Uni Abuja 7„BRICS Ist ein Wind der Veränderung, der 1979 angefangen hat zu blasen. BRICS steht am Ende einer langen Geschichte der unterentwickelten, der unterdrückten, der ausgebeuteten Welt. Eine Welt, die endlich aufatmen und einen Hauch von Freiheit und Wohlstand spüren kann.“SPRECHERBRICS nahm zu Jahresbeginn 2024 weitere Mitglieder auf: Ägypten, Äthiopien, die Emirate und Iran. Eigentlich sollten Argentinien und Irans Erzfeind Saudi-Arabien noch dazukommen. Argentinien lehnte ab, Saudi-Arabien prüft den Beitritt noch. Dass Länder mit so entgegengesetzten Interessen, gar offen ausgetragenen Feindschaften, sich verbünden, überrascht den Soziologen Stephan Lessenich von der Goethe-Universität in Frankfurt nicht. Er hat sich in seiner Forschung mit dem sogenannten Globalen Süden befasst. Diese vermeintlichen Partner vereint alle, dass sie, wie Lessenich es nennt, „Geschädigte westlicher Modernisierungsfantasien“ sind. 6 Stephan Lessenich, Professor Soziologie Uni Frankfurt 4„Das rechtfertigt überhaupt nicht das chinesische Land Grabbing in Afrika oder die neuen Machtasymmetrien, die jetzt in der Weltwirtschaft entstehen. In Lateinamerika gilt ähnliches: Riesige Abhängigkeit der argentinischen Sojaindustrie von den Lieferungen nach China und so weiter. Also da verschieben sich dann auch wiederum Abhängigkeiten. Aber dass es in zentralafrikanischen Staaten keine Lust mehr gibt, sich von Frankreich irgendwie sagen zu lassen, was man zu tun und zu lassen hat, das liegt irgendwie auf der Hand und ist nachvollziehbar.“ SPRECHERBleiben wir beim Beispiel Frankreich und Afrika: Die meisten Kolonien erklärten sich in den Jahren zwischen 1956 und 1960 unabhängig. So zum Beispiel Tunesien, Marokko und auch westafrikanische Länder wie Senegal, Mali und Niger. 1962, nach einem blutigen Krieg, zog Frankreich auch aus Algerien ab. Doch noch Jahre danach bauen französische Konzerne wertvolle Ressourcen in Afrika ab. Bis Juli 2024 hatte etwa der Kernbrennstoffhersteller Orano im Norden Nigers eine Uran-Mine unterhalten, damit die französischen Atomkraftwerke versorgt sind. Der schwerwiegendste Vorwurf aber, der Frankreich in den vergangenen Jahren gemacht wurde, hängt mit der Terrorbekämpfung in Westafrika zusammen. Länder wie Mali, Burkina Faso und Niger müssen seit Jahren gegen dschihadistische Terrormilizen kämpfen. Frankreich schickte zwar Soldaten, die Attentate wurden aber nicht weniger. Das nutzte vor allem ein Land, um seinen Einfluss auszuweiten: Russland. Thomas Gomart leitet den Pariser Thinktank Institut francais des relations internationales, kurz Ifri. Er beschreibt: 7 Thomas Gomart, Direktor d. Denkfabrik Ifri in Paris 4Viele dieser Länder hatten nach ihrer Unabhängigkeit marxistisch-leninistische Regime. Ihre Führungskräfte wurden oft in Moskau ausgebildet oder haben von sowjetischen Helfern gelernt. Besonders stark ist das zum Beispiel in Mali ausgeprägt. Während wir im Westen Russland als imperiale Macht wahrnehmen, verbinden diese jungen Nationen Moskau mit ihrer Unabhängigkeit, die sie erst 1960 oder 1962 errungen haben. Das hat Russland ausgenutzt. SPRECHERSeit Jahren ist Moskau mit Paramilitärs in Afrika aktiv. Sie unterstützen die Staaten im Kampf gegen die Terroristen. Die westafrikanischen Militärregierungen wie Mali und Burkina Faso schätzen sehr, dass Putin keine Bedingungen wie demokratische und rechtsstaatliche Prinzipien für seine Hilfe stellt. Dafür dürfen die Russen Minen abbauen, in denen sich seltene Erden, Gold und Diamanten befinden. Russland zeigt sich aufmerksam, liefert Waffen, schenkt Getreide und bringt Radiosender an den Start. Doch nicht nur wegen Afrika ist Putin-Russland unbestritten eine der größten Herausforderungen für den Westen. Putin betrachtet die USA, die Europäer, die Nato als Feinde. Der Westen wolle die Entwicklung Russlands ausbremsen und es unterworfen, so Russlands Präsident. Nach den Terroranschlägen am 11. September 2001 sagte Putin noch im Deutschen Bundestag, der Kalte Krieg sei vorbei. Doch mit den Jahren ändert sich der Ton. Immer wieder spricht er vom dekadenten Westen und kritisiert die Nato-Osterweiterung. 2014 annektiert Russland die Krim völkerrechtswidrig, weil sich die Ukraine Europa annähern möchte. Acht Jahre später, am 24. Februar 2022, startet Putin-Russland einen Großangriff. Schuld daran sei auch der Westen, sagt Putin: 9 Wladimir Putin, Russischer Staatspräsident„Der Westen nutzt die Ukraine als Rammbock und als Testfeld gegen Russland. Aber eines sollte allen klar sein: Je mehr Langstreckenwaffen in die Ukraine geliefert werden, desto weiter müssen wir die Gefahr von unseren Grenzen verschieben. Sie sollten sich bewusst sein, Russland ist auf dem Schlachtfeld nicht zu besiegen.“ SPRECHERDen Historiker Heinrich August Winkler kam auch schon in der ersten Folge zu Wort. Er hat vier große Bände über die Geschichte des Westens geschrieben: 10 Heinrich August Winkler, Historiker 8Putin knüpft an eine alte russische, von der orthodoxen Kirche gepflegte Tradition an. Russland sieht sich seit langem als wahrer Erbe des Christentums, von dem der aufgeklärte, liberale, der angeblich dekadente Westen vor langem schon abgefallen sei.SPRECHERPutins Vorgehen verwundert Heinrich August Winkler nicht. Es sei logisch für einen Mann, der den Zusammenbruch der Sowjetunion nie überwinden konnte: 11 Heinrich August Winkler, Historiker 9Die Ukraine hat sich 1991, wie alle ehemaligen Sowjetrepubliken, für unabhängig erklärt und die Russische Föderation hat diese Unabhängigkeit anerkannt. Aber abgefunden hat sich Putins Russland mit der Unabhängigkeit der Ukraine nicht. Putin betreibt die Wiederherstellung eines Großrussischen Reiches, in dem kein Platz ist für eine selbstständige Ukraine. Seine Politik ist radikal-revisionistisch, ja offen imperialistisch. SPRECHERWill Putin die Sowjetunion wiederherstellen? Oder steht hinter den Partnerschaften, die er mit Iran und Nordkorea eingeht, und der Annäherung an China noch mehr? Thomas Gomart ist ebenfalls Historiker und Kenner Russlands: 12 Thomas Gomart, Direktor d. Denkfabrik Ifri in Paris 3Ich glaube, Putin hat ein Kalkül: Seiner Meinung nach befinden wir uns in einem Moment, in dem weltweit der Westen, aber vor allem Europa abgelehnt wird. Weil Europa schrumpft und an Bedeutung verliert. Putin möchte diese Situation auf brutale Weise für sich nutzen. SPRECHERIn diesem Zusammenhang, nimmt Thomas Gomart an, wäre ein Erfolg für Putin: 13 Thomas Gomart, Direktor d. Denkfabrik Ifri in Paris 6Wenn sich die USA zunehmend aus Europa zurückziehen. Dadurch, dass die Europäer sicherheitspolitisch und strategisch nicht reif sind, wäre das für Putin gleichbedeutend mit einer Art Vorherrschaft über einen Teil Europas und damit könnte er China mehr auf Augenhöhe entgegentreten. SPRECHERChina: Die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt, Exportweltmeister, Mitglied im UN-Sicherheitsrat, Atommacht… Präsident Xi Jinping verurteilt nicht die russische Invasion in der Ukraine. Das kritisierte unter anderem Bundesaußenministerin Annalena Baerbock bei ihrem Besuch in Peking im April 2023 – und fuhr sofort die Retourkutsche ihres Amtskollegen Qin Gang ein: 14 Qin Gang, Außenminister Volksrepublik China"Diese Meinungsverschiedenheiten sollten uns nicht davon abhalten, im Austausch zu bleiben. Aber dieser Austausch sollte auf gegenseitigem Respekt und Gleichberechtigung basieren. Was China am wenigsten braucht, sind Lehrmeister aus dem Westen." SPRECHERWas verbindet die Volksrepublik mit Putin-Russland, Iran und anderen Mächten, die sich gegen den Westen stellen? Die amerikanische Journalistin und Pulitzerpreisträgerin Anne Applebaum: 15 Anne Applebaum, Kolumnistin „The Atlantic“ und Historikerin 13„Sie sehen die liberale Welt als eine Bedrohung für sich und arbeiten zusammen, um die Verbreitung liberaler Ideen in ihrem Land zu verhindern. Und sie glauben, dass ihr eigenes Überleben davon abhängt, liberale Ideen zu unterdrücken, wo auch immer in der Welt sie zu finden sind.“ SPRECHERUnter „liberalen Ideen“ fasst Applebaum vieles zusammen: Freie Wahlen, ein unabhängiger Rechtsstaat, aber auch der Schutz von Minderheiten. Gerade Letzteres wird von Putin immer wieder aufgegriffen als ein Beispiel des Verfalls des dekadenten Westens. Doch so sehr Putin und der chinesische Außenminister auch poltern: Sind sie die größte Gefahr für den Westen? Nein, findet Yasheng Huang: 16 Yasheng Huang, Direktor des China und India Lab am MIT 6„Sie brauchen doch nicht China, um Amerika zu untergraben. Das ist einfach lächerlich.“ SPRECHERDie größte Bedrohung für westliche Demokratien, ist der Direktor des China und India Lab am MIT in Boston überzeugt, stellen antiliberale Kräfte im Westen selbst dar. Menschen, die das politische System aus dem Inneren heraus zerstören wollen. Egal ob aus Politik oder Wirtschaft. Für die USA, wo er lebt, nennt er Elon Musk als Beispiel, der auf seinem sozialen Medium X und mit seinem Vermögen eine politische Agenda verfolge. Wo hingegen liege das Problem, wenn China Brücken, Autobahnen, Zugtrassen und Häfen in Afrika baue, fragt Huang: 17 Yasheng Huang, Direktor des China und India Lab am MIT 10„Falls die Neue-Seidenstraße-Initiative objektiv dafür sorgen sollte, dass das Wirtschaftswachstum in Entwicklungsländern gefördert wird, dann sollten wir das feiern. Warum schadet es dem Westen, wenn Afrika nicht mehr in Armut und Hunger versinkt?“ MUSIK SPRECHERKönnen Sie sich noch an den Anfang der Folge erinnern und das Zitat der Präsidentin der Welthandelsorganisation? „Wenn wir mit China reden, kriegen wir einen Flughafen – Reden wir mit Deutschland, einen Vortrag.“ Wenn Yasheng Huang diesen Satz hört, reagiert er fast schon beleidigt. Er ist Professor, verdient sein Geld mit Vorträgen und ist der festen Überzeugung, dass ein richtiger Vortrag mehr wert sein kann als ein Flughafen. So nämlich sei China von einem der ärmsten Länder der Welt zur zweitgrößten Volkswirtschaft geworden – in einem Zeitraum von nicht einmal 50 Jahren: 18 Yasheng Huang, Direktor des China und India Lab am MIT 12„Im Jahr 1978 wurde den Führern der Kommunistischen Partei von amerikanischen Wirtschaftswissenschaftlern erklärt, dass die zentrale Planung versagt habe und marktwirtschaftliche Reformen eingeleitet werden müssen. Das war ein Vortrag, kein Flughafen. Nachdem sie die Wirtschaftsreformen eingeleitet hatten, wuchs die Wirtschaft, der Staat sparte und nahm Geld ein, das dann verwendet wurde, um Flughäfen zu bauen. Ich würde sagen, dass sie zu viele Flughäfen bauen, aber das ist eine andere Diskussion.“ SPRECHERMan darf das Pferd nicht von hinten aufzäumen, meint Yasheng Huang. China habe einen Vortrag bekommen – und genau zugehört: 19 Yasheng Huang, Direktor des China und India Lab am MIT 8„China ist reich geworden, weil es sich dem Westen angenähert hat. Ein bekanntes Zitat von Deng Xiaoping lautet: "Schauen Sie sich die Freunde der Sowjetunion an. Sie sind alle arm geworden. Die DDR, Rumänien, Polen. Und schauen sie auf die Freunde der Vereinigten Staaten, die sind alle reich geworden: Japan und Südkorea und auch Westdeutschland." Die Kommunistische Partei Chinas hat als Institution enorm von der engeren Bindung an den Westen profitiert.“ SPRECHERWährend die Sowjetunion zusammenbrach, weil sie die Wirtschaft nicht entwickelte und zu viel Geld für Militär ausgegeben habe, habe China wie kaum ein anderes Land von der Globalisierung profitiert, so Huang. Wer aber wirtschaftlich erfolgreich ist, wolle auch mehr Macht: Wie ein Pilzgeflecht breite China sich mit seiner Neue-Seidenstraßen-Initiative auf unterschiedlichen Kontinenten aus. Eine gute Entwicklung, meint der nigerianische Professor für Internationale Beziehungen Sadiq Abba: 20 Sadiq Abba, Professor Internationale Beziehungen Uni Abuja 8„Die Welt von morgen wird bereits ohne den Westen gebaut. Der Westen versucht nur verzweifelt, seinen Rückstand aufzuholen. Die Welt braucht den Westen nicht. Der Westen braucht die Welt.“ SPRECHERDas sind Worte, die sitzen. Vorhin hatte Abba schon gesagt, dass BRICS ein Wind der Hoffnung sei. Die Sehnsucht, dass sich etwas ändert, ist in China, in Afrika, aber auch in anderen Regionen groß. Thomas Gomart aus Paris kann die Kritik nachvollziehen. Der Westen sei nicht unfehlbar. Trotzdem, so Gomart, müssten sich dieselben Staaten, die Vorwürfe erheben, auch welche gefallen lassen: 21 Thomas Gomart, Direktor d. Denkfabrik Ifri in Paris 15„Wir beobachten auch, dass die Führer der Länder, die den Westen heftig kritisieren, Vermögen im Westen haben, ihre Kinder hier auf Schulen und Universitäten schicken. Sie kaufen Privilegien und Sicherheit. Und das ist auch ein Paradoxon, das man ansprechen muss. Menschen machen sich auf den Weg nach Europa, nach Kanada, in die USA, in offene Systeme. Da sieht man, welch Anziehungskraft die westlichen Gesellschaften haben.“ SPRECHERAn Gomarts Argument merkt man, dass es der Debatte guttut, wenn man sie differenziert führt. Ja, die westlichen Länder haben viele Fehler gemacht und sich auf Kosten von schwächeren Staaten bereichert. Aber heißt das, dass sie für alles verantwortlich gemacht werden können? Als erstes müsse der Westen vor allem eines schaffen, meint der Leiter des Thinktanks Ifri: Entwicklungsländer als gleichwertige Partner anzuerkennen. Und Anerkennung fängt damit an, verstehen zu wollen, wie der andere die Welt sieht: 22 Thomas Gomart, Direktor d. Denkfabrik Ifri in Paris 18„Der grundlegende Unterschied zwischen dem Westen und dem globalen, ich sage lieber transaktionalen, also geschäftsorientierten Süden auf der anderen Seite ist meiner Meinung nach der historische Referenzpunkt. Wir bauen unsere Politik, unsere politische Kultur, unsere philosophischen und intellektuellen Debatten seit 1945 auf der Erinnerung an die Shoah auf. Im globalen Süden wiederum, so kommt es mir vor, ist der Referenzpunkt die Erinnerung an den Kolonialismus.“SPRECHERNatürlich müssten auch konkrete politische und wirtschaftliche Ergebnisse aus einer Zusammenarbeit folgen. Aber dem vorgeschaltet ist, so Gomart, dass der Westen nicht mehr als belehrend und anmaßend wahrgenommen werden darf. Sondern dass sich die ehemals unterworfenen Länder von denen, die sie einst beherrschten, ernstgenommen und gleichberechtigt fühlen. Der Historiker Heinrich August Winkler bleibt zuversichtlich, dass das möglich ist: 23 Heinrich August Winkler, Historiker 10„Sklaverei und Sklavenhandel, Kolonialismus und Imperialismus, die gehören zum historischen Sündenregister des Westens. Die Geschichte des Westens war immer auch eine Geschichte von brutalen Verstößen gegen die eigenen Werte, sie ist aber auch eine Geschichte von Selbstkritik und Selbstkorrekturen, also von Lernprozessen.“ SPRECHERDer Westen hat es über Jahrhunderte geschafft, sich immer wieder neu zu erfinden, sagt Heinrich August Winkler. Gelingt ihm das auch dieses Mal? Oder steht das, wie Winkler es nennt, „normative Projekt des Westens“ vor dem Aus? Darum wird es in der dritten und letzten Folge gehen.Ich bin Jean-Marie Magro, und das die zweite Folge unseres Dreiteilers „Der Westen“: Wie uns die anderen sehen. Alle drei Folgen gibt’s in unserem Feed „Alles Geschichte“ - in der ARD-Audiothek und überall, wo es Podcasts gibt. Da können Sie auch „Alles Geschichte“ abonnieren.    
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Nov 15, 2024 • 25min

DER WESTEN (1/3) - Wer sind wir eigentlich?

Was "ungefähr" der Westen sein soll, ist wenig umstritten. Wer heute in "westlichen Gesellschaften" lebt, hat meist den diffusen Eindruck, irgendwie einer der vielen gängigen Normen zu entsprechen. Genaueres regelt jeder für sich selbst. Doch schon dieser individualistische Ansatz ist typisch für den Westen, beschreibt Jean-Marie Magro in seiner dreiteiligen Überlegung "Der Westen". Und "normal" finden das andere Gesellschaften, die nicht zum Westen gehören, nicht. Vor allem die politische Kultur des Westens reizt in anderen Teilen der Welt zu entschiedenem Widerspruch. Korrigierte Version vom 28.11.2024Credits Autor: Jean-Marie Magro Regie: Christiane Klenz Es sprachen: Jean-Marie Magro, Thomas Loible, Benjamin Stedler, Heinz Gorr, Jerzy May und Hemma Michel Technik: Wolfgang Lösch Redaktion: Thomas Morawetz und Nicole Ruchlak Im Interview: Joseph Hendrich, Tappei Nagatsuki, Yasheng Huang, Sadiq Abba, Anne ApplebaumBesonderer Linktipp der Redaktion: WDR (2024): Killing Jack – Warum der Ripper-Mythos uns nicht loslässt Es ist der wohl bekannteste True-Crime-Fall der Welt: Jack the Ripper. Was fasziniert uns am Mythos eines brutalen Frauenmörders? Und muss die Geschichte vom Ripper heute nicht ganz anders erzählt werden? In „Killing Jack“ gehen die Hosts Caro und Jürg zurück zur Geburt des vielleicht bekanntesten Cold Case der Welt. Dem Godfather of True Crime. Sie stoßen auf brutale Fakten; fragen, wie der Mythos entstand - und versuchen ihn zu killen. Warum? Und wie das gehen soll? ZUM PODCAST Linktipps: ARD alpha (2019): Andere Länder, andere Verbote Wann darf der Staat etwas verbieten? Dana Newman, gebürtige Amerikanerin, fragt nach den Grenzen der individuellen Freiheit in Deutschland. Die ist zwar in der Verfassung vielfach garantiert, aber sie endet dort, wo sie Freiheiten anderer oder das Gemeinwohl berührt. Wo diese Grenze konkret erreicht ist, darüber wird in der Demokratie oft heftig gestritten. Die Reportage zeigt verschiedene Freiheitskämpfende – von Klimaaktivisten bis zum Ernährungswissenschaftler – und zeigt, dass Fakten und Vernunft längst nicht immer entscheiden sind, wenn es um die Freiheit geht. JETZT ANSEHEN Deutschlandfunk Kultur (2019): Warum sich der Westen neu erfinden muss Viel zu lang habe der Westen gebraucht, um die Veränderungen im weltpolitischen Machtgefüge nach 1990 zu begreifen, kritisiert Ramon Schack. Und hat dabei vor allem den Aufstieg Chinas im Blick. Uns dagegen droht der Rückfall in die Mittelmäßigkeit. JETZT ANHÖREN  Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte: Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun? DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend. Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN.  Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de. Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek: ARD Audiothek | Alles Geschichte JETZT ENTDECKEN Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript: MUSIK SPRECHERWer bin ich?... Wenn Sie jetzt befürchten, das könnte eine Folge über den Existenzialismus werden: Keine Angst. Aber je nachdem, wo Sie aufgewachsen sind, werden Sie diese Frage „Wer bin ich?“ höchstwahrscheinlich unterschiedlich beantworten. Wenn Sie mich, den Autor dieser Folge fragen, wer ich bin, dann würde ich Ihnen so antworten:Jean-Marie Magro, Journalist, ich spreche in Mikrofone, fahre viel Rad, lese in meiner Freizeit, mal ein Sachbuch, mal eine japanische Romanreihe oder einen Manga. So in der Art. Ich definiere mich also über meinen Beruf und das, was ich gerne tue. In anderen Teilen der Welt klingt das völlig anders. Wenn Sie in einem malischen Dorf fragen würden, würde die Person höchstwahrscheinlich erst die Namen ihrer Eltern zitieren. In Südkorea ist das Alter entscheidend, weil man die Älteren respektieren muss. Und so gibt es ganz viele Beispiele. Joseph Henrich ist leidenschaftlicher Kayakfahrer, aber deshalb habe ich ihn nicht für diese Reihe interviewt. Henrich ist Professor für biologische Anthropologe an der Harvard University in Boston. Er sagt, dass viele Psychologen jahrzehntelang einem großen Irrtum aufgesessen seien: 1 Joseph Henrich, Anthropologe und Psychologe, HarvardWir haben festgestellt, dass viele Forscher fast ausschließlich amerikanische Studenten oder Menschen in westlichen Gesellschaften, aber nur sehr wenige Menschen aus anderen Weltregionen untersucht haben. Und so haben diese Wissenschaftler allgemeine Annahmen vorgenommen und formuliert, die verzerrt waren. SPRECHERIn Wahrheit ist nämlich nicht der Rest der Welt eigenartig, sondern wir – meint jedenfalls Joseph Henrich. Wer sind wir, wer ist der Westen? MUSIK Das ist: Der Westen – Eine Überlegung in drei Teilen. Folge 1: Wer sind wir eigentlich? Da fängt das Problem schon an, weil es keine scharfe Trennlinie gibt. Sollte man die Mitgliedsstaaten der OECD nehmen, die NATO oder allgemein jene Länder, die Demokratie, Menschen- und Freiheitsrechte vertreten? Letzteres könnte auch Japan oder Taiwan miteinschließen. In den drei Folgen dieser Reihe möchte ich mich auf Nordamerika und die Europäische Union konzentrieren. Knapp über 800 Millionen Menschen. MUSIK Wir, die wir in westlichen Gesellschaften aufgewachsen sind und leben, sind also laut Joseph Henrich komisch. Wir tanzen aus der Reihe. Henrich hat einen weltweiten Bestseller geschrieben. Auf Deutsch heißt er „Die seltsamsten Menschen der Welt“. Das Wort seltsam ist die Übersetzung für das englische WEIRD, ein Akronym, das Henrich und andere Psychologen gewählt haben. WEIRD steht in diesem Fall für Western, Educated, Industrialized, Rich and Democratic. Also westlich, gebildet, industrialisiert, reich und demokratisch. Henrich meint, aus seinen Studien gehe hervor, dass wir im Westen, in Nordamerika und den europäischen Staaten, ganz anders auf die Welt blicken als alle anderen. 2 Joseph Henrich, Anthropologe und Psychologe, HarvardEin klassisches Beispiel: Sie geben einer Versuchsperson ein Bild mit einem Kaninchen und fragen, ob das Kaninchen besser zu einer Karotte oder zu einem Hund passt. Wenn Sie analytisch denken, würden Sie sagen: Kaninchen und Hund, beides Tiere. Wenn Sie aber holistisch, also ganzheitlich denken, suchen Sie nach Beziehungen. Diese Menschen denken: "Kaninchen fressen gerne Karotten, also gehören Kaninchen und Karotten zusammen. Und wenn man sich in der Welt umschaut, dann ist es so, dass die westlichen Gesellschaften die Orte sind, an denen das analytische Denken sehr stark ausgeprägt ist, und an anderen Orten ist es schwer, jemanden dazu zu finden, der eine analytische Entscheidung trifft. MUSIK SPRECHERIch persönlich habe mich immer als eine Person gesehen, die versucht, die Welt aus anderen Blickwinkeln und nicht nur durch meine deutsche Brille zu sehen. Das kommt alleine daher, dass ich einen französischen Vater habe und zweisprachig aufgewachsen bin. Ich bin schon lange von japanischer und südkoreanischer Popkultur fasziniert, habe mehrfach für die ARD in Nordwestafrika gearbeitet. Aber ich kann mich noch ganz genau an den Moment erinnern, als ich bemerkt habe, dass ich WEIRD bin. MUSIK Es war in Tokio im Mai 2023. Ich habe den Schriftsteller Tappei Nagatsuki interviewt, der meine Lieblingsfantasy-Reihe schreibt. Nagatsuki schreibt darin echt gruselige Szenen, sein Protagonist Subaru muss unheimlich leiden. Ich habe dem Japaner dann die Frage gestellt, was er von dem, wie ich dachte, weltbekannten US-amerikanischen Autor John Irving hält. Der hat einmal gesagt, er entwerfe in seinen Romanen Figuren, die er wirklich liebt – und dann tue er ihnen das Schlimmste an, das ihm einfiele. Hier antwortet mir Tappei Nagatsuki: 3 Tappei Nagatsuki, japanischer SchriftstellerWas dieser John Irving sagt, damit kann ich mich sehr gut identifizieren. Je mehr ich Charaktere mag, umso schlimmere Sachen möchte ich Ihnen antun. Und da Subaru mein Protagonist ist, kriegt er am meisten ab. (lacht) MUSIK SPRECHERMein erster Reflex war: Er kennt John Irving nicht? Und kurz darauf fiel mir dann auf, wie sehr ich die Welt durch meine westliche Brille betrachtet hatte. Woher soll ein japanischer Fantasyautor vom anderen Ende der Welt einen amerikanischen Schriftsteller kennen? Nicht nur hierin unterscheidet sich unsere westliche, deutsche Öffentlichkeit von der östlich-japanischen. Der Anthropologe Joseph Henrich sagt, das hinge damit zusammen, dass im Westen die Schuld eine treibende Kraft für menschliches Handeln sei. In anderen Teilen der Welt dominiere jedoch die Scham: 4 Joseph Henrich, Anthropologe und Psychologe, HarvardIn einigen Regionen der Welt ist es besonders wichtig, wie man sich anderen gegenüber präsentiert. Es geht darum, das Gesicht zu wahren, darum wie ein Netzwerk von Personen über Sie als Individuum denkt. Das führt oft zu Konformität und einer großen Sorge, wie man sich selbst darstellt. Der innere Geisteszustand spielt dabei keine große Rolle. Es geht um das äußere Verhalten und darum, wie sich die Menschen der Welt präsentieren. In westlichen Gesellschaften müssen Sie sich abheben und von anderen unterscheiden, um erfolgreich zu sein. Hier neigen Menschen dazu, nicht Scham-, sondern Schuldgefühle zu haben. SPRECHEREin Beispiel für solche Schuldgefühle: Sie können sich schlecht fühlen, weil sie nicht ins Fitnessstudio gegangen sind. Ihrem Nachbarn ist das wohl egal. Schämen würden sie sich also vor ihm nicht. Stattdessen fühlten sich im Westen viele dazu verpflichtet, etwas für sich und ihren Körper zu tun, um mit sich selbst im Reinen zu sein. Es geht also um uns selbst, das Individuum. Ein Beispiel dafür ist das Tragen eines Mund-Nasenschutzes. In Japan gab es während der Corona-Pandemie nie eine Maskenpflicht – das war gar nicht nötig, die Menschen trugen sie freiwillig. In fast allen westlichen Staaten dagegen schon. In Europa und den USA wurde das Tragen von Masken zunehmend heftig kritisiert. Eines der am häufigsten genannten Argumente dabei war: Die Maskenpflicht schränke die individuelle Freiheit ein. MUSIK Warum sind wir so „eigenartig“? Und es geht ja noch viel weiter: Warum sind wir im Westen verhältnismäßig wohlhabend? Für Joseph Henrich ist dabei zentral, wie schnell sich Lesen und Schreiben in Europa ausgebreitet haben. Dabei hat ein gewisser Martin Luther vor über 500 Jahren eine wichtige Rolle gespielt: 5 Joseph Henrich, Anthropologe und Psychologe, HarvardMan kann an den deutschen historischen Daten tatsächlich ablesen, dass die Nähe zu Wittenberg einen Einfluss auf die Lese- und Schreibfähigkeit hatte. Je näher man also dem Zentrum der Reformation war, desto wahrscheinlicher war es, dass man auch im 19. Jahrhundert noch lesen und schreiben konnte. SPRECHERDie Reformation war also der Grundstein dafür, dass das sogenannte Abendland abhob? An dieser Stelle hilft vielleicht ein Blick von außen. Der Wirtschaftswissenschaftler Yasheng Huang ist Professor am Massachusetts Institute of Technology in Boston, kurz MIT. Er unterrichtet Internationales Management und leitet das China und India Lab an der Universität. Huang sagt, die Alphabetisierung allein kann nicht der ausschlaggebende Grund dafür sein, warum die Vereinigten Staaten und Europa über Jahrhunderte mehr Wohlstand schufen als China. 6 Yasheng Huang, Direktor des China und India Lab am MITIn China konnten schon recht früh verhältnismäßig viele Menschen lesen und schreiben. Die Zahl stagnierte dann aber. Im Westen war es umgekehrt. Am Anfang gab es relativ wenige Alphabeten, dann aber wurden es schnell immer mehr. SPRECHERHuang hat ein Buch geschrieben, das sich fast wie eine Fortsetzung von Joseph Henrichs „Die seltsamsten Menschen der Welt“ liest. Huangs Buch trägt den Titel: „The Rise and Fall of the EAST”, also Aufstieg und Fall des Ostens. Huang, 1960 in Peking geboren, meint: Die Stärke des Westens liegt in seiner Fähigkeit, sich neu zu erfinden. Und das lasse sich schon vor rund 1000 Jahren sehen: 7 Yasheng Huang, Direktor des China und India Lab am MITDie katholische Kirche erhob sich, um die damalige politische Autorität herauszufordern, und dann wurde die katholische Kirche selbst von anderen Ideen wie dem Protestantismus und weltlichen Ideen herausgefordert. Es entstand also ein Markt der Ideen. MUSIK SPRECHERVor dem sechsten Jahrhundert hatte es auch in China so einen Marktplatz der Ideen und auch einen regen Handel gegeben, sagt Huang. Es gab unterschiedliche Glaubensrichtungen: Konfuzianismus, Buddhismus, Daoismus. Westen und Osten waren sich ähnlich, meint der Professor. Doch dann endete das abrupt. Huang meint, das hänge damit zusammen, dass in China ein Regime die Macht übernahm, das andere Ideen unterdrückte und nicht mehr herausgefordert wurde. Während im Westen die Revolutionen in den USA und Frankreich Demokratie, Nationalstaat und Rechtsstaatlichkeit hervorbrachten, wurden in China trotz mehrerer Rebellionen nur die Köpfe ausgetauscht, die Ordnung blieb gleich. Der Harvard-Anthropologe und Psychologe Joseph Henrich stimmt dem China-Experten zu: Die westliche Kirche spielt für den Westen und wie unsere Gesellschaften heute strukturiert sind, eine besonders wichtige Rolle. Verbot der Vielehe und des Heiratens enger Verwandter waren nur eine Sache. Die katholische Kirche hatte auch ihre eigene Streitmacht, erhob gegen die Königshäuser das Schwert. Rund 900 bis 1000 nach Christus schließen sich Menschen zu freiwilligen Vereinigungen zusammen. Auch und vor allem innerhalb der Kirche. 8 Joseph Henrich, Anthropologe und Psychologe, HarvardMan schloss sich einer Stadt oder einem Verein an, und wenn sich jemand von ihnen verletzte oder alt wurde, kümmerten sich die anderen um diese Person. Es handelte sich also um eine Art Versicherungssystem, das auf Gegenseitigkeit beruhte. An einigen Orten entstanden daraus Gilden. Das waren Berufsgilden vorstellen müssen, die als gegenseitige Selbsthilfe begannen und bestanden lange Zeit als Gesellschaften bestanden. MUSIK SPRECHERViele Historiker und Anthropologen sagen, dass diese freiwilligen sozialen Versicherungssysteme, die über die Familienbande hinausgehen, eine frühe Besonderheit westlicher Gesellschaften waren. Später, als es zu Abkommen zwischen Königen und Kirchen kam, wurde die katholische Kirche selbst durch den Protestantismus herausgefordert. Dazu kommen Revolutionen. Politische, wie etwa die amerikanische 1776 und die französische 1789, die jeweils zu gesellschaftlichen Umstürzen führten. Aber auch technologische wie die Erfindungen des Buchdrucks, der Dampfmaschine oder der Elektrizität. Westliche Gesellschaften erlangen so einen Vorsprung, auch auf Kosten anderer Weltregionen. Dem Thema Kolonialismus wollen wir uns aber erst näher in der zweiten Folge widmen. Zuerst einmal sollten wir klären: Welche sind die Pfeiler des Westens? Einer, der sich wie kaum ein anderer mit dieser Frage beschäftigt hat, ist Prof. Heinrich August Winkler. Der Historiker hat vier Bände über die Geschichte des Westens geschrieben. Er schlägt dabei einen weiten Bogen, über die alten Ägypter und das byzantinische Reich, die Magna Carta und die Bill of Rights bis ins Heute. Winkler spricht vom „normativen Projekt des Westens“: 9 Heinrich August Winkler, HistorikerZu diesem Projekt gehören die Ideen der allgemeinen unveräußerlichen Menschenrechte, des Rechtsstaates oder der Rule of Law, der Gewaltenteilung, der Volkssouveränität und der repräsentativen Demokratie. Man kann diese Ideen, auch die politische Konsequenz der Aufklärung nennen. SPRECHERFassen wir mal all diese Punkte in einem Satz zusammen: Der Westen gründet auf dieser einen Idee: 10 Heinrich August Winkler, HistorikerDie Maxime, dass vor dem Gesetz alle Menschen gleich sind, ist die säkularisierte Fassung des Satzes, dass vor Gott alle Menschen gleich sind. MUSIK SPRECHERSprich: Die Trennung zwischen Staat und Religion, die Säkularisierung. Die hat auch im Westen unterschiedliche Formen. In Deutschland wird Kirchensteuer fällig und Religion an Schulen unterrichtet, in den USA werden Millionen Kinder zuhause unterrichtet, was vor allem Evangelikale und Erzkonservative in Anspruch nehmen. Frankreich hingegen bezeichnet sich als laizistischen Staat, Religion darf in öffentlichen Gebäuden im Prinzip nicht stattfinden. Die Trennung zwischen Staat und Religion, sagt Heinrich August Winkler, gehe auf ein Wort Jesu zurück. In der Bibel heißt es nämlich: 11 Heinrich August Winkler, Historiker "Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist." Damit wird der weltlichen Gewalt eine Eigenverantwortung zugestanden und einem Gottesstaat oder einer Priesterherrschaft eine Absage erteilt. SPRECHERWobei man natürlich immer wieder Einschränkungen machen muss. In einigen osteuropäischen Ländern spielt die Kirche in der Politik weiterhin eine wichtige Rolle. Sie werden nun vielleicht denken, dass die Kommunistische Partei in China auch keine Priesterherrschaft anstrebt. Doch was bei westlichen Demokratien besonders wichtig ist, sagt Heinrich August Winkler, ist die Gewaltenteilung, die Checks and Balances. Dass Gesetzgebung, ausführende Gewalt und Gerichte unabhängig voneinander sind: 12 Heinrich August Winkler, HistorikerFür den Westen, das sogenannte Abendland, war diese Entwicklung grundlegend. Im Europa der Ostkirche, dem byzantinisch-orthodoxen Osten Europas, kam es nicht zu einer solchen Ausdifferenzierung der Gewalten und damit auch nicht zu einer freiheitlichen Evolution wie sie sich im Westen vollzogen hat. MUSIK SPRECHERGrundlegend für das normative Projekt des Westens ist also die Teilung der Gewalten. Aus dem Vertrauen in den Rechtsstaat leiten Menschen im Westen ein Verständnis von Gerechtigkeit ab, das sich im Vergleich zu anderen Teilen der Welt grundlegend unterscheidet, wie der Harvard-Anthropologe Joseph Henrich beobachtet. Ein Gedankenexperiment veranschaulicht das deutlich: das sogenannte Passagierdilemma. 13 Joseph Henrich, Anthropologe und Psychologe, HarvardSie sind mit einem Freund oder einem Familienmitglied im Auto unterwegs. Sie stoßen mit jemandem zusammen, weil ihr Freund rücksichtslos gefahren ist und dabei stirbt die andere Person. Es gibt einen Rechtsstreit. Der Anwalt Ihres Freundes sagt Ihnen, dass niemand sonst den Unfall gesehen habe und wenn Sie aussagen, dass Ihr Freund nicht zu schnell gefahren ist, wird er freigesprochen.  Wenn Sie aber die Wahrheit sagen, kommt Ihr Freund ins Gefängnis. Was also tun? An vielen Orten auf der Welt scheint es absurd, die Frage überhaupt zu stellen: Natürlich werde ich meinen Freund bzw. mein Familienmitglied unterstützen. Aber an manchen Orten sind die Menschen der Meinung, dass sie den Rechtsstaat respektieren müssen. Sie sind also eher geneigt, die Wahrheit zu sagen. SPRECHERWährend also die einen – komme, was wolle – zu ihren Nächsten halten, finden in westlichen Gesellschaften die meisten Menschen, der Übeltäter habe eine Strafe verdient. Um also nochmal zusammenfassen: Westliche Gesellschaften sind im Vergleich zum Rest der Welt individueller, sie zeichnen sich dadurch aus, dass Staat und Religion zumindest zu einem gewissen Grad voneinander getrennt sind – und sie haben mehrheitlich ein anderes Verständnis von Gerechtigkeit. Dieser Prozess hat nicht gleichzeitig in allen westlichen Gesellschaften stattgefunden. Es hat Jahrhunderte gedauert, bis sich die Ideen der amerikanischen und der französischen Revolution im Alten Westen selbst durchgesetzt haben. Heinrich August Winkler: 14 Heinrich August Winkler, HistorikerIn Deutschland etwa wurde im 19. Jahrhundert zwar der Rechtsstaat verwirklicht, gegen die Ideen der allgemeinen Menschenrechte, der Volkssouveränität und der repräsentativen Demokratie aber gab es bis weit ins 20 Jahrhundert hinein vor allem bei den Herrschaftseliten und im gebildeten Bürgertum massive Vorbehalte. Der Höhepunkt der deutschen Auflehnung gegen die Ideen des Westens war die Herrschaft des Nationalsozialismus. Erst nach der totalen Niederlage von 1945 öffnete sich der westliche Teil Deutschlands auf breiter Front der politischen Kultur des Westens. SPRECHERUnd in Ostdeutschland sind die Ideen des Westens erst nach dem Fall der Mauer eingeführt worden. Auch wenn die DDR rhetorisch versuchte, diese Werte zu repräsentieren: Es gab keine freien Wahlen und erst recht keinen von der Partei unabhängigen, funktionierenden Rechtsstaat. Keine individuelle Freiheit, sondern der Versuch der absoluten Kontrolle. Der US-amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama wurde damals mit seiner These berühmt, die liberale Demokratie habe nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion gesiegt. Die Geschichte sei nun zu Ende. 15 Heinrich August Winkler, HistorikerDer Sieg der Freiheit, der 1989 gefeiert wurde, war aber kein weltweiter Sieg. Russland wurde nur zeitweise und oberflächlich von den revolutionären Ideen des Westens erfasst. In China wurden die Freiheitsbestrebungen der akademischen Jugend im Juni 1989 auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking blutig unterdrückt. Die Geschichte ist 1989 / 90 eben nicht zu Ende gegangen, sie ist in ein neues Stadium eingetreten. MUSIK SPRECHERDie westlichen Ideen – Demokratie, Rechtsstaat, unabhängige Medien, der Schutz von Minderheiten – , sie müssen sich heute aber in jeder westlichen Gesellschaft Angriffen erwehren, sagt Anne Applebaum. Die Journalistin ist eine der anerkanntesten Expertinnen für Osteuropa und Russland. Für ihr Werk „Der Gulag“, in dem sie über die sowjetischen Gefangenenlager schreibt, erhielt sie den weltweit wichtigsten Journalistenpreis, den Pulitzer-Preis. Im Oktober 2024 wurde außerdem sie mit dem Friedenspreis des deutschen Buchhandels ausgezeichnet. Applebaum ist mit dem aktuellen polnischen Außenminister Radoslaw Sikorski verheiratet und lebt seit vielen Jahren in Polen. Die Amerikanerin schrieb seit Jahren über die rechtsnationale PiS-Regierung in Warschau, die Staatsmedien und Gerichte nach ihrem Geschmack besetzte. 2023 verlor die PiS jedoch die Mehrheit an eine Koalition aus Liberalen, Konservativen und Linken. Das Bündnis versucht nun, die Entscheidungen der PiS rückabzuwickeln. 16 Anne Applebaum, Kolumnistin „The Atlantic“ und HistorikerinDiese Veränderung wird von der Bevölkerung in hohem Maße unterstützt. Die Regierungskoalition verfügt über eine klare Mehrheit und hat eine große öffentliche Unterstützung. Aber es wird hart. Es ist viel einfacher, den Rechtsstaat zu zerstören, als ihn wiederherzustellen. 17 Anne Applebaum, Kolumnistin „The Atlantic“ und HistorikerinFast jede westliche Demokratie ist von diesen ideologischen Angriffen gegen die Demokratie ausgesetzt, wenn sie auch an verschiedenen Orten unterschiedliche Formen annehmen. Die extreme Rechte und die extreme Linke könnten sowohl die französische als auch die deutsche Demokratie bedrohen. Die Vereinigten Staaten, Polen und Ungarn: Niemand ist vor dieser Gefahr gefeit. MUSIK SPRECHERWas sind die Gründe für die Krise des Westens? Es ist unstrittig, dass die westlichen Staaten, allen voran die europäischen, international an Bedeutung verlieren. Ihr Anteil an der Bevölkerung und an der Weltwirtschaft wird kleiner. Diese Tatsachen sind aber nur eine Erklärung für die Krise. Wesentlich sind für Anne Applebaum die Folgen der gegenwärtigen Kommunikationstechnologie. Sie führen dazu, befürchtet die Journalistin, dass in westlichen Gesellschaften immer mehr Menschen Vertrauen in Demokratie und seine Repräsentanten verlieren: 18 Anne Applebaum, Kolumnistin „The Atlantic“ und HistorikerinEs geht um eine demokratische Krise, die mit den Entwicklungen zusammenhängt, die uns die moderne Wirtschaft und das moderne Informationssystem gebracht haben. Also wie Menschen untereinander kommunizieren und an politische Informationen gelangen und sie verarbeiten. Da gibt es ähnliche Muster in wirklich jeder westlichen Demokratie. SPRECHERZu einer gut funktionierenden Demokratie gehört, dass die Bevölkerung frei und geheim ihre Vertreterinnen und Vertreter wählen kann. Das Ergebnis muss von allen Seiten akzeptiert werden. Schon hier merkt man, dass dies keine Selbstverständlichkeit mehr in westlichen Ländern ist. MUSIK In dieser Folge haben wir uns damit beschäftigt, was uns Menschen im Westen ausmacht, was die Grundpfeiler des Westens sind und wie sie entstanden sind, und wir haben angeschnitten, warum sich westliche Demokratien in der Krise befinden. Freiheit, die Gleichheit von Menschen, Demokratie und der Rechtsstaat. Viele würden diese Grundsätze wahrscheinlich unterschreiben und stolz auf sie sein. In der nächsten Folge wollen wir uns aber damit beschäftigen, wie der Rest der Welt auf den Westen blickt. Und was soll man sagen: Dort wird ganz anders empfunden: 19 Sadiq Abba, Professor Internationale Beziehungen Uni Abuja 1Unsere Wahrnehmung der westlichen Welt ist die eines bösen Imperiums, das nur für sich selbst da ist. Wenn du ihre Spiele, ihre Regeln mitspielst, bleibst du für immer ein Gefangener und ein Untertan, der ausgebeutet und enteignet wird. MUSIK SPRECHERIch bin Jean-Marie Magro, und das war die erste Folge des Dreiteilers „Der Westen“: Wer sind wir eigentlich? Alle drei Folgen gibt’s in unserem Feed „Alles Geschichte“ - in der ARD-Audiothek und überall, wo es Podcasts gibt. Da können Sie auch „Alles Geschichte“ abonnieren.

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